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Liebe und Tod zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges Lüneburg, 1635: Der Salzhändler Lambert Brinck ist einer der mächtigen Männer der Stadt. Jakob, sein Sohn, soll den Betrieb übernehmen. Doch Jakob hasst die Zahlenschieberei im Kontor, viel lieber studiert er des Nachts auf dem Kalkberg den Lauf der Sterne. Und er möchte auch nicht die Patriziertochter Lene heiraten, denn er hat eine andere kennen gelernt. Der Zauber, den diese Frau auf ihn ausübt, ist ihm selber unheimlich, und seinen Eltern kann er es erst recht nicht sagen. Denn Margrieta ist eine Fahrende, ein Stück Treibgut im großen Krieg, der auch die Stadt Lüneburg zu verschlingen droht.
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Elke Loewe
Der Salzhändler
Ihr Verlagsname
Liebe und Tod zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges
Lüneburg, 1635: Der Salzhändler Lambert Brinck ist einer der mächtigen Männer der Stadt. Jakob, sein Sohn, soll den Betrieb übernehmen. Doch Jakob hasst die Zahlenschieberei im Kontor, viel lieber studiert er des Nachts auf dem Kalkberg den Lauf der Sterne. Und er möchte auch nicht die Patriziertochter Lene heiraten, denn er hat eine andere kennen gelernt. Der Zauber, den diese Frau auf ihn ausübt, ist ihm selber unheimlich, und seinen Eltern kann er es erst recht nicht sagen. Denn Margrieta ist eine Fahrende, ein Stück Treibgut im großen Krieg, der auch die Stadt Lüneburg zu verschlingen droht.
«Der Salzhändler» ist Elke Loewes bislang dritter historischer Roman. In «Teufelsmoor» entführte sie ihre Leser in das gleichnamige Moor bei Bremen, «Simon der Ziegler» ist in der küstennahen Geestlandschaft angesiedelt. Mit dem vorliegenden Roman nun wendet sich die Autorin dem dritten wichtigen Naturraum Norddeutschlands zu, der Lüneburger Heide.
Daneben hat Elke Loewe drei Kriminalromane geschrieben, «Die Rosenbowle», «Herbstprinz» und «Engelstrompete».
Die Autorin lebt mit ihrer Familie auf einem Bauernhof in der Ostemarsch.
Für Heike und ihren Großvater Karl, zu Lebzeiten Salinenarbeiter in Stade an der Elbe
Man kennt einen Menschen nicht, bevor man nicht einen Scheffel Salz mit ihm gegessen hat.
Im Oktober des Jahres Sechzehnhundertundachtzehn durchstreifte ein Komet den nördlichen Himmel und verbarg für einen Moment das immer währende Erlöschen und Wiederaufglimmen der Fixsterne. Sein verwaschener Schweif flimmerte über das ruhige Leuchten der Planeten Mars, Merkur, Jupiter und Saturn, zog über den Mond hinweg und blendete den Polarstern, der den Seefahrern auf den Meeren zur Orientierung diente. Der Komet hinterließ keine Spuren im Weltenraum, wohl aber in den Köpfen vieler Menschen an verschiedenen Orten des Heiligen Römischen Reiches auf dem dritten Planeten Erde.
Glücksspieler in Pannonien warfen ihre mit Blei gezinkten Hirschhornwürfel aus den Fenstern. Zigeuner in Laibach stimmten ihre Geigen, bevor sie weiterfiedelten. Bei Breda in den niederen Landen hielt ein Mädchen den Kometen zusammen mit dem Blut, das zum ersten Mal aus ihrer Scheide floss, für eine Zuchtrute des Himmels, die fortan ihr Leben begleiten würde. Von Wanzen aus dem Stroh getriebene reformierte Weiber in der Eifel schlugen ein Kreuz vor ihre Brust und baten um Ablass. Äbte der Franziskaner ließen von ihren bartlosen Novizen ab. Geschändete Jungfrauen allerorten erflehten aborti. Am Fuß der Schwäbischen Alb vergaß ein Schafhirte, die Wölfe zu verscheuchen, desgleichen eine Ziegenhirtin auf dem Brocken den Bären, was Ersteren mehrere Lämmer und Letztere das Leben kostete. An der Elbe im Magdeburgischen flatterten Gänse mit abgedrehten Hälsen aus den Händen einer Diebin. In Bamberg und Erfurt stürzten Mondsüchtige von den Ziegeldächern aus Mönch und Nonne. Bei Castell im Steigerwald sprang lichtscheues Gesindel in die Tiefe der Alabastersteinbrüche. Ein Lateinschüler aus Lüneburg nahm den Kometen als Ansporn für sich, seinen eigenen Weg zu gehen und nicht den, den die Pflicht von ihm forderte. Im Kloster Maria Eschenbach beteten im Kreuzgang wandelnde Mönche mehrmals hintereinander den großen Rosenkranz mit allen Gesetzen sowie den fünf freudenreichen und den fünf schmerzhaften Geheimnissen und erbaten sich darob ein gutes Weinjahr. Soldaten, katholische wie auch reformierte, hofften, der Schweifstern sei als ein wohlwollendes Zeichen Gottes für den heiligen Krieg ihrer jeweiligen Herren über den Himmel gezogen. Andere, deren Augen ihn in der dunklen Nacht gesehen hatten, behaupteten, er sei eine Verkündigung des Herrn gewesen, allerdings keine gnädige, sondern sein Schweif eine warnende Rute und somit als Omen für bevorstehende schwere Zeiten zu deuten.
