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«Ins bremische Moor?», fragte der Fährmann entsetzt. «Bleibt lieber auf dem Sand, im Moor sitzt der Teufel.» Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot. – Im Teufelsmoor bei Bremen müht sich eine Bauernfamilie über Generationen, der unwirtlichen Natur ein menschenwürdiges Leben abzuringen. Liebe und Hass, Neid und Bruderzwist, kleine Welt und große Politik bestimmen die Schicksale der Kähdings zwischen kurhannoverscher Zeit und Kaiserreich.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2011
Elke Loewe
Teufelsmoor
Roman einer Familie
Dem Ersten den Tod,
dem Zweiten die Not,
dem Dritten das Brot
Meinen alten Nachbarn in der ehemals Findorff’schen Moorkolonie Hohenmoor zwischen Mulsum und Elm
Im Moor friert es bis Johanni und ab Johanni.
Als Lütje Kähding aus Wittenmoor sich im Jahr 1862 auf das Schiff nach Amerika begab, trug er nichts weiter bei sich als einen schmalen Beutel aus Leinen um den Hals, der war leer bis auf die silberne Kette seiner Mutter und ein Messer, wie es die Bauern zum Schneiden der Klauen ihrer Schafe benutzen.
Im Kopf bewahrte er seine zweiundzwanzig Jahre im Teufelsmoor und die Geschichten seines Großvaters, dessen Vater einhundert Jahre zuvor als Kolonist ins Moor gezogen war.
Noch wusste Lütje nicht, dass die Zeit Erinnerungen plündert oder schmückt, dass sie sie niemals unverändert stehen lässt. Er wusste auch nicht, was ihm unwiderruflich bleiben würde: die Farben, die Töne und die Gerüche der Jahreszeiten.
Im Frühling der Rauch des Moorbrennens, der zum Himmel steigt und den Regen verjagt. Die warme Asche, in die der Vater den Buchweizen sät. Im Frühsommer, wenn der Brachvogel ruft, das Torfstechen. Im Sommer, wenn die Kreuzottern sich auf dem heißen Moorboden sonnen, das Ringeln der Soden. Der Geschmack der kühlen Buttermilch. Das frische Brot aus der Hand der Mutter. Das Kichern der Schwester. Im Herbst die Fahrt nach Bremen unter den schwarz geteerten Segeln des Torfkahns. Der Morgendunst über den Wiesen und dem Wasser. Im Winter das Warten auf den Frühling, wenn Regen, Nebel und Frost sich die kalte Hand geben. Das Sausen der Spinnräder und das Klappern der Stricknadeln am räuchernden Torffeuer. Die tropfenden Speckseiten unter den Balken. Das Gleiten mit den Schlittschuhen auf dem zugefrorenen Schiffgraben, unter den Füßen die Schwingungen des Eises.
Als Lütje um Mitternacht mit einem Bündel auf dem Rücken sein Elternhaus verließ, schwankte der Moorboden unter den Füßen der tanzenden Hochzeitsgäste. Am Himmel leuchteten die Sterne des Großen Wagens. Er hätte zwischen Deichsel und Schotten auch Platz für Hanne gehabt. Gleich würden die jungen Frauen Hanne den Schleier zerreißen, denn wer das größte Stück ergattert, heiratet übers Jahr. Das war schon immer so, und das wird auch so bleiben. Und welche Frau wollte das nicht im Moor? Braut werden, Kinder empfangen und gebären, einen eigenen Hausstand führen. Fort aus den wachsamen Augen der Eltern und des Pastors, nicht zuletzt auch aus den Augen des lieben Gottes, der alles sieht und alles weiß, da oben hinter dem Großen Wagen, der auch das mit Hanne und Lütje gesehen hat zwischen den Brombeerbüschen, im Bett aus Heide und Torf.
Ein ganzes Frühjahr lang war das so gegangen, alle Sonntage nach der Kirche. Jedes Mal wurde Lütje die Zeit länger bis zu diesem herrlichen Augenblick der Erschöpfung, wenn er sich rücklings ins Heidekraut warf und Hanne ihren Kopf auf seine Brust legte und ihn mit ihren Zöpfen kitzelte, wenn er den Wolkenschiffen nachsah und träumte, mit Hanne nach China zu segeln. China! Beim Torfverkauf in Bremen hatte Lütje einen Chinesen gesehen, seitdem wollte er nur noch nach China.
«Lütje», rief die Mutter ihm leise hinterher.
Sie winkte ihn zur Hintertür wieder herein in ihre Schlafkammer. An der Hand führte sie ihn zur blauen Truhe mit dem in roter Farbe geschriebenen Namen: Katharina Auguste Funck. Sie nestelte an ihrem Schlüsselbund, steckte einen dicken runden Schlüssel in das Schloss und drehte ihn um, wobei sie den Deckel mit der einen Hand etwas anhob.
Lütje wandte seinen Blick ab. Noch nie hatte er in diese Truhe gesehen, sie war der alleinige Schatz der Mutter, und niemand hatte darin etwas zu suchen.
