TEXT + KRITIK 246 - Jenny Erpenbeck -  - E-Book

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Beschreibung

"Jenny Erpenbeck ist die zurzeit wahrscheinlich international erfolgreichste deutsche Schriftstellerin. Ostdeutsche, könnte man genauer sagen (…)." Der Standard, Wien Ihre literarischen Texte wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Preis der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (2001), dem Joseph Breitbach-Preis (2013), dem Thomas-Mann-Preis (2016) und jüngst mit dem International Booker-Prize 2024 für den Roman "Kairos". Erpenbecks literarisches und essayistisches Werk schließt an die großen gesellschaftlichen Diskurse des 20. und 21. Jahrhunderts an. Politische Moral und Verantwortlichkeit, Heimat- und Migrationserfahrung, die Shoah und kulturelles Gedächtnis, DDR-Geschichte oder Fragen von Identitäts- und Alteritätskonstruktion sind ihre Themen. Die Beiträge des Heftes beleuchten ihr Werk aus verschiedenen Perspektiven: Sie fragen nach den Bedingungen des historischen Erzählens in Erpenbecks Romanen, gehen den Wegen des kollektiven und multidirektionalen Erinnerns und Vergessens in ihren Texten nach, vergleichen erzählerisches und dramatisches Werk, nehmen Erpenbecks ästhetische Verfahren und poetologische Selbstauskünfte in den Blick und diskutieren die Rezeption ihrer Texte in der Literaturkritik.

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Seitenzahl: 215

Veröffentlichungsjahr: 2025

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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

 

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

 

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Am Reinsgraben 3, 37085 Göttingen

 

Telefon: (0551) 54 76 643

 

Print ISBN 978-3-96707-226-6 E-ISBN 978-3-96707-052-1

 

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum

 

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

 

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2025

Levelingstraße 6a, 81673 München

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INHALT

Julia Schöll Klio und Kalliope Historisches Erzählen in Jenny Erpenbecks Romanen »Geschichte vom alten Kind«, »Heimsuchung« und »Aller Tage Abend«

Katja Schubert »Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde«. Naturgeschichte in »Heimsuchung« von Jenny Erpenbeck

Carola Hähnel-Mesnard Museum, Ruine, Abfall. Zum Motiv des Restes bei Jenny Erpenbeck

Friederike von Schwerin-High »Dass ich eins und doppelt bin«. Halbierungen, Doppelungen und Kipppunkte im Theaterstück »Katzen haben sieben Leben« und seinem intertextuellen Nachleben in »Kairos« und »Kein Roman«

Sonja E. Klocke Musen, Musik und Masochismus. Zur Aushandlung von (DDR-)Generationenkonflikten in Jenny Erpenbecks »Kairos«

Friederike Eigler Überlegungen zu Erpenbecks Poetologie am Beispiel von »Dinge, die verschwinden« und ihren »Bamberger Vorlesungen«

Karin Bauer »Gehen, ging, gegangen«: Multidirektionale Erinnerung und die Leiche im See

Anke S. Biendarra Über den Erfolg der Weltautorin Jenny Erpenbeck

Auswahlbibliografie

Notizen

Julia Schöll Klio und KalliopeHistorisches Erzählen in Jenny Erpenbecks Romanen »Geschichte vom alten Kind«, »Heimsuchung« und »Aller Tage Abend«

Das ausgehende 20. Jahrhundert war geprägt von einer Infragestellung historischer Gewissheiten. Die master narratives gerieten – nicht zuletzt auf Basis der Thesen von Hayden White und anderen – in Verdacht, historische Konstruktionen zu sein, die vornehmlich der Stabilisierung politischer Machtverhältnisse dienten. Gleichzeitig verlagerte sich mit den Arbeiten von Jacques Le Goff und anderen Historiker:innen der Fokus von der Herrschafts- auf die Alltagsgeschichte, von den Herrschenden auf die Beherrschten und somit auf die Frage nach der Verflechtung von Mikro- und Makrogeschichte, von master narratives und Alltagserzählungen.

