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"Das Einfache kann federleicht sein – und hat doch, wenn es glückt, das Gewicht der Welt." Rainer Malkowski (1939–2003) gehört zu den wichtigsten Lyrikern seiner Generation. Er wird oft im Zusammenhang mit der Alltagslyrik der 1970er Jahre erwähnt. Sein Werk reicht jedoch über deren Programmatik hinaus: "Wahrnehmung als Ereignis", so charakterisiert Malkowski selbst seine Poetik. Und weiter heißt es: "Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, dass sie uns sehend machen." Das Heft enthält unveröffentlichte Texte, eine Selbstdeutung des Autors sowie Analysen zum Werk. Die Beiträgerinnen und Beiträger nähern sich den noch weitgehend unerforschten Texten durch Motivanalysen an, fragen nach der Rolle der Bildenden Kunst und der Bedeutung der Natur und untersuchen die Aphoristik sowie Malkowskis Übersetzung des Armen Heinrich aus dem Mittelhochdeutschen.
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zeitschrift für Literatur
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus Am Reinsgraben 3, 37085 Göttingen
Telefon: (0551) 54 76 643
Print ISBN 978-3-68930-034-0 E-ISBN 978-3-68930-036-4
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Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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Rainer Malkowski Totales Gedicht
Cornelia Blasberg Was für ein Anfang! Rainer Malkowskis Lyrik in den 1970er Jahren
Waldemar Fromm »und in mir der Widerhall von etwas, wofür ich keinen Namen will«. Natur als dichterischer Reflexionsraum in Rainer Malkowskis Gedichten
Jan WagnerDie Uhr und die Karte. Zu zwei Motiven in Rainer Malkowskis Gedichten
Rainer MalkowskiSelbstdeutung von »Mittags unter den Arkaden«. Mit einer Einleitung von Gabriele von Bassermann-Jordan
Anna Bers»Gleichzeitigkeit ist beinahe / schon Poesie«. Rainer Malkowski und die Bildende Kunst
Rainer MalkowskiGreyhound-Bericht
Walter HettcheZwischen Schiller und Willie Nelson. Rainer Malkowskis »Greyhound-Bericht«
Friedemann SpickerRainer Malkowski als Aphoristiker
Frieder von AmmonAuf der Suche nach einem Text. Rainer Malkowski übersetzt Hartmann von Aue
Rainer MalkowskiBio-bibliographische Notiz
Sebastian FröhlichAuswahlbibliografie
Notizen
Ja wer denn nicht?
Wir alle
und dies
jederzeit
und das
an jedem Ort:
so ist es.
1 Die Handschrift dieses Gedichts hat Rainer Malkowski am 6. April 1990 an Rosa Grimm geschickt. Rainer und Margarete Malkowski waren eng mit Rosa und Otto Grimm befreundet. In einem kurzen Begleitbrief schreibt Malkowski: »Liebe Rosi, wir haben oft über das Wegwerfen gesprochen – zu dem Wenigen, was übrigblieb aus abgelebten Zeiten, gehört dieses Stücklein. Mit einer Umarmung für die besorgte Freundin ist’s hier notiert: als Gruß und Dank für alle Teilnahme über die Jahre hin. Dein Rainer«. Mit freundlicher Erlaubnis der Besitzerin werden Gedicht und Brief hier erstmals veröffentlicht.
