The Bad Tuesdays: Fremde Energie - Benjamin J. Myers - E-Book

The Bad Tuesdays: Fremde Energie E-Book

Benjamin J. Myers

4,9

Beschreibung

Zu welchem Zweck verschleppt die Verbogene Symmetrie Tausende von Kindern? Chess, Box und Splinter folgen ihnen im Auftrag von Mevrad auf dem Horrorweg durch den Saugwurm und werden nicht nur mit der grausam raffinierten Technik der Symmetrie konfrontiert. Auf Surapoor lebt auch ein archaisches Volk.

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Benjamin J. Myers

THE BADTUESDAYS:

FREMDE ENERGIE

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Für Eleanor, Rosamond und Rebecca

KAPITEL 1

Der Stacheldraht oberhalb der Zaunspitzen glänzte. Kalter Wind peitschte Splinter ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen. Ihnen würden nur Sekunden bleiben, um von dem Güterzug auf das flache Dach auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns zu springen.

«Wenn ich sage ‹Los›», schrie er, «dann springen wir!»

Er kauerte auf einem Container. Seine zerschlissenen Hosen und die langen Schöße seines Fracks waren schwärzer als die Nacht. Sein weißes, zu stacheligen Strähnen gedrehtes Haar hing ihm bis auf die Schultern.

Chess Tuesday hockte neben ihm und schob sich die dicken kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht. An ihrer Seite kniete Box. In einer Hand hielt er eine Eisenstange, und er stützte sich mit den Fingerknöcheln auf dem rostigen Dach des Containers ab.

«Bist du sicher, dass die Codes stimmen?», schrie er.

«Nein», erwiderte Splinter, der sich mühte, das Gleichgewicht zu halten. Der Zug hatte Fahrt aufgenommen und der Container schwankte leicht.

«Wenn die Codes nicht funktionieren, hat es doch keinen Sinn, einzubrechen!», schrie Box.

Sie waren dem Stacheldraht jetzt schon ganz nah. Splinters eisblaue Augen zuckten von dem Zaun hinüber zu Box. «So was nennt man eine Gelegenheit ergreifen, Fliegenkopf.»

Box schüttelte den Kopf. «Wenn du mich fragst, ist das die beste Gelegenheit, um …»

«Los!», brüllte Splinter und sprang vom Zug.

Chess stieß sich ab und fiel dann nach unten. Sie handelte, ohne nachzudenken, nur auf den Befehl ihres Bruders hin. Sie drückte den Bauch durch und schwang die Fersen nach hinten, sodass sie durch die Luft trudelte, wobei sie spürte, wie die scharfen Spitzen des Stacheldrahts ihren ausgebeulten lilafarbenen Pullover streiften. Sie landete auf dem Flachdach, rollte sich ab und stand umgehend wieder auf ihren nackten Füßen. Sie wischte sich ein bisschen Sand von ihren schmutzverkrusteten, zerrissenen Jeans und pickte einen winzigen Stein aus ihrer Handfläche.

Chess dachte keine Sekunde lang daran, was geschehen wäre, wenn sie auf den scharfen Stahlspitzen gelandet wäre. Sie war eine Kanalratte. Klettern, springen, sich verstecken und stehlen war alles, was sie gelernt hatte. So war es nun einmal. Splinter erinnerte sie ständig daran, sagte ihr, dass sie alles andere vergessen solle: Ethel, das Komitee, die Verbogene Symmetrie. Sie war eine Kanalratte, sie war seine kleine Schwester, sie war elf Jahre alt und ihre Brüder waren vierzehn, und er, Splinter, hatte das Kommando. Alles andere spielte keine Rolle.

Box knallte gegen ihren Rücken und sie prallte nach vorn gegen Splinter, sodass er den Halt verlor und sie alle drei aufeinanderstürzten. Sie wollte nicht auf Splinter landen und drehte sich auf die Seite. So fiel sie mit der Schulter hart auf das Dach. Ein blitzartiger Schmerz durchzuckte ihren Arm.

Klappernd fiel die Eisenstange aufs Dach, aber das Klirren verlor sich im Rattern des Güterzugs.

«Fliegenkopf, du Blödmann!», zischte Splinter.

Chess hob ihre großen braunen Augen zu Splinter. Das alles musste nicht sein. Sie mussten nicht stehlen und rauben, mussten nicht immer größere Risiken eingehen, nur damit Splinter beweisen konnte, wie clever er war und wie glücklich sie sich schätzen konnten, ihn zum Anführer zu haben. Sie hätten bei Ethel bleiben können. Sie hätten genug zu essen und einen Platz zum Schlafen haben können und Kleidung, die nicht schmutzig und zerrissen war. Und sie hätten Ethel helfen können. Chess hätte Ethel gern geholfen. Sie wollte auf der Seite des Komitees stehen, weil es die richtige Seite war und weil sie wusste, dass die Verbogene Symmetrie nicht aufhören würde, sie zu jagen, nur weil Splinter sie zur Flucht überredet hatte.

«Was?», fuhr Splinter sie an. «Was ist los mit dir?»

«Nichts», murmelte Chess. Mit Splinter zu streiten, hatte keinen Sinn. Er war klüger als sie, das erklärte er ihr oft genug. Und außerdem hatte er den Streit schon vor einem Monat gewonnen, als er das Hauptquartier des Komitees verlassen hatte, eine Woche, nachdem sie eine Scheibe aus dem Computergehirn der Symmetrie gestohlen hatten. Sie und Box waren ihm gefolgt.

«Gut», sagte Splinter.

Er duldete auch nicht, dass sie zum Kai zurückkehrten. Er meinte, dass das Komitee dort zuerst nach ihnen suchen würde. Und so waren sie in einem zerfallenen Mietshaus untergeschlüpft, hatten Hex und Pacer, die letzten noch verbliebenen Mitglieder ihrer Bande, und auch Chess’ einzige Freundin Gemma zurückgelassen. Splinter hatte Chess nicht einmal erlaubt, Gemma zu sehen.

Splinter klopfte seinen Frack ab und kramte in den Taschen. In den Innentaschen von Splinters Frack steckten allerlei nützliche Gegenstände: Schnur, Murmeln, eine Taschenlampe, ein Bund mit Dietrichen, Klebeband, Streichhölzer und sein Klappmesser. Er holte einen Zettel hervor und faltete ihn auseinander.

«Der dämliche fette Schlipsträger hat überhaupt nicht gemerkt, dass ich da war», murmelte Splinter, der sich jetzt im Schneidersitz niederließ und das Blatt Papier studierte.

Chess schniefte, um zu zeigen, dass sie mit seinem Urteil nicht einverstanden war. Splinter redete immer so über die Leute in der Stadt, obwohl nicht alle so übel waren, wie er behauptete. Trotzdem kniete sie sich neben ihn und betrachtete die Zahlen auf dem Papier im Schimmer der nahen Sicherheitsbeleuchtung.

«Das war ein sauberes Ding», sagte Box bewundernd. Splinter hatte ihnen erzählt, dass sich der Mann in der U-Bahn-Station nur wenige Meter von Splinter entfernt auf eine Bank gesetzt und ein belegtes Brot gegessen hatte. Es war Abend. Vermutlich war der Mann auf dem Heimweg von der Arbeit. Er beugte sich vor und präsentierte seine verschwitzte Glatze, während er das Brot mit hungrigem Grunzen verschlang. Das Jackett war ihm über den Bauch nach oben gerutscht, entblößte einen Hemdzipfel und eine fleischige Wampe und – ein paar Millimeter aus der Gesäßtasche ragend – eine prall gefüllte Brieftasche. Splinter ließ seine Finger tanzen, und die Brieftasche wechselte den Besitzer. Der Mann bemerkte den schmalen, bleichen Jungen nicht einmal, der wieder in der Geschäftigkeit der Stadt verschwand.

EINHEIT 3 VIGO INDUSTRIAL war mit Kugelschreiber auf den oberen Rand geschrieben, und darunter befanden sich drei Spalten mit Zahlen. Am Fuß der ersten Spalte stand EMPFANG, am Ende der zweiten ATRIUM, unterhalb der dritten TRESORRAUM. Als Splinter den Zettel aus der Brieftasche gezogen hatte, war ihm sofort klar gewesen, dass dies Sicherheitscodes für ein Lagerhaus waren. Er behielt die Geldscheine und den Zettel und warf die Brieftasche samt dem restlichen Inhalt in einen Gully. Dann rannte er zu dem leer stehenden Haus, in dem sein Zwillingsbruder und seine Schwester auf ihn warteten.