Die genannten Debatten waren von Beginn an auch narratologische Debatten, ging es doch wesentlich darum, narrative Muster, Stile, Figurenzeichnungen, Erzählperspektiven, Zeitordnungen etc. zu erkennen, mit deren Hilfe das, was wir ›die Geschichte‹ nennen, erzählend konstruiert wird. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die erzählende Literatur sich bald für diese historiografischen Thesen und Verfahren interessierte, war die Grenze zwischen Faktualität und Fiktionalität, Historiografie und historischem Roman1 doch soeben verschoben, wenn nicht sogar stellenweise aufgehoben worden. Der historische Roman interessiert sich seit jeher nicht nur für die geschichtlichen Fakten, sondern für die Geschichten hinter diesen Fakten sowie für die Frage, welche (oft mikroskopisch kleinen) Ereignisse und Zufälle die Entwicklung der politischen und sozialen Verhältnisse bestimmen.

Die Erkenntnis, dass Geschichte nicht notwendig, sondern kontingent verläuft und sich auch nicht immer in Form teleologischer Chronologie erzählen lässt, prägt von Anfang an das historische Schreiben Jenny Erpenbecks, das im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen wird. Anhand dreier früher Novellen und Romane, die (Zeit-)Geschichte erzählen – »Geschichte vom alten Kind« (1999), »Heimsuchung« (2008) und »Aller Tage Abend« (2012) –, gehe ich der Frage nach, inwiefern Erpenbecks Schreiben jenem Spektrum fiktionalen historiografischen Schreibens der Gegenwart zugeordnet werden kann, dass Linda Hutcheon bereits 1988 als »historiographic metafiction«2 beschrieben hat. Im Zentrum meiner Überlegungen steht dabei die narratologische Struktur dieser historischen Erzähltexte.

1 »Geschichte vom alten Kind«

Jenny Erpenbecks ohne Gattungsbezeichnung publiziertes Debüt »Geschichte vom alten Kind« gab den Rezipient:innen Rätsel auf. Der Text erzählt die Geschichte eines vorgeblich 14-jährigen Mädchens, das mit einem leeren Eimer und ohne Erinnerung an ihre Identität auf der Straße aufgegriffen und in ein Kinderheim gebracht wird, wo es diverse soziale Ex- und Inklusionsprozesse durchläuft. Am Ende entpuppt sich das Kind als etwa 30-jährige Frau, doch das eigentliche Rätsel um den Eimer und um das, was geschehen ist, bleibt ungelöst.

Die »Geschichte vom alten Kind« wurde als autofiktionaler Text gelesen, beruht er doch auf einem persönlichen Experiment Jenny Erpenbecks, über das sie wiederholt berichtet hat.3 Vieles spricht indes dafür, ihn zugleich als eine Parabel auf das Ende der DDR und somit als zeitgeschichtlichen Text zu deuten.4

Wie stets in Erpenbecks Texten, geht es um das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, hier anhand des Mikrokosmos Kinderheim erzählt, der sich als späte DDR-Gesellschaft interpretieren lässt.5 Das ›alte Kind‹ erscheint vor dieser Folie als geradezu vorbildliche Kandidatin, wenn es darum geht, die eigenen Bedürfnisse denen des Kollektivs unterzuordnen: Nach einem ausführlichen Reinigungsprozess (»Endlich kann es den Dreck von sich abwaschen […]«)6 kleidet sich das Kind widerstandslos in die Anstaltskleidung, jene für einen »Kollektivleib«7 gedachte Wäsche (»dieser kollektive Schlüpfer«),8 die dem Mädchen gefällt, gerade weil sie alle Individualität negiert.9 Auf die Nachricht, dass es im Heim keine Spiegel gäbe, reagiert es ebenso freudig wie auf die Tatsache, dass es an einem eingezäunten und abgeriegelten Ort untergebracht wurde: »So hat es sich das gedacht. So wie andere danach streben, aus einem umzäunten Gebiet, aus Gefängnis, Arbeitsanstalt, Irrenhaus oder Kaserne auszubrechen, ist das Mädchen genau im Gegenteil in ein solches umzäuntes Gebiet, in ein Kinderheim eben, eingebrochen […].«10