Mehr als sieben Jahre nach dem Auftauchen des Kometen begegneten sich in dem vom großen Krieg in seinen Grundfesten erschütterten Heiligen Römischen Reich eine Frau und ein Mann, die ihn beide gesehen hatten. Es hätte auch eine Mondsüchtige aus Bamberg einen vom lichtscheuen Gesindel im Steigerwald treffen können, vielleicht ein pannonischer Glücksspieler eine geschändete Jungfrau, mag sein, ein Zigeuner aus Laibach wäre bis zur Gänsediebin bei Magdeburg gelangt. Sie alle trugen Träume, Triebe, Durst und Hunger mit sich, mal schwer wie englisches Blei, mal leicht wie eine Daunenfeder. Und je nachdem, welchem Glauben ein Mensch anhängt, kann es Zufall, Schicksal oder Gottes allmächtige Fügung heißen, wenn zwei Menschen sich über den Weg laufen und ihr Leben sich ineinander verwebt.
Es sollten sich Margrieta de Jonge aus Breda, an der Grenze zu Brabant gelegen, und Jakob Brinck aus Lüneburg im Herzogtum Lüneburg-Braunschweig begegnen, ein Schäfer aus der Heide war auch dabei. Je nach Witterung waren ihre Wege staubig oder verschlammt, manchmal auf felsigem Grund, sie näherten sich einander an und überlagerten sich, sie stießen zusammen und liefen wieder auseinander.
Margrieta ging von West nach Ost, begleitet von Blut und Hunger, von Trommeln und Pfeifen. Vogelfrei.
Jakobs Weg führte aus einer vortrefflich befestigten Stadt, auf deren Wälle, Mauern und Dächer sich Tag und Nacht der Dampf von frisch gesiedetem Salz setzte.
Sonne, steh still über Gibeon, auch du, Mond, überm Tal von Ajalon!
Altes Testament, Josua, 10, Vers 12
Ich möchte, wie Galileo Galilei in Padua,
mit einem Fernrohr die Monde des Jupiter sehen.
Ich möchte die Spuren der Ringe des Saturn
und die Sichelgestalt der Venus erkennen.
Ich möchte die Gebirge des Erdmondes erforschen,
aus deren Schatten ich ihre Höhe berechnen könnte.
Ich möchte den Planeten um die Sonne folgen,
um zu lernen, ob sie in Kreisen oder Ellipsen ziehen.
Ich möchte in der Milchstraße unbekannte Sterne finden
und erfahren, woher sie kommen und wohin sie gehen.
Ich möchte die Geheimnisse des Himmels
entschlüsseln, der sich über allen Menschen wölbt
und über allen Religionen.
Ich will mehr wissen, als in der Bibel steht.
Die Sonne stand im Morgen, flach und weiß, nur ein gelber Schimmer darin, ohne Wärme, die in der Nähe des kürzesten Tages und der längsten Nacht des Jahres die im Eis erstarrte nördliche Halbkugel der Erde nicht mehr erreicht.
In der schneebedeckten Heide eine Stadt, umschlossen von Wällen, Mauern, Wassern und Toren. Aus dem roten Meer ihrer Dächer ragte St. Nikolai wie ein gestrandetes Schiff, geweiht dem Schutzpatron der Seefahrer. Durch die kleinen Scheiben der großen Fenster fielen Sonnenstrahlen in die Kirche. Sie schenkten den stumpfen Backsteinsäulen Glanz und malten Heiligenscheine um die Köpfe der betenden Gläubigen, deren Atem weiß emporstieg und an den hohen Gewölben hängen blieb.
