TEXT + KRITIK 243 - Oskar Panizza -  - E-Book

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Beschreibung

"Einer, gegen den Heine eine matte Zitronenlimonade genannt werden kann." Kurt Tucholsky Oskar Panizza (1853–1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Zeit seines Lebens eckte er mit seinen kirchen- und gesellschaftskritischen Texten an, wurde international steckbrieflich gesucht, angeklagt und inhaftiert, schließlich eingewiesen und entmündigt, bevor er 1921 in einer Nervenheilanstalt starb. Sein blasphemisches Theaterstück "Das Liebeskonzil" löste einen der größten Theaterskandale der deutschen Geschichte aus und brachte ihm die längste Haftstrafe ein, die für ein literarisches Werk im Wilhelminischen Kaiserreich verhängt wurde, und seine Texte provozierten weit über seinen Tod hinaus. Mit der Darstellung von Sexualität und Wahn in seinen Fallgeschichten nahm er bereits in den 1890er Jahren gesellschaftspolitische und sozialkritische Positionen ein, die nichts an Relevanz und Diskussionsbedarf eingebüßt haben. Panizzas schillernde Biografie und seine scharfzüngige Kritik an Kirche, Staat und Gesellschaft verstellen dabei vielfach bis heute den Blick auf das ästhetische Potenzial seiner Texte: Die Beiträge des Bandes stellen dem kunst-, kultur-, medien- und literaturwissenschaftliche Lektüren seines Werks entgegen.

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2024

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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Am Reinsgraben 3, 37085 Göttingen

Telefon: (0551) 54 76 643

Print ISBN 978-3-96707-972-2 E-ISBN 978-3-96707-974-6

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, P/a 1732

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2024 Levelingstraße 6a, 81673 Münchenwww.etk-muenchen.de

INHALT

Oskar Panizza Für »Petroleumdichter«

Joela Jacobs Oskar Panizzas Manuskript »Für ›Petroleumdichter‹«

Gal Hertz Pathologie des modernen Selbst. Oskar Panizzas »Das Liebeskonzil« und »Psichopatia criminalis«

Manuel Förderer / Birgit Ziener Pix, Pax und die Macht des Unsichtbaren. Oskar Panizza im Kontext von Moderne, Okkultismus und Spiritismus

Elena Meilicke Fotografie und ›Pseudizität‹. Paranoia als Medienwissen in Oskar Panizzas »Imperjalja«

Dietmar Schmidt Ende der Vorstellung. Oskar Panizzas »Das Wachsfigurenkabinet« und die Erfindung des Kinos

Bastian Lasse Sexualität im Werk Oskar Panizzas

Joela Jacobs / Nike Thurn »Ein antisemitisches Kunstwerk«? Zur Rezeption von Oskar Panizzas »Der operirte Jud’«

Thomas Röske Oskar Panizza zeichnet in der Anstalt

Tamara Klarić Biografie

Joela Jacobs / Tamara Klarić / Nike Thurn Auswahlbibliografie

Notizen

Oskar Panizza

Für »Petroleumdichter«1

[V]on Hern Rockefeller in Alleghany (Pennsylvania)

[erhiel]ten wir das folgende Biljet, welches wir der Einfachheit

[halber] für die Brüder Apoll’s jenseits des Rheins gleich

[ins] Deutsche übersezen

»Lieber Herr!