Das bis zum Ende namenlos bleibende Kind verweigert sich bis in die Körperlichkeit hinein, durch seine leibliche Unförmigkeit,11 dem Prozess des Erwachsenwerdens und somit der Entwicklung zum vernünftigen, (Selbst-)Verantwortung übernehmenden Subjekt. Es hat keine Erinnerungen an sein früheres Leben, übt sich vielmehr in der »Kunst des Vergessens«.12 Es entwickelt keine individuellen Charakteristika oder Vorlieben und strebt geradezu danach, im Kollektivkörper aufzugehen und alle Verantwortung abzugeben. Im Gegensatz zu den anderen Kindern liebt das Mädchen Aufenthalte im Krankenzimmer, denn »das Bett ist zweifellos der sicherste Platz auf der Welt, und überdies einer der wärmsten«.13 Die Abgeschiedenheit, das Außenseitertum und schließlich auch die Gemeinschaft mit den vermeintlich Gleichaltrigen, in die es sich nach einer Weile begibt, sind selbst gewählte Situationen.

Erpenbeck selbst hat den Eskapismus des Mädchens in ihrer ersten Bamberger Poetikvorlesung als einen Zwischenzustand beschrieben: »Der Aufenthalt des Mädchens im Heim ist eine Flucht, aber, wie sich am Ende der Geschichte abzeichnet, vielleicht auch eine Art der Vorbereitung.«14 Das lässt sich auf den zeitgeschichtlichen Zustand zwischen dem Ende der DDR und dem Ankommen im neuen politischen System BRD lesen, doch konkreter wird der Text nicht. Während Erpenbeck im Roman »Kairos« (2021) das Ende der DDR explizit, fast offensiv thematisiert, erzählt »Geschichte vom alten Kind« das Leben in der DDR und das Ende dieses Staates nur in Andeutungen: Dresden als Handlungsort scheint auf,15 das Kinderheim als hermetisch abgeriegelter Raum, die Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv. Doch dem explizit historischen Erzählen verweigert sich der Text, als könnte man das geschichtliche Konstrukt, das wir »DDR« oder »Niedergang der DDR« nennen, nicht durch konkrete Narrative erfassen, sondern nur durch die Abstraktion der Parabel. Auch das lapidare Ende fügt sich in dieses Konzept des historischen Schreibens. Das Mädchen landet im Krankenhaus und wird als erwachsen enttarnt: »Das Mädchen, das nun kein Mädchen mehr ist, hat sein Kostüm abgelegt, die eigene Haut, und den Mummenschanz vor aller Augen beendet, so als sei seine Kindheit nichts als ein Scherz gewesen, als sei es ihm gegeben gewesen, in der Zeit herumzuspazieren wie in einem Garten […].«16 Darin, so die Erzählinstanz, läge »etwas Anstößiges, etwas Hochmütiges, den Lauf der Dinge Verachtendes«.17 Als die Frau am Ende der Geschichte im Krankenhaus mit ihrer Mutter und damit mit ihrer ›eigentlichen‹ Identität konfrontiert wird, verweigert sie sich dem mit der lapidaren Bemerkung: »[…] ich kann mich gar nicht an dich erinnern.«18

Der Text hätte konkreter werden können, man hätte eine bewusst politisch agierende Figur ins Zentrum stellen können, die mit historischem Bewusstsein ausgestattet ist – Erpenbeck spielt die Alternativen in ihrer ersten Bamberger Poetikvorlesung selbst durch.19 Doch dem entzieht sich der Text, die Geschichte befindet sich in einem Übergangsstadium, das mit der Konkretion nicht abgebildet werden kann. Mit dem Mädchen, das sich der Zeit verweigert,20 verweigert sich auch die Autorin der klaren Position, die von ihr als Mitglied einer berühmten Intellektuellen-Familie der DDR immer wieder gefordert wurde: »Was ist mein leerer Eimer? Mein schlechtes Gedächtnis, die verlorengegangene DDR, die Geheimnisse, die ich für mich behalten will?«21 Nur vereinzelt zieht sich in der »Geschichte vom alten Kind« die Erzählstimme zurück und das Ich des Mädchens kommt zu Wort, jeweils in Form von Bekenntnissen der eigenen Inferiorität und Unzulänglichkeit.22 Doch an der Tatsache, dass hier eine erwachsene Frau denkt und agiert, ändert auch die Camouflage nichts – wie auch die Maske, hinter der sich die Autorin verbirgt, fadenscheinig ist: »Ich will mich hinter dem Mädchen verstecken, es ist meine Maske, Sie wissen schon, die ich mir vorhalte, um dann nackt über den Sportplatz zu laufen.«23

