TEXT + KRITIK 242 - Natascha Wodin -  - E-Book

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Beschreibung

"Sie kam aus Mariupol" – die Nöte von aus Russland oder der Ukraine nach Deutschland emigrierten Frauen prägen Wodins Werk. Natascha Wodin wurde 1945 als Kind verschleppter Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion in Fürth geboren. Ihre Prosa steht im Zeichen der Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse und historischer Tabus. Die Autorin thematisiert die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die Entdeckung der Herkunft, die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit und ihre Überwindung. "Ich schrieb, weil ich nicht leben konnte", heißt es im Roman "Nachtgeschwister". Die Protagonistinnen Wodins sind benachteiligte, aber starke, lebensbejahende Frauen, ihre Schicksale berühren und ergreifen. Die Beiträge des Heftes untersuchen die vielseitigen thematischen Aspekte im literarischen Schaffen der Autorin. Im Mittelpunkt stehen die Aufarbeitung der Wende und die Ost-West-Dichotomie, Ausgrenzung und Resilienz, Zeitgeschichte und kulturelles Gedächtnis. Die Thematisierung von Intertextualität und Übersetzung ermöglichen Einblicke in die Schreibverfahren Wodins und machen neue Verknüpfungen und Dynamiken innerhalb der Texte sowie die lyrischen Verfahren der Verdichtung und Verschränkung sichtbar.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2024

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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Am Reinsgraben 3, 37085 Göttingen

Telefon: (0551) 54 76 643

Print ISBN 978-3-96707-936-4 E-ISBN 978-3-96707-938-8

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2024 Levelingstraße 6a, 81673 Münchenwww.etk-muenchen.de

Inhalt

Natalia Blum-Barth »[G]efangen in der Unvereinbarkeit […] von Literatur und Leben«. Einige Bemerkungen zum Werk von Natascha Wodin

Helmut Böttiger Ukrainisches Regentropfenprélude. Natascha Wodins deutsch-slawische Grenzverschiebungen

Lucia Perrone Capano In »einem nie geträumten Bild aus Ost und West«. Bewegungsräume im Werk von Natascha Wodin

Hans-Christian Trepte Natascha Wodin und Wolfgang Hilbig. Zur literarischen Zweisamkeit in der deutschen Einheit

Natalia Blum-Barth »[D]ie geheimnisvolle Geschichte von der gläsernen Stadt«. Intertextualität und Historizität im Leben und Werk von Natascha Wodin

Natalia Blum-Barth / Chrystyna Nazarkevytch Das Verborgene sichtbar machen. Ein Interview mit der Übersetzerin des Romans »Sie kam aus Mariupol« ins Ukrainische

Jörg Magenau Natascha Wodin: eine Berichterstatterin von schmerzlicher Genauigkeit

Auswahlbibliografie

Notizen

Natalia Blum-Barth

»[G]efangen in der Unvereinbarkeit […] von Literatur und Leben« Einige Bemerkungen zum Werk von Natascha Wodin

»Ich bin aussichtslos gefangen in der Unvereinbarkeit von Traum und Wirklichkeit, von Literatur und Leben«,1 lautet das vollständige Zitat im obigen Titel. Unwillkürlich denkt man an die mit dem Leben nicht zu vereinbarenden Verletzungen. Um an ihnen nicht zugrunde zu gehen, versucht die Autorin der Realität zu entkommen, indem sie ihre eigene Welt mit ihren eigenen Figuren erschafft: »Ich erfand meinen Ich-Figuren eine Farbigkeit und einen Lebenswillen, den ich selbst nicht im geringsten besaß. […] ich lebte gegen die Angst wie gegen ein Naturgesetz, das mich erschaffen hatte, um sich an mir zu erproben. Ich lebte mich, obwohl ich unlebbar war, auf der ständigen Flucht vor etwas, das mir wie das Visier eines Scharfschützen erschien.«2 Diese Zeilen schildern eine Metamorphose, ja ein Wunder: Das von Angst gejagte Ich, das sich permanent im Visier eines Scharfschützen fühlt, zerbricht nicht an seiner Angst und Flucht, sondern rettet sich in eine selbsterschaffene Welt der Literatur. Es ist kein Eskapismus. Literatur bietet keine Zuflucht. Literatur wird zu einem Schlachtfeld, auf dem die Autorin in ihren erfundenen Figuren ihre Angst und ihre Unlebbarkeit auslebt.