[Ic]h bin einigermasen erstaunt, daß Sie mir in Ihrer Zeit-

[schrift d]en verstekten Vorwurf machen {wir haben keinen Vor-

[wurf] gemacht!}, ich unterstüzte in keiner Weise Ihre poetischen

[Autoren?] in Deutschland, obwol deren Verse in nicht zu übersehender

[Weise na]ch der Lampe röchen. Daran knüpfen Sie in hämischer

[Weise die] Bemerkung, ich hätte der university in Chicago

[Miljon/Miljard?]en Dollars geschenkt. Erlauben Sie zunächst die

[gege?]bene Bemerkung, daß meine Schenkung an die univer-

[sity in? Ch]icago – es sind nur etwa 11 ½ Miljonen – doch der

[hiesig]en Wißenschaft dient und der Gröse Amerika’s,

[während?] die Arbeiten Ihrer Hern Kolegen mich doch höchstens nur

[unwesentlic?]h2 berühren. Zudem lernen wir Ihre künstlerischen Pro-/Aro-

[b/m]en3 seit dem Herüberkommen der Tiroler Truppen

Rainer in genügender Weise kennen. Ist übrigens aber

[der Pe]troleum-Verbrauch Ihrer Dichter in Europa wirklich

[b]edeutender, daß er die Ausfuhr merklich beinflust, so

[bin ich] nicht abgeneigt, für besonders intensive Werke Prämjen

[zu za]hlen. Und ich sehe, lieber Herr, wenn es Ihnen gelingt,

[ein ve]rtrauungswürdiges Komitee mit intensiven Namen zusammen

[zu] bringen, welches darüber entscheidet, welche von Ihren

[Ko]legen bei einem Mindest-Verbrauch von 100 Gallonen

([…] Liter) im Jahr bei ihrer nächtlichen Arbeit einen Auf-

[tra]g von meiner Seite verdienen, gern Ihren diesbezüglichen Vorschlägen

[entgege?]n. In jedem Falle warne ich vor Rußischem4 Petroleum,

[da es] schlechte Gedanken erzeugt und der Sele jene ranzigen

[Gerüche/Aromen?] mitteilt, welche die Atener im Auge hatten, als sie

[Diog]enes vorwarfen, daß seine Reden nach der Lampe

[röchen.]

Ihr aufrichtiger

[Alleghan]y, Pa.

[F]ebruar 1904 John D. Rockefeller

[Haben] uns in Folge deßen mit der Bitte um Übernahme

[des R]ichter-Amts an die Hern M. G. Conrad (München),

[O./Otto E./Erich] Hartleben (Berlin), Freiherr von Khaynach (Rom),

Frhr. v. Liliencron (Altona), Richard Schaukal

[Mähri]sch-Weißkirchen, Östreich), Hanns Frhr. v. Gumppenberg

[Münc]hen), gewant, und hoffen, bei dieser Gelegenheit um so

[meh]r nun Abbitte zu tun, als die Gebetenen durch Über-

[nahme] dieses des Preis-Richter-Amts vor der drohenden Rockefeller-

[Plage?] eo ipso ausgesthoßen sind. bewahrt bleiben. Wir werden ehestens

[den] Lesern weitere Mitteilungen machen.

1 Transkript von Oskar Panizza: »Für ›Petroleumdichter‹ [1904]«, Literaturarchiv Monacensia München, Manuskript L1227. Transkription und Kommentare im Folgenden von Joela Jacobs. Im Manuskript fehlen Buchstaben an den Rändern, für die in eckigen Klammern Vorschläge basierend auf Kontext, Abstand und Panizzas typischer Ausdrucksweise gemacht wurden. Fragezeichen kennzeichnen Vorschläge, bei denen kaum oder keine Informationen vorliegen und andere Möglichkeiten denkbar sind; Schrägstriche bezeichnen zwei Möglichkeiten ähnlichen Inhalts. Unterstreichungen u. ä. Formatierungen des Originals wurden nach Möglichkeit im Schriftbild wiedergegeben. Der Brief zeigt Panizzas »›fonetisches Schreibsistem‹«, vgl. Rolf Düsterberg, »›Die gedrukte Freiheit‹. Oskar Panizza und die Zürcher Diskußjonen«, Frankfurt/M. 1988, S. 167–172. — 2 Es lässt sich an dieser Stelle nur ein -h erahnen, weshalb viele Möglichkeiten bestehen, z. B. ein Synonym für ›periphär‹. Während Worte wie ›nebensächlich‹, ›unerheblich‹ oder ›unwesentlich‹ vermutlich zu lang sind, ergibt sich aus kürzeren Begriffen wie ›unmerklich‹, ›spärlich‹ oder ›ungleich‹ keine eindeutige Wahl. Vielleicht ist es inhaltlich auch ganz anders gedacht und es geht um eine bestimmte Qualität, wie z. B. ›geruchlich‹, im Sinne der zentralen Metapher des Briefs. — 3 Inhaltlich ergibt sich grundsätzlich der gleiche Sinn. Ich danke Sabine Lenthe für ihre Transkriptionsdienste, die mein Verständnis einiger Passagen verbessert haben. — 4 »Rußisch« ruft in Panizzas Schreibweise sowohl ›Ruß‹ als auch ›russisch‹ auf.