2 »Heimsuchung«

Die »Geschichte vom alten Kind« erzählt DDR-Historie als eine Art Versuchsanordnung, und als solche lässt sich auch der Roman »Heimsuchung« verstehen, doch wechselt Erpenbeck nun sowohl die Perspektive als auch die narrative Form. Spielte sie in ihrem Debüt das Verhältnis von Individuum und System anhand der Institution des Kinderheims durch, liegt der Fokus nun auf dem Raum selbst: einem Grundstück mit Haus und Seezugang, dessen wechselnde Bewohner im Lauf der Geschichte ein- und wieder ausziehen – Menschen kommen und gehen, der Ort hingegen bleibt sich letztlich gleich.

Der Roman erzählt die Geschichte des Hauses am märkischen Scharmützelsee entlang seiner verschiedenen Besitzer und ihrer Schicksale: von der Bauerntochter, die das Grundstück um 1900 von ihrem Vater erhält, aber wieder verliert, über den Architekten, der im frühen 20. Jahrhundert dort ein Haus baut, und die jüdischen Nachbarn, die während des ›Dritten Reichs‹ fliehen müssen oder ermordet werden, bis zu einer aus dem Exil zurückgekehrten Schriftstellerin und deren Enkelin, die Haus und Grundstück am Ende des Romans, in der erzählerischen Gegenwart, räumen muss, da die Erben des Architekten Anspruch darauf erheben. Die erzählte Zeit umfasst – Prolog und Epilog ausgeklammert – etwa 80 bis 100 Jahre, umfasst also eine Einheit des kommunikativen Gedächtnisses.24 Der Roman ist in der Logik einer Familienerinnerung erzählt, nur dass es sich nicht um eine Familie, sondern um ein Haus und ein Stück Land handelt, die im Zentrum stehen. Gleichzeitig werden die kommunikativen Gedächtnisinhalte immer rückgebunden an die Metanarrative der kulturellen Erinnerung: die Geschichte der Weimarer Republik, des ›Dritten Reichs‹, des Holocausts und des Exils sowie der Nachkriegsgeschichte der DDR und des Mauerfalls.

Der Roman inszeniert Mikro- wie Makrogeschichte episodisch und multiperspektivisch, indem er in jedem Kapitel einen der Besitzer und Bewohner des Hauses und dessen Verwobenheit mit der Makrogeschichte in den Blick nimmt. Auf diese Weise veranschaulicht der Text performativ, dass das Erzählen von Geschichte nur über das Erzählen von Geschichten funktioniert: Die Historie existiert nur in Form einer Aneinanderreihung von Ereignissen und individuellen Handlungen, die Wahrheit nur in Form diverser Wahrheiten. Für den Einzelnen ist die eigene Katastrophe immer absolut, im Reigen der Geschichte(n) relativieren sich die Katastrophen jedoch.

Anhand der narrativen Zeitstruktur des Romans wird dessen metafiktionales und -historisches Erzählkonzept deutlich: Das faktuale Geschehen der Diegese ließe sich problemlos auf einem linearen Zeitstrahl verzeichnen und chronologisch ordnen, auch wenn es teils anachronisch erzählt wird. Doch neben der Chronologie existiert im Text eine narrative Spur, die nicht chrono-, sondern mythologisch, nicht linear, sondern zyklisch erzählt ist, um das Ineinandergreifen von Historie und Mythos, Zeitgeschichte und Zeitlosigkeit auszustellen. Der Mythologos wird im Roman verkörpert durch die Figur des Gärtners, der für die wechselnden Hausherr:innen die Instandhaltung der Gebäude und die Pflege des Gartens übernimmt. Im Reigen der steten Wandlung ist er – neben dem Land, dem Gestein und der Erde – die einzige Konstante: »Woher er gekommen ist, weiß im Dorf niemand. Vielleicht war er immer schon da.«25 Entsprechend wird seine Geschichte von der heterodiegetischen Erzählinstanz in einem betont neutralen Modus berichtet, in Form von kurzen Episoden, die zwischen jene längeren Erzählpassagen montiert sind, in denen die Perspektive jeweils einer Figur dominiert. Der Gärtner ist kein Individuum im eigentlichen Sinne, er ist eine mythische Figur: ein scheinbar altersloses, schweigsames Wesen, gleichsam verwachsen mit dem Stück Land, auf dem er arbeitet, und der Natur, die er bearbeitet. Im Gegensatz zu den episodisch erzählten Individualgeschichten der Bewohner wird vom Gärtner nicht das Einmalige erzählt, sondern das Wiederkehrende: das, was er immer wieder tut, jeden Tag und jedes Jahr, den Tages- und Jahreszeiten und dem Zyklus der Natur folgend. Im Gegensatz zu den Hausbewohner:innen wird er nicht durch sein Erleben oder Reflektieren definiert, sondern durch seine rituellen Handlungen. Und wie das Mädchen in der »Geschichte vom alten Kind« trägt der Gärtner keinen Namen, sondern wird immer nur »der Gärtner« genannt, »als hätte er sonst keinen Namen«.26

