The Bad Tuesdays: König ohnegleichen - Benjamin J. Myers - E-Book

The Bad Tuesdays: König ohnegleichen E-Book

Benjamin J. Myers

4,9

Beschreibung

Bis zu den Kristallpriestern der Verbogenen Symmetrie ist Splinter schon vorgedrungen. Aber das genügt ihm nicht: Er will König, er will Inquisitor werden. Rücksichtslosigkeit ohne Vorbehalte fordern die vier Inquisitoren.. Währenddessen plant Box seinen Ausbruch aus der Trainingsarena des Gefängnisplaneten PURG-CT483. Und Chess? Sie ist nicht völlig immun gegen die neuartigen Attacken der Verbogenen Symmetrie, die aus ihrem Innern kommen.

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Benjamin J. Myers

THE BADTUESDAYS:

KÖNIG OHNEGLEICHEN

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Für Betty und Bertha

KAPITEL 1

Das Mädchen hing mit ausgebreiteten Armen in der Luft, als hätte man sie ans Kreuz geschlagen. Vom Boden kräuselten sich zwei blaue Rauchsäulen empor, die an ihren Handgelenken endeten. Ihre Füße baumelten etwa einen Meter über dem gefliesten Boden. Das Kinn war auf ihre Brust gesunken und die silbrig gelben Locken fielen ihr übers Gesicht. Sie war elf Jahre alt. Sie war seit hundertachtundfünfzig Jahren elf Jahre alt, seit Julius sie gefunden hatte. Ihr Name war Samphire und sie war eine Blutwächterin.

Schritte knallten auf den Steinfliesen, und das Mädchen hob den Kopf und spähte in die riesige Bibliothek, die im Dämmerlicht lag. Die Sicherheitsbeleuchtung entlang der Wand war nicht heller als eine Reihe von Kerzen und ließ die Konturen der mächtigen Regale nur erahnen, die sich ringsum wie riesige Klippen auftürmten, fast bis zu dem hoch gelegenen Glasdach. Die Wände bestanden ebenfalls aus Glas, aus Panzerglas, aber heute Nacht war jenseits der Glasscheiben nichts als Dunkelheit, gespickt mit den unzähligen Lichtern der Stadt. Nicht einmal die Nachbartürme waren zu sehen. Wie eine Wand stürzte der Regen aus dem Himmel, klatschte auf das Dach und gegen die Metallstreben und die Glaswände. Hier oben, vierzig Stockwerke über den Straßen der Stadt, hätte Samphire genauso gut auf dem offenen Meer sein können.

«Ich hätte nicht erwartet, dass wir drei uns wiedersehen», sagte der Mann in dem cremefarbenen Regenmantel. Seine Schenkel waren auf gleicher Höhe wie Samphires Füße, aber er sprach nicht mit ihr. Er schaute sie nicht einmal an. Schultern und Rücken seines Regenmantels waren klatschnass. Wasser tropfte zu Boden und sammelte sich in einer Pfütze um seine schwarzen Lackschuhe. Er zog den Filzhut vom Kopf, schüttelte das Regenwasser davon ab und fuhr sich mit der Hand durch das feuchte, stahlgraue Haar.

«Wir drei?», wiederholte die Frau in dem scharlachroten Plastikmantel fragend, die aus den Schatten trat. «Du hast nicht erwähnt, dass Tethys auch kommen würde.»

«Oriana», gurrte Fenley Ravillious, Vorsitzender der CREX Corporation, des kriminellen Netzwerks der Verbogenen Symmetrie auf der Erde, und einer der zwölf Kristallpriester, die die mächtigsten menschlichen Verbündeten der Symmetrie waren. «Du dachtest doch nicht etwa, dass ich ohne meine Tochter kommen würde, oder?»

«Tochter?» Die Frau in dem roten Mantel trat näher. Ihre Pfennigabsätze hinterließen ein scharfes Klicken auf den Steinfliesen. Ihr braunes Haar war zu einem straffen Dutt zusammengebunden, die Haut über ihren hohen Wangenknochen war gerötet. Ihr Name war Dr. Oriana Lache. Sie war eine Managerin von CREX, die weltweit für ihre wohltätigen Projekte bewundert wurde. Aber auch sie gehörte zu den Kristallpriestern, ebenso wie Ravillious. «Dieses Monster, das du deine Tochter nennst, ist nicht einmal menschlich.»

«Sie entstammt mir, jedenfalls teilweise.» Fenley Ravillious ließ ein leichtes Lächeln über sein glattes, gebräuntes Gesicht huschen. «Das ist menschlich genug.» Er schaute zu Samphire empor, und die strahlend grünen Augen der Blutwächterin erwiderten ungerührt seinen Blick, trotz der Schmerzen in ihren Armen.

Fenley Ravillious zog die Nase hoch. «Es war gut, dass du mich benachrichtigt hast, Oriana.» Seine Stimme knisterte vor Selbstsicherheit und Kraft. «Mit den Attentätern des Komitees muss man sorgsam umgehen.» Er lächelte mitleidig zu der Blutwächterin hoch. «Sie werden es wohl niemals lernen. Das Komitee wird immer versuchen, uns in unserem Bestreben nach ewigem Leben Steine in den Weg zu werfen.»

«In Ihrem Bestreben nach universellem Tod, sollten Sie wohl eher sagen», mischte sich Samphire ein.