Joela Jacobs

Oskar Panizzas Manuskript »Für ›Petroleumdichter‹«

In Panizzas Nachlass im Archiv der Monacensia im Hildebrandhaus München findet sich ein angerissener (und daher nicht vollständig lesbarer) Brief aus dem Jahr 1904, der mit »Lieber Herr!« beginnt und mit »John D. Rockefeller« unterzeichnet ist.1 Er ist mit einer Notiz überschrieben, in der sich Panizza als Übersetzer des Briefs ausgibt und die impliziten Adressaten des Briefs als »die Brüder Apoll’s jenseits des Rheins« benennt, die unter dem Brief wiederum als ›M. G. Conrad, O. E. Hartleben, Freiherr von Khaynach, Frhr. v. Liliencron, Richard Schaukal, Hanns Frhr. v. Gumppenberg‹ identifiziert werden.2 Andere zeitgenössische Kollegen des Schriftstellers Panizza werden in der Überschrift des Blatts aufgerufen, denn dort heißt es »Für ›Petroleumdichter‹«, ein Neologismus, der sich nur durch einen Buchstaben von Petroleumlichter unterscheidet. Schon der Verweis auf Apollo, Gott des Lichts und der Künste, kündigt die Verknüpfung von Petroleumlampen und Poesie an, die dieser fiktive Brief enthält. Er ist eine Satire über Kunst und Geld, verfasst von Panizza selbst.

Im Brief antwortet der wohltätige Rockefeller auf den »verstekten Vorwurf« einer Zeitschrift, er unterstütze keine deutschen Dichter, »obwol deren Verse in nicht zu übersehend[er Weise na]ch der Lampe röchen«.3 Der mittlerweile veraltete Ausdruck bezieht sich auf die Bemühungen der literarischen Produktion, also das Schreiben bis spät in die Nacht beim Licht einer Petroleumlampe. Er impliziert jedoch auch, dass das ›nach der Lampe riechende‹ Kunstwerk durch die mühsamen Bedingungen seiner Herstellung verdorben wird. Der Satz kritisiert daher die Qualität bestimmter zeitgenössischer Kunst und suggeriert, dass Rockefeller mittelmäßige Schriftsteller:innen finanziert, die im Gegenzug sein Erdölgeschäft durch ihre langen Arbeitszeiten unterstützen. Der fiktive Rockefeller in Panizzas Brief wird dem Vorwurf der profitablen Philanthropie gerecht, da er signalisiert, dass er zur Unterstützung bereit sei, sobald der »[Pe]troleum-Verbrauch Ihrer Dichter in Europa […] die Ausfuhr merklich beinflust«. 

Abb. 1: Oskar Panizza: »Für ›Petroleumdichter‹ [1904]«, Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, Manuskript L1227, Blatt 1.

Abb. 2: Oskar Panizza: »Für ›Petroleumdichter‹ [1904]«, Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, Manuskript L1227, Blatt 2.

Darüber hinaus beteuert Rockefeller seine Vertrautheit mit der deutschen Kunst (und ihrem Geruch): »Zudem lernen wir Ihre künstlerischen Pro-/Aro-[b/m]en seit dem Herüberkommen der Tiroler Truppen Rainer in genügender Weise kennen.« Nach dem Vorbild der erfolgreichen Tiroler Familie Rainer reisten im 19. Jahrhundert Gruppen sogenannter Natur- oder Nationalsänger:innen durch weite Teile der Welt, um einfache deutschsprachige Volkslieder in traditionellen Trachten aufzuführen. Die Monetarisierung einer solch vermeintlich typisch deutschen Idylle, die die sozialen und politischen Konflikte des 19. Jahrhunderts Lügen straften, repräsentierte all das, was Panizza an bürgerlicher Kunst und Kultur verachtete. In einer Zeit umfassender Zensur hatte er die enge Verknüpfung zwischen Kunst und Kapital erst wenige Jahre zuvor selbst erlebt, als sein Vermögen aufgrund regierungsfeindlicher Schriften vorübergehend vom deutschen Staat beschlagnahmt wurde.4 Sein fiktiver Brief legt daher nahe, dass viele Dichter, die zu dieser Zeit erfolgreich waren, von den Reichen und Mächtigen gekauft wurden – ob nun tatsächlich oder durch ihren vorauseilenden Gehorsam.