Während der Architekt mit seinem Cousin über die ästhetische Kultivierung der Natur schwadroniert, ist der Gärtner unablässig genau damit beschäftigt: »Der Gärtner schiebt die nächste mit Erde gefüllte Karre heran und leert sie aus. Die Wildnis bändigen und sie dann mit der Kultur zusammenstoßen lassen, das ist die Kunst, sagt der Hausherr. Genau, sagt sein Vetter und nickt. Der Gärtner verteilt mit der Kante der Schaufel die Erde gleichmäßig auf dem Beet. Sich der Schönheit, unabhängig davon, wo man sie findet, zu bedienen, sagt der Hausherr. Genau. Der Gärtner schiebt an den beiden Männern, die auf der Terrasse stehen und schweigen, seine leere Schubkarre vorüber.«27

Der Text präsentiert Historie als Schichtung von Geschichten und zugleich – im materiellen Sinne28 – als Schichtung von Erde und Gestein. Während die individuellen Katastrophen der einzelnen Bewohner:innen geschehen, während die einen fliehen müssen und ihre Familie verlieren, die anderen sich vor der Roten Armee fürchten, wird im Prolog des Romans die geologische Ur-Geschichte der Region und des Bodens erzählt, auf dem später das Haus stehen wird, sowie die Geschichte des Sees, an dessen Ufer es liegt und der den Link bildet zwischen den tektonischen Plattenverschiebungen der Urzeit und der menschlichen Zivilisation: »Eine Zeitlang würde der See jetzt inmitten der märkischen Hügel seinen Spiegel dem Himmel hinhalten, würde glatt daliegen zwischen Eichen, Erlen und Kiefern, die jetzt wieder wuchsen, viel später würde er, wenn es irgendwann Menschen gab, von diesen Menschen sogar einen Namen bekommen: Märkisches Meer, aber eines Tages würde er auch wieder vergehen, denn, wie jeder See, war auch dieser nur etwas Zeitweiliges, wie jede Hohlform war auch diese Rinne nur dazu da, irgendwann wieder ganz und gar zugeschüttet zu werden.«29 Der geologisch-erdgeschichtliche Exkurs des Prologs korrespondiert mit dem Epilog, in dem der Abriss des Hauses als ein rein technischer Vorgang geschildert wird. Die Zerstörung des Hauses verschafft der Zivilisation und dem Land, auf dem sie inszeniert wird, eine Art Atempause: »Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden wird, gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst.«30

Die zeitgeschichtliche Endlosigkeit schmälert indes nicht das Leiden, auch nicht das Glück, das den Hausbewohner:innen widerfährt. Nur die eine, absolute historische Katastrophe, der Holocaust, wird durch ihre narrative Struktur dieser Ewigkeit entzogen: Die beiden Kapitel, die den Schrecken der Shoah thematisieren, arbeiten zum einen ganz bewusst mit Eigennamen, zum anderen entfernen sie sich auch geografisch von dem Haus, dem See und dem Land: Das Kapitel »Der Tuchfabrikant« beginnt mit der Nennung der Namen aller Mitglieder der jüdischen Familie, die von dem Ort vertrieben wird,31 und diese werden auch im Verlauf des Kapitels stetig wiederholt, als müsste die Genealogie dieser Familie mit besonderem Nachdruck vor dem Vergessen bewahrt werden. Während ein Teil der Familie nach Südafrika emigrieren kann, werden die anderen Familienmitglieder in der Vernichtungsmaschinerie des ›Dritten Reichs‹ ermordet. Entsprechend bewegt sich das Kapitel narrativ zwischen der Heimat und Kapstadt.