Ravillious beachtete sie gar nicht. «Und sie werden immer scheitern. Aber trotzdem müssen wir aufpassen. Sie sind … nicht leicht zu fassen.»

«Soo Chen ist tot.» Oriana warf Ravillious ihre Worte förmlich vor die Füße und wartete gespannt auf seine Reaktion. «Eine Kristallpriesterin, eine von uns, und jetzt ist sie tot.»

«Ich weiß. Sehr schade. Für sie. Zweifellos das Werk des Komitees. Jetzt, da die Inquisitoren einen Nachfolger für Behrens suchen, einen neuen Inquisitor, ist jeder von uns eine potenzielle Zielscheibe. Denn Behrens’ Nachfolger wird zweifellos einer von uns sein. Einer der zwölf Kristallpriester.» Er hüstelte leicht. «Allerdings sollte ich angesichts von Soo Chens Ableben wohl eher sagen: einer der elf Kristallpriester.»

«Aber der Attentäter verwendete eine Jericho-Bohne.» Dr. Laches hohe Stimme zitterte leicht.

«Wie unangenehm für Soo Chen», gurrte der Vorsitzende von CREX.

«Das meine ich nicht, Fenley. Die Mörder des Komitees benutzen keine Jericho-Bohnen.» Dr. Lache straffte die eleganten Schultern. «Die der Symmetrie schon.»

«Dann müssen wir alle sehr vorsichtig sein, Oriana», lächelte Fenley Ravillious. «Immerhin steht im Augenblick viel auf dem Spiel. Ich möchte gerne glauben, dass wir einander vertrauen können, aber wer weiß, auf welche Ideen jemand kommen könnte, der unbedingt Behrens’ Nachfolge antreten will.»

Er legte den Kopf leicht schräg, als leise Schritte zu vernehmen waren, die sich aus der Dunkelheit näherten. «Ah! Da ist ja meine Tochter.»

Eine Gestalt mit einer Kapuze trat aus dem langen Gang der Bibliothek. Die schwarze Skijacke glänzte vor Nässe. Vor Ravillious blieb die Gestalt stehen, zog die Kapuze nach hinten und senkte den Kopf, sodass ihr Vater ihre eingefallenen Wangen zwischen seine Hände nehmen und ihre breite weiße Stirn küssen konnte. Dann wandte sie das flache Gesicht Dr. Lache zu und starrte sie an, ohne zu blinzeln.

Dr. Lache betrachtete die kreideweiße Haut, die sich so straff über die Knochen spannte, dass die dunkelroten Adern darunter deutlich hervortraten. Dünne Strähnen fettigen schwarzen Haars hingen wie Seegras an ihrem Schädel und die großen Augen mit der violettfarbenen Iris bohrten sich ausdruckslos in Dr. Laches Blick. Sie erschauerte.

«Hallo Tethys», sagte sie.

Tethys starrte sie nur weiterhin an, ohne ein Wort zu sagen.

«Nachdem Soo Chen von uns gegangen ist, bleiben noch elf Kristallpriester übrig.» Dr. Lache fiel auf, dass Fenley Ravillious mit seiner Tochter einen Blick wechselte, und nicht zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, dass damit zwischen den beiden Gedanken ausgetauscht wurden, von denen sie nichts ahnte. «Von diesen elf haben nur drei das Potenzial und die Macht, um Behrens zu ersetzen.» Ravillious wandte sich jetzt Dr. Lache zu. «Du, ich und Keppler.» Er schüttelte den Kopf, als müsste er eine traurige Wahrheit anerkennen. «Soo Chen wäre ebenfalls in Frage gekommen, aber leider, leider … Und wir beide, du und ich, wir hatten die Möglichkeit, unsere Herren zu erfreuen, indem wir ihnen dieses Mädchen, Chess Tuesday, übergeben. Aber wir haben beide versagt.»

«Sie lässt sich nicht so leicht einfangen», wandte Dr. Lache ein. Ihre Wangen röteten sich. «Sie ist geschickt. Und mächtig.» Ihre Stimme senkte sich und wurde rau. «Sie hat Behrens getötet.» Ravillious’ verächtliche Miene versetzte sie in Wut. «Du und deine Händler konnten sie auch nicht erwischen! Nicht einmal die Armee der Symmetrie war dazu in der Lage, und jetzt haben die Blutwächter sie unter ihren Schutz genommen. Die Zeit wird knapp, und die Inquisitoren unternehmen nichts.»

«Pass auf, was du sagst, Oriana.» Ravillious’ verschlagene Augen verengten sich. «Unsere Herren lassen sich nur ungern kritisieren.» Er lächelte gefährlich. «Vielleicht habe ich mehr Vertrauen in sie als du. Es stimmt, dass ihnen das Mädchen bislang durch die Finger geschlüpft ist. Sie hat uns großen Ärger gemacht. Die Zerstörung des Zerebraltorus durch Miss Tuesday und ihre kriminelle Bande war … unangenehm. Jetzt, da wir das Auftauchen des Schlingschlunds nicht mehr vorausberechnen können, können wir die Energie nicht mehr annähernd so gut abernten wie bisher.» Ravillious winkte lässig ab. «Aber das Problem ist nicht unüberwindbar. Die Symmetrie hat jede Menge Energie auf Vorrat gespeichert. In neun Monaten wird die Zeitspirale den fünften Knoten erreichen. Und dann werden wir ja sehen, wie die Inquisitoren das Mädchen gefügig machen.»