Die Mutter drückte den schweren Deckel nach hinten, beugte sich über die Truhe, griff mit einer Hand hinein, während sie den Deckel mit der anderen festhielt, und richtete sich wieder auf. Sie klappte den Deckel vorsichtig zu, verschloss ihn und steckte den Schlüsselbund zurück an ihren bunt gewebten Gürtel über dem weiten dunkelblauen Hochzeitsrock. Mit der einen Hand hielt sie sich ihren schmerzenden Rücken und reichte mit der anderen ihrem Sohn einen gefüllten Leinenbeutel.
«Unser Buchweizen ist erfroren in diesem Jahr», sagte Lütje.
Tibcke nickte ihm auffordernd zu, sie sagte kein Wort, nur ihre Augen verrieten, wie traurig sie war.
«Lass das, Mutter, du wirst es noch brauchen», sagte Lütje. «Morgen nimmt Hanne die Schlüssel.»
Die Mutter suchte weiter nach Worten, aber sie fand keine. Lütje nahm den Beutel und hängte ihn sich um den Hals.
Morgen nimmt Hanne die Schlüssel.
Tibcke hatte nie viel Worte gemacht in ihrem Leben. Das also war das Ende ihrer Schlüsselgewalt auf dem Hof. Von morgen an wird Hanne die Herrscherin sein, auch über die blaue Truhe. So will es der Vertrag zwischen den Alten und den Jungen. Darüber hatte ihm sein Großvater erzählt. Einmal hatte der Großvater auch gesagt: «Du siehst aus wie mein Vater, Lütje. Der hatte ebenso einen Wirbel wie du, wo andere den Scheitel haben.»
Hanne wird den Inhalt der Truhe begutachten, das Leinen zwischen die Hände nehmen und mit ihren Fingern die Festigkeit prüfen. Später wird sie sich die Kontrakte vornehmen, die seit einhundert Jahren in dieser Truhe abgelegt werden.
Hanne kann gut lesen. Besser als Lütje. Sie kann es, ohne mit dem Finger unter der Reihe der Buchstaben entlangzufahren. An den langen Wintertagen, wenn Lehrer Bartels, täglich wechselnd in eine andere dunkle Stube, auf die Höfe kam, wenn er mit dem Rohrstock in der Hand das Lesen in der Bibel lehrte, war Hanne die Beste von allen gewesen.
Tibcke zog ein spitzenumhäkeltes, zu einem Viereck zusammengelegtes Taschentuch aus ihrem Gürtel, wollte sich über die Augen wischen und fand in diesem Augenblick die gesuchten Worte. Sie hielt in der Bewegung inne und reichte das Taschentuch Lütje, der es in seine Jacke steckte.
«Gott segne und beschütze dich, mein Sohn. Und vergiss nicht, dich von deinem Vater zu verabschieden.»
Lütje wusste, sie würde ihren neuen Platz einnehmen, ohne zu klagen.
Vergiss deinen Vater nicht. Lütje musste ihn nicht lange suchen. Am Bienenzaun saß der Vater auf seinem Stuhl. Es war ja Vollmond. Die sechs aus Stroh geflochtenen, lehmverputzten Bienenkörbe glänzten mattgelb. In der Mitte als siebenter der Bannkorb mit der Maske. Die hatte der Vater im Herbst nach dem Ereignis geschnitzt, nach dem schwarzen Himmelsstein, der seine Sinne verwirrt hatte.
Als Lütje sich neben den Vater setzte, sah der nicht auf.
«Vater, ich geh fort aus dem Moor.»
«Immen, Immen. Hört mir zu!»
«Vater, ich geh weit weg, nach China.»
«Immen, Immen, ich muss euch was sagen. Mein Sohn geht nach China.»
Jetzt wandert Lütje nach Südwesten. Das Moor zittert unter den Tritten seiner Holzschuhe. Hanne war noch zu ihm in das Bett aus Heide und Moos gekrochen, nachdem sie sich Pfingsten mit Christian verlobt hatte. Und er hatte diesen Sieg über seinen Bruder ausgekostet. Jedes Mal. Viele Male. Bis zuletzt. Als verheiratete Frau, das wusste er, würde Hanne nicht mehr kommen. Nicht, weil Christian ihr im Stroh mehr zu bieten hätte, nicht deshalb. Zu diesen Dingen ist schließlich jeder Mann im heiratsfähigen Alter imstande, jeder, sage ich, auch der dümmste. Auch nicht, weil du nicht das sechste Gebot brechen sollst. Nein, eine Frau unter der Haube, die steht auf einmal über dir, weil sie am Ende der Reihe ihrer Vorfahren einen vorläufigen – ja, vorläufigen! – Platz gefunden hat, den du, Lütje, noch nicht hast.