Es war ein Träumer unter ihnen, der hatte das Beten vergessen, wie sooft in der Kirche. Seine Gedanken folgten nicht den Worten Martin Luthers, die der Pastor verkündete, sie folgten auch nicht den Wegen des Lüneburger Salzes zu Wasser und zu Lande, seine Gedanken durchstießen das gemauerte Sternengewölbe des hohen Kirchenschiffs und sahen den unendlichen Weltenraum dahinter, den es zu entdecken galt.
Jakob Brinck, im einundzwanzigsten Jahr seines Lebens stehend, tagsüber im Kontor seines Vaters mit Salz handelnd, in der Nacht die Sterne im Auge behaltend, mochte die Schöpfung von Himmel und Erde nicht einfach als von Gott gegeben hinnehmen. Seit sein alter Lehrer auf der Lateinschule ihm heimlich Einblick in die Veröffentlichungen des Nikolaus Kopernikus von den Umwälzungen der Himmelskörper gegeben hatte, war er ein überzeugter Anhänger des heliozentrischen Systems mit der Sonne als Mittelpunkt des Weltenraums, an dem die meisten Menschen, die er kannte, immer noch zweifelten, weil es dem Wortlaut der Heiligen Schrift widersprach. Wenn es ihnen denn überhaupt je zu Ohren gekommen war, dass die Erde eine Kugel war, wie Claudius Ptolemäus aus Alexandria bereits im Jahre Einhundertundfünfzig nach Christi Geburt in seinem Modell von der Erde als Mittelpunkt der Sternenbewegungen dargelegt hatte, das seitdem Gültigkeit besaß, ohne dass je daran gerüttelt worden war.
«Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnet», rief der Pastor.
«Amen», antwortete die Gemeinde.
«Amen», sagte der Träumer leise. In seinem Gesicht hohe Wangenknochen, dazwischen eine schmale Nase, die Züge noch ohne Falten und Furchen, in der Iris seiner Augen ein reines Blau wie an Sommertagen der Himmel, zu dem ebendiese Augen in dunklen Nächten suchend emporblickten.
«Lasset uns das Lied vom gnädigen Gott singen», rief der Pastor, und die Orgel setzte ein. Geschult durch das Singen im Chor des Johanneums, schwang die Stimme des Träumers sich zum Gewölbe empor, lauter als die der Frauen in ihrem Alt und Sopran und kraftvoll unter den Tenören und Bässen der Männer. Sie war eins mit dem Wohlklang der Orgel, deren Register vom Kantor freudig hochgezogen wurden, der, unbemerkt von den Gläubigen, zwischen den Griffen lustvoll von einem kleinen roten Apfel abbiss.
«Es wolle Gott uns gnädig sein
und seinen Segen geben,
sein Antlitz uns mit hellem Schein
erleucht zum ewgen Leben,
dass wir erkennen seine Werk
und was ihm lieb auf Erden,
und Jesus Christus, Heil und Stärk,
bekannt den Heiden werden
und sie zu Gott bekehren.»
Auf diesen gnädigen Gott hoffte der Träumer auch, allerdings nur für sich allein, Sarazenen, Türken oder gar Mohren war er in seinem Leben noch nicht begegnet. Und die kleinen Heiden in seiner Stadt wurden gleich nach der Geburt den dämonischen Mächten entzogen und durch die Taufe zu Christen gemacht, wobei man ihnen gern verstohlen ein Salzkorn zur Reinigung auf die Zunge legen ließ, von der Amme oder einem anderen abergläubischen Frauenzimmer; schaden konnte es ja nicht.
«Wir wollen nun hören das Evangelium des Lukas», sprach der Pastor von der Kanzel.
Das Scharren der Füße hallte durch den weiten Raum und echote aus dem Gewölbe, als die Gläubigen ihre Standbeine wechselten, bevor dieselben über der langen Predigt einschliefen.
«Jesus sprach zu seinen Jüngern: Es werden Zeichen geschehen an der Sonne, dem Mond und den Sternen, und auf Erden wird den Leuten bange sein, und sie werden zagen, und das Meer und die Wasserwogen werden brausen. Und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden, denn auch der Himmel Kräfte werden sich bewegen.»