«Aber wie wollen sie Chess Tuesday kriegen?» Dr. Laches scharf konturierte Kieferknochen verkrampften sich zornig.

«Was das betrifft, wirst du feststellen, dass die Inquisitoren sich eine neue Strategie zurechtgelegt haben.» Ravillious hob die Hand in Richtung Samphires Fuß. «Brutale Gewalt ist nicht der einzige Weg zu bekommen, was wir wollen.» Er legte seine Fingernägel auf Samphires nackten Knöchel, der unter ihrer Jeans hervorlugte, und strich über ihre Haut. «Wir müssen aus unseren Fehlern lernen. Es wäre besser gewesen, unsere Bemühungen zu koordinieren. Miteinander zu konkurrieren, ist nicht sehr hilfreich.»

«Was auch der Grund ist, warum ich dir mitteilte, dass wir diese Attentäterin gefasst haben.» Dr. Lache betrachtete das hängende Mädchen, als sähe sie es zum ersten Mal. «Berichten zufolge war sie allein in der Stadt.» Mit ihren langen, schlanken Fingern rückte Dr. Lache ihre Hornbrille zurecht und berührte dann die kurze Kette, die sie am Hals trug. Ihre Fingerspitzen strichen über das C mit den drei winzigen Sternen in der Mitte – das Symbol der CREX Corporation, das gleiche Symbol wie auf dem Ring, den Ravillious trug, und auch auf dem Ring, den Tethys an ihrem bleichen Finger stecken hatte.

«Wir haben beobachtet, wie sie das Institut betrat und hier hinauf schlich, in die Bibliothek. Sie glaubte, wir hätten sie nicht bemerkt.» Dr. Lache schaute Samphire jetzt direkt an. «Aber wir sehen alles.» Sie deutete auf die Rauchsäulen, mit denen Samphires Handgelenke gefesselt waren. «Als ich sicher war, dass sie allein handelte, habe ich die Xenrianischen Wächter angefordert.»

«Sehr klug», nickte Ravillious. «Es ist unbedingt vonnöten, die subatomare Struktur dieser pandimensionalen Geschöpfe festzusetzen, weil sie ansonsten immer noch entkommen können.» Nachdenklich betrachtete er Samphire. «Ich frage mich, worauf du aus warst. Was hat dich hierher ins CREX Forschungsinstitut geführt? Es gibt so viele Bücher in der Stadt und so viele Bibliotheken. Warum wurde diese kleine Attentäterin ausgerechnet hierher geschickt?»

«Ich bin keine Attentäterin.» Samphires Stimme war so klar wie Quellwasser.

«Aber natürlich nicht», krächzte Ravillious mit gespieltem Mitgefühl. «Du bist eine Blutwächterin. Dein Blut wurde mit dem Blut dieses fehlgeleiteten und leicht soziopathischen Unsterblichen Julius vermischt, und jetzt kämpfst du – zweifellos sehr ehrenvoll –, um die Universen zu retten. Aber weißt du, du kleine Retterin», und hierbei deutete Ravillious auf die zuckenden, rauchenden Säulen, die nichts anderes waren als die Xenrianischen Wächter, «deine guten Taten haben den Tod eines unserer Gefährten verursacht.» Der blaue Rauch senkte sich so plötzlich, dass Samphire nach unten fiel und mit den Knien auf den Boden knallte. Jetzt kniete sie vor den drei Kristallpriestern. «Es ist alles eine Frage des Standpunktes. Und von unserem Standpunkt aus bist du eine von den Bösen.»

Regen peitschte um den Turm, prasselte gegen das Glas. Wohin man auch blickte, bestand der Rest der Stadt aus einem verschwommenen Netz aus nadelgroßen Lichtern.

«Wir möchten zweierlei wissen.» Fenley Ravillious legte seine Hand auf Samphires Locken. Sie wollte sie wegstoßen, aber die Rauchsäulen der Xenrianischen Wächter hielten ihre Handgelenke fest. Die Wächter infiltrierten darüber hinaus das subatomare Feld in ihrem Körper und verhinderten somit, dass sie sich durch die Dimensionen bewegte und an einen Ort oder in eine Zeit floh, wo ihre Feinde sie nicht erreichen konnten.

«Zuerst wirst du uns sagen, wonach du gesucht hast. Du bist Julius’ Schoßhündchen und außerdem sein bester Dieb. Deswegen hat er dich rekrutiert. Wir möchten gerne wissen, was genau das Interesse des Komitees geweckt hat.» Die manikürten Finger des Kristallpriesters schoben sich unter Samphires Kinn und zwangen es nach oben, sodass sie ihn anschauen musste. «Und zweitens wirst du uns verraten, wo sich Julius aufhält. Du wirst uns sagen, wann er allein ist, wo er schläft, wo er am verwundbarsten ist. Das Geschenk seines Leichnams würde die Inquisitoren über alle Maßen erfreuen und mir bei meinen Ambitionen sehr behilflich sein.» Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: «Genauso wie Dr. Lache.»

«Ich werde Ihnen …»

«Gar nichts sagen, ich weiß», unterbrach Ravillious sie gelassen. Er wandte sich um und ging nachdenklich durch die Schatten des weitläufigen Raums. Seine Schuhe hinterließen nasse Abdrücke auf den Fliesen. «Die meisten sagen erst einmal nichts, bis wir sie dazu bringen.»