Glücklicherweise scheint der Mond und lässt die Torfgräben schimmern, schnurgerade Spiegelbänder. Lütje überspringt sie, und man muss sich nicht sorgen, dass er zurückfällt, wenn der Boden nachgibt. Er hat es gelernt, das Springen über Gräben, zweiundzwanzig Jahre lang, er kann es. Als er sich einmal an einem Gagelstrauch festhält, reißt er dabei ein paar Blätter ab. Er steckt sie in die Tasche seiner schwarzen Jacke, deren Ärmel ihm zu kurz geworden sind seit der Konfirmation. Mit den Blüten und Blättern des Gagels färbte seine Mutter im Sommer die Wolle gelb. Im Herbst spannen die Frauen die Wolle zu Fäden, und im Winter strickten die Männer Strümpfe daraus. Ein Paar davon trägt Lütje jetzt an den Füßen, darüber die Holzschuhe, ein zweites Paar liegt in seinem Leinenbündel. Wer weiß schon, wie in China das Wetter sein wird.
Nach zwei Stunden erreicht er erst die Wiesen und dann das Ufer der Hamme. Das schwarze Wasser glitzert unter dem Mond. Lütje löst den Strick eines Torfkahns, er stakt zur anderen Seite des Flusses. An einem Pfahl bindet er den Kahn fest. Der Bauer wird schon wissen, wie er hinüberkommt. Und wenn er nasse Füße kriegt, was schert es den, der auf dem Weg nach China ist.
Die Wiesen werden trockener, und Lütje geht auf einem Sandweg weiter. Einer wie Lütje, der auf schwankendem Boden aufgewachsen ist, der staunt jedes Mal aufs Neue, wenn er festen Boden betritt. So ist es ihm auch in Bremen ergangen, als er das erste Mal mit Vater und Bruder in den engen Straßen den Backtorf verkaufte. Er hat das Zittern unter den Füßen vermisst, ist misstrauisch auf die runden Pflastersteine getreten, immer erwartend, sie würden unter dem Druck seiner Füße nachgeben. Wie jeder Stein, überhaupt jedes Ding im Moor versinkt. Du legst im Frühling etwas ab, und wenn du es im Herbst suchst, findest du es nicht mehr. So wird auch Hannes Liebe im Moor verschwinden auf Nimmerwiedersehen.
Lütje stapft auf den Weyerberg, diesen mächtigen Sandhügel im Moor. Den Sand hat ein Riese auf der Flucht aus seinen Stiefeln gekippt; das weiß Lütje vom Großvater.
Es ist das Einfachste auf der Welt, über Sand zu laufen. Du musst nicht wie im Moor über Schlenken auf Bulten springen, wenn dir dein Leben lieb ist. Du kriegst wohl Sand in die Holzschuhe hinein, unter die Strümpfe und in die Strümpfe, aber du kannst sie ausziehen und den Sand aus den Schuhen rieseln lassen.
Lütje lehnt sich an ein hohes Mal aus Holz, zu dessen Füßen Feldsteine liegen. Er wischt sich mit dem Jackenärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Zum ersten Mal wagt er den Blick zurück ins Moor. Irgendwo in der weiten, mondbeschienenen Ebene unter dem großen Wagen brennt es.
Hanne hat sich in dieser Nacht seinem Bruder Christian hingegeben.
Lütje stößt sich von dem Mal ab und wirft sich bäuchlings auf den Sand. Keine weiche Mulde aus Torf und Heide fängt ihn auf. Der Sand ist kühl wie am Morgen Hannes Gesicht vor dem geschmückten Altar auf der Diele.
«Willst du, Jungfrau Johanne Auguste Renken, den ehrbaren Bauern Christian Wohlert Kähding zu deinem Manne nehmen, so antworte laut und deutlich mit Ja.»
«Ja, ich will.»
Die Jacke mit den zu kurzen Ärmeln stört. Lütje wirft sie fort. Von der Hose reißt er einen Knopf ab. Er beschmutzt das Taschentuch seiner Mutter. Unter dem Großen Himmelswagen schläft er ein, den Kopf auf die Jacke gelegt, die tiefe Stimme des Großvaters im Ohr.
«Einmal unternahm ein gottloser Fuhrmann aus schnöder Gewinnsucht am Sonntag eine Reise, wenn doch alle Geschäfte ruhen sollen. Er holte seine drei Pferde aus dem Stall und spannte sie hintereinander vor den Wagen. Sie hörten aber nicht auf seinen Zuruf, auch nicht, als er mit der Peitsche dazu knallte. Da schwang sich der Fuhrmann mit einem bösen Fluch auf das Pferd in der Mitte und bearbeitete es mit den Sporen, während er das vordere und das hintere Pferd mit der Peitsche schlug. Die schnaubenden Tiere drängten und schoben den Wagen rückwärts. Doch der Fuhrmann missachtete dieses Zeichen des Himmels und setzte sein Fluchen und Schlagen fort. Da verschoben sich die Achsen des Wagens, und die Räder rollten davon. Der Fuhrmann fluchte in Teufels Namen, im Nu waren Wagen, Pferde und Fuhrmann wie vom Erdboden verschwunden. In der Nacht sahen die Menschen das Zeugnis der Gotteslästerung als Sterne am nördlichen Himmel, wo nun alles aus dem richtigen Verhältnis geschoben ist und der bespannte Wagen seitdem allabendlich rückwärts fährt.»