Der Träumer hielt seine Augen geschlossen, er legte seine Stirn in Falten und zog die Nase kraus, er fuhr sich mit den Händen durch die ebenso krausen blonden Haare, die wild seinen Kopf umstanden, er presste die Lippen zusammen und öffnete sie, dass es leise knallte. Erschrocken hob er die linke Hand zum Mund und sah sich um, ob jemand ihn gehört hätte. Aber die Ratsherren vor ihm waren zum Teil schon der Schwerhörigkeit anheim gefallen, andere schnarchten oder waren mit der Reinigung ihrer Nasen beschäftigt, und weil die meisten links und rechts den Kirchenschlaf im Stehen pflegten und der Pastor kurzsichtig war, bemerkte es niemand, dass Jakob Brinck auch weiterhin den Worten des Herrn nicht lauschte. Eine Idee war ihm in den Kopf geschossen, und er wollte nichts als sie bewahren, sie aufheben in der Lade, die für den Himmel vorgesehen war.
Die Plejaden. Das Siebengestirn. Die Gluckhenne. Könnte es sein, weil die Erde, während sie sich in einem Jahr um die Sonne und dabei einmal am Tag um sich selbst dreht, könnte es also sein, dass ich von April bis November die Plejaden deshalb nicht sehen kann, weil die Erde sich dann auf der anderen Seite der Sonne befindet und der Sternenhimmel diese Wanderung nicht mit vollzogen hat?
«Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte vergehen nicht», rief der Pastor. Und hätte er es gewusst, dass sich eines seiner Schäfchen dem Himmel auf andere Art und Weise zuwandte als über das Wort des Herrn und dieses sogar anzweifelte, dann wäre, mit gewaltiger Stimme von der Kanzel donnernd, eine Belehrung über den rechten Gottesglauben erfolgt, einen Finger hätte er erhoben, so spitz, wie der Turm von St. Nikolai zum Himmel zeigte.
«Denn wie ein Fallstrick wird er kommen, über alle, die auf Erden wohnen …», rief er von der Kanzel.
Jakob ahnte, dass sein Gedanke richtig war, weil er wusste, jetzt im Winter wird er die Plejaden in jeder Nacht sehen können, wie seit vielen Jahren schon, seit er angefangen hatte, den Himmel zu beobachten. Er wusste aber auch, dass er letzte Gewissheit nur bekäme, wenn er die Astronomie studieren könnte.
«Dieses Evangelium des Lukas erinnert uns alle», rief der Pastor, und seine Stimme stürzte tief hinab auf die Steinfliesen und wurde gleich darauf schneidend scharf in der Kälte, die von ihnen ausging, «dass dieser Weltbau einmal zerfallen wird.» Gleich darauf wehten seine Worte weich empor: «Vorher aber werden Zeichen geschehen an der Sonne, dem Mond und den Sternen.» Und kaum hatte er dies ausgesprochen, sandte er hart eine Drohung über die Köpfe seiner Schäfchen hinweg und rüttelte sie wach. «Am Tag des Jüngsten Gerichtes wird offenbar werden, wer Gott gedienet und wer ihm nicht gedienet hat.»
Die Gläubigen scharrten aufgeschreckt mit ihren kalten Füßen und falteten ihre ebenso kalten Hände, das Abschlussgebet, den Segen und das letzte Lied erwartend, wie es üblich war. Doch der Pastor dachte nicht daran, seine Schäfchen aus der eisigen Kirche in den eben beginnenden Schneefall und auf den Weg in die warmen Stuben zu entlassen. Noch bevor sie ihre Umhänge richten konnten, die Augen schon auf das Portal gerichtet, flog er mit seinen Stimmbändern hoch hinauf in das Gewölbe, und es hallte von den gemauerten Sternen wider.
«Darum, ihr Diener Gottes, gebt alle Kraft darein, unsere prächtige und freie Salzstadt Lüneburg zu schützen. Unser Lüneburg, umgeben von weiter Heide. Über die Ilmenau, die Elbe und die Stecknitzfahrt wird unser Salz nach Lübeck verschifft, auf der Schaalfahrt kommt das Holz für die Öfen der Siederei zu uns. Fünf stolze Kirchen recken sich mit ihren hohen Türmen in den Himmel, sechs Tore führen hinaus in die Welt. Im Nordosten öffnet uns das Bardowiker Tor den Weg nach Artlenburg, Mölln und Lübeck. Wandern wir an der Ilmenau entlang zur St. Johanniskirche, dann sehen wir, sie wacht über das Altenbrücker Tor, das den Weg nach Salzwedel und Magdeburg, nach Uelzen und Braunschweig weist.»