«Ich werde den Schmerz nicht spüren.» Samphires Augen glitzerten in dem schwachen Licht. «Meine Neurotransmitter …»

«Können willkürlich von dir blockiert werden. Auch das weiß ich», murmelte Ravillious. «Und darum mussten wir uns etwas einfallen lassen.»

Dr. Lache öffnete die kleine Handtasche, die an einem Riemen an ihrer Schulter hing, und nahm eine Spritze heraus.

«Bitte, Frau Doktor, sagen Sie der Attentäterin, was sie erwartet.» Ravillious kehrte aus den Schatten zurück. Seine Stirn war kaum merklich gerunzelt. Er warf Tethys einen Blick zu, die daraufhin in die gähnende Dunkelheit der Bibliothek schaute und dann die Augen schloss.

«Dream», erklärte Dr. Lache, «ist ein sehr starkes Psychopharmakon.»

«Was bedeutet, dass es dem Geist zahllose Streiche spielt», warf Ravillious gut gelaunt ein. «Ich bitte um Verzeihung, Oriana. Bitte fahre fort.»

«In seiner reinsten Form ist es natürlich illegal. Aber als Teil der pharmazeutischen Abteilung von CREX wird es von uns hergestellt und weltweit vertrieben, und zwar in großem Maßstab. Es ist bei unserer Aufgabe sehr hilfreich. Keine Regierung, die davon weiß, unternimmt etwas dagegen. Warum auch?» Dr. Lache gestattete sich ein schmales Lächeln, ein seltener Anblick auf ihrem Gesicht. «Damit lässt sich viel zu viel Geld verdienen.»

«Dream ist der Hauptbestandteil einer ganzen Reihe von legalen Medikamenten», bemerkte Ravillious. «Es wäre unsinnig, wenn die Verantwortlichen gegen die Massenproduktion dieser Droge vorgehen würden. Es wäre geradezu inhuman.»

Oriana Lache wog die Spritze auf ihrer offenen Handfläche. «Die Wirkung von Dream besteht darin, Wahnvorstellungen hervorzurufen und zu verstärken. Derjenige, der Dream einnimmt, wird glauben gemacht, dass sein Verlangen, seine Ängste und seine Überzeugungen voll und ganz der Wahrheit entsprechen, egal wie absurd sie auch sein mögen. Wenn man einem Bettler genug von dem Zeug verabreicht, wird er sich für einen Milliardär halten; seine Lumpen werden ihm zu Samt und Seide, und an seinen Händen kleben Goldmünzen.» Dr. Lache hob die Kanüle und drückte einen winzigen Tropfen der klaren Flüssigkeit aus der Spritze. «Auf diese Weise trägt CREX zur allgemeinen Glückseligkeit auf der Welt bei.»

«Ist das auch eine Wahnvorstellung?», fragte Samphire mit unschuldigem Gesichtsausdruck.

«Ich würde sie töten. Langsam.» Tethys’ Stimme klang leblos und so kalt wie die Wände einer Leichenhalle.

«Nicht doch, Kind.» Ravillious legte seine Hand auf den Arm seiner Tochter. «Noch nicht.»

Regenwasser schwappte über das Dach und strömte an den Glaswänden nach unten, überzog dabei das Innere der Bibliothek mit einem wellenartigen Schimmer.

«Ein Nebeneffekt von Dream ist, dass es sowohl den Geist als auch die Zunge löst.» Die Nadel näherte sich Samphires Hals, knapp oberhalb des Kragens ihrer schwarzen Bomber-Jacke. «Das hier ist eine ziemlich hohe Dosis. In weniger als einer Minute wirst du uns alles sagen, was wir wissen wollen. Du wirst geradezu begierig darauf sein, es uns zu sagen. Du wirst betteln, deine Freunde verraten zu dürfen.»

Samphires Gegenwehr zeigte sich nur in ihren Augen; ihr Körper wurde in einem bewegungslosen Griff gehalten. Sie konnte der Nadel nicht ausweichen.

Ravillious befeuchtete seine Lippen. Tethys’ Miene blieb ausdruckslos, aber ihr Kopf zuckte, als ob sie in der Ferne ein Geräusch wahrnehmen würde. Dann sagte sie: «Macht schnell», und als Antwort auf den fragenden Blick ihres Vaters fügte sie hinzu: «Vielleicht. Vielleicht.»

Aber kurz bevor die Spitze der Nadel Samphires Haut berührte, fing Oriana Laches Arm zu zittern an. Sie betrachtete ihn fassungslos und schüttelte den Kopf.

«Ich … kann … meinen Arm … nicht … bewegen», keuchte sie. «Etwas hält ihn fest.»

Während Oriana Lache mit aller Macht versuchte, die Kontrolle über ihren Arm wiederzuerlangen, materialisierte sich eine große Hand, die ihr Handgelenk umklammert hielt. Kurz nach der Hand erschien ein Arm und dann der Rest des Körpers. Und wo eben noch neben Dr. Lache nichts als leerer Raum gewesen war, stand ein Riese von einem Mann. Sein Kopf war von kurzem, karottenrotem Haar bekrönt, und sein dichter, rostroter Bart ergoss sich bis auf die Brust seiner Jeans-Latzhose. In einer Hand hielt er einen mächtigen Holzstab mit einer Spitze aus Eisen und in der anderen Dr. Laches Handgelenk.