Das war vor zwei Stunden gewesen. Sie mussten schnell handeln, um den Vorteil auszunutzen, der ihnen in die Hände gespielt worden war, ehe jemand den Verlust der Codes bemerkte. Splinter hatte keine Ahnung, was sich im Tresorraum befand, aber es war gewiss wertvoll. Auf der Straße erzählte man sich, dass VIGO geschmuggelte Juwelen verschob, die zu kostbar waren, um sie in einem gewöhnlichen Gebäude aufzubewahren, und zu heiß, als dass sich die Banken die Finger daran verbrennen wollten. Und das war der Grund, warum sie in speziell gesicherten Lagerhäusern untergebracht waren.

Das konnte ein echt großer Fang werden.

Jeder von ihnen hatte sich einen Beutel aus grobem Sackleinen auf den Rücken gebunden, und dann waren sie zu einer alten Steinbrücke gerannt, unter der die Güterzüge auf dem Weg hinaus aus der Stadt durchfuhren. Splinter wusste, wo die Lagerhäuser standen, und er wusste, dass sie von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben waren. Sich nach getaner Arbeit einen Weg nach draußen zu schneiden, war kein Problem, selbst wenn das den Alarm auslösen würde. Aber auf diese Weise hineinzukommen, war zu riskant. Das war der Grund, warum er entschieden hatte, dass sie vom fahrenden Zug aus über den Zaun springen würden.

Jetzt waren sie hier, ohne dass irgendjemand davon ahnte, kauerten als dunkle Schatten auf dem Dach, bewaffnet mit den Codes, die das Sicherheitssystem ausschalten und ihnen die Türen des Tresorraums öffnen würden. Bis jetzt hatte sein Plan funktioniert. Er steckte den Zettel in eine seiner Taschen und lächelte durch die Dunkelheit. Dann klopfte er auf das Dach.

«Aufmachen, Box», sagte er.

«Mit Vergnügen», gab Box zurück. Dabei trat er mit der Fußspitze auf das gebogene Ende der Eisenstange, sodass diese zu seiner Hand hochsprang. Er ließ sie durch die Luft wirbeln und fing sie mühelos wieder auf.

Splinter zuckte zusammen. «Du hast wirklich nur Stroh in der Birne, Fliegenkopf!»

Box grub seine Finger in das dicke, krause schwarze Haar und kratzte sich am Kopf, rückte einen der Hosenträger zurecht, die seine fadenscheinigen wollenen Beinkleider hielten und schlenderte dann hinüber zu einem breiten Lüftungsschacht. Er schob das gebogene Ende der Eisenstange unter den Rand der Abdeckung des Schachts und hebelte sie auf. Die Abdeckung schnappte aus ihrer Verankerung und Splinter griff schnell zu, ehe sie auf das Dach fallen konnte. Er legte den Finger an die Lippen und funkelte Box an. Box kniete sich hin und fing an, am Lüftungsrohr zu zerren.

Chess blieb in der Hocke und ließ ihren Blick über die anderen Lagerhäuser innerhalb des Komplexes schweifen. Die Sicherheitsbeleuchtung sprenkelte die langen niedrigen Dächer mit hellen gelben Flecken, während der Rest in undurchdringlicher Dunkelheit lag. Nichts rührte sich, und kein Laut war zu hören, bis auf das schwächer werdende Rattern des Zuges. Chess wusste, dass sie keine Wachleute zu befürchten hatten, aber die hätten sowieso kein Problem dargestellt. Wachleute fanden einen nur, wenn man sie wissen ließ, dass man da war. Und das wusste nun einmal niemand.

Die Tuesdays verschmolzen mit der Dunkelheit und arbeiteten schnell und lautlos.

Das Lüftungsrohr lockerte sich. Box drehte es und zog daran. Splinter half ihm, es aus der Verankerung zu heben. Jetzt gähnte eine Öffnung im Dach, die sich in den Raum darunter erstreckte. Box kletterte als Erster hinein, dann Splinter und dann Chess, wobei sie nicht mehr Geräusche machten als raschelndes Laub.

Sie setzten sich auf die Dachbalken. Splinter lauschte, bis er ganz sicher war, dass dort unten niemand war. Dann tastete er nach seiner Stiftlampe und knipste sie an.

«Da drüben», flüsterte er, nachdem der schwache Strahl durch die Leere unter ihnen gewandert war. Er lenkte ihn auf ein Tastenfeld an der Wand. Daneben befand sich eine Tür mit einem kleinen eisernen Rad in der Mitte. «Das ist die Tür zum Tresorraum. Seht ihr? Direkt an der anderen Wand.»

«Springen wir runter?», fragte Box. «Es ist nicht tief.»

«Tief genug, um sich die Knochen zu brechen», warnte Splinter. «Außerdem – schau mal.» Er deutete mit dem Strahl der Taschenlampe auf den Boden des Gebäudes und schaltete die Lampe dann aus. Die Dunkelheit ergoss sich in Chess’ Augen, und dann sah sie die stecknadelkopfgroßen roten Punkte eines Bodensensors.

«Davon gibt es da unten bestimmt jede Menge», sagte Splinter. «Wenn du auf einen drauftrittst, sind wir geliefert: Alarm, Wachleute, die Aufmischer, rein in den Knast.» Er schaltete die Taschenlampe wieder ein und richtete sie schwankend dorthin, wo der Dachbalken auf die Wand traf. «Wasserleitungen, seht ihr? Die verlaufen nach unten und an der Wand entlang bis zur Tür des Tresorraums.»

In dem Moment, in dem er die Lampe wieder ausknipste, merkte er, dass Box abrutschte. Er spürte, wie ein Schatten links von ihm nach unten glitt, streckte blitzschnell die Hände aus und packte seinen Bruder an den Hosenträgern, wobei er sich gleichzeitig nach rechts warf. Seine Hände schlossen sich um die elastischen Bänder, und der Fall seines eigenen Körpers wurde abrupt abgebremst. Box hing auf der einen Seite des Dachbalkens und Splinter baumelte auf der anderen Seite. Verbunden waren sie lediglich durch die über den Balken hängenden Hosenträger, die sich an dem vorderen Hosenbund gelöst hatten. Die Enden hielt Splinter nun in der linken Hand. Box’ Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt. In der Dunkelheit fühlte er den heißen Atem seines Bruders auf der Haut. Box lachte.

«Ich habe die Taschenlampe fallen gelassen», presste Splinter durch die gefletschten Zähne. «Was zum Teufel treibst du denn?»

«Ach, ich hänge hier bloß rum», keuchte Box.

«Du Idiot!»

«Du hast doch die Taschenlampe ausgeschaltet, als ich mich gerade mit der Hand abstützen wollte. Und da habe ich den Balken verfehlt», empörte sich Box.

Splinter schnappte nach Luft. Sein Arm brannte wie Feuer. «Du solltest schleunigst abnehmen, Fliegenkopf. Wenn du da unten aufklatschst, gibt es einen Riesenfettfleck.»

«Wir sind nicht weit von der Wand entfernt. Könnt ihr euch nicht dorthin schwingen?», schlug Chess vor. Unter ihr erklang Gegrunze, und sie vermutete, dass ihre Brüder ihre Idee in die Tat umsetzten. Sie hörte die Hosenträger über den Dachbalken schaben und dann einen Aufprall und ein Keuchen, gefolgt von einem scharfen Knall: die Hosenträger rissen in dem Moment, als ihre Brüder die Wand erreichten.

Jemand stöhnte, dann fluchte Splinter, und Box jammerte: «Meine Hosen rutschen!»

Chess tastete mit den Zehen nach der Wasserleitung, hangelte sich daran entlang und dann nach unten. «Kommt schon», sagte sie, als sie auf dem Boden stand. «Hört auf mit dem Theater.» Sie merkte, wie sich lange, harte Finger in ihren Nacken gruben und sie zurückzogen.

«Mir nach», flüsterte ihr Splinter ins Ohr und schob sich an ihr vorbei.

Nachdem sie sich an der Wand entlang zum Eingang des Tresorraums getastet hatten, hörte Chess das Kratzen eines Streichholzes. Splinters Gesicht flackerte orange auf, und er reichte das Zündholz an Box weiter.

«Halt mal.» Er studierte den Notizzettel und legte dann die Hand auf das Tastenfeld.

«Geht nicht!», quietschte Box. Gleichzeitig ging das Streichholz aus und sie standen wieder im Dunkeln. Chess hörte, wie Box an seinen verbrannten Fingern saugte.

«Idiot!», zischte Splinter wieder. Mit einem leisen Rasseln stieß er die Streichholzschachtel seinem Bruder gegen die Brust. «Hier. Sorg dafür, dass das Licht an bleibt. Wenn ich die falschen Zahlen drücke, stecken wir in mächtigen Schwierigkeiten.»