Natascha Wodins Figuren sind nicht überzeichnet. Es sind Außenseiterexistenzen, die sich an der Grenze des Zumutbaren befinden, in extremen Situationen, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Diese Ausweglosigkeit, Verzweiflung, Krankheit, Abhängigkeit, Gewalt lässt die Autorin ihre Figuren durchleben. Dabei tun sich abstoßende, ja abscheuliche Abgründe auf, denen diese »geschuppten Herzen«3 ausgeliefert waren. Selbst »der freiwillige Untergang« wird ihnen nicht erlaubt, »sogar dieses letzten Einsamkeitsrechts«4 werden sie beraubt.

Wie ein Chirurg mit Skalpell legt die Autorin unter den Schichten des erlebten Leids die lebensbedrohlichen Geschwüre ihrer Figuren frei. Für einige von ihnen (etwa für Heiner Fuchs in »Notturno«, »Der Fluss und das Meer«, 35–78) erfolgen diese Eingriffe zu spät. Für andere, wie die Mutter, ist der Tod die einzige Erlösung: »Wie froh muss sie sein, dass es so ist, denke ich, dass sie nun nichts mehr fühlt vom Leben, das sie so furchtbar gequält hat.«5 Für Wodins Figur der Mutter sucht man vergeblich nach Vergleichen in der Weltliteratur.

Wodins literarische Figuren kann man zwischen der Unmöglichkeit, ihr Leben zu führen, des Lebens und ihrem Lebenswillen verorten. Durch sie scheint die Autorin eine Art Selbstheilung zu betreiben, gibt es sie nicht, riskiert sie verloren zu gehen: »Ich wollte, daß es ihn [Sergej, ein homosexueller, aidskranker Tänzer] gibt, und vielleicht war er in mir immer schon einer gewesen, den meine Angst gesucht hatte, vielleicht war der, dem ich antwortete, jener zweite Unheilbare, den ich finden wollte, um meine Krankheit in ihm zu besiegen oder, wenn es unmöglich war, endlich verlorenzugehen.« (»Erfindung einer Liebe«, 14). Es scheinen keine erfundenen, sondern gefundene Figuren zu sein, die »immer schon« in der Autorin waren, die sie nun lokalisiert und sie zur Eigenexistenz bemächtigt. Als Schöpferin dieser Figuren entwirft die Autorin für sie ein Lebensszenario, führt Regie, unterwirft sie ihrem Diktat, überträgt ihre Traumata auf diese Figuren und lässt sie ihre eigenen Ängste durchleben. Sie nimmt ihre Schicksale in die Hand, teilt ihnen Leid und Schicksalsschläge zu, entscheidet über ihr Leben und ihren Tod. Sie gibt ihren Schmerz an ihre Figuren ab und durchlebt ihn in der Literatur, anstatt an ihm im Leben zugrunde zu gehen. Literatur befreit nicht von Ängsten und heilt nicht von Traumatisierung. Ganz im Gegenteil: Sie multipliziert diese Ängste und intensiviert die Traumatisierung. Literatur lässt sie durchleben, immer wieder, in jeder Figur aufs Neue. Schreiben verhindert das Sterben: »ich schrieb, weil ich nicht leben konnte, ich schrieb, um mich festzuhalten, ich schrieb aus Angst, aus Notwehr, aus Verzweiflung […]« (»Nachtgeschwister«, 190), »das Schreiben war mein ständiger Selbstrettungsversuch« (»Der Fluss und das Meer«, 160).