«Ragg!», knurrte Fenley Ravillious. «Hab ich’s doch geahnt!»

Tethys riss die Augen auf und ihre violettfarbene Iris glühte. Ein Bücherregal löste sich aus seiner Verankerung und wurde auf den Riesen geschleudert.

«Warte!», herrschte Ravillious seine Tochter an, und das Regal krachte zu Boden, als ob es fallen gelassen worden wäre. Bücher und Zeitschriften flogen wie Spielkarten durch die Luft.

Träge lächelte Ravillious den Mann an, der Dr. Lache immer noch festhielt. «Ist das alles?»

Von jenseits der hölzernen, deckenhohen Doppeltür am anderen Ende der Bibliothek kam das Dröhnen eines Motors. Er jaulte einmal auf und verstummte dann.

«Lass los!», zischte Oriana Lache. Aber der Riese mit dem roten Haar hielt ihr Handgelenk eisern fest.

Schritte näherten sich der Doppeltür und dann sprangen die beiden Türhälften mit einem lauten Splittern auf und ein Zwerg mit einem Halbschalen-Motorradhelm auf dem Kopf und einer Pumpgun im Anschlag tauchte im Türrahmen auf. Sein Schatten fiel bis in die Mitte der Bibliothek, geradewegs auf die Kristallpriester gerichtet. Hinter ihm stand ein Motorrad, glitzernd wie ein Chromskelett.

Dr. Lache keuchte leicht vor Anstrengung, weil sie immer noch versuchte, sich dem Griff des Riesen zu entwinden, aber Fenley Ravillious betrachtete den Neuankömmling gelassen. «Zwei Blutwächter. Bloß zwei?» Er knöpfte seinen Regenmantel auf und warf seinen Hut auf den Boden. «Du schwitzt ja, Ragg. Ich vermute, du hast nicht damit gerechnet, mich oder meine Tochter hier anzutreffen.» Er seufzte und schüttelte den Kopf. «Miese Planung, Ragg, ganz miese Planung.»

«Wir sind wegen Samphire hier», sagte Ragg, dessen Stimme weicher war, als man von einem Mann seiner Statur hätte erwarten dürfen.

«Was du nicht sagst!» Ravillious strich sich das feuchte Haar zurück und ließ dann die Fingerknöchel knacken. Sein Blick traf den seiner Tochter, und obwohl sie so reglos wie Stein dastand, verdunkelten sich die Adern unter ihrer durchscheinenden Haut und pulsierten stärker. Dann wandte er seine steingrauen Augen wieder dem bärtigen Rotschopf zu. «Bist du bereit zu sterben, Wladiwostok Ragg?»

Raggs Haut war wächsern. Auf seinen Wangen und auf seiner Stirn prangten hektische rote Flecken. Sein Gesicht war von einer Schweißschicht überzogen, die seinen Haaransatz verdunkelte. «Wir sollten es für heute gut sein lassen und uns alle zurückziehen. Nennen wir es einen Waffenstillstand, falls ihr die Wächter anweist, Samphire freizulassen.»

«Ach tatsächlich?» Ravillious schnippte ein Staubflöckchen von seinem Ärmelaufschlag. «Und was genau springt bei diesem Handel für uns heraus, wenn ich fragen darf?»

Am anderen Ende der Bibliothek wurde eine Waffe entsichert. Und während Ragg noch schrie: «Nicht, Jake!», knurrte der Zwerg: «Ärger!»

Der Lauf der Waffe schwang nach oben und brüllte auf.

Tethys ruckte mit dem Kopf in Richtung des Mündungsfeuers, schloss die Augen und hob die Handflächen, die Finger gespreizt. Die Luft zwischen dem Zwerg und den Kristallpriestern kräuselte sich und schluckte den Kugelregen. Gleichzeitig schleuderte Wladiwostok Ragg Dr. Lache wie eine Puppe von Samphire weg. Die Frau segelte durch die Luft auf die Bücherregale zu, aber bevor ihr Körper dagegen prallte, blieb er kopfüber hängen, richtete sich wieder auf und landete elegant auf dem Boden. Die Spritze hielt Dr. Lache noch immer in der Hand.

Mit der anderen Hand griff Dr. Lache nach oben und riss den Raum auf, sodass Ragg in die Dimensionenlücke zu fallen drohte, die überhaupt nicht hierher gehörte. Seine freie Hand fuhr zu seinem Stiefelschaft und zog ein Messer heraus. Er schleuderte es, und es durchbohrte die Hand von Oriana Lache, nagelte sie an ein Bücherregal. Ihre Konzentration wurde empfindlich gestört. Als sie sich befreit hatte und den anatomischen Schaden an ihrer Hand repariert hatte, war Ragg längst wieder aus dem Vortex in die Bibliothek geklettert.

Immer noch wild um sich feuernd, kam der Zwerg näher. Tethys neutralisierte seine Schüsse, indem sie einen lang gezogenen Ring erschuf, der die Kugeln in hohem Bogen abprallen ließ. Die Querschläger landeten ein Magazin nach dem anderen in den Wänden. Mit einem markerschütternden Krachen fielen die Glasscheiben in sich zusammen, wie riesige Mauern aus Eis.