«Ist das wirklich wahr, Großvater?»
«Das ist so wahr, wie früher das Moor angeschwemmt wurde von den großen Fluten, Lütje.»
«Das stimmt aber nicht, Großvater, das Moor ist hier gewachsen, hat Lehrer Bartels uns gelehrt.»
«Der ist ein Klugscheißer», hatte der Großvater gesagt.
Als Lütje in der Kälte des Sandes und der Kühle der Nacht erwacht, wird es im Osten schon hell. Er springt auf, will seine Hose zuknöpfen, merkt, dass ihm ein Knopf fehlt. Er sucht ihn im Sand. Er hat jetzt Hunger, freut sich auf Speck und Brot und Buttermilch. Die Wegzehrung hatte seine Mutter am Vorabend der Hochzeit noch in das Bündel gepackt. Seine Mutter, die alles wusste und nie darüber sprach, aber gebetet hat für ihren Zweitältesten. Mütter sehen es ihren Söhnen an, wenn da etwas geschehen ist. Sie erkennen auch das Mädchen, das nicht mehr Jungfrau ist. Mütter wissen mehr über ihre Kinder als Väter, ohne zu wissen, dass es so ist.
Sie hatte Angst vor der Herrschaft des ältesten, jähzornigen Sohnes, aber sie wusste auch, ein verwirrter Bauer, der nur noch zu seinen Bienen spricht, hat das Recht verwirkt, ein Bauer zu sein. Ihr blieb nichts anderes, als ja zu sagen zu der Hochzeit von Christian und Hanne und der Übergabe des Hofes, auch wenn sie es noch längst nicht wollte. Sie war gefangen in der Reihe, die da heißt, geboren werden, heranwachsen, heiraten, gebären, aufziehen, abgeben. Einen Altenteilervertrag machen, der alles regelt, vom Tabak bis zur Milch, von der Kammer bis zum Totenhemd.
Das Leben war Arbeit und Pflichterfüllung, Mutter, du wurdest nicht gefragt, was du willst, du tatest, was das Leben von dir verlangte, ohne selbst zu fragen. Aber du konntest deinem Sohn etwas mit auf den Weg geben, Mutter, was du heimlich zusammengetragen, dir vom Munde abgespart hast. Dafür kommst du in den Himmel, bestimmt.
Lütje kippt den Sand aus den Schuhen, zieht seine Jacke an und will sein Bündel aufnehmen. Das Bündel ist fort. Fort ist das Brot, der Speck und die Buttermilch. Die gagelstrauchgelben Wollstrümpfe, fort. Die Unterhose, die Bibel, das graue Handtuch, die gesparten Taler, das Rasiermesser, fort. Fort ist das Taschentuch, das beschmutzte, und das Messer für Speck und Brot. Lütje sieht sich um. Auf dem Moor liegt die graue Decke des Morgennebels, niemand ist zu sehen im Halbdunkel auf dem föhrenumstandenen Berg. Auch nicht hinter dem Denkmal, zu dessen Füßen Lütje geschlafen hat. Fort ist der Dieb. Hat sich noch vor der aufgehenden Sonne davongeschlichen. Schlägt sich in seiner Hütte den Bauch jetzt voll mit Brot und Speck, trinkt Buttermilch und lässt seine Kinder hungern oder teilhaben, wie es ihm gerade gefällt.
Lütje tastet unter seinem weißen Sonntagshemd mit den Falten vom Kragen abwärts nach dem Leinenbeutel. Der Beutel ist da. Zusammengehalten von einem geflochtenen Band aus schwarzer Wolle. Lütje löst den Knoten. Er öffnet mit Daumen und Zeigefinger den Beutel. Er öffnet ihn zum ersten Mal. Langsam, ungläubig schüttet er Taler auf den Vorsprung des Grabmals. Wieder sieht er sich um. Er zählt bis dreißig. Er schüttelt den Beutel ganz aus. Eine silberne Kette mit silbernem Kreuz fällt leise klirrend auf einen Stein, glitzernd wie das Mondlicht auf dem Wasser des Flusses.
Wie die Mutter vor ihm stand in ihrem blauen Hochzeitsrock, der barmherzig ihren von schwerer Arbeit und fünf Geburten geschundenen Körper verhüllte, wie sie, noch halb gebückt vom Suchen in der Truhe, ihn ansah, hatte Lütje sie zum Abschied in den Arm nehmen wollen. Aber er wusste nicht, wie das geht bei einer Mutter.
Lütje müsste jetzt Gott danken in diesem Moment, wo ihm genommen und wieder gegeben wurde, aber es kommt ihm kein passendes Gebet in den Sinn.