Das Schreiben ist kein Befreiungsakt, es hat keine kathartische Wirkung und bringt keine Erleichterung. Vielmehr scheint das Schreiben für Natascha Wodin einen Kampf mit sich selbst zu bedeuten: »Der Zweifel war der tyrannische Herrscher über jeden meiner Sätze, ich war dem Zweifel verfallen, der sich seine zweite Wortsilbe mit dem Teufel teilte. Vielleicht schrieb ich überhaupt nur deshalb, weil ich irgendwann auf diesen Dämon in mir gestoßen war, und seitdem kämpfte ich mit ihm.« (»Nachtgeschwister«, 191) Der schöpferische Akt des literarischen Schreibens wird als qualvolle Herausforderung und tödlicher Sog dargestellt, die Autorin empfindet »das Schreiben mehr und mehr als Verdammnis, als Krankheit, als Kapitulation vor dem Leben« (»Nachtgeschwister«, 190).

Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Sprache, dem Werkzeug jedes Dichters zu. »Nur eine Sprache lieh ich mir, / ein fremdes Zeichen an der Schläfe, / das mich verwandelt mit dem Licht, / dem weißen, unbewohnten Licht, / aufs Rad der Welt geflochten.« (»Sprachverlies«, 38) Diese geliehene Sprache ist »ein wundes Leuchten auf der Zunge« (ebd.), das Einzige, was dem lyrischen Ich – ohne Vaterland und Kindheit – das Leben im Wort ermöglicht. Das Licht fungiert als Metapher für das Leben im Wort, in der Sprache, im Schreiben. Zusammen mit dem Licht und dem Leuchten werden auch Finsternis und Dunkel zum antipodischen Leitmotiv des 1987 erschienenen Gedichtbands »Das Sprachverlies«: »Unbetretbar das Land / meines leuchtenden Dunkels, / meines sprachlosen Herzens, / wo blutgierige Vögel nisten, / betrunken von meinem Wort.« (»Sprachverlies«, 28) Dem Oxymoron ähnliche Sprachbilder wechseln sich ab und hinterlassen Beklommenheit.

Das schmale Bändchen erschüttert durch seine Sprachgewalt. Neben Metaphern sind es vor allem Neologismen und ihre wiederholte Anordnung, die die atemberaubende Sprachdichte hervorbringen: »mir schmolz das Haar unter dem Schnee, / das Birkenhaar, das Rabenhaar, / das wilde Hunnenhaar des Ostens.« (»Sprachverlies«, 8), »Nachtfaserwort«, »Sterbenswort«, »Nachtwort« (16), »Schnee aß ich / in diesem schneegeborenen Land / und trank den Schwarzfluß des Vergessens« (11), »ich treibe wasserwärts, / mit uferlosem Auge / und angstertrunknem Herz« (20), »purpurnes Schmerzleuchten / in der Dunkelheit« (31), »Schmerzmuseum / voll goldgerahmter Abstinenzen« (54) und viele mehr. Auffällig ist die Zuschreibung metaphorischer Eigenschaften an Körperorgane: »Geräusch meiner Adern«, »Schäumendes Herz« (56), »Durst meiner Zähne« (57), »das seufzende Haar« (58), als ob dadurch die Funktionalität, die Lebbarkeit des lyrischen Ichs herausgestellt werden sollte.

Ihr lyrisches Ich präsentiert die Autorin in der Gewalt der Sprache und legt ihm eine Sisyphusarbeit auf: »Voller Harz ist mein Mund, / verstopft von den Worten, / die ich nie sprach. […] Wohin fällt meine Sprache, / das eine zu sagen: / daß nichts sagbar ist.« (29). Die Anstrengung der schöpferischen Arbeit am Wort wird in drastischen Bildern zum Ausdruck gebracht: »Noch kaue ich / an verklebten Vokabeln / und wälze sie / durch die Mundgruft« (41). Das Ringen um die Sprache wird immer wieder thematisiert: »Jetzt schläft in meinem Gehirn / ein Getier von Lauten, / in keiner Sprache gezähmt.« (56) Die hier beklagte Sprachlosigkeit kann auf den Sprachwechsel bezogen werden: »Einmal erbrach ich Kinderschreie. […] So kalt bin ich mir / in euren Worten, / die ihr mich lehrtet« (ebd.). Das lyrische Ich scheint sich gegen die Worte zu wehren: »Bin auf der Flucht / vor euch, Worte, / laßt ab von mir.« (57)