Ravillious konzentrierte sich auf Ragg. Er konfigurierte die molekulare Struktur der Luft vor sich neu, sodass sie zwar durchsichtig blieb, aber gleichzeitig so undurchdringlich wurde wie Granit und ihn vor dem Beschuss schützte. Gleichzeitig versuchte er, die räumliche Matrix zwischen dem riesenhaften Mann und der Glaswand der Bibliothek zu zerteilen. Er wusste genau, dass Blutwächter sich hauptsächlich auf ihre Geschwindigkeit und ihr Geschick verließen. Sie besaßen zwar eine leidliche dimensionale Kontrolle, die sich aber nicht mit dem vergleichen ließ, womit die Inquisitoren ihre Priester ausgestattet hatten. Indem Ravillious das Raum-Zeit-Gefüge verzerrte, durch das sich Ragg bewegte, hoffte er, den Blutwächter zu verwirren. Dann könnten er oder Tethys, oder Dr. Lache, zuschlagen. Das Kristallmesser fühlte sich durch die Seide seines Hemdes kalt auf seiner Haut an.

Aber Ragg war ein Gegner, den man nicht unterschätzen durfte, und wie sehr Fenley Ravillious auch versuchte, ihn durch einen sich aufbäumenden Boden oder ein auf und ab wippendes Dach, durch leere Stellen im Raum und verschluckte Zeitsegmente aus der Ruhe zu bringen, der Blutwächter bewegte sich vollkommen gelassen durch die Manöver des Kristallpriesters, übersprang die sich auflösende Materie der Bibliothek und tauchte durch die Zeitlöcher, die sich öffneten.

Samphire schaute zu, wie sich die gläserne Hülle der Bibliothek ringsum allmählich auflöste, weggepustet von dem Ansturm der Pumpgun, ausgelöscht durch Ravillious selbst, in seinem Bemühen, Wladiwostok Ragg aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Regen stürzte in den Raum, durchnässte sie bis auf die Haut, jagte mit schrillem Hämmern durch die Nacht, während Blutwächter und Kristallpriester sich hoch über den Lichtern der Stadt bekämpften.

Dann sah sie, wie Dr. Oriana Lache den Raum zwischen Wladiwostok Ragg und der äußeren Wand der Bibliothek in sich zusammenfallen ließ. Der große Mann taumelte in Richtung der gähnenden Leere. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass Ravillious die geometrischen Koordinaten jenes Teils des Bodens veränderte, auf den Ragg zurutschte und ihn noch steiler machte, wobei die letzten Reste der Außenwand verschwanden. Unfähig, sich gegen das Koordinaten-Chaos der Kristallpriester zu wehren, schlitterte Ragg auf den Rand des Bodens und damit auf den Abgrund zu.

«Nein!», schrie Samphire. Das war so nicht geplant. Alles ging schief. Richtig schief. «Jake!», brüllte sie dem kanonenschwingenden Biker-Zwerg zu.

Jake hatte gerade sein letztes Magazin eingeschoben, aber mehr brauchte er auch nicht. Er hatte Tethys mit so viel Blei bombardiert, dass es ihm mittlerweile gelungen war, die genaue Kurve des sich ständig bewegenden Abwehr-Rings zu berechnen. Er wusste genau, in welchem Winkel seine Schüsse daran abprallten. Er ließ das letzte Magazin einrasten und zielte – nicht auf Tethys, sondern auf den Raum fünf Meter zu ihrer Linken.

Die Pumpgun brüllte auf, und die Salve beschrieb einen schmalen Bogen, der von dem Abwehr-Ring aufgefangen wurde und die Kugeln auf ihre rechte Schulter lenkte. Sie wurde zu Boden geschleudert und hielt sich mit der linken Hand die Wunde.

Jake konnte Ragg, dessen Körper am Rand des Abgrunds hing, nicht helfen, aber er konnte die Kristallpriesterin töten, ehe diese anfing, sich selbst zu heilen. Er warf die leere Waffe weg und hob eine lange, scharfe Glasscherbe auf.

Ragg rutschte ab, zweihundertfünfzig Meter über dem Erdboden. Aber zu Samphires Überraschung fiel er nicht.

«Nein!», schrie Ravillious Jake zu, während er Raggs Körper vor dem Nachthimmel festhielt.

Niemand rührte sich. Alle schauten zu. Der Regen strömte nieder und durchnässte sie inmitten der Überreste der Bibliothek.

«Lass Tethys sich heilen», sagte der Kristallpriester, «und ich gebe dir Ragg zurück.»

In der Stille erklang gedämpft eine kleine Melodie. Alle drehten sich zu Oriana Lache um.

«Vielleicht ist es wichtig», sagte sie zu Ravillious.

Er seufzte schwer. «Also schön.»

Sie warteten, während Dr. Lache ihr silberfarbenes Mobiltelefon aus der Handtasche zog. Sie schob sich eine Strähne ihres braunen Haars hinters Ohr und nahm den Anruf an. «Was? … Ein Einbrecher? … Ein Junge? … Nein, nein, bring ihn nicht um, Boulevant. Noch nicht. Ich habe für Kinder immer eine Verwendung … Es ist mir egal, wie hinterhältig er aussieht. Ich werde mich darum kümmern, wenn ich nach Hause komme. … Also schön, töte ihn, wenn er irgendwelche Mätzchen versucht, aber nur dann, hörst du? Du weißt doch, wie gerne ich solche Aufgaben persönlich übernehme.»