1975 erschien Rainer Malkowskis erster Gedichtband mit dem Titel »Was für ein Morgen«, 2004, bereits postum, der letzte: »Die Herkunft der Uhr«. Die gesammelten Gedichte aus 30 Jahren wurden dann noch einmal 2009 im Göttinger Wallstein Verlag publiziert. Schaut man in die Rezensionen des ersten Bandes, entdeckt man viel Lob für die bedachtsame, zarte, hoch reflektierte Sprache der Gedichte. Kein »fertiges Bild von der Welt« habe dieser Lyriker im Kopf, schrieb Hans-Jürgen Heise 1975, er lasse »Wirklichkeit« am »Mischpult seiner Sinne« entstehen. »Behutsames Einfühlen in die Gestalten und Erscheinungen der alltäglichen Umwelt« sei das besondere »Programm dieses Dichters«,1 der, glaubt man Heise und anderen Rezensenten, gleich als ein Meister auf die Bühne des Literaturbetriebs getreten ist. Abgesehen davon, dass die einen mehr Spuren von Brechts, die anderen von Krolows oder Huchels Dichtung in Malkowskis Lyrik zu finden glauben, unterscheiden sich die Kritiken kaum. Noch erstaunlicher ist, dass die Beobachtung einer solchen Gleichförmigkeit auf die Beiträge zu den folgenden Gedichtbänden ebenfalls zutrifft. Tatsächlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Gedichte aus »Was für ein Morgen« hätten auch in »Was auch immer geschieht« (1986) oder in »Ein Tag für Impressionisten« (1994) gepasst, weshalb jeder Versuch, Differenzen zwischen Früh- und Spätwerk, eine Entwicklung von Schreibstil oder Motivwahl feststellen zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Auch ›autobiografische‹ Gedichte wie etwa »Vor Kap Hoorn und anderswo«2 oder »Der Bücherschrank meiner Eltern«,3 die auf Kindheit und Jugend referieren, findet man eher in den späteren als in den frühen Gedichtbänden, sodass man erst gar nicht auf die Idee kommt, anzunehmen, hier schreibe sich jemand langsam vom subjektiven Material frei. Christof Kneers Monografie»Rainer Malkowski. Neue Objektivität in der Lyrik« wählt demnach nicht zufällig einen konkordanzähnlichen Zugang zum Werk, indem Kneer Motive und lyrische Strategien untersucht, die »das ganze Werk durchziehen«.4
Am Eindruck einer gewissen Zeitlosigkeit des Werks sind Malkowskis poetologische Aussagen nicht unschuldig. Das liegt einmal daran, dass sie extrem abstrakt sind und außerdem so spät publiziert wurden, dass man gar nicht anders kann, als sie retrospektiv auch auf das Frühwerk zu beziehen. Er schreibe Lyrik, weil das »Bedürfnis«, es zu tun, unabweisbar sei und sich in einem bestimmten, »zwanghaften Wollen« äußere, »das durch seine Entschiedenheit zu einer Form kommt«, so Malkowski 1996.5 Gedichte seien Medien, die sich durch »Genauigkeit« auszeichnen und ihren Leser:innen »die Ungenauigkeit, mit und in der wir leben«, bewusst machen.6 Zum Zweiten enthalten Malkowskis poetologische Notizen einen sachlich begründeten Retardationsfaktor, eine Art Zeitschleife. Gedichte, so Malkowski, würden aus einer »Betroffenheit« heraus entstehen, die »nicht immer eine gegenwärtige Bedrängnis«7 ist, sondern im Gegenteil erst viel später, anlässlich einer anderen Wahrnehmung oder Begegnung, bewusst verarbeitet und Anlass zum Schreiben wird. Die Komposition jedes einzelnen Gedichts enthält also mehrere Zeitschichten mit langen Zwischenräumen, in denen die Betroffenheit latent geworden ist. Sie hat sich von ihrem Ursprung gelöst und subkutan verwandelt, bevor sie ein anderes Objekt besetzt. In den Gedichten der 1990er Jahre tauchen deshalb notwendig, durch den Prozess mehrerer Metamorphosen hindurchgegangen, die Fragestellungen und ›Bedrängnisse‹ der 1970er Jahre wieder auf. Diese Hypothese möchte ich weiterverfolgen.
