Tessa Jones (Band 2) – Mit dem Schicksal spielt man nicht - Heiko Wolz - E-Book

Tessa Jones (Band 2) – Mit dem Schicksal spielt man nicht E-Book

Heiko Wolz

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Beschreibung

Tessa Jones soll in Zeus' Auftrag die Würfel des Palamedes finden. Die Wunderdinger versprechen große Weisheit und stets richtige Entscheidungen. Der Göttervater hofft, sich und die Menschenwelt so vor unangenehmen Überraschungen zu schützen. Auch Tessa käme eine Portion Weisheit ganz gelegen. Mithilfe von Helena, Luk und den Amazonen geht die Suche nach den Würfeln quer durch New York! Doch plötzlich wollen alle die magischen Würfel für sich selbst nutzen. Und als sie dem Ziel immer näherkommen, muss Tessa sich fragen: Wem kann sie noch trauen?

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meine liebe Freundin und Kollegin Elliott Pine

»Der Faden, den keine Schere durchtrennt, dich dennoch auf deinem Weg führt und den Lauf der Sterne für dich lenkt. Was bin ich?«

(Rätsel der Sphinx)

Nicht die ägyptische! Wir Griechen haben auch eine!

Kapitel 1

Friedhof der Küchengeräte

Nicht anfassen!

Der Hinweis ist deutlich. Ich muss die Marmorbüste auf der Stele natürlich trotzdem berühren. Wie jedes Mal in diesem verdammten Traum! Als würde meine Hand magnetisch von ihr angezogen. Die Statue ohne Arme und Beine zeigt das Gesicht einer Frau, deren sanfte Züge mich nicht loslassen.

Ich weiß, dass ich eigentlich in meinem Bett in Astoria liege, aufwachen kann ich aber leider nicht, und so beobachte ich seltsam distanziert, wie ich der Frau meine Hand auf die Wange lege.

Die Büste reißt die Augen auf. Der Marmor, aus dem sie gefertigt ist, platzt auf. Risse bilden sich an ihrem Hals. Fein verästelt ziehen sie sich bis zum Kinn. Steinsplitter rieseln von ihren Schultern zu Boden. Knirschend öffnet die Frau den Mund mit der herzförmig geschwungenen Oberlippe.

»Mörderin!«, keift sie mich an.

Im Gegensatz zu ihrem Mund ist meiner wie zugenäht. Keinen Ton bringe ich heraus. Dabei habe ich im wahren Leben sonst keine Probleme, mich verbal zu wehren. Genau genommen bringt meine große Klappe mich gerne in Schwierigkeiten.

Tessa!, mahnt Mom ständig. Wenn es ernst wird, legt sie noch eine Schippe drauf und nennt mich bei meinem vollen Namen: Penthesilea Jones! War das deine heutige Bewerbung zur Miss Taktlosigkeit?

Weil meine Stimmbänder streiken, schaue ich mich nach Hilfe suchend um. Vielleicht läuft der Traum diesmal doch anders ab?

Homer könnte auftauchen. Nicht der Dichter, der die Odyssee verbrochen hat, sondern unser Lehrer an der Jakob McGhee High School, die ich seit letztem Sommer besuche. Der müsste die geträumte Exkursion ins Metropolitan Museum of Art, in dem ich mich offensichtlich befinde, ja leiten – und wäre damit auch dafür verantwortlich, dass seine Schülerinnen nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Marmorbüsten als Mörderinnen beschimpft werden.

»Nicht du!«, erklärt die Steinfrau ungehalten.

Richtig. Mich meint sie ja nicht, ich habe niemanden umgebracht und habe es auch nicht vor. Das vergesse ich jedes Mal. Trotzdem schlägt mein Herz schneller. Wir steuern auf den Höhepunkt des Traums zu, und den will ich verhindern.

Ich schaue mich weiter um, aber auch Helena ist nirgends zu sehen, meine beste Freundin und zufälligerweise die kommende Göttin der Schönheit. Genauso wenig wie Demmy, Eirene und Kate, alle drei ebenfalls angehende Gottheiten mit den passenden Gaben.

Im Gegensatz zu ihnen bin ich ziemlich normal, sieht man einmal davon ab, dass ich als Amazone im Umgang mit nahezu jeder Waffe geschult werde.

Ich taste nach dem Anhänger an meinem Hals.

Klar, dass die Kette auch diesmal fehlt, obwohl ich sie eigentlich hüte wie meinen Augapfel, nachdem ich sie im letzten Herbst gleich zwei Mal kurz hintereinander verloren habe.

Im Notfall reicht ein Griff, und die Miniaturausgaben von Labrys und Pelte verwandeln sich in meine echte Doppelaxt und den halbmondförmigen Schild.

»Mörderin!«, wiederholt die Büste, neigt sich mir zu und gerät dadurch ins Wanken. Die ganze Stele wackelt.

Die Schwingungen breiten sich rund um sie aus. Ich spüre die Vibrationen in meinen Füßen, am Ende schwanken die Säulen und sogar die anderen Statuen um mich herum.

Nach den Steinsplittern von der Büste rieselt nun auch der Putz von den Wänden. Die elektrischen Lichter flackern.