Der Brief veranschaulicht Panizzas Verständnis von Kunst als einem satirischen Akt des Widerstands gegen realitätsferne Kapitalisten mit nationalstaatlichen Prioritäten wie den fiktiven Rockefeller, der seine philanthropischen Entscheidungen mit der Bemerkung verteidigt, »daß meine Schenkung an die Univer[sity in? Ch]icago – es sind nur etwa 11 ½ Miljonen – doch der [hiesig]en Wißenschaft dient und der Gröse Amerika’s.«5 Rockefeller formuliert eine explizite Warnung, wenn er versichert, dass anderes Petroleum als das seine »schlechte Gedanken erzeugt und der Sele jene ranzigen [Gerüche/Aromen?] mitteilt, welche die Atener im Auge hatten, als sie [Diog]enes vorwarfen, daß seine Reden nach der Lampe [röchen]«. Hier erhält die Lampenmetapher eine weitere, allerdings positive Dimension: Diogenes soll tagsüber mit einer brennenden Lampe durch die Straßen Athens gegangen sein, um einen guten, wahren Menschen zu finden. Damit hat Diogenes’ Lampe einen anderen Geruch als die der Petroleumdichter, die eher wie die Blendlaterne in Panizzas »Verbrechen in Tavistock-Square« (1891) fungiert und die Erkenntnis verhindert:6 Diogenes’ Licht repräsentiert kritisches Hinterfragen und unabhängiges Denken, und Panizzas Brief ist demnach ein verschleierter Appell an seine Dichterkolleg:innen, unabhängig von großen Geldgebern und ihren Überzeugungen zu bleiben, um Kunst in Diogenes’ Sinne zu schaffen. Das wird auch dadurch deutlich, dass er seinen namentlich genannten Dichterkollegen die Aufgabe überträgt, Petroleumdichter zu identifizieren, d. h. Künstler:innen zu finden, die Rockefeller unterstützen kann, wodurch er hofft, dass »die Gebetenen durch Über-[nahme] dieses des Preis-Richter-Amts vor der drohenden Rockefeller-[Plage?] eo ipso ausgesthoßen sind. bewahrt bleiben«. Auch wenn der fiktive Brief nie veröffentlicht wurde und Panizzas Werk aufgrund seines kritischen Potenzials rigoros zensiert wurde, gelang es seiner Kunst, andere mit kritischem Gedankengut anzustecken.

1 Hier und im Folgenden zitiert aus dem vorangestellten Transkript von Oskar Panizza: »Für ›Petroleumdichter‹ [1904]«, Literaturarchiv Monacensia München, Manuskript L1227. — 2 Der Hinweis »jenseits des Rheins« lässt darauf schließen, dass der Brief während Panizzas Exil in Paris Anfang 1904 verfasst wurde (das abgerissene Datum deutet auf Februar hin), bevor dieser im Juni nach Deutschland zurückkehrte. — 3 In »bildlicher und übertragener anwendung: nach der lampe riechen (nach mühsamer arbeit), z. b. von dichterischen producten«, in Jacob und Wilhelm Grimm: »Deutsches Wörterbuch«, Leipzig 1854–1961, Lemma »riechen«. Vgl. auch den verwandten englischen Ausdruck burning the midnight oil. Angesichts des zeitlichen Rahmens ist es wahrscheinlich, dass es sich bei der erwähnten Zeitschrift um die »Zürcher Diskußjonen« handeln soll, die Panizza von 1897 bis 1902 herausgab und für die er bis 1904 weiterhin Entwürfe und Ideen sammelte. Der einzige veröffentlichte Hinweis auf den Brief vermutet dasselbe, vgl. Rolf Düsterberg: »›Die gedrukte Freiheit‹. Oskar Panizza und die Zürcher Diskußjonen«, Frankfurt/M. 1988, S. 304 f., vgl. auch S. 187 and S. 209 f. Der Brief fällt mit einer PR-Kampagne zusammen, die der sonst sehr auf Privatsphäre bedachte Rockefeller nach der Veröffentlichung von Ida Tarbels kritischer »History of the Standard Oil Company« 1902 begann. Vgl. Grant Segall: »John D. Rockefeller. Anointed with Oil«, Oxford 2001. — 4 Düsterberg: »›Die gedrukte Freiheit‹«, a. a. O., S. 195 f. — 5 Rockefeller spendete der University of Chicago Anfang der 1890er Jahre tatsächlich 80 Millionen Dollar. Als ich auf diesen Brief gestoßen bin, recherchierte ich für meine Doktorarbeit an dieser Universität, und eine frühere Version dieses Textes findet sich auf Englisch zu Beginn meiner Dissertation. — 6 Vgl. dazu meine 2025 bei Indiana University Press erscheinende Monografie »Vegetal, Animal, Marginal. The German Literary Grotesque from Panizza to Kafka«, die neben anderen Erzählungen diese Lesart des »Verbrechens«, den Topos des Geruchs in Panizzas Werk sowie weitere Referenzen zu Diogenes nachzeichnet.