Schaut man in Malkowskis spätere Notizen zu »Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten« von 2001, finden sich auch hier abstrakte Basissätze wie »Es ist der Ton, der das Gedicht macht. Er allein ist der Sitz seiner Persönlichkeit«8 oder »Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, daß sie uns sehend machen«9 – schließlich ist es die spezifische Zusammenstellung der Wörter im Gedicht, aus der sich die Ordnung des Wirklichen, ohne deren Kenntnis keine Wahrnehmung möglich ist, ergibt. Aber es gibt auch andere Aussagen wie »Einfachheit bei einem Gedicht muß der unverstellte Zugang zum Komplexen sein«,10 mit denen Malkowski eine Maxime aufgreift, die für die Poetik der 1970er Jahre zentral war. Im Rückblick auf das Jahrzehnt präsentierte das »Literaturmagazin« 1979 als unvordenklich neue Ästhetik jene, die (einfaches) »Schreiben« höher als (elitäre, bildungsgesättigte, hermetische) »Literatur« bewertete.11 »Dankbar bin ich«, hatte Rolf Dieter Brinkmann bereits in einer Notiz zu »Die Piloten« (1968) geschrieben, »den Gedichten Frank O’Haras, die mir gezeigt haben, daß schlechthin alles, was man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man nur genau sieht […], ein Gedicht werden kann«.12 Für seine Anthologie von Gedichten der 1970er Jahre, »Lyrik für Leser«, hatte Volker Hage die Tendenz zum »einfachen Gedicht«13 geradezu zur Norm erklärt. »Einfachheit« dient für Malkowski allerdings sehr viel deutlicher als »Zugang zum Komplexen«, als Hage das, nicht selten gegen den Anspruch mancher Gedichte, für die von ihm versammelte Lyrik behauptet. Zur Einfachheit tritt in Malkowskis Notizen die Kürze, deren Zusammenhang mit dem Gestus lyrischer »Momentaufnahme«14 er allerdings vehement abstreitet. Das ist wieder ein Rückverweis: Mit ›Snapshot‹-Gedichten ist Rolf Dieter Brinkmann berühmt geworden, man denke an Gedichte wie »Die Orangensaftmaschine« oder »Einen jener klassischen« aus »Westwärts 1&2« (1975), die mit einer ähnlichen Nonchalance geschrieben zu sein scheinen, wie sie ein Fotograf benötigt, um einfach mal eben auf den Auslöser des Fotoapparates zu drücken. Für Brinkmann war daran die Simulation ungefilterter, bedeutungsloser Wahrnehmung und deren (un-)mögliche ›Übersetzung‹ in Sprache interessant, eine Idee, von der sich Malkowski mit Verweis auf die mehrschichtige Zeitarchitektur seiner Gedichte radikal absetzt: »Jedes gute Gedicht zieht eine Summe, in der Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen sind. Es gibt die Zeit als Ganzes – als Erfahrung, als Phänomen.«15 Zur neuen Lyrik der 1970er Jahre gehörten lakonische Kürzestgedichte ebenso wie extrem lange, und beide Formate sollten deutlich machen, dass in dem Moment, wo Reim, Metrum, Strophengliederung und andere äußerliche Ordnungsparameter wegfallen, das Gedicht einem Organismus gleicht, der sein jeweiliges Baugesetz unsichtbar in sich trägt und darauf abgestimmt mal mehr, mal weniger Raum beansprucht. Mit diesem Gedanken hätte sich Malkowski zweifelsfrei einverstanden erklären können. Auf intrikatere Weise konvergieren die Konzeptualisierungen des ›Lesers‹, den Volker Hages Anthologie, die mit »Lyrik für Leser« programmatisch betitelt ist, als Mitproduzenten auszeichnet: »Mit [verständnisvollen, die Verf.] Lesern wurde gerechnet, auf sie wurde hingeschrieben.«16 In »Dreizehn Arten« präzisiert Malkowski, das Gedicht spreche »von einer Erfahrung, die der Leser nicht gemacht hat oder an die er sich nicht zu erinnern wünscht. Ohne die Bereitschaft, sich radikalisieren zu lassen – vor allem gegen sich selbst – wird man kein Leser.«17 Darauf wird zurückzukommen sein.