Ein Schaben war zu hören, und sie hatten wieder Licht. Splinter schob sein schmales Gesicht dicht an das Tastenfeld und drückte auf die Knöpfe. Mehrmals versicherte er sich mit einem Blick auf den Zettel, dass er die richtigen erwischte.

Chess lauschte in den Raum hinter ihnen, aber sie hörte nur das leise Zischen und Knistern der Flamme, ihren eigenen Atem und den ihrer Brüder. In der Luft hing ein leichter Rauchgeruch.

Das Streichholz erlosch in dem Moment, als Splinter die letzte Zahl eingab. Er zerknüllte das Papier, schob es in eine Tasche und tastete nach der Streichholzschachtel, die er Box dann aus der Hand riss. Schließlich packte er das eiserne Rad, das sich in der Mitte der Tresortür befand.

«Jetzt», flüsterte er, «werdet ihr sehen, warum ich der Meister der Monetenmopser bin.» Er drehte an dem Rad und schob die Tür auf. Mühelos glitt sie nach innen. Einer nach dem anderen traten die Tuesdays in den Tresorraum.

Der Boden bestand aus Stahl und war eiskalt. An der Lautstärke, mit der ihre nackten Füßen aufklatschten, merkte Chess, dass sie sich in einer großen Kammer befanden, mindestens genauso groß wie der Raum, aus dem sie gerade gekommen waren. Aber nicht die Ausdehnung war wichtig, sondern das, was sich in dem Raum befand. Besser gesagt: was sich nicht darin befand.

«Leer!», keuchte Box, als Splinter ein neues Streichholz anzündete und hoch über den Kopf hob.

Hinter ihnen schlug die Tür mit einem Knall zu. Die Flamme erlosch.

«Nicht leer», knurrte eine Stimme in der Dunkelheit.

Chess wirbelte herum und verzog das Gesicht, als ihr der helle Strahl einer Taschenlampe von einem Punkt neben der Tür aus entgegenleuchtete. Dann wurde die Lampe wieder ausgeschaltet, und noch während vor ihren Augen bunte Farbflecken tanzten, ging mit einem leisen Summen die Deckenbeleuchtung an und überflutete den Tresorraum mit Helligkeit.

Nachdem sich Chess’ Augen wieder erholt hatten, sah sie einen Mann mit einem Auge und einem zotteligen fuchsroten Schnurrbart, der neben der Tür in einem Rollstuhl saß. Auf seinem Schoß lag eine große Taschenlampe.

«Professor Breslaw!», rief sie aus. «Was machen Sie denn hier?»

Der Professor kicherte. Dabei rasselte der Schleim in seiner Kehle hörbar, und das Netz aus Kabeln, das seinen Körper mit dem Rollstuhl verband, erzitterte im Rhythmus der Zuckungen. «Auf euch warten, was denn sonst? Ist das nicht eine nette Überraschung?» Er nickte in Richtung einer großen Holzkiste, die neben ihm stand. Die vordere Wand war heruntergeklappt. «Der Paketdienst hat mich gebracht.»

Splinter begriff sofort, was geschehen war. «Sie haben uns reingelegt.» Er ging auf den Professor zu, die Arme lang und steif gegen den Körper gepresst, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht weiß vor Zorn. «Sie haben mich dazu verführt, die Brieftasche zu stehlen; Sie haben die Codes darin versteckt; Sie wussten genau, dass wir herkommen würden.»

Joachim Breslaw hörte auf zu kichern und der Blick aus seinem Auge durchbohrte Splinter. «Wir haben dich zu gar nichts verführt, mein Junge. Das Stehlen hast du freiwillig übernommen. Die Tatsache, dass du sowohl unredlich als auch leicht zu durchschauen bist, ist allein deine Schuld.» Er rieb sich über den Schnurrbart. «Weißt du, Splinter, ich muss zugeben, dass ich dich für zu clever hielt, um auf die Sache reinzufallen. Aber Mevrad war anderer Meinung.» Er wackelte mit dem Finger. «Sie meinte, es wäre ein Kinderspiel, dich hierher zu kriegen, so leicht, wie du zu durchschauen bist.»

Splinter wollte sich auf Joachim Breslaw stürzen, doch Box legte seinem Bruder sanft, aber bestimmt die Hand auf den Arm.

«Vorsicht, Professor», warnte ihn Box, «Sie reden hier mit dem Meister der Monetenmopser.» Dabei unterdrückte er ein Grinsen und zog mit der freien Hand seine Hose hoch.

Splinter funkelte seinen Bruder an und war gleichzeitig überrascht, weil Box gar nicht enttäuscht zu sein schien, dem Professor in die Falle gegangen zu sein. Box zuckte mit den Schultern, ließ Splinters Arm los und wickelte sich die Hosenträger wie einen Gürtel um den Leib.

«Ihr müsst jetzt mitkommen», sagte der Professor. «Das Komitee braucht euch.»

«Vergessen Sie’s», schnaubte Splinter. «Wir haben uns aus dem Staub gemacht, weil wir von Ihnen und Ethel oder Mevrad oder wie auch immer sie heißt wegkommen wollten, von Ihnen und Ihrem dämlichen Komitee.» Er beugte sich zu dem Professor vor und kleine Speicheltröpfchen sprühten aus seinem Mund.

Der Professor beugte sich seinerseits vor, bis sein kahler, rosiger Kopf fast Splinters Gesicht berührte. «Ihr habt euch aus dem Staub gemacht, weil wir es zugelassen haben!», polterte er. «Es war besser so und sicherer für euch, auch wenn das seltsam klingen mag. Und jetzt ist die Zeit gekommen, da ihr uns wieder helfen müsst, und daher holen wir euch ein, wie ein Netz voller kleiner, zappelnder Fischlein.» Er stieß Splinter mit seinem Wurstfinger in den Magen. «Also, du Meister der Monetenmopser, wer ist jetzt der Dumme?»

Splinter verbarg seine Wut hinter einem Lächeln und fragte: «Warum sollten wir mit Ihnen gehen?»

Joachim Breslaw nickte. «Gute Frage.» Dann deutete er auf ein Tastenfeld neben ihm an der Wand. «Da sind die Lichtschalter und daneben ist ein roter Knopf, seht ihr? Wenn ich den drücke, wird der Alarm losgehen, die Polizei wird kommen und ihr werdet für sehr lange Zeit im Gefängnis verschwinden – falls sie euch nicht gleich den Jägern übergeben.» Er leckte sich über die Spitzen seines Schnurrbarts. «Und wenn ich es recht bedenke, werden sie wohl genau das tun.»

«Sie wollen doch bestimmt nicht, dass Chess in den Händen der Jäger landet», gab Splinter triumphierend zurück.

Joachim Breslaw schlug mit der Faust gegen den roten Knopf. Der Alarm kreischte auf. «Entscheidet euch», sagte er.

KAPITEL 2

Der Bulldozer brach mit einem quietschenden Reißen von Metall und einem Regen aus Putz und Steinen durch die Wand. Professor Breslaw steckte das kleine Funkgerät wieder in die Tasche seines bunten Flickenmantels und schrie über den heulenden Alarm und den brüllenden Motor hinweg: «Der Fahrer wartet. Wer mitkommen will, steigt jetzt ein.» Sein Rollstuhl schoss vorwärts, wobei sein Körper in den Sitz gedrückt wurde. Der gelbe Rumpf des Bulldozers riss sich aus der zerklüfteten Öffnung in der Wand des Tresorraums los und zog sich zurück. Professor Breslaw fuhr holpernd über den Schutt und durch die Öffnung hinaus.

Box schaute Chess an und Chess schaute Splinter an und Splinter schaute wütend auf das Loch in der Wand, durch das die Nacht eindrang. In den Alarm mischte sich nun das langsam näher kommende Geheul von Polizeisirenen.

«Aufmischer!», warnte Box. «Wir sollten machen, dass wir wegkommen.» Dann drehte er sich um und rannte dem Professor hinterher.

«Splinter?», sagte Chess. «Wir müssen los. Es ist doch sinnlos hierzubleiben.» Dann fügte sie hinzu: «Wir können uns nicht ewig vor der Verbogenen Symmetrie verstecken.»

Splinter knirschte mit den Zähnen. «Die Entscheidung wurde ja schon getroffen», sagte er.

Chess drehte sich um, aber Splinter packte sie am Handgelenk. «Wenn die Zeit kommt», sagte er mit einer Stimme, die so kalt war wie Eis, «dann werde ich ihnen zeigen, was es heißt, sich zu entscheiden.»

Dann rannten sie los.