Die Büste kippt, fällt und zerspringt mit einem Knall auf dem Boden. Natürlich ohne vorher erklärt zu haben, welche Mörderin sie meint. Das erledigen ihre steinernen Kolleginnen und Kollegen. Von allen Seiten donnert es: »Deine Mutter ist eine Mörderin!«

Ich nehme meine Beine in die Hand, als die ersten Statuen ihre knirschend von den Platten heben, auf denen sie seit Tausenden von Jahren stehen. Mit steifen Bewegungen stampfen sie los.

»Deine Mutter ist eine Mörderin!«

Ich presse mir die Hände auf die Ohren, renne in den erstbesten Gang, den ich im dämmrigen Licht entdecke, aber auch hier empfangen mich Skulpturen und stimmen in den Chor mit ein: »Mörderin, Mörderin!«

Ich hetze um die nächste Ecke, weiß immer noch nicht, wohin ich soll, um aus diesem Albtraum zu …

… erwachen.

Schweißgebadet fahre ich hoch. Ich bin weder im Metropolitan noch in einem anderen Museum der Stadt. Wie erwartet, sitze ich in meinem Bett in Astoria, dem Viertel von Queens, in dem ich seit meiner Geburt lebe.

Mein Atem geht so hektisch, als hätte mich Coach Carter dreimal um den Sportplatz der McGhee gejagt.

Wem ich den Traum zu verdanken habe? Kate Jablonski, einer meiner göttlichen Freundinnen. Als baldige Hekate wacht sie über Wegkreuzungen und Türschwellen. Das bringt den tollen Effekt mit sich, dass sie geistig die Schwelle ins Totenreich übertreten und Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen kann.

In diesem speziellen Fall ist es umgekehrt.

Eine gewisse Atalanta meldete sich vor einigen Monaten aus der Unterwelt bei ihr und wollte unbedingt mit mir reden. Nach der ersten Unterhaltung, in der Atalanta meiner Mom vorwarf, sie vor vielen Jahren in den Hades befördert zu haben, lehne ich weitere Gespräche aber dankend ab. Dafür versucht mein Kopf wohl, Atalantas Vorwurf in meinen Träumen zu verarbeiten.

Mein Unterbewusstsein fällt mir in den Rücken und möchte, dass ich mich mit ihren Behauptungen im Traum auseinandersetze.

Tja, mein Unterbewusstsein kann mich mal.

Meine Mom soll jemanden getötet haben?

Das ist Blödsinn.

Es kann nur Blödsinn sein.

Die Bilder des Traums verblassen. Das nächste Mal darf ich ihn wieder komplett durchleiden. Tolle Aussichten!

Was bleibt, ist mein nass geschwitztes Schlafshirt mit dem Aufdruck I love NY. Der Stoff klebt an mir wie sonst nur im Sommer. Dabei kündigt sich der Frühling erst vorsichtig an. Der letzte Schnee fiel vor vier Wochen, der Februar blieb daraufhin zwar frostfrei, vor wenigen Tagen knackte das Thermometer aber gerade mal die zehn Grad.

Mir ist das zu kalt. Vielleicht habe ich mich aber auch an die erfreulicheren Temperaturen in der Göttinnen-Akademie gewöhnt.

Der Gedanke an den geheimnisvollen Ort, dem ich auch an diesem Sonntag einen Besuch abstatten werde, muntert mich zumindest ein wenig auf. Hätte mir letzten Sommer jemand erzählt, dass ich eine Amazone bin und bald unterhalb des Olymps mit echten Göttinnen zu tun haben werde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Aber genau so kam es! Und das nur, weil ich Helena durch einen Kühlschrank gefolgt bin. Damals hielt ich sie noch für die überhebliche Schulschönheit. Das hat sich zum Glück geändert.

Ich streife den Rest des unschönen Traums ab. Um nicht länger daran zu denken, beschließe ich, aufzustehen, stelle aber schnell fest, dass das mit dem Wachsein so eine Sache ist. Ich taumele eher in den Flur, als dass ich zielgerichtet die Tür zum Bad ansteuere. Dass ich nicht gegen den Rahmen krache, ist dabei reine Glückssache.

Wenigstens entgehe ich damit dem Kommentar meiner Mom, dass ich meinen Titel als tollpatschige Katastrophenkönigin wieder einmal erfolgreich verteidige.

Gehört hat sie mich trotzdem. Sie schiebt sich mit einem Grinsen in den Flur, das im krassen Kontrast zur schwarzen Uniform des New York Police Departement steht, die sie schon angezogen hat. Inklusive Gürtel mit Handschellen, Funkgerät und Dienstwaffe.

»Wer ist denn so früh aus dem Bett gefallen?« Normalerweise erhebe ich mich an den Wochenenden erst, sobald sie zu ihrer Schicht aufbricht, behauptet sie oft. Jetzt nickt sie mit dem Kinn nach vorn in die Wohnung. »Dann können wir noch gemeinsam frühstücken.«

»Gib mir eine Minute«, sage ich und verziehe mich ins Bad.