«Komm, Herr Jesus, und sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast», betet Lütje, gleichzeitig denkt er daran, dass Speck und Brot ja ungesegnet fort sind. Und wie dieses Gebet mit der Einladung für den Herrn Jesus von der Mutter am Tisch gesprochen wurde, morgens, mittags und abends, daran denkt er auch. Wieso soll der Herr Jesus nun Taler segnen, wenn er auf Speck und Brot nicht aufgepasst hat? Lütje verspürt in seinem morgendlichen Heißhunger eine Wut auf Jesus in sich aufsteigen, wie die Wut auf seinen Bruder. Sofort fallen ihm weitere Gebete ein, die er ärgerlich wegschiebt. Warum ist er überhaupt wütend auf seinen Bruder, statt auf Hanne? Sie hat nicht nur Christian verraten, sondern auch ihn, Lütje. Hatte es eilig, unter die Haube zu kommen, weil er ihr keinen Hof bieten konnte. Lieb haben und an fünfzig Morgen Moorland denken! Drei Kühe und zwei Kuhkälber! Sieben Schafe, eins davon schwarz, und eine Ziege! Nirgendwo gibt es ein Gesetz, dem zufolge dem Älteren die Nachbarstochter zustünde!
Lütje streicht mit einer schnellen Bewegung die Taler vom Sockel in den Leinenbeutel. Die Kette fällt in den Sand. Als Lütje sie aufhebt, findet er auch den Knopf und steckt ihn zu den Talern. Er bindet die geflochtene Schnur sorgfältig zusammen und hängt sich den Beutel wieder um den Hals. Sein Blick fällt auf eine Eisenplatte, die auf dem Holz verschraubt ist.
«Dem königlichen Moorkommissario Jürgen Christian Findorff», buchstabiert Lütje. Er hat unter dem Denkmal von Findorff geschlafen, der die Hofstellen im Moor schuf, der Mann, von dem Großvater Friedrich nur mit Hochachtung sprach.
Es ist hell geworden. Die Sonne hat den Nebel in Dunst aufgelöst, und sie kriecht durch die Zweige der Föhren in die Tautropfen an den Nadelspitzen.
Lütje kippt den Sand aus den Holzschuhen und geht den Berg hinab nach Süden davon, über das große Moor auf Bremen zu.
Wenn einer wie Lütje geht, dann nicht nur, weil er jetzt Durst hat und einen Brunnen sucht. Der geht auch, weil er in Bremen den Chinesen gesehen hat, der mit einem Schiff über den großen Ozean gekommen ist, weit jenseits des Moores, wo die Sonne aufgeht. Einer wie Lütje geht auch, weil er nicht Knecht bei seinem Bruder und dessen Frau sein will. Er hat keine Angst vor dem Unbekannten, das sich im Morgendunst hinter dem Moor versteckt.
Zwei Sonnenaufgänge und zwei Sonnenuntergänge sah Lütje noch auf seinem Weg zum großen Hafen an der Weser. Er aß Brot und trank Milch bei einem Bauern, für den er mit einem scharfen Messer die modrigen Klauen der Schafe ausschnitt. Die schwarzzöpfige Tochter des Bauern wusch ihm nicht nur sein Faltenhemd, sie schenkte ihm auch blitzende braune Augen, die er bis kurz vor Bremen nicht vergessen konnte. Oh, wenn er es gewollt hätte, sie wäre bestimmt mit ihm nach China gegangen, wo die Männer Zöpfe tragen wie die Frauen im Moor.
Im Auswandererhaus in Bremen traf er den rothaarigen Jonni Elfers, der wohl von China keinen blassen Schimmer hatte, dafür aber bestens Bescheid wusste, wie man nach Amerika kommt. Er hatte es ziemlich eilig damit.
«Wo kommst du her?», fragte Lütje.
«Aus der Heide», antwortete Jonni. «Und du?»
«Aus Wittenmoor.»
«Und wo willst du hin?»
«Nach China will ich!»
«Nach China?»
«Und du?»
«Ich will nach Amerika!»
«Nach Amerika?»
«Ja, nach Amerika. Da gibt es Land für Weizen und Roggen, so viel du willst und alles umsonst, und niemand fragt dich, woher du kommst und wohin du gehst.»
«So viel ich will? Und alles ist frei? Keine Abgaben, keine Gesetze, nichts?»
«Sagte ich doch. Komm mit nach Amerika. Wer weiß, wie das in China mit den Abgaben geht. Und die Frauen sind dort klein, viel zu klein für dich und für mich, die haben Augen wie die Tölpel, alle, Frauen, Männer und Kinder.»
«Wann geht dein Schiff, Jonni?»
«Wenn es voll ist, du Chinese.»
So kam es, dass Lütje Kähding sich im Jahr 1862 statt nach China mit Jonni Elfers auf dem Großsegler Anna-Maria nach Amerika einschiffte.