Der Lieferwagen stand mit laufendem Motor und geöffneter Seitentür auf der anderen Seite des Lochs, das in dem Sicherheitszaun klaffte. Ein dünner Mann in einer ausgebeulten Jacke und Hose schob gerade eine Rampe auf die Ladefläche des Wagens, als Chess und Splinter durch den Zaun stürzten. Der Bulldozer entfernte sich gemächlich über eine von Reklameschildern neonorange erleuchtete Querstraße, aber die Sirenen klangen jetzt deutlich lauter. An der Wand des Lagerhauses blitzte es blau und weiß auf, als die Polizeiwagen mit kreischenden Bremsen am Ende der Straße zum Stehen kamen.

«Rein mit euch», sagte der drahtige Mann. «Ich hab keine Lust, hier die ganze Nacht lang rumzuhängen.»

Splinter bemerkte die Schrift auf der Seite des Lieferwagens: ETHELS OBST & GEMÜSE stand darauf. «Sehr witzig», murmelte er.

«Also mach schon», krächzte der Mann, «oder willst du hier Wurzeln schlagen?»

Chess und Splinter kraxelten in den Lieferwagen. Hinter ihnen schloss sich die Schiebetür, dann schlug die Fahrertür mit einem Knall zu. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten und nur mit einem leisen Knirschen der Reifen auf dem Asphalt, ließ der Fahrer den Lieferwagen in eine schmale Gasse rollen.

«Was jetzt?», erkundigte sich Box fröhlich, als sie sich neben ihm auf die Holzbank quetschten, die an der Seitenwand des Laderaums entlangführte. Joachim Breslaw saß mit dem Rücken zur Fahrerkabine, und die Lehne seines Rollstuhls schabte bei den Bewegungen des Wagens leicht gegen die Metallwand.

«Jetzt werden wir uns mit Mevrad treffen», erklärte er.

«Gut», sagte Box.

Es war merkwürdig, das aus seinem Mund zu hören, aber Chess wusste genau, was er meinte. Der Gedanke, Ethel wiederzusehen, hob die gedrückte Stimmung, die schwer auf ihr gelastet hatte, seit sie weggelaufen waren. Und es war besser, zurückzugehen und sich der Symmetrie zu stellen, die sie jagen würde, wohin auch immer sie flohen. Besser kämpfen als sich verstecken, behauptete Box immer.

Splinter schnaubte angewidert. «Auf welcher Seite stehst du eigentlich, Fliegenkopf?»

«Wir stehen alle auf derselben Seite, oder etwa nicht?», gab Box zurück, wuchtete seinen gedrungenen Körper nach hinten und hieb dabei Splinters knochige Schulter gegen eine Metallstrebe. Splinter fluchte wütend.

«Wir haben eine lange Fahrt vor uns», erklärte Joachim Breslaw. «Ihr solltet versuchen zu schlafen.»

«Wie soll man schlafen», grummelte Splinter, «wenn dieser Elefantenarsch sich so breit macht?»

Aber schließlich schliefen sie ein: Chess mit dem Kopf gegen das Rückfenster gelehnt, nicht darauf achtend, dass er immer wieder leicht gegen die Glasscheibe prallte, Splinter, der neben ihr hin und her schwankte, und Box, der in den höchsten Tönen schnarchte. Nur Joachim Breslaw blieb wach. Seine Augen schimmerten im Glanz der Straßenlaternen.

Als Chess’ Kopf schließlich heftig gegen die Fensterscheibe schlug und sie gleichzeitig ein lautes Aufplatschen hörte, weil der Lieferwagen durch eine tiefe Pfütze fuhr, öffnete sie die Augen. Die Stadt mit all ihren Autos, Menschen und Hochhäusern war verschwunden. Es war Tag, und der Lieferwagen kämpfte sich über einen unbefestigten Feldweg, gesäumt von Hecken und gekrönt von Baumkronen, in denen schwer der Regen der letzten Nacht hing.

«Wir sind auf dem Land», sagte sie.

«Ich weiß», erwiderte Splinter. Es klang, als würde es sich nicht um einen Ort, sondern um eine Krankheit handeln.

Alles war so grün und braun, durchschnitten von den dunklen, nassen Baumstämmen. Beim letzten Mal, als Chess der Stadt den Rücken gekehrt hatte, waren sie und ihre Brüder auf dem Flugplatz gewesen und hatten zugesehen, wie der Schlingschlund die von der Verbogenen Symmetrie gestohlenen Kinder aufgesaugt hatte. Es waren Tausende von Kindern gewesen, darunter auch die Kanalratten aus der Bande ihrer Brüder. Die Erinnerung an die Schreie durchstach ihre Brust und sie schloss die Augen. Sie öffneten sich wieder, als der Lieferwagen über ein weiteres Schlagloch holperte.

Davor war Chess nur wenige Male auf dem Land gewesen – nur dann, wenn sie versehentlich den falschen Bus erwischt hatte. Und ganz früher? In ihrem Kopf war ein verschwommenes Bild, voller Sonnenlicht und Laub und dem Geruch nach frisch geschnittenem Gras und einer Stimme, die sang. Die Stimme ihrer Mutter. Sie lächelte und fing an zu summen.

«Du singst immer bloß dieses dämliche Lied», beschwerte sich Splinter.

«Nicht immer», versetzte Chess. «Außerdem habe ich nicht gesungen, sondern gesummt.» Sie verstummte kurz. «Und außerdem hat Mum es immer gesungen, also müsstest du es eigentlich mögen.»

«Unsere Mum hat nie gesungen.» Splinter streckte die dünnen Beine aus, die in schwarzen Hosen steckten, und betrachtete seine schmutzigen Zehen. «Unsere Mum hat uns einfach weggeworfen.»

«Du kannst dich bloß nicht daran erinnern», sagte Chess. Dann keuchte sie auf, als Splinters Ellbogen sie in die Rippen stieß. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schaute aus dem Rückfenster, damit Splinter es nicht bemerkte.

Schotter spritzte auf, als der Lieferwagen dröhnend an einem mit Flechten gesprenkelten Schild vorbei in ein kleines Dorf einfuhr.

«Lo… Lo… irgendwas», murmelte Chess, die Mühe hatte, den Namen auf dem Schild zu lesen. Im Lesen war sie nicht besonders gut. Sie war der Meinung, es läge daran, dass es ihr niemand beigebracht hatte, aber Splinter behauptete, sie sei einfach nur dumm.

«Lolum», sagte Joachim Breslaw. «Das Lager liegt auf der anderen Seite des Dorfs.»

«Was für ein Lager?», fragte Box und ging schwankend zur Hecktür des Lieferwagens, wo sich die einzigen Fenster befanden. Der Wagen bog von der Straße ab und fuhr durch ein offenes Tor auf ein Feld hinaus. Box prallte mit dem Schädel gegen das Wagendach. Stöhnend rieb er sich den Hinterkopf.

«Ein Pfadfinderlager!», höhnte Splinter, der das Gesicht an die Fensterscheibe drückte. Er überblickte die Reihen von kleinen orangefarbenen Zelten und die Gestalten in hellbraunen Hosen und sauberen Hemden, die in den Zelteingängen saßen und sich um kleine Feuer versammelten und Tee tranken. Er drehte sich um und warf Joachim Breslaw einen abfälligen Blick zu. «Pfadfinder! Das Komitee meint es diesmal wohl wirklich ernst, Professor.»

Der Lieferwagen kam abrupt zum Stehen, und Splinter taumelte auf den Professor zu, der sein Bein ausstreckte und so Splinters Sturz verhinderte. «Vorsichtig, Junge», sagte er. «Jetzt seid so gut und helft Eric mit der Rampe.»

Die Hecktür ging auf und Box und Splinter sprangen aus dem Wagen. Sie versanken knöcheltief in schlammigem Gras.

«Es ist kalt», keuchte Chess, als sie ebenfalls hinauskletterte. Aber es fühlte sich gut an, in dem glitschigen Morast mit den Zehen zu wackeln.

Als die Rampe angelegt war, rollte Professor Breslaw aus dem Wagen, doch ehe er den Boden erreichte, hielt er an und drückte einen Knopf an der Armlehne seines Rollstuhls. Das Gestell des Stuhls erzitterte, und dann schoben sich klappernd rechts und links Raupenketten aus dem Rahmen. Der Professor fuhr weiter und hielt nur kurz an, um mit einem mitleidigen Kopfschütteln die nackten Knöchel der Tuesdays zu betrachten. Die Füße waren nicht zu sehen. «Folgt mir», sagte er schließlich.