Nimmt man den Gedanken der poetologischen Zeitschleife (und ihren Effekt einer sich immer wieder erneuernden Nachträglichkeit) ernst, ergibt es Sinn, das Verhältnis zwischen Malkowskis Gedichten und jener Lyrik der 1970er Jahre zu untersuchen, wie sie beispielweise in der Anthologie »Lyrik für Leser« präsentiert wird. Was zunächst bedeutet, ein fundamentales Missverständnis über jene literarische Strömung aufzuklären, die mit dem Namen der ›Neuen Subjektivität‹ gekennzeichnet wird. Die Grundlagen für dieses lange Zeit wirksame Missverständnis hatte Jörg Drews bereits 1977 in der Zeitschrift »Akzente« gelegt, als er der zeitgenössischen Lyrik »Spannungslosigkeit«, »sanftes Selbstmitleid« (eines überwiegend wehleidigen Subjekts) und »neue Naivität« vorwarf.18 Auch auf der Herbsttagung des PEN 1978 waren polemische Vokabeln wie »Mangel an Kunstwillen«, »Selbstgenügsamkeit« und »Beliebigkeit der Produkte« keine Seltenheit.19 Diese Kritik maß die neue Lyrik am Maßstab der vorangegangenen, ohne das Innovationspotenzial und die versteckte Intellektualität einer Rhetorik der »Einfachheit« zu berücksichtigen. Offenbar vor diesem Hintergrund urteilten Waldemar Fromm und Holger Pils noch vor nicht allzu langer Zeit, man dürfe Malkowski »nicht in Generationenhaft nehmen«20 (also der ›Neuen Subjektivität‹ zurechnen). Zur Korrektur dieser Sichtweise lohnt sich ein Blick in die Literaturgeschichten, die im Interesse einer Langzeitperspektive so manches tagesaktuelle Scharmützel ignorieren und ihr Urteil retrospektiv sowie im Vergleich fällen. In den historisch orientierten Blick fallen Traditionslinien ebenso wie Fragen nach der Zukunftsfähigkeit literarischer Strömungen, und so gesehen hat die Lyrik von Jörg Fauser, Karin Kiwus, Ursula Krechel, Jürgen Theobaldy, F. C. Delius, Wolf Wondratschek, Rolf Dieter Brinkmann, Rolf Haufs und anderen einiges zu bieten. Auf die Habenseite von ›Neuer Subjektivität‹ und ›Alltagsdichtung‹ fällt das Abrücken vom Pathos des ›hermetischen‹ und des politischen Gedichts der 1950er und 1960er Jahre, auch von der abstrakten Spielerei Konkreter Poesie. Das gilt auch für das demütige, aber nicht weniger nachdrückliche Erarbeiten von sprachlichen Positionen, die das schlagzeilenträchtige Thema, ob Lyrik nach Auschwitz überhaupt möglich sei, ins Konkrete zu übersetzen versuchen und dabei mit Rücksicht auf den gegenwärtig aktuellen Sprachgebrauch und Wissensstand argumentieren. Damit in Zusammenhang steht eine neue erkenntnis- und sprachtheoretische Skepsis, die daher rührt, dass die Lyrik der 1970er Jahre anders als ihre Vorgängerinnen ›postmodern‹ ist, also kein Wahrheitspostulat mehr aufstellt. Vor diesem Hintergrund möchte ich vorschlagen, Malkowskis Lyrik zu historisieren, und damit verbinde ich zwei Thesen: Erstens sind »Was für ein Morgen« und »Einladung ins Freie« Gedichtsammlungen, die sich präzise mit den poetologischen Postulaten der 1970er Jahre auseinandersetzen. Zweitens ist diese Auseinandersetzung so fruchtbar, dringt zu so existenziellen Fragen der Poesie, der Sprache, der Wirklichkeitskonstitution vor, dass die Folgebände wie ein fortlaufender, sich potenzierender Kommentar dazu, wie eine Reflexion der Reflexion zu verstehen sind.