Ich verbringe gern Zeit mit meiner Mom, so ist es nicht! Aber seit ich den Olymp davor bewahrt habe, von Mr Aidoneus, alias Hades, Gott der Unterwelt, übernommen zu werden, wirft sie mir durchweg diesen Ich-bin-so-stolz-auf-dich-Blick zu und lässt mir Dinge durchgehen, die sie zuvor auf die Palme gebracht hätten.

Eigentlich sollte ich mich darüber freuen. Das tue ich. Irgendwie. Aber manchmal wünsche ich mir die Mom zurück, die auch mal ehrlich ihre Meinung sagt. Auch wenn die im ersten Moment vielleicht nicht leicht zu verkraften ist. Doch dann weiß ich wenigstens, woran ich bin. Dem jetzigen Frieden traue ich nicht.

Aus der einen Minute werden 15. Ich dusche so ausgiebig wie jeden Morgen und rubbele mir in meinem Zimmer die Haare trocken – mit Blick ins Grüne. Ein Scherz zwischen Mom und mir. Gegenüber hat die Besitzerin des Blumenladens die Wand des Gebäudes, das sie sich mit einem Tierarzt, einer Apotheke und einer Paketdienst-Filiale teilt, mittlerweile mit all ihren Malkünsten in einen wahren Dschungel verwandelt. Leider nicht sonderlich gekonnt. Der Papagei, der zwischen dichtem Farn auf einem Ast hockt, sieht aus wie ein gerupftes Huhn.

Ich werfe das Handtuch aufs Bett. Sofort kringeln sich meine dichten schwarzen Locken. Das muss als Frisur reichen. Ich schlüpfe in Jeans und Pullover und ziehe meine abgewetzten Lieblingsstiefel an, die mir schon häufiger den Kommentar eingebracht haben, mich wenig mädchenhaft zu geben.

Was das heißen soll, habe ich immer noch nicht herausgefunden. Allerdings suche ich auch nicht sonderlich danach. Wieso auch? Meiner Meinung nach soll jeder so sein, wie er oder sie es für richtig hält.

Mom hat den kleinen Tisch in der Küche gedeckt. Ich nehme Platz. Und ärgere mich im nächsten Moment über mich selbst. Warum wandert mein Blick gleich quer durchs Wohnzimmer zur Anrichte neben der Tür?

Dort steht die Büste mit der herzförmig geschwungenen Oberlippe aus meinem Traum. Und den wollte ich ja vergessen. Die Büste ist eines von Moms Lieblingsstücken. Wenn sie nach Hause kommt, streicht sie ihr jedes Mal über die Wange. Als wäre es ein Ritual. Hin und wieder braucht sie länger als nötig, um sich mit einem Seufzen wieder loszureißen.

Dass Mom Atalanta kannte, steht also außer Frage. Was genau sie miteinander verband …

»Ich glaube nicht, dass er so früh schon wach ist«, unterbricht Mom meine Gedanken.

Sie nimmt an, dass ich den Stier auf unserem alten Röhrenfernseher betrachte. Bis vergangenen Oktober war das billige Plastiktier in meinen Augen nur eine ihrer wenigen Geschmacksentgleisungen. Ansonsten ist unsere Wohnung hübsch eingerichtet.

In Wahrheit ist der Stier unser direkter Draht zu Zeus, fast wie ein göttliches Telefon. Wenn der Göttervater es denn mal für nötig erachtet, ranzugehen.

»Ich muss los«, holt Mom mich aus meinen Überlegungen und nimmt einen letzten Schluck aus ihrer Tasse, die auch als Rührschüssel durchgehen könnte. Für Mom bedeutet Frühstück vor allem eins: Kaffee! Zu essen besorgt sie sich später im Olympos auf einer ihrer Streifenfahrten.

Derzeit schiebt Mom mehr Schichten als gewöhnlich, denn das Departement wird von einer Erkältungswelle heimgesucht. Und wer nimmt schon einen Officer ernst, der sich erst mal die Nase putzen muss, bevor er einen verhaftet? Moms Kolleginnen und Kollegen bleiben also reihenweise zu Hause. Die übrig gebliebenen müssen ihre Dienste unter sich aufteilen und ärgern sich wahrscheinlich über ihre eigenen guten Immunsysteme.

Henry Papadopoulos’ Restaurant ist wenig später auch mein Ziel, nachdem Mom sich ihre Uniformjacke von der Garderobe geschnappt hat und zum Dienst aufgebrochen ist.

Weit habe ich es nicht, denn das griechische Lokal liegt nur wenige Meter neben dem Backsteinhaus, in dem wir wohnen.

Der New Yorker Verkehr rollt über die regennasse Straße an mir vorbei, in einer Gasse rattert die Lüftung einer Fast-Food-Filiale und bläst den Fettgeruch in den wolkenverhangenen Himmel.

Das Schaufenster des Olympos reiht sich ins trübe Grau ein. Inzwischen weiß ich, dass die heruntergekommene Fassade Absicht ist. Die verblichene Balustrade auf der Scheibe soll abschrecken und die Leute davon abhalten, das Restaurant zu betreten. Genau wie die unförmigen Statuen, die ich dahinter erahne.

Drinnen empfängt mich die übliche Klagemusik. Selbst auf der eigenen Beerdigung wünscht man sich Flotteres.