Chess schaute sich blinzelnd um. Über den Himmel breitete sich eine flache weiße Wolkendecke aus und tauchte die Landschaft in bleiche Helligkeit. Entlang einer Seite des Lagers erstreckte sich eine Hecke, hinter der die Straße lag. Auf der anderen Seite stieg das Feld steil an, bis es zu einem Hügel wurde. Auf der Kuppe stand ein Kreis aus Bäumen, unbelaubt und spindeldürr, wie schwarze Skelette. Chess beschattete ihre Augen mit der Hand und schaute zu ihnen hoch. Sie erschauerte.

An den Reihen orangefarbener Zelte vorbei gingen sie zu einem größeren Pavillon aus schmutzig weißem Zelttuch, der ein wenig abseits stand. Neben dem Eingang war ein hölzerner Fahnenmast errichtet worden, an dessen Spitze ein Banner flatterte, das ein Wollknäuel und darunter zwei Stricknadeln zeigte.

Chess sog den Geruch von feuchter Leinwand ein, vermischt mit dem Aroma des schlammigen Grases und den Rauchschwaden der kleinen Lagerfeuer. Sie spürte, dass die Pfadfinder sie beobachteten, und schaute zu Boden. Box dagegen blickte sich eifrig um.

«Diese Pfadfinder sehen aber komisch aus», verkündete er. «Der da drüben raucht eine Zigarette.» Er blieb stehen und deutete auf eine Gestalt neben dem Tor, durch das sie gekommen waren.

Jetzt, da Box es aussprach, erkannte Chess, dass die Pfadfinder ungewöhnlich alt aussahen – für Pfadfinder. Und hagerer. Und härter. Und alle hatten sie frische Wunden. Einige von ihnen trugen Narben auf Gesicht und Armen.

«Und die da», sagte Splinter und nickte zu einer Frau, die vor der Öffnung des nächsten Zelts kniete, «reinigt ein Maschinengewehr.»

Sie blieben stehen und schauten. Die Waffe war auseinandergenommen worden und die Einzelteile lagen auf einer Matte im Zelt. Die Frau hielt ein weiteres Teil in der Hand und säuberte es mit geübten Bewegungen. Auf ihren Unterarmen wölbten sich Muskelknoten, und auf einem davon erkannten die Tuesdays eine Tätowierung: ein grauer Stern auf einem purpurroten Grund – das Erkennungszeichen des Gemeinnützigen Einsatzkommandos. Die Frau schaute Box an, nur ihn, und nickte ihm zu. Er erwiderte den Gruß.

Box sagte nichts, aber Splinter spürte die tiefe Befriedigung seines Bruders angesichts der Tatsache, dass er von einem GEK-Agenten erkannt worden war. Die Nachricht von ihrer erfolgreichen Mission, bei der sie sich in die Höhle des Löwen – das alte Gefängnis am Fluss – gewagt und eine Scheibe des Computergehirns gestohlen hatten, hatte sich wohl herumgesprochen. «Glaub bloß nicht, dass du einer von ihnen bist, Fliegenkopf», murmelte Splinter. «Die sind nur froh, dass jemand dumm genug ist, um freiwillig sein Leben zu riskieren. Dann müssen sie es nämlich nicht tun.»

Aber mittlerweile spähte Box schon in eins der Kanus, die auf einem Anhänger hinter einem Geländewagen lagen. «Das ist ja voller Metall.» Seine Stimme hallte in dem Plastikgehäuse. Dann schrie er: «Das ist eine Rakete!»

«Es ist ein Abschusssystem», erklärte Joachim Breslaw. «Ein guter Pfadfinder muss auf alles vorbereitet sein.»

«Auf was zum Beispiel?», hauchte Box.

«In diesem Fall sowohl auf eine Bodenoffensive als auch auf einen Luftangriff. Man weiß nie, welche Taktik der Feind als Nächstes anwendet. Wir müssen das Unmögliche erwarten.» Professor Breslaw kicherte, und Splinter war sich nicht sicher, ob der Professor blinzelte oder ihm zuzwinkerte. Bei einem Mann mit nur einem Auge war das schwer zu sagen. «Keine gewöhnlichen Pfadfinder, Splinter. Das GEK ist seit einer Woche hier, undercover versteht sich, um die Gegend zu sichern.»

«Wofür?» Splinter rührte sich nicht, obwohl Professor Breslaw auf das weiße Zelt zufuhr.

«Für eure Abreise», ertönte die Antwort, und dann schlug ein Mann in der Uniform eines Pfadfinders, aber mit einem Schulterhalfter und einem kleinen Metallgitter in der Kehle die Zeltplane am Eingang zurück, damit der Professor hineinfahren konnte.

Box ging seinen Geschwistern voraus auf das Zelt zu, aber ehe er eintrat, blieb er stehen und betrachtete den Hals des Mannes.

«Das ist eine Kehlkieme», erklärte der GEK-Agent mit einer Stimme, die quietschte wie ein Messer, das über Draht gezogen wird. «Vor zwei Jahren wurde mir die Kehle rausgeschossen, aber mit dem Ding da kann ich atmen und sprechen.» Er klopfte sich gegen das schwarzsilberne Gitter. «Manchmal juckt es zum Verrücktwerden.»

«Willkommen im Team, Fliegenkopf», sagte Splinter sanft und schob Box vor sich her in das Zelt.

Im Inneren war es heiß und die Wände schimmerten leicht grün von dem Gras draußen. Es gab ein niedriges Feldbett, einen Klapptisch, auf dem eine kleine Messingglocke und ein offenes Paket mit Garibaldi-Keksen lagen, und auf dem Boden an der Zeltwand dem Eingang gegenüber stand auf einer quadratischen Spanplatte ein kleines hölzernes Schmuckkästchen.

Keiner fragte, wo Ethel war. Sie standen nur da und starrten das Kästchen an. Chess wusste nicht, wie lange sie gewartet hatten, aber plötzlich wackelte der Deckel. Sie zuckte zurück. Der Deckel bewegte sich wieder, und dann klappte er auf, schlug mit einem Knall auf die Spanplatte. Nebel strömte aus der Öffnung und wirbelte über den Boden, begleitet von einem silbrig gelben Leuchten.

Splinter beugte sich vor, als Schattenstreifen durch das Licht zogen. Eine Hand schob sich aus dem Kästchen. Chess, Box und Splinter machten einen Schritt rückwärts. Der Hand folgte ein hageres Handgelenk, an dem ein schlaffhäutiger Unterarm hing. Dann landete die Hand mit einem Aufklatschen auf der Spanplatte. Der Unterarm streckte sich, und aus dem Kästchen kam eine Schulter, dann ein zerzauster grauer Haarschopf und eine Brille, deren Gläser in dem Licht gelblich schimmerten.

Chess achtete sorgsam darauf, dass sie Splinter nicht merken ließ, wie sehr sie sich freute, Ethel zu sehen.

Sie fand, dass es sehr merkwürdig aussah, wie Ethels Kopf und ihr Nacken aus dem winzigen Kästchen ragten, während der Rest von ihr unsichtbar blieb. Aber sie hatte gelernt, dass es im Universum mehr Raum gab als der, den sie sehen konnte. Die Dinge waren nicht immer das, wonach sie aussahen. Das Kästchen war kein Kästchen, sondern ein tragbarer Vortex, und jenseits der kleinen Öffnung waberte das endlose Nichts des Wirbels.

Ethel blinzelte langsam. Ihre Augen wirkten hinter den Brillengläsern stark vergrößert. Sie sagte: «Wenn ich meinen Kopf durch den Vortex stecke, komme ich mir jedes Mal vor wie ein Golfball.»

«Und ich hätte nicht wenig Lust, den Schläger zu schwingen», murmelte Splinter.

Die Brille rutschte Ethel auf die Spitze ihrer kleinen Nase. «Dieselben durchlöcherten Klamotten. Und Splinter und Chess, die Ärmsten, dünner denn je. Aber ich freue mich, dass wenigstens du gut im Futter stehst, Box.»

«Was eine höfliche Umschreibung für die Tatsache ist, dass du immer noch ein Fettkloß bist, Fliegenkopf», ergänzte Splinter.

Mit einem gänzlich würdelosen Grunzen hievte sich Ethel aus dem tragbaren Vortex und klappte den Deckel mit einem Tritt ihres Fußes, der in einer Plastiksandale steckte, zu. Sie rappelte sich taumelnd auf, zog sich den pinkfarbenen Rocksaum über die knochigen Knie und spuckte sich auf die Finger, um sich einen Fleck vom Revers zu wischen. Dann rückte sie ihre Brille zurecht, ging zu dem Klapptisch, läutete mit der kleinen Messingglocke und strahlte die Tuesdays an.

«Ist das nicht wunderbar, dass wir alle wieder beisammen sind?»

«Nein», sagte Splinter.