Gal Hertz

Pathologie des modernen SelbstOskar Panizzas »Das Liebeskonzil« und »Psichopatia criminalis«

Auch 130 Jahre nach seiner Entstehung ist Oskar Panizzas »Das Liebeskonzil« immer noch ein Rätsel: Worum geht es in dem Stück? Ist es ein ikonoklastischer Versuch, den Katholizismus zu kritisieren, ein Theater der Blasphemie, das im Namen des Atheismus und der künstlerischen Freiheit christliche Gottheiten verhöhnt und Satan preist? Ist es eine Gesellschaftskritik am wilhelminischen Deutschland zu Zeiten des Kulturkampfes, mit seiner Betonung von ›Normalität‹ und seinem wachsenden Hygienewahn? Oder ist es Kritik am Theater und den literarischen Gattungen der Zeit, an der »Tendenz«, wie es im Prolog ironisch heißt, die Panizza ablehnte und anprangerte? Diese verschiedenen Interpretationen können durchaus nebeneinander existieren; wichtig ist jedoch, auch die Verbindungen zwischen ihnen zu betrachten: Für Panizza war die Religionskritik mit der Psychiatrie und modernem forensischen Wissen verbunden. Durch die Fokussierung auf Randfiguren und transgressive Verhaltensweisen wollte er eine alternative Perspektive auf die moderne Gesellschaft eröffnen – eine, die nicht die Anpassung an Normen, sondern die Infragestellung ihrer Logik einfordert. Obwohl er ein Kritiker der Moderne war, trug er so gleichzeitig zur Entwicklung der modernen Literatur und Kunst bei.

Was dieses Stück so einzigartig macht, ist weniger sein provokanter Inhalt oder die Art und Weise, wie es die Religion kritisiert, sondern vielmehr der Versuch, die Moderne selbst als eine Form von Krankheit darzustellen. Durch die Zusammenführung von psychiatrischem Wissen mit philosophischen Ideen der Avantgarde und neuen künstlerischen Formen vertritt Panizza die These, dass das Selbst, das ›Ich‹, eine politische Konstruktion ist. Aus einer kritisch-psychiatrischen Perspektive legt er nahe, dass die psychische Gesundheit beziehungsweise Krankheit der Menschen das Versagen der Staatsmacht und ihrer sozialen Institutionen anzeigt: Dies würde umso virulenter, je mehr die Herrschenden versuchten, Kontrolle über die Köpfe der Menschen zu erlangen, um ihre Ohnmacht zu kompensieren. Panizza hat mit dem »Liebeskonzil« nicht nur ein skandalöses Stück geschrieben, sondern in den zeitgenössischen Diskurs über Anarchismus und Individualität eingegriffen, der sich auf Denker wie Max Stirner, Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach sowie historische Fälle von populistischen Revolutionären, religiösen Reformern und nationalen Märtyrern stützt.