Liest man die Gedichte von Nicolas Born, Rolf Haufs, Michael Krüger, Christoph Meckel und anderen in der Anthologie »Lyrik für Leser«, dann drängt sich der Eindruck auf, alle Gedichte aus Malkowskis Bänden »Was für ein Morgen«, »Einladung ins Freie« und »Vom Rätsel ein Stück« hätten hier einen würdigen Platz gefunden, nicht nur »Die Alten« und »Mitten in einen Vers«.21 Sicher wirken Malkowskis Verse (»Samstag, Bahnhofstraße«22) gedrängter, abstrakter als beispielsweise die von Michael Buselmeier (»Samstags«23) oder Nicolas Born (»Bahnhof Lüneburg, 30. April 1976«24), aber die Kernfrage: Wie finden visuelle Eindrücke (hier: einer Stadtlandschaft) in die Sprache des Gedichts, das zugleich die Aufgabe hat, über diese Sprache selbst wie über das Problem nachzudenken, ob es überhaupt ungefilterte Sinneseindrücke gibt, wird hier wie dort gestellt. Rolf Dieter Brinkmanns Poem »Ein Gedicht«25 und Malkowskis Verse »Was es ist« und »Ist dieser Tag soviel anders«26 gestalten das unendlich schwierige Verhältnis von Alltag und Poesie, Leben und Schreiben. In »Laufende Untersuchung«27 spricht Malkowski über Schrank, Tisch, Stühle und anderes Mobiliar als über ›Dinge‹,28 die mit dem Leben des Menschen so eng verwoben sind, dass man sich genötigt sieht, ganz prinzipielle Fragen an die philosophische Entgegensetzung von Subjekt und Objekt zu stellen, und nicht anders verfährt Michael Krüger in »Mein Arbeitsstuhl«.29 Dabei versteht sich von selbst, dass beide Schriftsteller die lyrische Tradition des ›Dinggedichts‹ bestens kennen. Die Gedichte unterscheiden sich darin, wie nah sie ihr Reflexionspotenzial an die Oberfläche holen – während Malkowski die dialektische Argumentation seiner Verse durch Sentenz und Paradox hervorhebt, betreiben Theobaldy, Born und andere bewusstes Understatement und verstecken die Intellektualität ihrer Gedichte im Parlando der fast alltagssprachlich anmutenden Verse. Allerdings drängen auch Malkowskis Gedichte ihre gedankliche Komplexität nicht auf, sondern – »Lyrik für Leser«! – stellen es den Leser:innen anheim, ob sie den angebotenen Gedankenwegen nachgehen oder ob sie beim ästhetischen Eindruck verweilen wollen.