Ethel ließ eine kleine Kugel auf den Tisch rollen, stellte die Glocke ab und griff nach der Kekspackung. «Möchte jemand einen Keks?»

«Ja, gerne», sagte Box.

Splinter wusste, dass die kleine Kugel in Wirklichkeit ein Tesseract war, mit dem man sich im Wirbel zurechtfinden konnte. Er dachte daran, wie sein Handgelenk von dem Steckverschluss gepackt worden war, als er in den tragbaren Vortex hineingegriffen hatte. Das war Monate her, aber trotzdem rieb er sich unwillkürlich das Gelenk. Ethel hatte ihn mit einem Passwort befreit, einem Passwort, mit dem man den Steckverschluss kontrollieren und ungehindert den Wirbel betreten konnte. Ein Passwort, das sie ihm nicht anvertrauen wollte, weil sie niemandem vertraute.

«Was wollen Sie?», verlangte er zu wissen, während er immer noch sein Handgelenk rieb.

«Danke, Eric», sagte Ethel zu dem Fahrer des Lieferwagens, der ihr eine Tasse Tee brachte.

«Was wollen Sie?», wiederholte Splinter.

«Das Komitee braucht euch.»

«Warum?»

Ethel schlürfte ihren Tee. «Die Zeit läuft uns davon, meine Lieben, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Zeitzyklus nähert sich der letzten Phase, dem fünften Knoten.»

«Hört sich kompliziert an.» Box kratzte sich erst am Kopf und dann am Hintern.

«Er sucht nach seinem Gehirn», erklärte Splinter.

«Die Zeit ist eine Spirale.» Professor Breslaw malte mit einem dicken rosigen Finger eine Spirale in die Luft, wobei die Kabel und Schläuche an seinem Körper leicht zitterten. «Sie wiederholt sich ständig, allerdings mit kleinen Veränderungen. Das ist der Grund, warum sie sich vorwärts bewegt. Ohne die Veränderungen wäre sie in einem Kreis gefangen. Jede Windung der Spirale, jeder Zeitzyklus hat fünf Knoten. Das sind die Momente, in denen die Zeit mutiert und die Veränderungen stattfinden. Und am fünften Knoten ist die Mutation am gewaltigsten. Am fünften Knoten ist die Zeitspirale für Veränderungen am empfänglichsten.»

Ethel, immer noch mit der Teetasse vor ihrer Nase, richtete ihre beschlagenen Brillengläser auf Splinter. «Auf diesen Moment hat die Verbogene Symmetrie gewartet. Auf diesen Moment haben die Inquisitoren hingearbeitet.»

«Na und?» Splinter schienen diese epischen Ereignisse völlig kalt zu lassen.

Mit einem lauten Knirschen biss Ethel in ihren Keks. «Und wir brauchen euch, um Aufklärung zu betreiben, um Informationen zu sammeln, um zu erfahren, was der Feind vorhat. Damit wir entscheiden können, wie wir ihn am besten bekämpfen.»

Sie stellte die Teetasse ab und verschränkte die Hände hinter dem Rücken wie ein kleiner General. «Mithilfe der Scheibe des Zerebraltorus, die ihr beschafft habt, hat Lemuel unseren eigenen universellen Quantencomputer gebaut.»

«Wo ist Lemuel?», fragte Chess.

«Nicht hier, Herzchen. Er ist seit ein paar Wochen nicht sonderlich freundlich gestimmt.»

«Weil Sie dachten, er sei ein Verräter?», vermutete Splinter.

«Ja, mein Lieber. Die Verbogene Symmetrie hält tausend qualvolle Todesarten für ihn bereit, weil er zum Komitee übergelaufen ist. Indem er uns hilft, macht er sich zum Erzfeind der Inquisitoren und muss mit dem Schlimmsten rechnen, wenn er ihnen in die Hände fällt. Er ist der Meinung, dass ich es ihm nicht allzu gut vergolten habe.» Ethel zupfte ein Häutchen von ihrem kleinen Finger und zuckte zusammen. «Ich habe einen Fehler begangen, obwohl es unter den gegebenen Umständen ein notwendiger Fehler war.»

«Ich verstehe nicht, warum sie sich mit jemandem abgeben, der sich das Gehirn anbohren muss, um Gutes zu tun», sagte Splinter.

«Ich gebe mich mit vielen Leuten ab, die nicht einmal das zustande bringen, mein Lieber. Wenigstens tut Lemuel Sprazkin alles in seiner Macht Stehende, um gut zu sein.» Ethel zögerte lange genug, um in allen ein Gefühl des Unbehagens heraufzubeschwören. Dann fuhr sie fort: «Wie auch immer, unser neuer Computer befähigt uns vorauszusagen, wo und wann der Schlingschlund zuschlagen wird. Der Feind benutzt den Saugwurm immer noch, um Kinder aus dieser Welt zu stehlen und Gott weiß wohin zu transportieren, und noch dazu in größerer Zahl als bisher.» Ethel leckte sich über die faltigen Lippen. «Ihr müsst durch den Schlingschlund reisen, herausfinden, was am anderen Ende mit den Kindern passiert, und dann wieder zurückkommen und uns Bericht erstatten.»

«Nein, nein, nein, nein und nein», erklärte Splinter.

«Das sind aber viele Neins auf einmal, mein Lieber, und dabei seid ihr bloß zu dritt.»

«Was, wenn wir nicht helfen wollen?»

Ethel deutete auf die Zeltöffnung. «Ihr könnt gehen, meine Lieben. Wir haben euch auch das letzte Mal nicht zurückgehalten. Und wir werden euch auch diesmal gehen lassen. Ich möchte euch nur eine Chance geben.»

«Eine Chance wofür?»

«Zu helfen, Splinter. Eine Chance, zu helfen.»

«Du redest doch ständig von Chancen und Gelegenheiten, Splinter», sagte Box. «Und wir haben ja im Moment sowieso nichts Besseres vor.»

Splinter explodierte. «Das ist kein Spiel! Das Komitee ist einfach erbärmlich. Die Verbogene Symmetrie wird sie in die Knie zwingen. Kapierst du das nicht, du Blödmann? Das ist ihr Problem. Wir sollten uns da raushalten.»

«Deine Fähigkeit, dich zu irren, ist erschreckend, mein Lieber», sagte Ethel.

«Das einzig Erschreckende an der Sache ist, durch ein kosmisches Abflussrohr gesaugt zu werden und direkt im Schoß derjenigen zu landen, die Sie ‹Feinde› nennen», gab Splinter zurück.

«Aha», sagte Ethel, «das ist also das Einzige, wovor du Angst hast, oder?»

«Nein.» Splinter schluckte und versuchte, seinen Zorn im Zaum zu halten. «Das hat nichts mit Angst zu tun. Ich stehe nur nicht gern auf Seiten der Verlierer.»

Niemand sagte etwas. Chess fummelte an dem ausgefransten Ärmelsaum ihres Pullovers herum. Welche Meinung Splinter auch haben mochte, sie war jedenfalls froh, wieder bei Ethel zu sein, ihre Stimme zu hören, ihre Nähe zu fühlen. Und genau aus diesem Grund wollte sie auch nicht mehr von ihr weg. Sie wollte der Verbogenen Symmetrie nicht mehr nahe kommen. Die Bezeichnung «Inquisitoren» verursachte ihr Übelkeit, obwohl sie nicht genau wusste, was das war.

«Müssen wir das tun?», fragte sie.

Ethel lächelte. «Willst du die Wahrheit hören?»

«Ich hasse es, wenn sie so etwas sagt», murmelte Box.

«Ja», sagte Chess, «die Wahrheit.»

«Die Wahrheit ist, dass ihr das tun müsst; ihr müsst es tun, damit wir eine Umwälzung verhindern können, die gewaltiger ist als alles, was ihr euch vorstellen könnt.» Ethel wandte sich wieder ihrem Tee zu.

«Also haben wir gar keine andere Wahl», erklärte Splinter.

Ethel rümpfte die Nase beim Geschmack des kalten Tees. «Falsch, Splinter. Ihr habt immer die Wahl. Aber die richtige Entscheidung ist nicht immer die angenehmste. Ich bitte euch, die richtige Entscheidung zu treffen. Auf der richtigen Seite zu stehen.» Sie stippte ihren Stummelfinger in das laue Getränk.

«Wir könnten den anderen helfen», warf Box ein.

«Welchen anderen?»

«Von der Bande, Splinter. Unserer Bande, vom Kai. Denen, die vom Schlingschlund aufgesaugt wurden. Schon vergessen?»

Splinter grunzte. «Versuch nicht, mich mit so was wie Treuegefühl weichzukriegen, Fliegenkopf.»