Das zweite Kapitel, »Das Mädchen« betitelt, das aus der Erzählordnung heraussticht, beschreibt die letzten Stunden der 12-jährigen Doris im Warschauer Ghetto, bevor sie in ihrem Versteck entdeckt, deportiert und schließlich erschossen wird. Es ist das einzige Kapitel des Romans, das komplett an einem anderen Ort spielt und in dem das Grundstück am Märkischen Meer nurmehr als Projektion der Erinnerung präsent ist. Die Erzählinstanz macht die Gedanken des Mädchens hörbar, das in seinem Versteck auf den Tod wartet – sie weiß, dass sie sterben wird. Diese Gedanken sind als erlebte Rede, nicht in der Ich-Form wiedergegeben. Das bewahrt sie vor dem Kitsch und die Autorin Jenny Erpenbeck vor einem moralischen Dilemma, auf das unter anderem Ruth Klüger32 immer wieder hingewiesen hat: die Anmaßung der Opferperspektive. Das Mädchen, das ganz allein ist und seine Mörder erwartet, versucht sich der eigenen Existenz zu versichern, indem es sich an die Sommer am See erinnert und sich immer wieder die Eckpfeiler der eigenen Herkunft aufsagt, eine Vergegenwärtigung, die, ohne Interpunktion, fast atemlos, jeweils mitten in den Satz montiert wird: »Doris Tochter von Ernst und Elisabeth zwölf Jahre alt geboren in Guben.«33 Wie im Kapitel »Der Tuchfabrikant« übernimmt auch diese mehrfache Wiederholung des Eigennamens und der genealogischen Identität die Funktion eines narrativen Stolpersteins, jener Erinnerungsanker auf dem Pflaster europäischer Städte, die auf deportierte und getötete jüdische Bürger:innen verweisen und die auch in der realen Stadt Guben für die reale Doris Kaplan und ihre Mutter existieren. Dass es sich um historische Personen handelt, wird dem Leser durch den Plot nicht vermittelt – und es muss auch nicht vermittelt werden, um die historische ›Wahrheit‹ des Erzählten zu bezeugen.

Die narratologische Sonderstellung der beiden genannten Kapitel innerhalb des Romans verweist metafiktional auf die besondere Rolle, die das Erzählen über den Holocaust innerhalb des Diskurses um den historischen Roman einnimmt. Auch jenseits der Einsicht in den fiktionalen Charakter der Historie existiert weiterhin eine Art narratives Faktizitätsgebot für das historische Erzählen des Holocaust.34 Dem trägt Jenny Erpenbeck etwa dadurch Rechnung, dass sie den Roman »Heimsuchung« jener historischen Figur, Doris Kaplan, widmet und somit die Referenz auf die historische Realität auch paratextuell markiert. Auch die Tatsache, dass in der Schilderung dieses sehr intensiven Erlebens im Angesicht des Todes die heterodiegetische Erzählinstanz anwesend bleibt und somit die Falle des Holocaust-Kitsches bewusst vermieden wird, zeugt vom Wissen der Autorin um die Darstellungsge- und -verbote innerhalb des literarischen Holocaust-Diskurses.

3 »Aller Tage Abend«

Steht in »Geschichte vom alten Kind« das Verhältnis von Mensch und System und in »Heimsuchung« das Verhältnis von teleologischem und historischem Geschichtsverständnis im Zentrum, so erzählt »Aller Tage Abend« Historie im Abgleich von narrativem Indikativ und Konjunktiv. Der Roman fügt sich auf den ersten Blick in das Schema des klassischen Bildungsromans: Er folgt einem weiblichen Lebenslauf, der Anfang des 20. Jahrhunderts im galizischen Brody in der heutigen Ukraine beginnt, in einer Stadt, ganz am Rande des Habsburgerreiches gelegen, die lange ein wichtiges Zentrum der galizischen jüdischen Kultur war (»50.08333 Grad nördlicher Breite, 25.15000 Grad östlicher Länge«).35 Die Protagonistin, Tochter einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters, wird am Ende des Romans nach dem Mauerfall in einem Berliner Altenheim (»52.58867 Grad nördlicher Breite, 13.39529 östlicher Länge«)36 einen Tag nach ihrem 90. Geburtstag sterben und auf ein bewegtes Leben zurückblicken, das sie von Brody über Wien und das Exil im kommunistischen Moskau schließlich nach Ostberlin führt, wo sie zur gefeierten Schriftstellerin aufsteigt. Doch dieses Leben wird jeweils am Ende eines jeden Kapitels vorbei sein, vier Tode wird die Protagonistin sterben, von denen jeder im Zuge des Erzählvorgangs plausibel erscheint, im Anschluss in den Intermezzi jedoch für kontingent erklärt und von der Erzählinstanz rückgängig gemacht wird, sodass die Figur ihr Leben fortführen kann und ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Man lese, so Katharina Granzin in der »tageszeitung«, eigentlich nicht einen, sondern fünf Romane.37