Sie bezogen zwei harte Pritschen im Bauch des Schiffes, der allen Auswanderern zum Essen, Schlafen und einigen auch zum Lieben diente, und wenn sie mal gerade nicht spuckten, dann redeten sie. Nachdem sie den Englischen Kanal durchsegelt hatten, traf sie der Atlantische Ozean mit voller Kraft. Die Anna-Maria rollte und stampfte, mal lag sie quer zur See, mal richtete sie sich steil auf. Wenn sie quer lag, brüllten unter Deck die Auswanderer, und wenn sie sich aufbäumte, brüllten die Leute auch.
In der siebenten Nacht auf See stiegen Lütje und Jonni an Deck und atmeten tief durch. Sie sahen die letzten Möwen, die ihnen folgten, und die Sterne am Himmel über dem Meer, und Lütje zeigte Jonni den Großen Wagen.
In der achten Nacht auf See wurde Lütje der Leinenbeutel mitsamt dem Messer und dem Hosenknopf gestohlen, aber ohne die Kette mit dem silbernen Kreuz. Die trug er um den Hals, die Taler aus dem Beutel waren für die Schiffspassage sowie für Speck und Brot draufgegangen.
Lütje Kähding hatte nun nichts mehr zu verlieren als sein Leben, wenn man von der silbernen Kette und den paar Blättern vom Gagelstrauch absieht, die noch in seiner Jackentasche steckten und nicht einmal mehr zum Färben taugten.
Er stand nun in einer Reihe mit seinem Urgroßvater Johann, der einhundert Jahre vor Lütje ins Unbekannte aufgebrochen war.
Dieser Johann Kähding, ein ansehnlicher Bursche mit kräftigem Nacken und sonnenverbranntem Gesicht, über dessen Stirn der Wirbel seiner Haare wie ein lustiges Segel stand, auch der hatte nicht viel mehr zu verlieren als sein Leben, als er sich um die Kolonistenstelle im Teufelsmoor bewarb.
Allerdings gab es einen Unterschied zwischen Urgroßvater Johann und Urenkel Lütje. Johann Kähding hatte in jenem Jahr 1762 schon eine Frau und einen Sohn, obwohl er nach dem Gesetz beides nicht haben durfte. Nach welchem Gesetz? Hatte ein Gesetz darüber zu bestimmen, ob ein Mensch heiraten durfte? Ja, das Gesetz sagte, heiraten nur, wenn ein Haus und etwas Land vorhanden sind sowie ein ausreichendes Einkommen, um die sicher bald purzelnden Kinder zu ernähren. Woher aber nehmen, wenn das Land in diesem Fall Johanns Zwillingsbruder Jürn, der, Schicksal, nur wenige Atemzüge älter war als Johann, wenn also das Land einem anderen gehörte?
Jürn dachte mitnichten daran, seinem Bruder und Knecht Johann die Landarbeit besser zu bezahlen als den anderen Knechten oder ihm ein Haus zuzuweisen, wäre dann doch Johanns Arbeitsleistung geringer gewesen und hätte nicht mehr zur Mehrung des Hofes beigetragen. Denn Jürns schweres Marschenland, fruchtbarer Schwemmboden, vom Meer in Jahrhunderten zusammengetragen, der forderte viele fleißige Hände zum Schaufeln und Graben. Und hätte jemand gesagt, dass Georg der Dritte, König im fernen England, der in Personalunion auch Kurhannover regierte, bald staatliches Moorland zu Kolonistenstellen freigeben würde, weder Jürn noch Johann hätten es geglaubt.
Die Zuversicht Johann Kähdings, Katharina Auguste Funck, genannt Tine, Mutter des fünfjährigen gemeinsamen Kindes Jakob, heiraten zu können, gründete nicht auf der Hoffnung aller Abhängigen, die da heißt, arbeiten sommers und winters von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, beten morgens, mittags und abends und sonntags in der Kirche dazu und sich, das war vor allem wichtig, nichts zuschulden kommen lassen, um vielleicht irgendwann eine Familie gründen zu dürfen.
Nein, Johann Kähding wollte das ihm von Gott zugedachte Leben nicht hinnehmen wie Vieh, welches zur Tränke oder zum Schlachter geführt wird. Jeden Groschen, den er entbehren konnte, legte er beiseite in seine Kiste oben über dem Viehstall, wo einer nicht mal aufrecht stehen konnte.
Du musst dir das so vorstellen: Unter einem riesigen Dach ein Bauernhaus, darin eine große Diele, mit einem Eingangstor so hoch, dass ein voll mit Heu beladener Wagen hineinfahren konnte, direkt unter die Luke zum Dachboden. Rechts von der Diele standen die Pferde, links die Kühe. Über den Pferden lag der Hellen, ein Verschlag aus Holz mit Bettstroh für die Knechte. Jeder von ihnen hatte eine verschließbare Kiste, in der die Besitztümer verstaut wurden: das Rasiermesser, der Sonntagsstaat, die Unterhosen und -hemden, die Bibel und das Gesangbuch. Und eben auch ab und an ein Groschen in einem Leinenbeutel. Am Ende der Diele, vor der Fachwerkmauer, die Stube und Kammern des Bauern abtrennte, befand sich das Flett mit einer offenen Feuerstelle, vor der ein großer Holztisch mit Bänken für die auf dem Hof dienenden Knechte und Mägde stand.