Das sind die Anfangsverse des Gedichts, das im Grunde genommen die Absage an die russische Sprache und die Entscheidung für die deutsche Sprache als Sprache der Kreativität beinhaltet: »Hebt mich nicht auf, / ihr Redeworte, Retteworte, / bin auf der Flucht vor euch, wortab aus Babylon – / auf jenen Turm zu, / der mich ruft, / den Turm am deutschen Neckar, / wo Scardanelli mit dem König / und mit des Äthers Stille spricht.« (Ebd.) Die sonoren R-Laute im Vers »ihr Redeworte, Retteworte« stehen stellvertretend für die russische Sprache. »[W]ortab aus Babylon« flieht das lyrische Ich zum »Turm am deutschen Neckar«. Unschwer identifiziert man in den letzten Zeilen den Verweis auf Friedrich Hölderlin. Die in seinen letzten Lebensjahren entstandenen Gedichte unterzeichnete Hölderlin mit dem Namen Scardanelli.6 Angesichts dieses Gedichts kann man Hölderlin, der mehr als 30 Jahre als Geisteskranker in Pflege und unter Aufsicht lebte, als literarischen Prototyp für Heiner Fuchs in Wodins Erzählung »Notturno« betrachten.7

Die Autorin folgt dem Ruf des Turms »am deutschen Neckar«. Mit ihrem Gedichtband, der vier Jahre nach dem Debütroman »Die gläserne Stadt« (1983) erschien, bekräftigt Wodin nicht nur ihre Rückkehr nach Deutschland, mit der der Roman endet, sondern auch den Entschluss: »Ich kann nicht mehr über-setzen. Das Über-setzen meiner selbst ist gescheitert.«8 Auch wenn sie immer wieder auf Übersetzen als »Brotarbeit« (»Nachtgeschwister«, 51) zurückgreifen muss, reagiert sie »mit Vergiftungserscheinungen auf den Schund« (»Nachtgeschwister«, 128), den sie übersetzt. »Das Sprachverlies« dokumentiert ihre Suche nach ihrem Wort, »im Schmutz unter den Brücken, / wo es lag im Mund meines schäbigen Todes / und unbewacht von den steinernen Engeln.« (62)

Natascha Wodins obsessive Auseinandersetzung mit dem Tod manifestiert sich in ihren Gedichten im Motiv des Wassers (Regen, Meer, Tropfen), des Schnees, der Zeit und des Haars, wie etwa: »dein Ginsterhaar, Eirene« (»Sprachverlies«, 19). Ginster ist das Sinnbild für die Sünden des Menschen und das Symbol für das stellvertretende Leiden Christi.9 In Verbindung mit Eirene, der griechischen Göttin des Friedens, liest man die Schlusszeile »Neue Todesarten stehen bevor« (ebd.) als nicht vermeidbare Gewissheit. Unwillkürlich denkt man dabei an die Schlussverse in Celans »Todesfuge«: »dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith!«

Im Gedicht »Denk dir« formuliert Wodin die Mahnung, ja das Gebot, sich zu erinnern an »die Wörter«, an die Stimmen, an den Gesang, an all die Bücher, die gegen das Vergessen geschrieben wurden:

Denk dir,

daß wir die Wörter vergessen werden,

schamlos betrunken

vom Nachtschaum der Strände.

Denk dir Gesang

Aus den Mündern der Sterne,

gelb von der Eifersucht

Baudelaires und Rimbauds.

Denk dir die Stimme

Jenseits der Wörter,

denk dir Gesang

diesseits der Stimme. (Sprachverlies, 65)

Mit seinem vierfach wiederholten Imperativ »Denk dir« korrespondiert Wodins Gedicht mit Celans »Denk dir«10. Unter den Eindrücken des Sechstagekrieges vom 5. bis zum 10. Juni 1967 hat Paul Celan in diesem Gedicht seine Solidarität mit Israel zum Ausdruck gebracht. Der am 7. Oktober 2023 entfachte Krieg der Hamas gegen Israel verleiht Celans Gedicht eine neue Aktualität.11

Paul Celan scheint Natascha Wodin, die sich in ihren Texten immer wieder auf Autorinnen und Autoren der deutschen, russischen und der Weltliteratur beruft, nie explizit erwähnt zu haben.12 Nichtsdestotrotz lassen sich zwischen den beiden so viele Parallelen feststellen, dass es nahe liegt, den Titel ihres Gedichtbandes »Das Sprachverlies« in die Nähe des 1959 erschienenen Gedichtbandes »Sprachgitter«13 von Paul Celan zu rücken.