Die gewohnten Stammgäste heben die Köpfe und wenden sich nach einem knappen Nicken wieder ihren alltäglichen Beschäftigungen zu.

Beim Eingang klappert Ms Dimitriou mit ihren Häkelnadeln, Ms und Mr Nikolaidis halten verliebt Händchen in ihrer Nische, an der Bar schnarcht Ms Christou mit dem Kopf auf dem Tresen, als hätte sie um diese Uhrzeit bereits die Hälfte der Flasche Ouzo intus, die vor ihr steht. In Wahrheit rührt sie keinen Tropfen Alkohol an und ist wacher, als sie aussieht.

Die zwei Neuzugänge unter Henrys Gästen mustern mich mürrisch.

Antiope Wong ist der Frust über ihr neues Einsatzgebiet deutlich anzusehen. Wenigstens tigert sie nicht auf und ab wie Rhea Zervos, die Zeus als weitere Amazone zum Schutz des Olympos hierherbeordert hat. Sie hat sich den Barhocker neben Ms Christou geschnappt.

Beide schauen mich an, als wäre ich verantwortlich für die Langeweile, die sie nun jeden Tag ertragen müssen. Dabei kommt die Order von ganz oben. Genau wie die Auflage, was Helenas Dad Henry in seinem eigenen Restaurant zu tragen hat. Oder hat er sich das selbst ausgedacht? Zum schmutzigen Geschirrtuch über der Schulter hat sich ein passendes Unterhemd gesellt. Auf Brusthöhe prangen etliche Flecken. Senf und Ketchup erkenne ich, vom braunen Rest möchte ich lieber nicht wissen, was es ist.

Alles Teil der Tarnung, beteuert Henry. Ein letztes Detail, sollte sich doch einmal ein Tourist in seine Gaststätte verirren? Der wäre dann schneller wieder draußen, als dass er Lebensmittelvergiftung denken könnte.

Was Helena wohl davon hält? Die baldige Göttin der Schönheit achtet nicht erst seit gestern auf einen perfekten Auftritt. Modisch ist sie immer auf der Höhe. Selbst nach einem schweißtreibenden Schwertkampf richtet sie sich mit ihrer magischen Spiegel-App bloß drei Härchen, schon sitzt die Frisur wieder einwandfrei.

So viel Glück möchte ich haben.

Nicht, dass ich mich für hässlich halte! Ich bin zufrieden mit meinem Aussehen. Immerhin habe ich die langen, dunklen Haare und die Form meiner Nase und des Mundes von Mom. Und die ist eine echte Schönheit! Aber wenn Helena ihren Zauber wirkt, seufze sogar ich sehnsüchtig.

»Musst du nicht erst später rüber?« Henry setzt das Wort mit Fingern in Anführungszeichen, dabei wissen alle Anwesenden, was er meint.

Richtig. Eigentlich hat Polly Greek mich für den Nachmittag eingeteilt. Es schadet aber nichts, der Anführerin der Amazonen schon beim morgendlichen Training zuzusehen, denn man kann sich immer den ein oder anderen Trick von ihr abschauen.

Ich belasse es bei einer entsprechenden Antwort, nachdem Rhea mir den Weg nach hinten freigibt.

Ich kneife die Augen zusammen und betrete den schmalen Gang zu den Lagerräumen. Auf weiteren göttlichen Befehl hin hat Henry dort eine Flutlichtanlage installiert, die den kompletten Madison Square Garden ausleuchten könnte. Ein unvorbereiteter Einbrecher würde drei Wochen lang nur Sternchen sehen. Falls es ihm nicht gleich die Netzhaut versengt.

Mit einem Summen springen die Strahler an. Ich taste mich an der Wand entlang zur letzten Kammer rechts vor. Dort ist auf den ersten Blick alles beim Alten.

Der Raum ist Henrys persönlicher Schrottplatz. Oder es handelt sich um den Friedhof für sämtliche dahingeschiedenen Küchengeräte New Yorks. Feierlich werden sie hier zu Grabe getragen.

Ich steige über zwei Dutzend ausgedienter Mixer hinweg, suche mir einen Weg zwischen noch mit ranzigem Öl gefüllten Fritteusen hindurch, lasse die rostigen Backöfen links liegen und stehe schließlich vor einem nagelneuen Kühlschrank.

Zwei Meter hoch und ebenso breit, das Chrom glänzt frisch poliert. Die Tür öffnet sich geräuschlos, und ein LED-Licht erwacht mit einem zarten SSSMMM zum Leben.

Die Vorräte in seinem Inneren reichen für den nächsten Weltuntergang. Fein säuberlich getrennt lagern Obst, Gemüse, Fleisch und Milchprodukte in den Fächern.

Die beiden wirklich wichtigen Lebensmittel entdeckt man nur, wenn man gezielt danach sucht.

Links oben wird ein Holzbrett mit einem von blaugrünem Schimmel überzogenen Block Ziegenkäse von fünf Eimern griechischem Joghurt eingekeilt, rechts unten versteckt sich ein abgelaufenes Glas Oliven zwischen zehn Kilogramm Rucola.