Sie klappte das Telefon zu. «Entschuldigung», murmelte sie zu Ravillious gewandt und schob sich wieder eine nasse Haarsträhne hinters Ohr.

Jake kniete sich hin und drückte die scharfe Glasscherbe gegen Tethys’ Kehle. Tethys zuckte nicht mit der Wimper. Aber die Adern in ihrem skelettartigen Gesicht zuckten. Das schwarze, dünne Haar klebte flach an ihrem bleichen Schädel. Er nickte zu dem Riesen, der in der Luft hing. «Zuerst Ragg. Dann lass Samphire frei.»

«Tritt zurück.» Ravillious wartete, bis Jake sich von Tethys entfernt hatte, und schloss dann die klaffende Lücke zwischen Wladiwostok Ragg und der Ecke des Turms. Der riesige Blutwächter rollte aufkeuchend über den Boden.

«Jetzt Samphire», beharrte Jake. Er sah, dass Tethys bereits ihre zerschmetterte Schulter repariert hatte. Sie schaute zu ihrem Vater, der sich wiederum Dr. Lache zuwandte. Dr. Lache ging zu ihm. Beide standen nun etwa eine Armlänge von Samphire entfernt.

«Ich lasse sie frei», sagte Ravillious und schnippte mit den Fingern. Die Xenrianischen Wächter verschwanden. Samphire, die bislang in einer knienden Position verharrt hatte, schluchzte auf und fiel auf ihre Handflächen nach vorn. Wasser floss in kleinen Rinnsalen aus ihren Haaren.

Ragg sah, wie Tethys ihrem Vater zunickte, sah, wie der Kristallpriester die Hand in seine Brusttasche schob.

«Ich lasse sie frei», flüsterte Ravillious, «in die Ewigkeit.»

Wladiwostok stürzte vorwärts, aber Tethys und Dr. Lache hatten bereits Samphires Arme gegriffen und sie auseinandergezogen. Das Kristallmesser traf sie mitten in die Brust. So schnell wie ein Schlangenbiss fuhr es wieder zurück und hinterließ eine Wunde, die durch Raum und Zeit schnitt, von der es kein Entkommen gab.

Während die Blutwächter auf Samphire zurannten, zogen sich die Kristallpriester zurück. Lache, mit bleichem und hartem Gesicht, Tethys völlig ausdruckslos und Ravillious mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen.

«Nein», grunzte Jake und packte Ragg, der sich auf die Kristallpriester stürzen wollte, am Handgelenk, trotz ihres beträchtlichen Größenunterschiedes. «Samphire braucht uns.»

Sie wandten sich dem Mädchen zu, und Jake, der sich niederkniete, hob ihren schlaffen Körper auf.

«Es ist so kalt», sagte Samphire mit schweren Augenlidern. «Mir ist kalt bis auf die Knochen.»

«Was für eine erbärmliche Vorstellung», schnaubte Fenley Ravillious, der zwischen Dr. Lache und Tethys stand.

«Es war nicht unser bester Plan», sagte Samphire. Dann hustete sie und lächelte, als sich ihre Augen schlossen.

«Noch ist es nicht vorbei!», schrie Wladiwostok Ragg durch den Regen, den Stab fest mit den Händen gepackt.

«Oh doch, Mr. Ragg», lächelte Fenley Ravillious und steckte das Kristallmesser wieder in die Brusttasche, «ich glaube schon.» Er strich sich das Haar zurück und knöpfte seinen Regenmantel wieder zu. «Kein menschliches Wesen kann gegen die Symmetrie gewinnen. Kein Mensch kann einen ihrer Priester besiegen, nicht einmal ein Blutwächter.»

Er legte den Arm um die reparierte Schulter seiner Tochter, die mit steinerner Miene neben ihm stand. «Geh und kümmere dich um diesen Einbrecher, Oriana», sagte er mit bissigem Unterton. «Mit einem Jungen wirst du bestimmt fertig.» Er schaute zu den Blutwächtern und dem kleinen Körper, der schlaff zu ihren Füßen lag, und lächelte träge. «Gegen die Symmetrie hat auch er keine Chance.»

KAPITEL 2

Mit raschen Schritten ging Oriana Lache über den dicken Teppich, warf ihren scharlachroten Mantel auf das weiße Sofa und löste das Band aus ihrem Dutt, sodass sie ihr langes braunes Haar auswringen konnte. Mit dem Rücken zu dem knisternden Kaminfeuer stellte sie sich ans Fenster, das sich über eine gesamte Wand erstreckte und den Blick auf den See freigab. Am Tag hätte sie die dunkelgrünen Nadelwälder sehen können, die sich so klar im Wasser spiegelten, dass man kaum sagen konnte, wo die Bäume endeten und das Wasser begann. Auch jetzt noch vermischte sich, trotz des nasskalten Wetters, ein leicht süßlicher Duft nach Harz mit dem Geruch nach brennendem Holz und dem subtilen Aroma ihres Parfüms. Doch zu sehen war nichts hier draußen, am westlichen Rand des Waldes, den man «die Lunge» nannte und der sich entlang der Stadt erstreckte. Nacht hüllte den See ein, die Bäume, den Himmel und die Erde, überzog alles mit einer absoluten Schwärze und verwandelte die breite Fensterscheibe in einen Spiegel.