*

Die Beiträge des Heftes fokussieren das gesamte Œuvre von Natascha Wodin und bieten einen Überblick über ihr literarisches Schaffen. Neben thematischen Schwerpunkten, die unter anderem die Historizität, den Topos der verlorenen Heimat, die Ausgrenzung und den Rassismus untersuchen, enthalten sie auch Abhandlungen zu intertextuellen Bezügen, zur Übersetzung und literarischen Mehrsprachigkeit in Wodins Texten.

Der Essay von Helmut Böttiger spürt den biografischen Linien Wodins in verschiedenen Erzählsträngen ihrer Romane nach. Der Verfasser betont den souveränen Umgang der Autorin mit den Zwängen ihrer Herkunft sowie ihre Übersetzung in eine ästhetisch überzeugende Erzählhaltung. Dadurch erhalten Wodins Romane den Charakter schonungsloser Rechenschaftsberichte, in denen soziale Missstände in das tiefgründige Psychogramm der Erzählerin eingeflochten werden. Neben dem Verweis auf die deutschen und russischen Komponenten im Selbstbild der Autorin als Movens ihres Schreibens verhilft auch der Vergleich mit Annie Ernaux, der Nobelpreisträgerin für Literatur 2022, zum Verständnis des autobiografisch geprägten Werkes von Natascha Wodin.

Lucia Perrone Capano analysiert die Wege der Protagonist:innen in den Romanen »Nachtgeschwister«, »Sie kam aus Mariupol«, »In diesem Dunkel« und thematisiert ihre Bewegungen als transnationale und transkulturelle Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa. Dadurch veranschaulicht sie an individuellen Schicksalen einzelner Figuren ihren Existenzkampf und erläutert, wie die Erinnerungsarbeit der Autorin zu einer Form der Vergangenheitsbewältigung wird. Dabei wird deutlich, dass die Bewältigung die Aufarbeitung der Vergangenheit voraussetzt, und diese betreibt Wodin als Spuren- und Identitätssuche ihrer Protagonist:innen zeit- und raumüberschreitend.

Ausgehend von der literarisierten Liebesbeziehung mit Wolfgang Hilbig im Roman »Nachtgeschwister« fokussiert Hans-Christian Trepte das in der Forschung zu ihrem Werk vernachlässigte Thema der ostdeutschen Befindlichkeiten. In einführenden Kontextualisierungen zur Wahrnehmung der DDR-Literatur nach der Wiedervereinigung präsentiert Trepte verschiedene DDR-Reflexionen und veranschaulicht ihre einseitige und asymmetrische Rezeption im vereinten Deutschland. Vor diesem Hintergrund erlangt Wodins Roman »Nachtgeschwister« eine neue Lesart als »ein zentrales Werk einer ambivalent erscheinenden ost-westlichen Aufarbeitungsliteratur«. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der einenden Kraft der deutschen Sprache und der trennenden, ausgrenzenden Eigenschaft des Dialekts zu, der unmissverständlich das individuelle Trauma markiert.

In meinem Beitrag wird die Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse fortgesetzt. Anhand von »Sie kam aus Mariupol« widme ich mich der von Wodin thematisierten Errichtung des Bolschewismus in der heutigen Ost- und Südukraine, dem Großen Terror sowie den Hungersnöten 1921 bis 1923 und 1932 bis 1933. Der Beitrag veranschaulicht, dass die literarische Aufarbeitung dieser Ereignisse mit großer historischer Genauigkeit erfolgt. Wodin thematisiert die Opfer, dokumentiert die NKWD-Verbrechen, zeigt die Maschinerie der Gewalt und des Terrors auf, sodass ihr Roman die Funktion der Geschichtsvermittlung übernimmt. Als Auslöser für die Literarisierung historischer Ereignisse betrachte ich intertextuelle und intermediale Bezüge, die durch die Schallplatte mit der Aufnahme der Operette »Tschornomorzi« von Mykola Lysenko ausgelöst wurden.