Eine weitere grandiose Idee, um den Eintritt in die Akademie zu erschweren. Um dorthin zu gelangen, muss nämlich beides gleichzeitig berührt werden, wobei direkter Hautkontakt nötig ist. Also schnüre ich einen Stiefel auf, ziehe ihn und meine Socke aus und stelle beides neben die schon vorhandenen Schuhe der vor mir Durchgegangenen.

Ich wühle mich mit dem nackten Fuß durch das Grünzeug und erneuere meine innere Notiz: Auf keinen Fall einen Salat bestellen, wenn Mom und ich das nächste Mal hier essen!

Mit dem großen Zeh berühre ich das Olivenglas.

Ich balanciere auf dem linken Bein und strecke mich, bis meine Wirbelsäule protestierend knackst. Trotzdem schaffe ich es gerade so, den Zeigefinger in den Schimmelkäse zu stecken.

Im nächsten Moment falle ich schon nach vorn.

Statt mit dem Gesicht im Obst zu landen, stürze ich in die absolute Leere. Die Tür über mir schlägt zu, das Licht erlischt, ich spüre, wie das Universum einen Schritt zur Seite macht.

Ich lande auf dem steinigen Boden inmitten eines Olivenhains unter der morgendlichen Sonne Griechenlands.

»Mäh!«, begrüßt mich die an dem Baum angebundene Ziege, vor der ich angekommen bin. Genüsslich rupft sie einen Büschel Gras aus und verschlingt ihn mampfend.

Inzwischen habe ich ihr sogar einen Namen gegeben. Sammy, benannt nach meinem Kuschelesel zu Hause.

Ich gehe in die Hocke, um Sammy zu kraulen. Die paar Sekunden nehme ich mir jedes Mal. Natürlich achte ich peinlich darauf, nicht gleichzeitig einen Olivenzweig zu berühren! Sonst würde ich im Handumdrehen wieder in Queens landen.

In der Ferne rollt die Brandung gegen die Küste. Eine sanfte Brise trägt das salzige Aroma des Meeres heran. Über der Macchia mischt es sich mit dem süßen Duft von wildem Jasmin und dem harzigen Geruch früh blühender Zistrosen. Weiße und violette Blüten überziehen die für südliche Länder typische Buschlandschaft.

Zwischen den Büschen herrscht mehr Betrieb als am La Guardia Airport. Bienen starten und landen im Sekundentakt, schwerfällige Hummeln brummen wie voll beladene Transportflugzeuge hin und her. Zikaden begleiten das Treiben mit ihrem schrillen Zirpen, Rotkehlchen gehen trillernd dagegen an – und werden von einem markerschütternden menschlichen Schrei von oberhalb des Hains übertönt.

Kapitel 2

SCHWEIG, MENSCHENKIND!

Sammy unterbricht ihr Frühstück und späht alarmiert in Richtung der Akademie. »Mäh!«

Recht hat sie! Ich muss nachsehen, was da los ist.

Ähnliche Rufe fielen zuletzt beim Kampf der Amazonen und Göttinnen gegen die Keres. Mr Aidoneus’ fieser Männergesangsverein hielt uns in Schach, während Mr Aidoneus dem Göttervater seinen Blitz als Zeichen der Macht stehlen wollte.

Schmerzen und Qualen. Mir läuft immer noch eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich an das Motto des Chors aus den Tiefen der Unterwelt denke. Und Tod natürlich, einer ihrer Lieblingssongs.

Geduckt laufe ich los … und unterdrücke im nächsten Moment einen Schrei.

Auf dem linken Bein hüpfend ziehe ich mir die Distel, in die ich getreten bin, aus der Fußsohle. Nur, um gleich darauf die nächste zu erwischen.

Verantwortlich für den Wildwuchs ist Demmy Miller. Die kommende Göttin der Fruchtbarkeit gebietet nicht nur über Nutzpflanzen.

Wobei auch die Disteln ihren Zweck erfüllen. Kein Eindringling könnte aus diesem Stachellabyrinth schnell und unbemerkt herausstürmen. Statt zu rennen, setze ich meinen Weg vorsichtiger fort. Einen Angreifer würde das wertvolle Sekunden kosten. Zeit, in der die oben Wache haltenden Amazonen sich in Stellung bringen könnten.

Beim Pfad angekommen schnappe ich mir meinen Ersatzstiefel mitsamt Socke. Die luftigen Gemeinschaftssandalen, die sich die anderen mit dünnen Riemchen um die Knöchel binden, rühre ich nicht an. Unhygienischer geht es kaum.

Erneut dringt ein lauter Schrei zu mir vor.

Ich eile an den ersten Tempeln vorbei. Jeder ist einer anderen Göttin gewidmet. Hera, Athene, Aphrodite, Persephone. Aus allen strömen junge Anwärterinnen nach draußen, alarmiert vom Lärm.

Einige besuchen wie ich die McGhee, der Rest verteilt sich über ganz New York. Auch in der Akademie tragen die meisten normale Klamotten, Fußpilzsandalen mal ausgeklammert. Andere mögen es traditioneller. Sie werfen sich in den Umkleiden der Tempel in ein Chiton. Ganz Hartgesottene mühen sich mit einem Peplos ab, der griechischen Tischdecke, die sie sich auf komplizierte Weise um den Körper wickeln und mit Gürteln und Nadeln vor dem Absturz sichern.