Der Roman schließt an die Gattung des Bildungsromans an und unterläuft zugleich dessen Teleologie. Das einzelne Leben erfüllt nur eine weitgehend beliebige Stellvertreterposition im Großen und Ganzen der Welthistorie; die Idee eines vom Subjekt gesteuerten historischen Fortschritts werde damit obsolet, so Anke S. Biendarra. Beide Romane beharrten auf der »Arbitrarität historischer Erfahrung«.38 Der Zufall scheint das eigentliche Prinzip der Geschichte zu sein, wenn schon Kleinigkeiten, gleichsam historische Mikropartikel genügen, um ein individuelles Schicksal zu verändern, wie an den nur vermeintlich endgültigen Toden der Protagonistin deutlich wird: Jemand hätte durch beherztes Eingreifen ein Kind vor dem plötzlichen Kindstod gerettet; eine Großmutter wäre da gewesen, um ihre selbstmordgefährdete Enkelin aufzufangen; ein bürokratischer Akt wäre zufällig anders gelaufen; eine alte Frau wäre auf der Treppe nicht gestürzt: »Nur fünf Minuten später die Treppe hinunter und den Eingang in die Unterwelt verfehlen, der sich dann schon weitergeschoben hat […].«39

Gleichwohl macht das Spiel mit dem narrativen Konjunktiv auch deutlich, dass es jeweils hinreichende Gründe gibt, warum ein Leben eine andere Wendung nimmt. Vieles scheint dem Zufall geschuldet, doch anderes wird dem menschlichen Handeln zugesprochen, das, wie im Falle des bürokratischen Apparats der stalinistischen Diktatur, auf moralischen Entscheidungen von Subjekten beruht. Aus der Perspektive der Erzählinstanz des Romans erscheint die Geschichte nicht allein durch Zufälle, sondern auch durch jeweils andere Notwendigkeiten gesteuert. Nur auf den ersten Blick sind die Figuren bloße Opfer der Geschichte, auf den zweiten sind sie durchaus Teil von Kausalitätsketten, die von Menschen gemacht sind – Menschen, die sich entscheiden, Pogrome gegen ihre Mitmenschen anzuzetteln oder ihre Arbeits- und Entscheidungskraft einem mörderischen Regime zur Verfügung zu stellen.

Jenny Erpenbeck nutzt den fiktionalen Konjunktiv nicht für utopische Alternativentwürfe, sondern für katastrophische. Die diversen Tode der Protagonistin in »Aller Tage Abend« zeugen von der tödlichen Gefahr, die in allen Zeitaltern lauert. Erzählt wird der Roman zudem durch eine heterodiegetische Erzählinstanz, die über mehr Wissen verfügt als ihre Figuren40 und daher zeigen kann, welche Kleinigkeiten ein Leben bestimmen können. In Passagen interner Fokalisierung denken zudem die Figuren über die und über ihre Geschichte nach, wie etwa die DDR-Schriftstellerin, die noch im Fallen auf der Treppe über ihr Ende reflektiert: »[…] soll sie jetzt etwa sterben, nur weil sie buchstäblich aus den Latschen gekippt ist […]? Das erste Kapitel eine Tragödie, das zweite immer eine Farce – hat sie Marx nur gelesen, um zu wissen, dass es jetzt wirklich mit ihr zuende geht? Woran erkennt man den letzten Moment?«41