In seinem Vorwort zur Anthologie konzipierte Volker Hage einen ›einverstandenen‹ Leser als Teil einer Gemeinschaft, die Generationserfahrungen teilt: den drückenden Konservatismus der Adenauer-Jahre, die Studentenbewegung, die geforderte Aufarbeitung des Nationalsozialismus, den RAF-Terrorismus, die ›bleierne Zeit‹ des Radikalenerlasses. Vor allem aber: das Wissen, in einer politisch (und zunehmend technisch) präparierten Wirklichkeit zu leben, die man – 1968! – ideologiekritisch zu durchdringen hatte, an der man aber, selbst wenn die Kritik gelang, trotzdem litt. Das diagnostizierte Dilemma, dass Denken Leiden nicht auflösen kann, verbindet sich fatalerweise mit einem weiteren; denn der scharfe Verstand, der nötig ist, um Ideologiekritik zu betreiben, beschädigt alle feineren sinnlichen Wahrnehmungsweisen und wird auf geradezu unheimliche Weise zum Komplizen einer verwalteten Welt. Kann man sich auf ihn noch verlassen? »Was einleuchtet, / kann die Wahrheit nicht sein«, heißt es in dem Gedicht »Was einleuchtet«.30 Wenn die Gedichte der 1970er Jahre auf den ersten Blick allzu »einfach« und oberflächlich wirken, dann heißt das partout nicht, dass sie dem Schein der ›Dinge‹ aufsitzen, sondern dass sie den herkömmlichen Strategien rationaler Kritik nicht mehr vertrauen. Für die Ästhetik der Gedichte wird wirksam, dass Sinne, Körperlichkeit, Sensibilität, Fantasie, Lust, Schmerz ihre Bedeutung für die Bewältigung jener Aufgaben reklamieren, die Sprache zu leisten hat, und dass sie das unter Berücksichtigung der Tatsache tun, dass sie in der oben beschriebenen Art beschädigt sind. Zum ›einverstandenen Lesen‹ gehört das Bewusstsein eines verletzten Subjekts, einer verletzten Sinnlichkeit und Sprache, wie sie Adolf Muschg rückblickend auf das Jahrzehnt in den Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Titel »Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare« zum Thema gemacht hat.31 Die Elementarität eines unsicheren Subjekts und seiner Wahrnehmungen bringt Malkowski noch 2001 im Begriff der »Betroffenheit« (übrigens auch eine beliebte Formel der 1970er Jahre!) auf den Punkt. Dabei muss Betroffenheit, wie Malkowski sie versteht, nicht zeitaktuell als akute Bedrängnis auftreten, und vermutlich wird sie gerade dadurch zum Generationenproblem. Gedichte können vor diesem Hintergrund einer Betroffenheit auf die Spur kommen und Ausdruck verleihen, die von den Zeitgenossen verweigert wird. Gedichte können nämlich »von einer Erfahrung« sprechen, »die der Leser nicht gemacht hat oder an die er sich nicht zu erinnern wünscht«.32 Vor dem mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund der 1970er Jahre gelesen, enthält diese Aussage eine besondere, sozialpsychologische und politische Bedeutung.
Diese Bedeutung erhellt sich, wenn man die Formulierung, dass Menschen konkrete Erfahrungen nicht machen können, weil sie ›sich nicht zu erinnern wünschen‹, mit dem Begriff des Traumas in Verbindung bringt. In der Diagnose, dass zur Epochensignatur der 1970er Jahre latente, unbewusste Traumatisierungen gehören, stimmt Malkowski nicht nur mit Lyrikern wie Haufs, Theobaldy und Delius überein,33 sondern auch mit den Verfasser:innen der sogenannten ›Väterliteratur‹ der 1970er Jahre (Peter Henisch, Elisabeth Plessen, Bernward Vesper, Christoph Meckel und andere) und jenen Psycholog:innen, die in den 1970er Jahren beginnen, die Delegation unbewältigter seelischer Beschädigungen der Kriegsgeneration an ihre Nachkommen zu untersuchen.34 Wer weiß, dass er oder sie etwas nicht weiß, wertet das Nichtgewusste überproportional auf, macht es zum Organisator eines neuen Sinns, der die eigene Gegenwart für nichtig erklärt. Was demnach auf der Oberfläche wie eine Leere wirkt, eine Unfähigkeit, zu sehen oder zu spüren, kann als Symptom für die Anwesenheit eines dominanten Nichtgewussten gelten. Überträgt man diese Traumastruktur auf die Ästhetik von Gedichten, dann drängt sich der Verdacht auf, diese wirkten ›oberflächlich‹ kunstlos und schlicht, weil sie zu komplex sind. Anders formuliert, weil sie zweierlei zur Darstellung bringen: Auf der einen Seite präsentieren sie den Augenschein der nicht gemachten Erfahrung, ermöglichen es durch ihre sprachliche Form jedoch, diesen Augenschein zu durchstoßen und der nicht gemachten Erfahrung sowie den Mechanismen ihrer Verhinderung auf die Spur zu kommen. Jürgen Theobaldy hat diese intrikate Doppelstruktur in »Nachttarif«,35 F. C. Delius in »Junge Frau im Antiquitätenladen«36 und Rainer Malkowski unter anderem in »Ausgrabung«,37»Pfadfinder rückwärts«38 und »Nach Art der Familienfotografen«39 gestaltet.