Die Gläubigen schliefen alsbald wieder ein, denn sie wussten ja ihre Stadt auch ohne Aufforderung von der Kanzel zu schätzen, und auch Jakob verschwand zu den Sternen. Nicht etwa, weil er seine Stadt nicht liebte, nicht, weil er das alles kannte und wusste, und nicht, weil er sie nicht mit all seiner Kraft erhalten wollte, wie schon seine Vorväter es getan hatten, nicht deshalb, nein. Jakob liebte nun einmal die langen Gottesdienste unter dem Gewölbe des Kirchenschiffs, wo ihn niemand vorwurfsvoll ansah oder gar der Phantasterei zieh und die ihm die Freiheit und die Zeit zum Denken gaben, während der Pastor predigte oder, wie jetzt, seine Laudatio auf die Stadt hielt, der er mit gehörigen Pausen Wirkung verschaffte.
«Geht weiter zu St. Lamberti an der Saline im Südwesten! Ihr Turm senkt sich, aber Gott wird ihn stützen, wie er auch das Sülztor schützt und die Wege nach Celle, Soltau, Nienburg und Hannover. Staunet vor der Goldenen Tafel des Hauptaltars von St. Michaelis im Nordwesten! Hier gelangt ihr zum Neuen Tor hinaus, nach Salzhausen, Winsen, Schneverdingen, Bremen und Stade. Wendet euch St. Marien im Herzen der Stadt zu, sie ist wohl klein, aber die Zahl gelehrter Bücher in ihrer Bibliothek ist groß! Freut euch auf den Osten, da geht es durch das Lüner Tor nach Schwerin, Wismar und Stralsund! Vergesst nicht, das Rathaus auf dem Marktplatz anzusehen, seine fünf Türme und die Fassade mit den bürgerlichen Tugenden! Schaut auf das Heringshaus am Hafen und den Kran für die Lasten, die Treppen- und Schneckengiebel, die Schulen, die Bürgerhäuser mit den Fenstern aus Glas, die Hospitäler für Kranke und Arme und die Gassen mit den Herbergen und Krügen, diese allerdings nicht immer von der vornehmen Art! Hebt den Blick! Im Nordwesten ragt der Kalkberg empor, bald fünftausend Fuß hoch. Und im Südwesten schwebt Tag und Nacht eine mächtige Dampfwolke über den vierundfünfzig Pfannen der Salzsieder, deren Pacht in den Händen unserer Ratsherren liegt, nur dem Landesfürst und den Prälaten verpflichtet, wiewohl der Reichtum Lüneburgs und ihrer Bürger seit längerem geschmälert ist: Solange diese Wolke über den Siedehütten in den Himmel steigt, geht es unserer Stadt gut, denn sie verhält sich in diesem Krieg neutral, aber zuvorkommend nach allen Seiten.»
Die Gläubigen schliefen noch immer, und so sahen sie auch nicht die schmalen Hände des Pastors, die so beredt waren wie sein Mund. Sie formten vollendete irdene Gefäße, Becher und Kruken, Giebel, Türme, Lauben- und Kreuzgänge, große und kleine Schiffe mit Masten und Segeln; sie baten und wiesen, sie segneten und verdammten. Er hatte seine Ansprache mit Bildern aus dem Alten Testament geschmückt und Zitate aus dem Neuen Testament eingeflochten. Der Finger flog hoch, er beschwor seine Gemeinde, diese Stadt, die sich über Jahrhunderte ihre Privilegien erkämpft und erkauft habe, wohlhabend geworden durch das Salz, untertan nur der Heiligen Dreifaltigkeit und dem Herzog von Lüneburg-Braunschweig, diese Stadt mit allen Mitteln vor dem drohenden Kriegsgeschehen zu schützen. Am Schluss forderte er donnernd, und dies geschah nicht zum ersten Mal von der Kanzel, dass jeder Bürger der Stadt, wie bisher auch schon geschehen, in solcherart unsicheren Zeiten ausreichend Waffen und Mundvorrat anzulegen und auf sich einschleichendes Gesindel zu achten habe, im Weiteren aber auf den Herrn bauen solle, mit vollem Vertrauen in dessen Barmherzigkeit und Güte, sowie auf den Rat der Stadt und seine weisen Entscheidungen. Danach sang er, und weil er sich mit seiner Stimme verausgabt hatte, geschah dies leise und in sanfter Heiserkeit, doch mitgetragen von der wegen eines erneuten Bisses in den Apfel etwas zu spät einsetzenden Orgel und dem freudigen Jubel der Gemeinde, der in Wahrheit dem Ende des Gottesdienstes galt, das nur Jakob bedauerte.