Chrystyna Nazarkevytch, die Übersetzerin des Romans »Sie kam aus Mariupol« ins Ukrainische, charakterisiert die linguistisch-stilistischen Strukturen in Wodins Text und die damit verbundenen Herausforderungen aus translatologischer Sicht. Eingegangen wird insbesondere auf die Übersetzung mehrsprachiger Stellen sowie markierter und nicht markierter intertextueller Bezüge. Die von Chrystyna Nazarkevytch erläuterten Vorgehensweisen, beispielsweise bei Auslassungen oder Modifikationen des Originals, ermöglichen nicht nur Einblicke in die Übersetzerwerkstatt, sondern veranschaulichen eine vertiefte Beschäftigung mit stilistischen Kunstgriffen der Autorin und anderssprachigen Intertexten. Darüber hinaus werden Dynamiken der Rezeption eines literarischen Werks in einer anderen Sprache vor dem Hintergrund problematischer historischer Kontexte während des andauernden russischen Eroberungskriegs in der Ukraine angesprochen.

Der Essay von Jörg Magenau hat den Charakter eines Nachworts. Darin werden zwei für das literarische Werk Natascha Wodins zentrale Kategorien – die Fremdheit und die Grenze – und der gesellschaftliche Wandel ihres Stellenwerts beleuchtet. Fremdheit als existenzielles Gefühl ebenso wie als frühe Erfahrung einer abweisenden Gesellschaft wird zum Antrieb Wodins literarischen Schreibens. Ähnlich auch das Gefühl der Ausgrenzung und die Notwendigkeit der Grenzüberwindung, die Magenau im Verwischen der Grenzen in Wodins »Autofiktion« konstatiert.

1 Natascha Wodin: »Nachtgeschwister«, Roman, München 2011, S. 137. — 2 Natascha Wodin: »Erfindung einer Liebe«, Roman, Leipzig 1993, S. 13 f. — 3 Natascha Wodin: »Das Sprachverlies. Gedichte«, Düsseldorf 1987, S. 69. — 4 Natascha Wodin: »Der Fluss und das Meer«, Erzählungen, Hamburg 2024, S. 42. — 5 Natascha Wodin: »Sie kam aus Mariupol«, Reinbek 2017, S. 356 f. — 6 Vgl. Grete Lübbe-Grothues: »Grammatik und Idee in den Scardanelli-Gedichten Hölderlins«, in: »Philosophisches Jahrbuch«, 1983 (90), S. 83–109. — 7 Auf Hölderlin, und zwar auf die Schlussverse seiner Ode »An die Parzen«, geht auch der Titel von Wodins Roman »Einmal lebt ich« zurück. Vgl. Katja Suren: »Ein Engel verkleidete sich als Engel und blieb unerkannt. Rhetoriken des Kindlichen bei Natascha Wodin, Herta Müller und Aglaja Veteranyi«, Sulzbach/Ts. 2011, S. 79 f. — 8 Natascha Wodin: »Die gläserne Stadt«, Reinbek 1983, S. 319. — 9 »Ginster«, in: Christliches Lexikon, https://www.logo-buch.de/logo-aktiv/wissensbibliothek/christliches-lexikon/ginster. — 10 Paul Celan: »Die Gedichte«, neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Berlin 2018, S. 266. — 11 Jan-Heiner Tück: »Denk dir. Paul Celans Bekenntnis zu Israel«, in: Münsteraner Forum für Theologie und Kirche, https://www.theologie-und-kirche.de/tueck-denk-dir.pdf. — 12 Allerdings bezieht sich Wodin auf den biografischen Kontext, den Freitod Celans in der Seine: »Wie hat Paul Celan sich in der Seine ertränkt, wie hat Virginia Woolf es gemacht?«, Natascha Wodin: »Einmal lebt ich«, Frankfurt/M. 1989, S. 58. — 13 Paul Celan: »Sprachgitter«, Frankfurt/M. 1959.