Tine, die Frau, die Johann nicht heiraten durfte, sie arbeitete auf dem Hof als Magd, molk die Ziegen, hackte das Feld und teilte eine schmale Kammer zwischen Pferdestall und Wohnung des Bauern mit zwei Mägden und ihrem Sohn Jakob.
Tine hatte ein helles Gesicht, dicke Haare und ein Lachen, dass die Männer in ihren Holzschuhen merklich weniger schlurften, wenn sie in der Nähe war, und sich untereinander aufführten wie die Gockel vor den Hennen. Sie sang für ihr Leben gern, steckte sich im Sommer eine Kornblume ins Haar und träumte von einem Königssohn, der sie mitnähme auf sein Schloss. Hat sich zu Tode erschrocken, die Tine, als damals ihr Bauch immer mehr anschwoll, wer denkt schon an die Folgen, wenn die Gefühle koppheister gehen.
Das war so ein Abend im Juni, wo der Rauch der Johannifeuer kerzengerade in den Himmel steigt, wo im Busch die Nachtigall schlägt, wo der Fluss wie ein Spiegel liegt, so still, wo die Hitze des Tages die Dämmerung überlistet und zur Wärme der Nacht wird. Wo alle Wünsche in Erfüllung gehen und versunkene Schätze gehoben werden. Wo die schwere Arbeit vergessen ist und die Mädchen sich schmücken und die Jungen nur auf eine Sache aus sind, ein Vergnügen, das die Beteiligten keinen Pfennig kostet, zunächst.
Hast du schon einmal gemerkt, wie viel Kinder im März geboren werden? Allemal Johannikinder, sage ich.
Also Tine und Johann. Die hat es erwischt an Johanni. Erst rannte sie ungestüm über den Deich auf die Schafweide, er ihr nach. Dann stolperte er über einen trockenen Ast und legte sich im Gras lang, und Tine hielt sich den Bauch vor Lachen, was Johann ungemein wütend sofort wieder auf die Beine brachte. Sie lief zum Fluss, schlug Haken wie ein Hase, und bevor er sie packen konnte, sprang sie hinein und er sprang ihr nach.
«Wir heiraten!», flüsterte Johann, klatschnass und außer Atem. Einfach so. «Wir heiraten.»
«Wie denn? Wir haben kein Haus und kein Land.»
«Gib mir Zeit, Tine. Fünf Sommer und fünf Winter noch. Dann werden wir ein Haus haben. Ein Haus für dich und für mich und für unsere Kinder.»
Es brauchte einige Herzschläge lang, bis Tine das Haus vor sich sah.
«Das Dach mit gelbem Flussreet gedeckt, die Balken aus Eiche und die Fächer aus roten Steinen.»
Johann war schon ein Stück weiter.
«Im Stall stehen eine Kuh, zwei Schafe, eine Ziege, und vier Hühner scharren auf dem Mist.»
«Einen Alkoven für uns allein mit bestem Stroh alle Woche und am Fenster eine Truhe voll mit frisch gewebtem Leinen.»
«Und ich pack dir alle Taler und Groschen in den Beutel, die ich verdiene.»
«Und zur Hochzeit wünsche ich mir eine silberne Kette mit einem silbernen Kreuz von dir.»
«Versprochen. Aber ich geh nur zur Hochzeit in die Kirche und sonst nie wieder.»
«Und zur Taufe und zur Konfirmation. Wir werden für immer zusammen sein, bis dass der Tod uns scheidet.»
«Sterben will ich aber noch nicht», lachte Johann und küsste Tine auf den Mund, dass sie vor Glück keine Luft mehr bekam und den Königssohn vergaß, und es kam ihr nichts von dem in den Sinn, was außer dem Tod noch alles ausgehalten werden muss im Leben.
Neun Monate später, am Tag des Frühlingsanfangs, kam Jakob zur Welt, das Johannikind, der Träumer.
Hat Tine nicht gewusst, was eine Frau wissen muss? Wie dieser Segen, der nur für verheiratete Frauen ein Segen ist, verhindert werden kann? Sie wusste es! Frauen teilen einander mit, wie das mit den Männern geht. Das Einfachste von der Welt kannst du dir nach dem ersten Kind zu Eigen machen: Solang ich still, empfang ich nicht. Das kostet keine Ausreden und soll nur in wenigen Ausnahmen zu neuem Segen geführt haben. Besser ein Kind an der Brust, das schon läuft und Zähne hat, als ein schwerer Leib, der nicht nur bei der Feldarbeit stört. Aber was tun, um schon das erste Kind nicht zu empfangen? Nun, der Mann ist durch nichts zu bewegen, sein Vergnügen zu unterbrechen, außerdem ist kaum darüber mit ihm zu sprechen. So muss eine Frau ihn hinhalten durch Leiden vielfältiger Art, wobei sich Blasenerkältungen besonders bewährt haben. Er wird brummen und ärgerlich sein, sich aber fügen, wenn sie es geschickt anstellt. Außer bei Trunkenheit, da ist er nicht aufzuhalten. Hat sie ihre Tage hinter sich, an denen er sich, wenn es ein gemeinsames Bettstroh gibt, ohnehin auf die andere Seite dreht, muss sie ihm schnell zeigen, wie willkommen er jetzt ist, um ihn zu versöhnen.