Ethel durchbohrte Splinter mit Augen, die von roten Äderchen durchzogen waren. «Ich glaube, es ist kein Kunststück, dich weichzukriegen, Splinter, aber für Treue hast du wohl kaum eine Schwäche.»

Chess wusste, dass sie noch weniger eine Wahl hatte als die anderen. Die Verbogene Symmetrie wollte sie haben, und allein aufgrund ihrer Existenz war sie ein Teil dieser Ereignisse. Sie wusste nicht, warum die Symmetrie so versessen auf sie war, warum irgendjemand sie haben wollte; sie war eine Kanalratte, wertlos, sogar namenlos, sah man von dem Namen ab, den man ihr im Waisenhaus verpasst hatte. Aber dem Komitee zu helfen, bedeutete, das Richtige zu tun. Und vielleicht war es richtig, ein Teil des Ganzen zu sein; vielleicht war es ihre Bestimmung. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

«Ich mache es», verkündete sie.

«Ach du lieber Himmel», murmelte Splinter.

«Ich auch», ließ sich Box vernehmen, und dann: «Kann ich noch einen Keks haben?»

«Bedien dich», sagte Ethel. Dann fragte sie Eric, der schweigend am Klapptisch gelehnt hatte: «Ist PLAN B schon angekommen?»

«Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, noch nicht.» Er seufzte müde. «Ich kann noch mal nachsehen, wenn Sie wollen.» Er stieß sich vom Tisch ab, als ob man ihn gebeten hätte, einen Berg zu ersteigen, und verließ das Zelt. Die Maschinenpistole schwang leicht an seiner Hüfte vor und zurück.

«Splinter?»

Splinters Mund war ein verkrampfter Strich, und seine Kiefermuskeln arbeiteten, während er Ethels kühlen Blick auf sich spürte. Dann sagte er langsam und überlegt: «Ich habe keine Wahl, also tue ich auch nicht so, als ob ich eine hätte. Und die zwei hier würden ohne mich keine Stunde lang überleben.» Er funkelte Ethel an. «Das hat nichts damit zu tun, dass ich auf der richtigen Seite stehen will, wie Sie es nennen.»

Ethel klatschte in die Hände. «Gut. Dann sind wir im Geschäft.»

«Und was jetzt?», fragte Box, den Mund voller Kekskrümel.

«Ihr braucht ein paar Sachen», erklärte Ethel als Antwort. Sie merkte, dass Splinter sich im Zelt umschaute. Er sah, dass sie ihn beobachtete und lächelte, zog die Streichholzschachtel aus der Manteltasche und fing an, sie in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Ethel nickte wissend und sagte: «Den VOPA bitte, Professor.»

Joachim Breslaw holte eine braune Papiertüte aus der Seitentasche seines Rollstuhls. Ethel nahm sie entgegen, drehte sie um und fing eine Armbanduhr auf, die herausfiel. Sie nahm Chess’ linken Arm und befestigte sie um ihr Handgelenk. «Das sieht aus wie eine Armbanduhr, Liebes, aber das ist es nicht. Man nennt es VOPA.»

«VOPA?», wiederholte Chess fragend.

«Ein Vortikaler Pulsalarm.» Ethel wies auf zwei winzige Metallknöpfe zu beiden Seiten des Zifferblatts. «Wenn du diese beiden Knöpfe gleichzeitig drückst, dann wird ein Alarmsignal ausgesendet, in welcher Welt auch immer du dich gerade befindest. Sobald du das tust, wirst du von dort, wo du bist, weggeholt und in das nächste sichere Hauptquartier des Komitees gebracht. Das übernimmt ein sogenanntes Greifer-Team. Das Komitee hat ständig VOPA-Greifer-Teams in Alarmbereitschaft, und sie können jederzeit losgeschickt werden. Sobald das VOPA-Signal aufgefangen wird, kann man den Zielort lokalisieren, und schon ist das Team unterwegs. Das Greifer-Team ist sehr schnell und schwer bewaffnet, und die Team-Mitglieder sind nicht immer menschlich, also lasst euch von ihrem Aussehen nicht irritieren, meine Lieben.

Benutzt den VOPA nur dann, wenn ihr zurückkommen wollt, und denkt dran: Wer immer euch berührt, wird ebenfalls gerettet. Also sorgt dafür, dass ihr Körperkontakt habt, wenn die Knöpfe gedrückt werden. Ihr habt nur einen einzigen Versuch.»

«Wenn wir herausgefunden haben, was am anderen Ende des Schlingschlunds passiert, muss Chess also die Knöpfe drücken und wir können heimkommen?», versicherte sich Box.

«So ist es», sagte Ethel.

Die Plane über der Zeltöffnung wurde klatschend zurückgeschlagen und Eric streckte den Kopf herein. «PLAN B ist eingetroffen, Ethel.» Draußen war Motorengebrumm zu hören.

«Kommt mit», sagte Ethel. «Wir dürfen keine Zeit verlieren.» Sie marschierte durch das Zelt und hinaus, gefolgt von den Tuesdays. Joachim Breslaw bildete den Schluss.

Ein Taxi war vorgefahren. Die Räder waren schlammbespritzt. Splinter klopfte seinen Frack ab und sagte dann: «Meine Streichhölzer. Ich habe die Streichholzschachtel fallen gelassen.»

«Na, dann geh und hol sie», sagte Ethel. Splinter huschte ins Zelt zurück, war aber gleich wieder da. Als er wieder herauskam, hatte er die Streichholzschachtel in der Hand und ein scheues Lächeln auf den Lippen. «Entschuldigung.»

Eric ging zum Kofferraum des Taxis und öffnete die Klappe. Chess, Box und Splinter traten zu ihm und schauten hinein. Im Kofferraum lag ein großer granitfarbener Koffer. Auf der Seite stand PLAN B in fetten schwarzen, altmodischen Buchstaben.

«Box, du nimmst den Koffer», befahl Ethel. «Dynamit, und zwar eine Menge, und dazu noch die Zünder. Genau deine Kragenweite, mein Lieber. Eine Vorsichtsmaßnahme für den Notfall, falls ein Notfall eintreten sollte. Die Gebrauchsanweisung liegt im Koffer.»

Box näherte sich ehrfürchtig dem Heck des Taxis. Zu Ethel gewandt, hauchte er: «Sie vertrauen uns also tatsächlich?»

«Nicht ganz, mein Lieber. Ich würde euch nicht weiter vertrauen, als ich spucken kann, aber ich habe großes Vertrauen in eure Fähigkeit, Verwüstungen anzurichten.» Sie tätschelte den Koffer. «Ich sage immer: Es spielt keine Rolle, wohin man geht, sondern nur, was man im Gepäck hat.»

«Was bekomme ich?», fragte Splinter.

«Du hast doch schon etwas, mein Lieber.»

Splinter errötete und schwieg.

«Wohin gehen wir?», fragte Chess. «Und wann?»

Noch ehe Ethel sich umdrehte und den Hügel hinaufblickte, wo der Kreis aus schwarzen Baumskeletten stand, legte sich ein Gewicht auf Chess’ Brust. Sie ahnte die Antwort. «Dorthin müsst ihr, meine Lieben», sagte Ethel. «Der Schlingschlund ist im Anmarsch und er hungert nach Kindern.»

Chess war sich nicht sicher, ob sie es sich bloß einbildete, aber bereits jetzt schien sich die weiße Decke des Himmels oberhalb der Baumkronen zu kräuseln und zu verdunkeln, genau wie damals, als der Saugwurm über dem Flugplatz erschienen war. Aufruhr. Angstvolle Schreie. Kindliche Körper, die durch die Luft wirbeln. Sie schloss die Augen, und alles verschwand.

In der Nähe klapperten Zeltstangen. Leinwand rauschte. «Die Truppen brechen das Lager ab.» Ethel rieb sich die rosigen, faltigen Hände. «Es ist nicht ratsam, die Zelte stehen zu lassen, wenn es anfängt zu stürmen. Uns bleiben noch zwanzig Minuten, meine Lieben.»

«So schnell?» Chess war überrascht. Ein kühler Wind bürstete das nasse Gras und prickelte auf ihrer Haut.

Professor Breslaw zauberte aus den Untiefen seines bunt gescheckten Mantels eine goldene Taschenuhr hervor und sagte: «Neunzehn Minuten, um genau zu sein, Mevrad.»

Chess fing den fragenden Blick auf, den er Ethel zuwarf. Ethel sagte: «So muss es geschehen, Joachim. Das ist der nächste Zug. Es gibt keine Alternative.»

Der Professor kräuselte die Lippen, sagte aber nichts.

«Weiß die Verbogene Symmetrie auch über diesen Plan Bescheid?» Splinter schaute von Ethel zu Joachim.