«Es kommt ein Schiff geladen
bis an sein höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
des Vaters ewigs Wort.»
Noch sieben Tage sollte das Schiff unterwegs sein, um den Sohn Gottes als neugeborenes Kind zu Maria und Josef nach Bethlehem zu bringen, der Stadt im fruchtbaren Land Juda unweit der Wüste, die Wiederkehr seines Geburtstages zu feiern, an dem er in Leinen gewickelt in einer Krippe lag, um sich herum Esel, Ochs, Kamel und Hirten sowie die drei Heiligen aus dem Land im Morgen.
Der Kantor setzte den Schlussakkord, warf die Apfelgrieben in die Ritzen des Holzfußbodens und gesellte sich zu den heimwärts ziehenden Menschen, unter denen auch der Träumer war, der mit gesenktem Kopf weiter seinen Gedanken nachhing und deshalb nicht bemerkte, dass Lene Andresen, seine zukünftige Braut, zwischen ihren Eltern vor ihm ging, ihr flachsgelbes Haar mit einem feinen Hut aus Fuchspelz geschmückt, kokett die Hüften werfend.
Weiche Flocken setzten sich auf Kapuzen und Umhänge und überzogen den alten rußgrauen Schnee der Stadt mit einer frischen weißen Decke. Sie rundeten Ecken und Kanten und tanzten zwischen den unzähligen Kaminen auf den Dächern der Häuser im aufsteigenden heißen Rauch, der ihnen den lautlosen Tod brachte, während sie schwebten.
Obwohl schon seit vielen Jahren Söldner und Gesindel aus dem Tross der Heere immer mal wieder in den Dörfern vor der Stadt lungerten, obwohl Handel und Wandel der Stadt in diesen unruhigen Zeiten erhebliche Behinderungen hinnehmen mussten, fühlten sich die Bürger hinter den dicken Mauern beschützt und geborgen. Was draußen auf dem Lande vor sich ging, scherte sie nicht, wenn bei Einbruch der Dunkelheit die Tore mit Schlagbäumen und schweren Bolzen aus Holz verschlossen wurden. Während die Nachtwächter, brennende Kienspanfackeln in den Händen haltend, laut singend ihre Runden durch die Gassen liefen und nach jedem Neumond rasch den Vollmond herbeiwünschten, der sie nicht über Unrat stolpern ließ, und die Torwächter heimlich dem Branntwein zusprachen, der ihr Blut wärmte, geschahen draußen in der Heide vor den Toren Dinge, die das Tageslicht scheuen.
Der Himmel, schwarz wie Ebenholz. Die Sterne smaragdfunkelnd. Safrangelb der Mond. Schnee auf der Heide hellte die Nacht auf. Steife Wacholderbäume, stehenden Toten gleich, kinderklein oder übermannshoch, warfen schwache Schatten. Auf den Birken schliefen Krähen mit offenen Augen, dunkle Flecken in den kahlen weißen Bäumen, nicht einmal ein Krächzen, nur hin und wieder ein langsamer Flügelschlag, ein lautloses Bewegen der Köpfe. Sie schienen die einzig lebenden Wesen über diesem weißen Tuch zu sein, das die Dürre der Landschaft verbarg. Bis sie aufflogen, eine nach der anderen, mit einem schrillen Kräh-Kräh und die frostige Stille zerrissen. Kleine Zweige brachen ab und blieben auf dem Schnee liegen, winzige schlafende Knospen daran.
Margrieta aus Breda war auf der Heide bei Lüneburg in die Hände von hungrigen Söldnern gestolpert. Ein elendes mageres Huhn, das sie aus dem Feuer stehlen wollte, als die Männer noch beim Würfelspiel hockten, war ihr zum Verhängnis geworden, dazu ihre wilden schwarzen Haare, ihre bunten Augen und der rote Mund. Bei mehr als dreihundert Mann im Trupp nach Osten, den Tross aus Frauen und Kindern nicht mitgezählt, wer wollte da von einer Diebin schon wissen, wo sie hingehört. Sie wusste es ja nicht einmal selbst, auch nicht, als sie Breda verlassen hatte.