Endlich liegt das Gelände vor mir, das uns Amazonen gehört. Eigentlich. Polly Greek trainiert dort mittlerweile aber auch angehende Göttinnen im Umgang mit den Waffen.

Genau die schreit sich mitten auf dem Platz die Seele aus dem Leib, so laut, dass ich es schon vorhin von unten gehört habe.

Mit gezücktem Schwert steht sie zwischen den aus dem sandigen Boden ragenden und von Kerben überzogenen Holzstämmen. Auf die Dinger lässt sie uns zum Aufwärmen gern eindreschen. Die jetzige Übung scheint aber der Beschuss von Zielscheiben aus Stroh etliche Meter abseits zu sein.

»Göttin der Nacht!« Polly hat es auf Nyla Xenopoulos abgesehen. Die Zwölfjährige besucht die Akademie erst seit Kurzem. »Göttin der geistigen Umnachtung wäre passender!« Polly weist mit der Schwertspitze auf einen Pfeil, der zwei Zentimeter vor ihrem nackten Zeh im Sand steckt. Der Flugbahn nach zu urteilen, ist er Nyla beim Spannen der Bogensehne entwischt.

»Wenn ich euch unterrichte«, tönt unsere Anführerin und wendet sich an die Handvoll anderer Göttinnen, »verlange ich von euch denselben Einsatz wie von meinen Amazonen.«

Die stehen im Halbkreis um die betroffen Dreinschauenden und verkneifen sich mühsam das Lachen. Allerdings amüsieren sie sich über Polly, nicht über die Göttinnen.

Ich entdecke meine Freundinnen Lucy und Tory mit Helena vor dem schlichten Steinhaus, welches das Gelände begrenzt. Dahinter liegt nur dichter Wald aus Kiefern und Zypressen unterhalb des echten Olymps mit dem Sitz der Götter auf dem wolkenverhangenen Gipfel.

Ich geselle mich unauffällig zu ihnen. Die Zwillinge mit den Fransenponys begrüßen mich mit einem breiten Grinsen auf ihren von Sommersprossen übersäten Gesichtern, Helena mit einer schnellen Umarmung, soweit es das Kopis in ihrer Hand zulässt.

Mit der gebogenen, einseitig geschliffenen Klinge durchdringt eine geübte Amazone damit die Rüstungen jedes Gegners auf dem Schlachtfeld. So zeigen es zumindest die blutigen Darstellungen heroischer Kämpfe an den Wänden im Gemeinschaftsraum. Deshalb hat ein Kopis ein ganz schönes Gewicht. Jemanden mit diesem Schwert aufzuspießen, ist Schwerstarbeit. Da weiß man, was man am Ende eines langen Arbeitstags getan hat, meinte Polly scherzend, als sie uns dieses Schwert in einer Stunde Waffenkunde vorstellte.

»Du bist früh dran.« Helena flüstert, um Pollys Aufmerksamkeit nicht auf uns zu ziehen. Die stapft gerade auf Gia Millroy zu.

Das blasse Mädchen hat sich wie immer für einen übergroßen schwarzen Pullover und eine lässige Cargo entschieden, ebenfalls in Schwarz. Wenig überraschend. Die Andeutung eines Schmunzelns auf ihrem Gesicht hingegen ist neu.

Seit Gia im Kampf gegen die Keres eine entscheidende Rolle spielte, blüht sie auf. Soweit ein Nachtschattengewächs wie sie blühen kann. Sie wirkt nach wie vor, als verbrächte sie ihre Freizeit am liebsten auf Friedhöfen und bereitete okkulte Messen vor.

»Konnte nicht mehr schlafen.« Mehr muss ich nicht sagen, denn als beste Freundin weiß Helena von dem Traum, der mich in unschöner Regelmäßigkeit überfällt. Sie schaut mich mitfühlend an, aber bevor sie tröstende Worte findet, fährt Polly fort.

»Und du …« Sie richtet die Spitze ihres Schwerts auf Gia. »Du stehst vielleicht kurz davor, die Göttin des Schmerzes zu werden …« Sie atmet tief ein, dann bricht es aus ihr heraus: »Aber das ist noch lange kein Grund, mir Schmerzen zuzufügen! Es war eine Übung. Deinen Schild hättest du verwenden sollen, um mich aufzuhalten, nicht … nicht …« Ein verärgertes Zittern läuft durch ihren Körper.

Neben mir beben Lucy und Tory vor innerlichem Lachen. Polly wirft ihnen einen finsteren Blick zu. Mit größter Anstrengung gelingt es den beiden, ihm so lange standzuhalten, bis Polly sich dem Rest der talentbefreiten Gören zuwendet, wie sie die Göttinnen nun lautstark bezeichnet.

Ebenfalls flüsternd erklärt Lucy mir den Grund der üblen Laune: »Sie hatte schon den ganzen Morgen was an Gias Deckung auszusetzen. Zur Verdeutlichung wollte sie ihr einen Hieb mit der flachen Seite ihres Schwerts auf den Hintern geben.«

»Aber das hat nicht geklappt«, vermute ich.