Tine zahlte die zwanzig Groschen an die Gerichtskasse, Bußgeld für ihr uneheliches Kind. Johanns jüngerer Bruder Jost holte die Groschen aus seinem Beutel.
«Ich werde ja doch nie heiraten», sagte er zu Johann, «nimm es für Tine. Sie ist wie eine Schwester für mich.»
Beim Hauptgottesdienst saß er neben Tine und Johann, und als das Sündenkind getauft wurde, hielt Jost es über das Taufbecken, auf dem Segen des Pastors hatte Tine bestanden.
Von Jost soll später noch die Rede sein.
Tine arbeitete weiter auf dem Hof von Jürn, band das Getreide und hackte den Kohl. Jakob schlief derweil am Rande des Feldes in einem Korb. Wenn einer der Knechte Tine zu nahe treten wollte, wie eines Tages der Tagelöhner Cord Geffkens aus dem Kehdinger Moor, weil eine mit Kind ja leicht zu haben ist, dann gab Johann ihnen mit seinen Fäusten Bescheid.
Tine trug die Zöpfe aufgesteckt und den Rücken gerade, ging sonntags mit Jakob in die Kirche, Jakob als Säugling, als Krabbelkind, als Laufkind. Jeden Monat einmal wurde Johann bei seinem Bruder vorstellig, bat um etwas Land und eine Kate am Deich, jeden Monat einmal sagte Jürn: «Nein!»
Johann wurde immer mürrischer und verschlossener, und Jakob wurde über dem Warten fünf Jahre alt. Tine hütete sich, Johann an sein Versprechen zu erinnern, aber ihre wachsende Unruhe übertrug sich auch auf Jakob. Er war heiß und hustete. Sie pflückte die Blätter des Scharbockskrautes und gab sie ihm mit seinen Mehlklößen. Sie sammelte die letzten Huflattichblüten für einen Tee gegen sein Keuchen. Als sich der Löwenzahn ausbreitete, streute sie die jungen Blätter fein gehackt in Jakobs Milchsuppe.
Der letzte Sonntag im April war’s, eben nach Ostern. Noch zwei Monate bis Johanni. Es ist die Zeit, wo alle Ängste versiegen und der Winter vergessen ist. Der Regen bringt grüne Blätter, und die Sonne putzt Tränen weg, bevor sie geweint werden.
Tine saß wie jeden Sonntag in der Kirche hinter dem großen hölzernen Pfeiler. Jeden Zentimeter in diesem Gotteshaus kannte sie, die bunten Fenster und das weiße Gebälk. Sie sang alle Lieder ohne Gesangbuch, betete jedes Gebet auswendig, wobei sie am Ende Johann und Jakob mit einschloss vor dem Amen. Nichts deutete zunächst darauf hin, dass dieser Gottesdienst Tines und Johanns Leben so gewaltig verändern würde, viel nachhaltiger noch als Johanni und seine Folgen.
Doch die Kirche füllte sich immer mehr, junge Männer strömten herein, die der Herrgott sonst nie hier zu Gesicht bekommen hatte. Und was trieb die jungen Männer am helllichten Sonntagmorgen in die Kirche statt in den Dorfkrug? Jeder der Ankommenden drückte sich entweder von außen oder von innen in eine Reihe der Bänke hinein, bis nicht eine Handbreit Luft mehr war zwischen den Kirchgängern, und die letzten blieben stehen. Dies machte Tine wohl stutzig, doch da sie sich nicht so oft umdrehen konnte, weil einfach kein Platz mehr war, merkte sie nicht, dass auch Johann gekommen war. Der Pastor sah mit Wohlgefallen auf die vollen Bänke, die ihm ein kirchenfremder Anlass beschert hatte, nun sollten die jungen Männer ihre neue Frömmigkeit auch nicht umsonst haben. Die Predigt dauerte diesmal nicht zwei Stunden, sondern zweieinhalb.
Wie viel Suppen mögen angebrannt sein, wie viel Beine eingeschlafen und Hälse steif geworden, wie viel Mägen geknurrt haben am letzten Sonntag im April? Dieser Tag krempelte um, was bisher fest und unumstößlich schien. Er weckte Hoffnungen, und mancher träumte von einem unabhängigen Leben als freier Bauer, nicht ahnend, dass dieses in Wirklichkeit noch härter werden sollte als das Leben in der Abhängigkeit.