Sieben Männer zerrten sie mit sich, nichts als ein schreiendes Bündel, das kratzte und biss wie eine Wildkatze. Sie schoben es voran, wenn es nicht mehr konnte, und sie schleiften es hinter sich her, wenn es nach dem Fallen nicht mehr aufstand, weil es die brennende Glut auf der Stirn im Schnee löschen wollte.
Zwischen den Sadebäumen warfen sie ihre Beute rücklings in den Schnee. Ihr hastiges Keuchen fror in der Luft zu weißen Wolken, scharf daneben stand der brünstige Atem der Männer.
Bei dem ersten wehrte sie sich noch mit sehenden Augen. Sie stieß ihm ihre Beine in den Unterleib, dass er aufjaulte. Er riss ihr die Röcke hoch und zerrte sie über ihr Gesicht, dann griff er mit beiden Händen nach dem Saum und drückte ihn zusammen mit ihren Haaren in die harten Sträucher der Heide. Er drang heftig und mehrmals in sie ein; als der Damm riss, schrie sie, doch es kümmerte ihn nicht, und er machte weiter, bis er leer gepumpt war. Er ließ von ihr ab und zog sich die Hose über sein stehendes Glied, während der zweite es kaum erwarten konnte und den Schrei mit dem groben Stoff ihres Rocks erstickte, den er ihr in den Mund drückte, bis auch er fertig war. Der dritte presste den Knebel noch tiefer hinein, er ritt auf ihr, lachte und juchzte auf, als es ihm kam. Der vierte riss ihr den Rock vom Gesicht und das Hemd aus dem Rock, er drückte ihren Mund mit den Händen zu und verbiss sich in ihre Brust und saugte heftig mit jedem Stoß. Der fünfte zerrte sie an den Haaren hoch und lehnte sie an den Baum, er hielt ihre Arme mit den Händen fest und drückte mit den Knien ihre Beine auseinander und schob seine Zunge in ihren aufgerissenen Mund. Als er von ihr abließ, fiel sie nach vorn. Der sechste fasste sie an den Füßen und schob mit ihnen die Beine unter den Bauch, er hob den Rock hoch, kniete hinter ihr, packte sie und schob sie stöhnend vor und zurück, bis er aufstand und sie zur Seite kippte. Der letzte drehte sie auf den Rücken, er legte sich auf ihren Körper und bewegte sich auf und ab, er starrte in ihre weit geöffneten Augen und fuhr mit seiner Handkante quer über ihren Hals. Er tat es dreimal und jedes Mal heftiger, in ihren Adern schlug das Herz. Noch während er die Auf- und Abwärtsbewegung unaufhörlich weiterführte, schob er sie zurück, bis nichts mehr unter ihm war als der von der Hitze der sieben Männer geschmolzene Schnee auf dem Sand. Sie drehte sich auf den Bauch, griff mit den Händen nach einem Strauch und zog sich davon wie eine sterbende Natter.
Margrietas Blut, rot wie Johannisbeeren, wurde zu Eis neben der zerrissenen Schnur und den Perlen vom Rosenkranz, während die Krähen zurück in die Bäume flogen und ihre Schnäbel unter die harten Federn der Flügel steckten.
Sternfunkelnd zwischen weißen Wolken der Himmel jetzt. Das Mondlicht silbern. Der Schnee, eine weiche Matte auf den harten Sträuchern der Heide, schluckte alle Geräusche.
«Lauf, Maja, lauf», rief die Großmutter.
Margrieta kroch davon. In ihrem Kopf nur ein Wort in dauernder Wiederholung. Weiter. Weiter. Wenn sie liegen blieb und ihre Glieder nicht mehr wollten, flüsterte sie: Weiter, weiter. Von der Last des Schnees niedergedrückte Ginsterzweige schnellten hoch, nachdem sie ihren Körper darüber hinweggeschleppt hatte. Sie stieß mit den Händen an große, kalte Felsbrocken, suchte Halt, zog sich hoch und rutschte hinunter, den Kopf zuerst, ihr Rücken krachte auf den gefrorenen Schnee, ihr linker Fuß schlug gegen einen Stein. Sie rollte sich seitwärts, stützte ihre Hände auf den Boden, schob ihren Körper nach vorn und stand auf, noch gebückt, streckte sich, begann zu laufen. Das linke Bein zog sie nach, sie stolperte immer häufiger, und dann fiel sie, streckte auf dem Boden liegend ihre Hände nach dem Schnee aus und zerrieb ihn erst auf den Wangen, dann auf dem Hals, danach auf der Stirn.