Tory übernimmt kichernd: »Ihr Schwert war nicht mal in der Nähe von Gias Allerwertestem! Gia musste nur einen Finger krümmen, schwups lag Polly eingerollt und wimmernd wie ein Baby auf dem Boden.«

Gia scheint ihren Wesenskern tatsächlich bald vollständig verwirklicht zu haben.

Anders als allgemein angenommen leben Göttinnen und Götter nicht ewig. Was sie ausmacht, ihr Wesenskern, bleibt bestehen und sucht sich, wenn es an der Zeit ist, eine neue Trägerin.

Polly ist streng, trägt das Herz aber am rechten Fleck. Sie ist okay und hat mir beim Kampf gegen die Keres und Mr Aidoneus vertraut. Ich habe ihr längst verziehen, dass sie mir bei meinem ersten unbeabsichtigten Besuch der Akademie noch die Zunge herausschneiden wollte.

»Sie sollte mal die Kirche im Dorf lassen«, murmelt Helena hingegen.

Sie weiß, wie schwer es ist, den Vorstellungen anderer gerecht zu werden. Von ihr wird erwartet, hübsch auszusehen und den Jungs die Köpfe zu verdrehen. Daran findet sie durchaus Gefallen, ihre wahre Leidenschaft gehört jedoch dem Umgang mit dem Schwert.

Darin ist sie mittlerweile so gut, dass Polly ihr zur Überraschung aller einen Ring überreicht hat, in dem sich auf magische Weise nicht bloß eine Waffe ihrer bevorzugten Gattung befindet, sondern gleich mehrere. Dreht Helena ihn am Finger, springt ihr das passende Schwert in die Hand.

»Oder den Tempel in der Akademie«, witzele ich auf ihren Einwand mit der Kirche hin. Nachdem klar ist, dass es sich um keinen weiteren Angriff aus der Unterwelt handelt, kann ich mich entspannen.

Dabei wäre ein bisschen Spannung schön gewesen. Es ist albern, ich weiß, aber seit letztem Herbst passiert nicht wirklich viel in der Akademie. Hades ist in die Unterwelt verbannt, und alle Göttinnen und Götter, die sich damals auf seine Seite geschlagen hatten, sind dank Zeus’ überragendem Erfolg bekehrt.

An Gia prallt Pollys Tadel ab. Die Göttin des Schmerzes haut so schnell nichts um, und Nyla wird ebenfalls darüber hinwegkommen.

Helena sieht das anders. »Die Arme hat heute zum ersten Mal einen Bogen in der Hand. Was erwartet Polly denn? Sie soll mal friedlich bleiben und der Kleinen etwas mehr Vertrauen schenken.«

Den letzten Satz bekommt Polly mit. Statt direkt darauf zu antworten, ist sie mit einem Schritt bei einer Amazone aus Lucys und Torys Waffengattung. Sie schnappt sich deren Speer und schleudert ihn in einer fließenden Bewegung auf uns.

Ich reagiere, ohne nachzudenken.

Wie im Traum fährt meine Hand zum Hals. Diesmal findet sie die Kette. Eine leichte Berührung, und sofort verschiebt sich die Realität.

Der feine Goldanhänger zerspringt in zwei Teile, leuchtet gleißend auf, schon halte ich meine Axt in der linken Hand. Mein rechter Unterarm gleitet in die Schlaufe auf der Rückseite des Schilds. Labrys und Pelte.

Ich reiße das Schild hoch und lenke den Speer im letzten Augenblick ab. Die Wucht des Wurfs lässt ihn an uns vorbei mit einem tiefen Singen in die Holztür des Gemeinschaftshauses fahren.

»D-d-das war knapp.« Neben mir ist Helena weiß wie ein frisch gewaschener Peplos. Sie hat sich keinen Millimeter gerührt. Genau wie Lucy und Tory. Die beiden schauen betroffen zu Boden. Hätte ich nicht gehandelt, hätte unsere Freundin jetzt einen Speer mittig in der sonst so makellosen Stirn stecken.

Polly nickt anerkennend, bevor sie sich an Helena wendet. Oder, ihrer Lautstärke nach zu urteilen, an alle: »Gut, dass Tessa stets wachsam ist und nicht darauf vertraut, dass ich friedlich bin! Eine Amazone vertraut nur sich selbst und ihren Fertigkeiten! Wenn ihr Göttinnen das nicht lernen wollt, seid ihr hier falsch. Übt weiter eure Zaubertricks in euren Tempeln. Hier müsst ihr jederzeit auf alles vorbereitet …«

Weiter kommt sie nicht.

Es donnert, und in einer gewaltigen Wolke aus Blitzen und Staub erscheint Zeus höchstpersönlich.

»SCHÖNENGUTENMORGEN, ZUSAMMEN!«

Wie jedes Mal, wenn ich ihn sehe, trägt er seine labbrige Jogginghose. Die schmutzigen Unterhemden scheint er allesamt Helenas Dad vermacht zu haben. Ob das, was er aus seinem göttlichen Kleiderschrank gefischt hat, besser ist, weiß ich nicht.

Es fällt mir schwer, den Blick von dem Einhorn auf seinem Shirt zu nehmen. Mit einem fröhlichen YUCHEE! rutscht es auf einem Regenbogen in ein pinkfarbenes Planschbecken.