Helmut Böttiger

Ukrainisches RegentropfenpréludeNatascha Wodins deutsch-slawische Grenzverschiebungen

Natascha Wodin hat, wenn sie spricht, einen unverkennbaren fränkischen Einschlag. Die Klangfarbe ihrer Stimme, vor allem, wenn sie das »R« ein bisschen rollt, stammt aus der Region um das Flüsschen Regnitz, aus der Gegend nördlich von Nürnberg und Fürth, in der sie groß geworden ist. Aber gleichzeitig rührt dieses »R« noch an ganz andere Grundlagen: Es reicht bis ins Russische hinüber. Bis zum Alter von sechs Jahren hat Natascha Wodin ausschließlich auf Russisch gedacht und gesprochen, der Sprache ihrer Eltern. Zwischen dem Russischen und dem Fränkischen ist vieles möglich. Die besonderen Umstände aber, unter denen Natascha Wodin ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, bewegen sich jenseits aller Kategorien. Sie wurde im Dezember 1945 als Tochter russisch-ukrainischer Eltern geboren, in einer verkommenen Baracke auf einem Fabrikhof an der Grenze zwischen Nürnberg und Fürth. Die Eltern waren von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden und befanden sich nun als staatenlose »Displaced Persons« außerhalb der Zeiten und Räume.

Immer wieder taucht diese Baracke in Natascha Wodins Prosa auf, ein gespenstisches Bild mit Taschenlampen, die im notdürftig mit einem Bettlaken zugehängten Fenster aufblitzen. Und ihre Kindheit und Jugend sind durchgehend von dieser Existenz als Nichtzugehörige gezeichnet, sie verbrachte sie am äußersten Ortsrand in den »Häusern«, wie die einheimischen Deutschen in der Stadt Forchheim in verächtlicher Abwehr die Siedlung für gestrandete Fremde nannten. Hier wohnten die Heimatlosen und Unbehausten aus dem Osten, die von der deutschen Bevölkerung nie als dazugehörig akzeptiert wurden. Natascha Wodin ist in ihren Büchern immer wieder auf diese Urszenen zurückgekommen. Konsequent schien jene Zeit auf die erste große Zäsur zuzulaufen, nämlich den Selbstmord der Mutter, als die Tochter zehn Jahre alt war. Die »Häuser« am Rande der üblichen deutschen Zivilisiertheit erscheinen in den Büchern der Autorin in unterschiedlichen Zusammenhängen und Beleuchtungen, und im Lauf der Zeit wird das Traumatische, das mit ihnen in Verbindung steht, immer detaillierter beschrieben.

In Natascha Wodins Prosadebüt »Die gläserne Stadt« aus dem Jahr 1983 wirkt die erste Lebensphase, obwohl der gewalttätige, entwurzelte und in einem Kosakenchor singende Vater bereits eine große Rolle spielt, am stärksten von der Russlandsehnsucht der Mutter geprägt. Sie vermittelte der Tochter das Gefühl, dass in der russischen Kultur ihre eigentliche Identität läge – vor allem durch Musik, durch gemeinsames Singen. Daraus entsteht ein Bild, mit dem Deutschland ganz allgemein und als das nicht zu Erreichende schlechthin charakterisiert wird, es ist »Die gläserne Stadt« des Titels, die »sauberste Stadt der Welt«.

Zu diesem Blick auf das Land ihrer Geburt kommt die Hauptfigur auch durch die Konfrontation mit dem wirklichen Russland viele Jahre später. Dafür werden wichtige Lebensetappen übersprungen. In den 1970er Jahren arbeitete Natascha Wodin wie ihre Protagonistin als Dolmetscherin in Moskau, unter schwierigsten Bedingungen. Aber im Mai 1979 lernte sie den um 24 Jahre älteren »L.« kennen und erlebte anschließend eine der glücklichsten Phasen ihres Lebens. Das Debüt der Autorin reagierte auf diese unmittelbar zurückliegende Erfahrung. Eine Zeit lang schien es tatsächlich so zu sein, als könnte sich im Moskauer Alltag die Möglichkeit einer Heimat verbergen. Bis zum September 1980 lebte Natascha mit L. in der aus der üblichen Gesellschaft herausgehobenen Moskauer Schriftstellersiedlung zusammen. Die Autorin verhüllt die autobiografische Grundlage ihres Buches nicht, aber sie macht sie gleichzeitig zu einem literarischen Stoff: Lew Ginzburg war ein bekannter russischer Dichter, Germanist und Übersetzer. Er starb im Alter von 59 Jahren, kurz nachdem die beiden beschlossen hatten, zu heiraten.