Der Sand unter den kleinwüchsigen, verschneiten Kiefern, auf dem die Rehe gelegen hatten, die vor ihr davonjagten, war trocken und warm. Sie kauerte sich unter die Zweige, hob den Kopf und leckte den Schnee. Mit beiden Händen fuhr sie mehrmals durch ihre Haare und ließ die vereisten Strähnen langsam durch die Finger gleiten. In der Hocke, direkt an der harzigen Rinde, die Röcke hochgezogen und mit den Zähnen festhaltend, Stoff, Schnee und Sand im Mund, wartete sie geduldig, bis das heiße, schneidende Wasser lief, und fing es mit den Händen auf. Es brannte, als sie es in die Wunden rieb, die ihr die Männer gerissen hatten. Der Schmerz ließ erst nach, als sie noch einmal nach dem Schnee griff und ihn zwischen ihren Beinen schmelzen ließ. Mit dem kalten Wasser wusch sie das getrocknete Blut ab. Sie zerrte ihren Stiefel vom geschwollenen Fuß und rieb den Knöchel mit Schnee, aber der Schuh wollte nicht mehr über den Fuß. Ihre Beine knickten ein, als sie unter den Kiefernzweigen hervorkam, zitternd in der Kälte, erschrocken über das Husten der Rehböcke und ein fernes Geheul von Wölfen. Der Mond verhüllt mit einem dunstigen Schleier, ringsum ein milchiger Hof, der Mann mit dem Holz unter den Armen war nicht zu erkennen. Wolken flogen über die Sterne. Unschlüssig, wohin sie gehen sollte, sah sie sich um. Vereinzelt Birken, Wacholder auch. Weit entfernt in der grauen Ebene, nur von runden Hügeln unterbrochen, ein dunkler Haufen, darüber ein heller Stern, den der Dunst freigab, unter ihm eine Hütte in der unberührten kalten Wüste aus Schnee.
Sie hinkte darauf zu. Verharschter Schnee rutschte polternd vom Dach, das bis auf die Erde heruntergezogen war. Ein schiefes, hölzernes Tor, mit einem schweren Bolzen verschlossen, darinnen Maria und Josef und das Jesuskind. Margrieta schlug ein Kreuz vor ihre Brust und griff an ihren Hals, der war leer. Ohne zu zögern, ließ sie gleich darauf einen unsichtbaren Rosenkranz durch ihre Finger gleiten. Zuerst das Credo, danach das Vaterunser. Drei Ave Maria, die sie sang. Am Ende die Litanei, darin Glaube, Liebe, Hoffnung.
Schneeflocken wehten aus den Wolken herbei. Margrieta legte ihren Kopf weit zurück und trank sie mit ihren Lippen. Den schweren Bolzen klopfte sie mit einem Feldstein heraus, der neben dem Tor lag, dann zog sie das zweiflügelige Tor mit klammen Händen auf. Die Dunkelheit verströmte den kalten, fettigen Dunst von Heidschnucken, der vom Sommer her noch im Stall saß. Margrietas steife Finger öffneten die hart gefrorenen Bänder, die um ihren rechten Stiefel geschlungen waren, und zerrten ihn herunter. Mit den eisigen Klumpen, die ihre Hände waren, rieb sie die eisigen Klumpen, die ihre Füße waren, bis die Wärme beide auftaute, Hände und Füße. Sie nahm ihre Stiefel, hinkte in den Stall und schloss hinter sich das Tor. Mäuse raschelten auf der Suche nach ihren versteckten Haselnüssen, Käuzchen schrien, Hunde bellten in der Ferne ausdauernd den Mond an.
In der Einstreu aus Heidekraut, die durchsetzt war mit den Kötteln der Schnucken und Wärme gab, umfing sie noch vor dem Nachtgebet ein barmherziger Schlaf. Er gaukelte ihr den Sommer vor. Knospen, Blätter und Blüten brachen auf und setzten Früchte an, die im Herbst den Hunger stillten.
Als sie den knurrenden Hund hörte, der in der Nacht am Tor kratzte, spuckte sie zweimal aus. Ein drittes Mal gelang es ihr nicht, weil ihre Kehle zu trocken war.