«Nein, mein Lieber. Sie können nicht wissen, dass wir in der Lage sind, die Bewegungen des Saugwurms zu berechnen, und auch nicht, dass wir ausgerechnet diesen Saugwurm für unsere Zwecke benutzen. Sie haben keine Ahnung von eurem Kommen.»

«Tatsächlich?», schnaubte Splinter. «So wie beim letzten Mal?»

«Was letztes Mal geschah, war völlig unvorhersehbar.»

«Genau», beharrte Splinter. «Das ist es ja, was mir Sorgen macht.»

«Na, kommt schon», sagte Box. «Bringen wir’s hinter uns.» Er hievte den Koffer aus dem Taxi und ging auf den Hügel zu, Splinter an seiner Seite. Aber Ethel wies sie an, zu warten. Beide drehten sich um. Splinter runzelte ungeduldig die Stirn. Box hatte den Kopf schräg gelegt.

«Denkt dran», sagte Ethel. «Die Verbogene Symmetrie hat viele Gefolgsleute und unzählige Tricks auf Lager.» Ihre Stimme klang drängend. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. «Vertraut niemandem. Wirklich niemandem.» Box und Splinter nickten und gingen weiter in Richtung Hügel.

Chess fühlte das Gewicht von Ethels Hand auf ihrem Hinterkopf. Sanft strich die Hand durch ihr Haar. In der Berührung lag eine Zärtlichkeit, aber sie wusste, dass diese Zärtlichkeit nicht davor zurückschreckte, sie in die Fänge des Feindes zu schicken – eines Feindes, der sie haben wollte, weil sie eine Waffe beherrschen konnte, die man «die Ewige» nannte. So viel hatte Ethel ihr verraten.

«Als wir uns das erste Mal begegneten, in der ersten Nacht», sagte Chess, «da sagten Sie, dass all dies schon früher geschehen ist.»

«Ja, Liebes, aber damals dachte ich, du würdest schlafen», murmelte Ethel.

«Ist es wahr?» Chess drehte den Kopf und schaute Ethel an. «Ist es schon früher geschehen?»

«Irgendwie schon.»

«Bin ich zurückgekommen?»

Ethel seufzte und blinzelte. «Manchmal ja, manchmal nicht.»

«Ich verstehe das alles nicht», erklärte Chess. Ethel hatte die Angewohnheit, in Rätseln zu sprechen, besonders wenn es um etwas Wichtiges ging.

«Du weißt ja auch nicht, wie viele verschiedene Welten es gibt.»

Chess dachte darüber nach, während der Wind gegen ihren ausgeleierten Pullover schlug und ihr Haar durchpeitschte. «Passieren in allen Welten dieselben Dinge?»

«Ja, aber auf verschiedene Weise.»

«Komm schon, Chess!» Box’ Stimme wurde vom Schlamm verschluckt, von dem Hügel, den Bäumen und dem Wind.

«Bleibt irgendetwas, wie es war?», fragte Chess.

«Vertraue niemandem, Liebes. Das bleibt immer gleich. Vertraue niemandem.»

«Außer Ihnen.»

Ethel lächelte und tätschelte Chess den Arm. «Richtig, Herzchen. Außer mir.»

Chess machte die ersten Schritte, und während sie das tat, merkte sie, wie ihre Kraft wuchs.

«Viel Glück!», rief Ethel.

«Danke», sagte Chess, ohne sich umzublicken.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Hügel erklommen hatte. Barfuß patschte sie durch Morast und Gras. Oben angekommen, sah sie, dass Box den Koffer am Rand der Bäume auf dem Boden abgestellt und sich darauf gesetzt hatte. Splinter saß neben ihm. Chess gesellte sich zu ihnen.

Unter ihnen erstreckten sich Felder und Wälder, kreuz und quer durchschnitten von schmalen Pfaden und Wegen. Eins nach dem anderen verschwanden die Zelte des Lagers, wie kleine Quadrate, die man ausradierte, und wurden in Anhängern verladen. Winzige Figuren kletterten in die Geländewagen, die vor den Anhängern standen. Das GEK zog sich zurück. Nur das Zelt mit dem Fahnenmast davor blieb stehen, aber Chess konnte Ethel nicht sehen.

Hinter ihnen knarrten die Bäume in dem auffrischenden Wind. Chess schaute auf und sah einen brodelnden Himmel, sah Fetzen aus eisengrauen Wolken, die aus allen Richtungen heranjagten. Sie zog den Kopf ein.

«Was machen wir jetzt?», fragte Box.

«Wir warten, dass wir vom Schlingschlund geklaut werden, nehme ich an», sagte Splinter.

«Normalerweise sind wir diejenigen, die Sachen klauen», bemerkte Box. «Komisch, dass es mal umgekehrt ist.»

«Ja, wirklich zum Brüllen», sagte Splinter und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er zog das Revers seines Fracks eng über seiner hageren Brust zusammen, als der Wind mit einem lauten Stöhnen durch die Zweige fuhr.

Abrupt stand Box auf und schrie: «Hallo! Schlingschlund! Wo bleibst du?» Seine Stimme wurden vom Sturm verschluckt. «Hallo! Putt-putt-putt, Schlingschlund! Leckere, saftige Kinder. Komm und hol sie dir!»

«Setz dich hin, Fliegenkopf, und halt die Klappe», murmelte Splinter. Das weiße Haar tanzte um sein scharfkantiges, knochiges Gesicht. Der Wind brauste über den Hügel.

«Denkt ihr, es wird wehtun?», fragte Chess Splinter. Ein Mund voll Luft erstickte ihre Worte fast.

«Du weißt doch, was beim letzten Mal passiert ist.»

Beim letzten Mal. Chess wollte nicht an das letzte Mal denken: an die schreienden Kinder, an den Himmel, der aufgerissen war und die Erde verschluckte. Aber sie konnte nicht anders, denn es geschah wieder, hier und jetzt. Der Zyklon zerschlug ihr das Gesicht, riss an ihren Haaren, stieß sie rückwärts. Sie versuchte, sich an dem Koffer festzuhalten, aber mit einem Gebrüll, das an einen tosenden Ozean erinnerte, kam ihr der Wind entgegen und schleuderte sie zu Boden.

Zweige und Laub fuhren durch ihre zupackenden Finger. Chess wurde in Richtung der Bäume gezogen. Sich drehend wie ein Korkenzieher, rutschte sie über die raue Erde. Ihre Fingernägel splitterten an kantigen Steinen, und Erdkrumen verklebten ihr Augen und Nase. Sie konnte nicht mehr atmen. Sie ertrank in der Luft.

Chess prallte gegen einen Setzling und klammerte sich daran. Box wurde an ihr vorbeigetrieben, immer noch den Koffer fest am Griff gepackt. Wo Splinter war, konnte sie nicht sehen; sie konnte kaum noch die Augen öffnen. Aber sie sah genug. Sie machte den Mund auf und schrie.

Sie sah den Himmel zusammenbrechen, sah ein Maul aus kochenden schwarzen Wolken auf sie niederstürzen, sah, wie die Baumkronen geknickt wurden, und in der Mitte sah sie eine Scheibe aus gleißendem Weiß. Dann sah sie nichts mehr, aber sie fühlte, wie ihr der Setzling aus den Händen gerissen wurde, fühlte, wie sich die Erde von ihrem Körper löste, fühlte, wie ihre Lungen barsten und ihre Kehle brannte von einem Schreien, das sie nicht hören konnte.

KAPITEL 3

Chess drehte sich im Kreis. Erst rutschte ihr der Magen in die Kehle und dann unter die Knie. Ihre Ohren fühlten sich an, als würden sie platzen. Sie konnte nichts sehen. Sie wusste nicht, ob ihre Augen weit geöffnet oder fest geschlossen waren. Sie fuchtelte wild mit den Armen herum, aber da war nichts, was sie hätte berühren können. Sie bewegte sich, aber sie hätte nicht sagen können, ob vorwärts oder rückwärts.

Dann prallte ihr Körper gegen etwas Hartes – oder besser gesagt: etwas Hartes prallte gegen sie. Sie schüttelte den Kopf und hob ein Augenlid einen winzigen Spalt, aber das Licht war so hell, dass sie es dabei beließ und das andere Auge ganz geschlossen hielt. Selbst durch die Lider hindurch konnte sie einen orange-rosigen Schimmer sehen. Mit geschlossenen Augen versuchte sie herauszufinden, wo sie sich befand.

Ihre Wange lag auf Holz, ihr Körper ruhte augenscheinlich auf einem hölzernen Brett. Ihre Finger betasteten die raue Oberfläche, und sie spürte, dass sie mit unzähligen kleinen Körnchen bedeckt war. Sand.