»AH, TESSA, WUNDERBAR! DICHWOLLTEICHSPRECHEN! ICHHABEESBEIDIRZUHAUSEVERSUCHT, ABERDAWARNIEMAND. LASSUNSEINENSPAZIERGANGUNTERNEHMEN! IHRANDEREN …« Erst jetzt fällt ihm die gereizte Stimmung auf. Mit gerunzelter Stirn lässt er den Blick vom in der Tür steckenden Speer zu Nylas Pfeil im Boden wandern.

Die junge Göttin versucht, den zugehörigen Bogen möglichst natürlich hinter ihrem Rücken verschwinden zu lassen.

Zeus fährt sich mit den Fingern durch den dichten, grauen Bart. Wenigstens hängen heute keine Reste der letzten Mahlzeit darin.

»WEITERMACHEN!« Er wedelt mit der Hand. »DASWIRDSCHON! GUTEARBEIT!«

Er legt mir die Pranke auf die Schulter und schiebt mich von den anderen weg. Glücklicherweise schraubt er seine Lautstärke herunter, als er mir ins Ohr raunt: »Wir haben etwas zu besprechen, Tessa.«

Er führt mich auf einen schmalen Weg in den Wald. Wir steigen über Wurzeln und Steine, bald hüllt uns der harzige Duft der Kiefern ein.

Es könnte ein erhabener Moment sein. Man flaniert nicht alle Tage mit dem Obergott unterhalb des Olymps durch die Landschaft.

Das passende Gefühl will sich nicht so recht einstellen. Schuld daran ist Zeus’ Schuhwerk. Bei jedem Schritt schnalzen seine Flipflops mit einem lauten Knall gegen die Fersen, als wären wir unterwegs zum Strand, um uns einen Sonnenschirm zu sichern, bevor die anderen Hotelgäste ausströmen.

»Du wirst es dir schon denken«, beginnt er, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass wir weit genug gelaufen sind. »Ich habe einen neuen …«

»… Auftrag für mich!«

»SCHWEIG, MENSCHENKIND!«, donnert Zeus. Wenn der Kuchen redet, hat der Krümel zu schweigen. So sieht er das.

Ich möchte nicht sagen, dass die normalen Aufgaben der Amazonen mich anöden. Aber mal ehrlich: den Ernstfall üben. Patrouille laufen. Ein Auge auf Helena haben, die inzwischen komplett auf sich selbst aufpassen kann. Üben. Patrouille laufen.

Doch, öde trifft es ganz gut. Sterbenslangweilig noch besser. Umso willkommener ist die Abwechslung.

»DUMUSST …« Er räuspert sich und setzt neu an: »Du musst etwas für mich finden, Tessa. Ob allein oder mit deinen Freundinnen, überlasse ich dir. Aber erzähl deiner Mom nichts davon.«

Ein Geheimauftrag! Es wird immer besser! Ob Zeus’ Wunsch realistisch ist, weiß ich nicht. Als Cop bringt Mom jeden zum Reden. Eine hochgezogene Augenbraue, und die schlimmsten Verbrecher beichten ihr, wem sie bereits in der Elementary School das Pausenbrot gemopst haben.

Mom hat mir aber auch beigebracht, ein Problem nach dem anderen anzugehen. Ich muss erst einmal wissen, was genau Zeus von mir möchte.

»Was soll ich suchen?«

Zeus hebt den Zeigefinger. »Finden, kleines Menschenkind. Das ist ein Unterschied. Finde für mich die Würfel des Palamedes.«

Er schaut mich wissend an und erwartet von mir wohl eine Reaktion. Wahrscheinlich sollte ich total aus dem Häuschen sein.

Ich habe bloß keinen Schimmer, wovon er spricht.

Kapitel 3

Wer fragt, dem wird geantwortet

Nicht im Wohnzimmer frühstücken!

Der Zettel mit Moms Hinweis wartet auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa auf mich. Wir essen nur zu besonderen Anlässen hier, an Filmabenden, wenn wir uns eine Pizza bestellen oder etwas aus dem Olympos holen. Ansonsten soll ich in der Küche essen.

Ich benutze die Nachricht an diesem Montagmorgen als Untersetzer für meine randvolle Schüssel Honey Nuts Cheerios mit Hafermilch und lasse mich aufs Sofa sinken. Natürlich so, dass ich den Rest auf dem Papier noch lesen kann: Hab dich lieb und wünsche dir einen guten Start in die Woche, mein tolles Mädchen!

Ich tauche den Löffel in die Cheerios und blättere nebenbei in dem dicken Buch über die griechische Mythologie, das ich mir letzten Herbst zugelegt habe.

Palamedes und seine komischen Würfel? Fehlanzeige.

Wie soll ich die Dinger finden, wenn ich nichts über sie in Erfahrung bringen kann? Das Internet gibt ausnahmsweise auch nichts her.

Selbst Zeus hielt sich bedeckt. Kaum hatte er mir den Auftrag erteilt, machte er sich schon wieder in einer staubigen Wolke auf den Weg in den Olymp. Wahrscheinlich hatte er eine Portion Mac and Cheese in der Mikrowelle und wollte sie nicht kalt werden lassen.