»Das Liebeskonzil«

»Das Liebeskonzil« handelt nicht von der Liebe und es ist auch kein Konzil. Das Stück spielt im Jahr 1495, einer Zeit sozialer Instabilität und der ersten dokumentierten Ausbreitung der Syphilis – zweier historischer Begebenheiten, die Panizza in einen Zusammenhang setzt. Er stellt Gott als hilflos und unfähig dar, als senilen, erschöpften Greis, der nicht leben will und doch nicht sterben kann. Weder er noch die manipulative und verführerische Maria oder sein debiler Sohn Jesus haben Kontrolle über die Menschen. Auf der Erde ist dadurch der päpstliche Hof Alexanders VI. zu einem Ort sexueller Ausschweifungen, Orgien und unmoralischen Verhaltens verkommen. Der Teufel erklärt sich auf Anfrage Marias bereit, den inkompetenten Gottheiten dabei zu helfen, diese Zustände wieder zu beheben. Auf Basis seiner medizinischen Kenntnisse erschafft er eine Krankheit, die durch sexuelle Handlungen übertragen wird: In der Syphilis verbinden sich theologische Dysfunktion, sexuelles Begehren und dämonisch-pathologische Kreativität.

Von der Evolutionstheorie und positivistischen Sozialwissenschaft inspiriert, stellte der Naturalismus des 19. Jahrhunderts im Namen biologischer Interpretationen des menschlichen Verhaltens die aufklärerischen Vorstellungen von Rationalität infrage. Was ist Moral in einer Welt der Instinkte und Leidenschaften? Max Nordaus Kulturkritik und der hieran anschließende Diskurs der »Entartung« gab in dieser Hinsicht Orientierung.1 In Panizzas Stück wird dieser jedoch auf himmlische Figuren übertragen: Die Gottheiten und auch der Teufel sind ihrem Wesen nach irdisch und weisen verschiedene Formen des geistigen und körperlichen Verfalls auf. Darüber hinaus verliert die Liebe jede spirituelle Bedeutung und wird auf sexuelles Verlangen reduziert: physisch, transgressiv und niemals zu befriedigen. In dieser ›schönen neuen Welt‹ wird die Religion zu einer rein mechanischen Disziplinarmacht, zu einem moralischen Kodex, der nicht in Form göttlicher Gnade, sondern in ›degenerierten‹ Formen erscheint.

Der erste Akt stellt einige Engel vor, die auf Erden als Kinder von Priestern missbraucht wurden und zu früh starben, und führt so den Verfall des Himmels vor. Der zweite Akt findet im Papstpalast in Rom statt, wo anstelle von Gebeten und heiligen Handlungen ein zügelloses Sexualverhalten, Ausbeutung und Heuchelei herrschen. Der dritte Akt zeigt den Handel mit dem Teufel: Für seinen Auftrag, die Sünder zu bestrafen und Ordnung wiederherzustellen, wählt er die femme fatale Salome als Krankheitsüberträgerin. Während dem Teufel im vierten Akt seine Belohnung verwehrt wird, verbreitet Salome schließlich im fünften Akt die Seuche. Im ganzen Stück betonen die Regieanweisungen die seltsamen Beziehungen zwischen den Figuren und besonders ihr erotisiertes Verhalten. Sie entwickeln sich im Laufe des Stücks nicht weiter und werden nicht mit inneren Konflikten konfrontiert. Mit Ausnahme des Teufels, der ausführliche Monologe hält und sich seines Zustands kritisch bewusst ist, bleiben alle anderen Karikaturen. Es geht nicht um ihre Motive, sondern um ihren Tonfall, ihre Gesten und Interaktionen sowie ihre körperlichen und psychischen Merkmale.

In der zweiten Szene des dritten Aufzugs denkt der Teufel in seinem Höllenlabor über seine Stellung in der Gesellschaft und deren Moral nach: »Wenn du ein Graf wärst, dann wäre auch dein krummes Bein gräflich. Und wenn du nur ein Türsteher da droben wärst, dann wäre auch dein Kopf und deine Gedanken himmlisch und engelhaft, wie dein Kleid, das du dann trügest. Aber so bist und bleibst du ein Hund! – Nur wenn du für sie was tun sollst, was sie selbst nicht können, oder was für sie zu schmutzig ist, dann lächeln sie dir zu und sagen: ›Mein Freund! Mein Freund!‹ Aber wenn die Audienz vorbei ist, musst du wieder runter in Staub und Kot, und dann heißt’s ›Pfui Deifel! Pfui Deifel!‹ – Und so bist du ein erdgeborener, gebückter und verzerrter Kerl dein Leben lang, und humpelst herum mit deinem Fuß, und frisst Ärger und Grimm in dich hinein!«2 Er gibt zu verstehen, dass es nicht sein krummes Bein und seine gelbliche Haut3 sind, die seine soziale Position in der himmlischen Hierarchie begründen, sondern die Existenz einer Klassengesellschaft: Nicht sein Körper ist es, der ihn aus dem Kreis ausschließt, dem er angehören will, sondern die soziale Ordnung, die sich in der Pathologisierung seines physischen Zustands ausdrückt. Er wird wie »ein Hund« behandelt. Was mit »Mein Freund« beginnt, wenn Andere etwas von ihm wollen, schlägt in eine abschätzige Reaktion um, die seinen Namen in ein Schimpfwort verwandelt: »Pfui Deifel!«