In »Die gläserne Stadt« wird die Zeit der Beziehung mit Lew Ginzburg zu einer Einlösung früher Traumvisionen, die durch die russischen Erinnerungen der Mutter ausgelöst wurden. Aber es bleibt alles dennoch sehr fragil. Vor der Bekanntschaft mit »L.« erlebt Natascha das russische Leben als eine nicht zu bewältigende Herausforderung, es setzt ihr psychisch und physisch zu. Und dem Milieu der etablierten russischen Kulturschaffenden steht sie durchaus zwiespältig gegenüber, sie sieht die Privilegien und Repressionen in der sowjetischen Gesellschaft, und nach dem Tod ihres Geliebten wird sie auch sofort ausgeschlossen. Der Roman endet mit der Rückkehr ins »gläserne« Deutschland, und das zentrale Lebens- und Schreibmotiv der Autorin kristallisiert sich dadurch umso deutlicher heraus: die Suche nach Verortung, die Ruhelosigkeit, das Hin- und Hergetriebensein.

Erst in den folgenden Büchern widmet sich die Autorin den schwierigen und komplexen Phasen ihrer Biografie, die sie in ihrem Debüt ausgelassen hat. Es sind die Jahre zwischen der Zeit in einem katholischen Mädchenheim, in das ihr Vater sie nach dem Selbstmord der Mutter gebracht hatte, und der späteren Berufstätigkeit als Dolmetscherin. »Einmal lebt ich«, 1989 erschienen, ist lange, bevor dieses Wort in Deutschland aufkam, ein autofiktionaler Text: ein schonungsloser Rechenschaftsbericht, der der eigenen Biografie nachspürt und in dem es um die sozialen Verhältnisse und ihre psychischen Implikationen geht. Es ist überhaupt bemerkenswert, dass Natascha Wodins erste Texte parallel zu den später berühmt gewordenen Prosastücken von Annie Ernaux entstanden, die stilbildend geworden sind. Der Unterschied zwischen dem französischen und dem deutschen Sujet bei beiden Autorinnen ist sehr beredt: das Deutsche zerfällt bei Natascha Wodin in viele verschiedene Bestandteile, und die Risse zwischen den deutschen und russischen Komponenten im Selbstbild der Autorin bilden das Movens des Schreibens.

»Einmal lebt ich« setzt an dem Punkt ein, als die Erzählerin nach fünf Jahren in der klösterlichen Mädchenschule in die »Häuser« ihres Herkommens zurückkehrt. Die Protagonistin sieht sich der Aggressivität des Vaters, der bis zu seinem Tod Jahrzehnte später kein Wort Deutsch sprechen wird, schutzlos ausgeliefert. Sie ist seinen Forderungen, den Haushalt zu führen und samstags penibel zu putzen, nicht gewachsen, und parallel dazu werden in beklemmenden Szenen die sexuellen Irritationen der Heranwachsenden deutlich. Einmal legt sich der Vater betrunken zu ihr ins Bett, und sie hat sich in einer Vorahnung, von der sie nicht genau weiß, worin sie eigentlich besteht, eine Schere auf den Nachttisch gelegt, um sich im Notfall zu wehren – es kommt nicht dazu, aber damit wird eine spezifische Atmosphäre verdichtet, die das gesamte Buch durchzieht. Den Wechsel zu einer durch und durch protestantischen Schule, in der sie als »Russin« verunglimpft wird, verkraftet sie ebenfalls nicht, und sie ergreift schließlich die Flucht.