Die bekennende Kommunistin hat selbstverständlich Marx gelesen und bezieht sich mit diesem Zitat gleich auf zwei der großen Geschichtsphilosophen der deutschen Tradition, denn Marx referiert an dieser Stelle wiederum auf Hegel: »Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«, so lautet die Stelle in Marx’ Schrift über den Staatsstreich des Louis Napoléon Bonaparte.42 Er bezieht sich offenbar auf eine Stelle aus der Abhandlung über das Römische Reich aus Hegels »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte«: »Durch die Wiederholung wird das, was im Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten.«43 Und auch dieses Prinzip scheint die Figur des Romans – und mit ihr die Autorin Jenny Erpenbeck – zu kennen.

Resümee

Mit der geschichtsphilosophischen Referenz formuliert der Roman sein eigenes metahistorisches Programm: Durch eine Zufälligkeit oder Willkürlichkeit wird aus der Tragödie eine Komödie oder Farce. Diese Erkenntnis ist bei Erpenbeck keine Kalenderweisheit, sondern ein narratologisches Konzept, dem ihr historisches Schreiben folgt. Jenny Erpenbecks frühe Romane sind raffiniert erzählte Belege für die These, dass das literarische Erzählen im historischen Konjunktiv den Glauben an das eine, konzise historische Narrativ gründlicher untergraben kann als die Theorien Hayden Whites oder Dominick LaCapras.44 Doch bei aller Relativierung der nur vermeintlichen historischen ›Wahrheiten‹ geben ihre Texte die Referenz auf die historische Realität nicht auf: zum einen, weil diese Preisgabe eine Leugnung der historischen Katastrophen der Geschichte und somit eine Nicht-Anerkennung des Leidens der Opfer bedeuten würde; zum anderen, weil nur auf der Basis des real Geschehenen den Texten ein utopisches oder dystopisches Moment eingeschrieben werden kann – es könnte auch anders sein. Es könnte die DDR als eine Art Versuchsanordnung und Experiment betrachtet werden und ihre Darstellung als das Durchspielen eines Möglichkeitsfalls (»Geschichte vom alten Kind«). Es könnte die Weltgeschichte aus der Perspektive dessen betrachtet werden, was bleibt: die Materie und die Realität des Leidens (»Heimsuchung«). Und es könnten ein Lebenslauf und eine Entwicklungsgeschichte auch als eine Abfolge verschiedener Optionen geschrieben werden.

Jenny Erpenbecks historische Literatur begreift Geschichte als Erfundenes und Gefundenes zugleich. Sie fußt auf gründlicher Recherche und erzählt indes sehr viel mehr als das, was in Geschichtsbüchern oder Archiven zu finden ist. Ihre Romane stellen Geschichte dar und reflektieren zugleich über die metahistorischen und metafiktionalen Bedingungen ihrer eigenen Entstehung. Nicht Klio oder Kalliope lautet ihr Motto, wie es ein prominenter Buchtitel Paul Michael Lützelers formulierte,45 sondern Klio und Kalliope.

  1 Auch die Gattung des »historischen Romans« wurde im Zuge dessen völlig neu bestimmt; siehe hierzu u. a. Erik Schilling: »Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur«, Heidelberg 2012; Stephanie Catani: »Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«, Tübingen 2016, u. a. S. 19–41.

  2 Linda Hutcheon: »A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction«, New York, London 1988, S. 5 u. S. 87–101.

  3 Siehe etwa: https://literaturkritik.de/id/835.

  4 Zu dieser Lesart siehe u. a. Katie Jones: »›Ganz gewöhnlicher Ekel‹? Disgust and Body Motifs in Jenny Erpenbeck’s ›Geschichte vom alten Kind‹«, in: Heike Bartel / Elisabeth Boa (Hg.): »Pushing at Boundaries. Approaching to Contemporary German Women Writers from Karen Duve to Jenny Erpenbeck«, Amsterdam, New York 2006, S. 119–133.

  5 Siehe hierzu u. a. Carola Hähnel-Mesnard: »Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post DDR-Literatur. Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck«, Göttingen 2022, S. 187–226.

  6 Jenny Erpenbeck: »Geschichte vom alten Kind«, München 2001, S. 14. Nachfolgend als GK zitiert.

  7 GK, S. 15.

  8 Ebd.

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