Mit den Gedichten von »Was für ein Morgen« und »Einladung ins Freie« ist Malkowski fulminant eingestiegen in die komplizierte Reflexionskultur der 1970er Jahre. Vergleicht man seine Gedichte mit denen aus der Anthologie »Lyrik für Leser«, fällt auf, dass Letztere einen stärkeren Akzent auf politische, historische und gesellschaftliche Problemstellungen setzen, auch wenn sehr persönliche, intime Beziehungen zwischen zwei Menschen thematisiert werden. Dass auch und vielleicht sogar gerade das Private politisch ist, war schließlich eine wegweisende Erkenntnis der 1970er Jahre. Selbst wenn diese Tendenz bei Malkowski schwächer ausgeprägt ist und mehr Gedichte zu finden sind, die Naturdingen und Landschaften Beachtung schenken, gibt seine Lyrik den Reflexionsimpuls, den Augenschein zu durchdringen, latente Inhalte, Tiefenstrukturen und Kehrseiten aufzudecken, vehement an die Leser:innen weiter. Das kann, muss aber nicht heißen, dass – wie wir seit Brecht wissen – Gespräche über Bäume politisch sind (weil sie ein Gespräch über andere Themen substituieren). Das kann auch bedeuten, dass im Medium der Landschaftsdichtung nicht weniger nachdrücklich eine genaue, auf Leerstellen und Brüche spezialisierte Art des Sehens eingeübt werden kann. Natürlich zeigen sich Traumatisierungen, wie sie an den Nachgeborenen von Weltkrieg und Holocaust als Folge von (eigenen oder delegierten) verdrängten Erfahrungen zu beobachten sind, vor allem im sozialen Bereich. Doch nichts spricht dagegen, dass die in diesem Bereich entdeckten Strukturen der Wahrnehmungsorganisation auf andere Bereiche, zum Beispiel auf das Verhältnis des Menschen zur Natur, übertragen werden können. Auch im Hinblick auf Natur kann als Aufgabe von Gedichten formuliert werden, dass sie Erfahrungen ermöglichen, »die der Leser nicht gemacht hat oder an die er sich nicht zu erinnern wünscht«.40»Kranzhorn bei Regen« ist ein Gedicht aus »Was für ein Morgen« betitelt, das eine in Wolkenschwaden verschwundene Bergspitze thematisiert und schließt: »Doch sieh nur / lange genug auf nichts: / Geduld / erinnert sich.«41 Dasselbe gilt für das Sehen der Mitmenschen. »Mit deinen Augen« lautet der Titel eines Gedichts, dessen Pointe die Evokation jenes Umschlags von Wahrnehmung ist, dank dessen Rück- und Kehrseiten sichtbar werden:
Einmal war ich dir nah.
Ich durchwuchs dein Fleisch.
Ich legte meine Lider
genau unter deine.