Es ist nicht verwunderlich, dass die Veröffentlichung des Stücks (das zu Panizzas Lebzeiten nie aufgeführt wurde) schnell zu einem Skandal wurde. Obwohl es in der Schweiz publiziert wurde, klagte die Staatsanwaltschaft München Panizza wegen 93 Fällen von Gotteslästerung nach § 166 des Reichsstrafgesetzbuchs an.4 Der Gerichtsprozess rückte den Angriff auf die Religion und die Frage der künstlerischen Freiheit in den Vordergrund und prägte die zeitgenössische Rezeption. Während des Prozesses erhielt Panizza Unterstützung von Schriftstellern und Denkern wie Theodor Fontane, Émile Zola, Gerhart Hauptmann und Karl Kraus, deren Kritik aber auf die Zensur zielte und nicht auf eine Verteidigung des Stückes selbst. Spätere Kritiker sahen im »Liebeskonzil« vornehmlich einen Angriff auf den Katholizismus und befassten sich in ihren Analysen weniger mit der Rolle der physischen Missbildungen und pathologischen Begierden im Stück. Doch wenn die säkulare Wissenschaft die Alternative zur Kirche ist, warum wird sie dann mit dem Teufel in Verbindung gebracht? Es scheint hier nicht primär um Kritik an der Religion als solcher zu gehen, als vielmehr um die Frage, wie man ihrem Einfluss entkommen kann. Hier bieten auch die Wissenschaften keinen Ausweg, denn sie sind ihrerseits eng mit der Staatsmacht verbunden und betreiben gemeinsam das, was man nach Foucault Biopolitik nennen würde. Diese soziopolitische Kritik verschwand hinter der skandalösen Blasphemie. In seiner »Verteidigung in Sachen ›Das Liebeskonzil‹« geht Panizza darauf ein und verweist auf das Eingangszitat Ulrich von Huttens, das auf Krankheit als göttliche Strafe Bezug nimmt: »Ich habe diese Stelle als Motto dem Buch vorangesetzt, um gleich darauf hinzuweisen, um was es mir zu tun war: daß es mir nicht auf gotteslästerliche Dinge und Unflätigkeiten ankam, sondern auf das Erfassen der eigentümlichen Situation.«5 Mit »der eigentümlichen Situation« meinte er eine kritische Sicht des modernen Ich und stellt mit der Formulierung Assoziationen zu Max Stirners Buch »Der Einzige und sein Eigenthum« (1845) her.6 Panizza bezog sich sowohl in seinen essayistischen Schriften als auch in seinen Erzählungen auf diese Analyse der Entstehung des Eigentums.7 Auch in seiner Auseinandersetzung mit der Religion, insbesondere den Lehren Christi und Luthers, folgte er Stirners materialistischer Form der Gesellschaftskritik, die die Subjektivität infrage stellt, sowie dessen individualistischem Anarchismus.

»Psichopatia criminalis«

In seinem satirischen Werk »Psichopatia criminalis. Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkanten Geisteskrankheiten psichjatrisch zu eruïren und wissenschaftlich festzustellen. Für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc.« [sic!] (1898) griff Panizza diese Kritikpunkte des »Liebeskonzils« erneut auf und setzte sie auf explizitere Weise fort.8 Birgit Lang schreibt hierzu: »It is in Psichopatia criminalis that Panizza comes to terms with the consequences of his trial, and problematises the forensic imbrication of legal and medical discourse for the first time in his wide-ranging career. Having effected a radical displacement of authority as an imaginative foundation for his project, Panizza creates a satire utilising his profound knowledge of the psychiatric case study genre to attack his former profession, the German state, and even his supporters and friends.«9