Zusammen schlugen wir die Augen auf
und ich sah:
drei Schritte weiter ein Korbstuhl,
darin ein Mann,
der Zeitung las.42
Statt gefühlsintensiver Innenschau, wie sie die Dramaturgie des Gedichts zunächst erwarten lässt, präsentieren die Schlusszeilen eine kühle, fast banal wirkende Außensicht. Die Idee der Verschmelzung zweier Menschen, so nah sie sich sein mögen, muss kein Wunsch sein, den beide im selben Moment teilen; im Gegenteil macht der virtuelle Perspektivenwechsel deutlich, wie viele Energien von Projektion und Bemächtigung dieser Wunsch freisetzt. Stellvertretend für den Menschen, der die ›andere Seite‹ nicht ›sehen‹ kann oder will, macht das Gedicht seine Leser:innen ›sehend‹, mehr noch, es lädt sie zur Reflexion dieser Erfahrung ein. Wenn, wie dieses Gedicht zeigt, der subjektive Wunsch nach Verschmelzung sich selbst problematisch wird, dann ist seine Basis weder ein autarkes noch ein gefühlig auftrumpfendes Ich, aber schwach ist es auch nicht. Statt eines »sanften Selbstmitleids« (Drews), das Gedichten der ›Neuen Subjektivität‹ polemisch unterstellt wurde, beherrschen bei Malkowski nüchterne Beobachtung und sprachliche Lust an radikaler Pointe die Atmosphäre des Gedichts, und zwar ohne dass Gefühle von Enttäuschung, Zurücksetzung und Verletzung völlig ausgeschlossen würden. Nimmt man das Gedicht »Auf dem Friedhof St. Margarethen« hinzu, in dem zwei Liebende (»Wange an Wange sehen wir: / im Beinhaus die Schädel«43), ihrer Zweisamkeit gewiss, sich in der Beurteilung der einsamen, ungeliebten Knochen völlig einig sind, wird deutlich, dass Malkowskis Verse die Problemstellung der Lyrik der 1970er Jahre aufgreifen, sie radikaler Reflexion unterziehen (was heißt: sie zugleich zu würdigen und zu kritisieren), um sie dann gleichsam neu zu schreiben. Dieser komplexe dialektische Prozess findet in einer paradoxen Sentenz mit metatextueller Qualität Ausdruck: »So sicher urteilen / über die Lieblosigkeit der Liebe / die Liebenden.«44 Dass Malkowskis Gedichte nicht selten sehr abstrakt wirken und diese Abstraktheit der Grundzug der Lyrik bis in die 1990er Jahre bleibt, lässt sich analysieren als ihre Tendenz, die Lyrik der 1970er Jahre zu kommentieren und in der Folge diese Kommentarfunktion immer wieder auf die eigenen Gedichte anzuwenden, sodass sich letztlich die Strategie des Kommentierens zur Poetik verstetigt. Es handelt sich im doppelten Sinn um eine Poetik der Latenz: Das Gedicht muss auf der einen Seite ›Dinge‹ sehen lehren, die nicht (mehr) sichtbar sind. Auf der anderen Seite ist es Ausdruck einer mehrschichtigen Zeitstruktur, dank derer (›historische‹ oder andere) Betroffenheit wie eine traumatische Erfahrung ins Unbewusste absinkt und im Körper latent wird, um im Gedicht viel später als (erkanntes?) Symptom zutage zu treten. »Was geschah«, fragt das gleichnamige Gedicht aus dem Band »Vom Rätsel ein Stück«, »was / war / da als nichts / war – / und doch etwas, das / blieb?« Und die Antwort lautet: »Kein Versäumnis. / Nicht Schuld. / Etwas, das sich erfüllte. / Wie schwer / die Zunge sich tut / in jener deutlich erinnerten / vergessenen / Sprache«.45
Es gibt viele Gedichte in Malkowskis späteren Lyrikbänden, die meine Hypothese stützen. Als ein Beispiel lässt sich das Gedicht »Das Paar« aus »Zu Gast« heranziehen, das zunächst wie die Beschreibung eines »nette[n] alte[n] Ehepaar[s]«46 im Kurpark anmutet, das gerade fotografiert wird, während die letzten Zeilen nahelegen, dass es sich genauso gut um ein Gedicht über ein Foto handeln könnte.47