Dr. Lache, die den Kopf zur Seite gelegt hatte und Regenwasser aus ihren Haarsträhnen drückte, sah in der Scheibe die Spiegelung der korpulenten, klein gewachsenen Gestalt von Boulevant, der mit der Pistole in der Hand einen Jungen in Schach hielt. Der Junge stand vor dem Kamin. Er mochte etwa fünfzehn Jahre alt sein. Sein Gesicht war bleich, schmal und scharfknochig und der Ausdruck in seinen Augen gemahnte Dr. Lache zur Wachsamkeit. Sein Haar war glatt und schwarz und am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt.

«Was glotzt du so wie ein Fisch, Boulevant?»

Nach dem Trauma des Kampfs gegen die Blutwächter und der kräftezehrenden Anspannung, die sie in Ravillious’ Gegenwart empfand – und vor allem in Gegenwart seines widerlichen Abkömmlings –, hatte sie für das Nervenflattern ihres Butlers keine Geduld. «Ich bin überrascht, dass du ihn nicht gleich erschossen hast.»

Das war ein Bluff. Sie hatte Boulevant ausdrücklich befohlen, den Eindringling nicht zu töten; sie freute sich schon auf das unbeschreibliche Hochgefühl beim Absorbieren seiner Energie. Sie würde ihn nicht schnell umbringen.

«Ich wollte ihn gerade erschießen», flüsterte Boulevant. «Aber Sie kamen zurück. Ich habe ihn eben erst entdeckt, wie er hier herumschnüffelte.»

«Ich habe nicht herumgeschnüffelt», sagte der Junge überraschend ruhig. «Ich habe einfach nur hier gestanden. Und auf Sie gewartet, Dr. Lache.»

«Ruhe!», befahl Dr. Lache und betrachtete den Jungen im Spiegel der Nacht. Er war beinahe so groß wie sie selbst. Er hätte verängstigt sein müssen. Und was hatte Boulevant da gerade geplappert?

«Was soll das heißen, du hast ihn eben erst entdeckt? Du hast mich doch schon vor fast einer Stunde deswegen angerufen.» Oriana Lache wandte sich um und band sich die feuchten Haare wieder zusammen. Auch ihr schwarzes Kleid war regennass.

Boulevant schüttelte den Kopf, und sein speckiges Gesicht wackelte, ebenso wie seine schütter werdenden grauen Locken. «Hab nicht angerufen. Hatte keine Zeit dazu», versicherte er Dr. Lache.

Sie setzte ihre Brille ab, wischte den Beschlag mit einem Taschentuch ab, das sie aus dem Ärmelaufschlag ihres Kleides zog, und setzte sich dann hin, wobei sie ihre schlanken Beine, die in Seidenstrümpfen steckten, überschlug. «Nun, irgendjemand hat mich angerufen.»

Boulevant zuckte mit den Schultern. Seine gelbe Weste schob sich dabei nach oben und entblößte die runde Wölbung seines Bauchs. Dann deutete er mit dem Lauf der Pistole auf den Jungen. «Soll ich schießen?»

«Wie heißt du?», fragte Dr. Lache den Jungen.

«Thorne», sagte Splinter. Er verbeugte sich leicht. «Zu Ihren Diensten.»

Dr. Lache lachte scharf und freudlos. «Wohl kaum.»

Allein, ohne seinen starrköpfigen Zwillingsbruder Box oder seine selbstsüchtige, irrgeleitete jüngere Schwester Chess, bewegte sich Splinter inmitten der Verbogenen Symmetrie und ihrer Gefolgsleute. Es war ein gefährlicher Ort, zumindest für einen gewöhnlichen Sterblichen, aber Splinter besaß die Weitsicht, um zu erkennen, dass es auch ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten war.

Der Tod des Inquisitors Behrens hatte eine Gelegenheit eröffnet – eine Gelegenheit, die wie auf Splinter zugeschnitten war. Aber er musste mit äußerster Vorsicht vorgehen. Splinter wusste, was Menschen für die ungeheure Macht zu tun bereit waren, die mit dieser Gelegenheit einherging, und es gab andere, die nach dieser Macht gierten, andere, die eine bessere Ausgangsposition hatten als er. Dies hier war ein tödliches Spiel. Es war lebenswichtig, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, jedenfalls jetzt noch nicht. Seine Kontrahenten waren stärker als er. Wenn er seinen Ehrgeiz zu früh öffentlich machte, würden sie ihn in einem Wimpernschlag vernichten. Heißer als jetzt ging es nicht mehr.

Aber er war Splinter, der König der Ratten: klug, rücksichtslos, geschickt. Er konnte jedes Hindernis überwinden, egal wie tödlich es auch war, nur durch seine gnadenlose Raffinesse. Und natürlich durch minutiöse, wohl überlegte Planung.

Und Splinter hatte diesen Schachzug seit Monaten geplant.

Er hatte sich mit einer geradezu asketischen Hingabe darauf vorbereitet. Er hatte ein karges Leben in den Wäldern geführt, hatte das Haus und seine Bewohner Tag und Nacht beobachtet, hatte sich von seinen geliebten alten Kleidern getrennt, wie man sich von einem Bündel bewährter Glücksbringer trennt, und sich neue gestohlen: einen langen, abgewetzten braunen Ledermantel, einen schwarzen Pullover und enge Jeans. Er trug sogar Stiefel. Sie waren schwarz und kamen ihm viel zu lang vor, als wären seine Füße in Kästen eingezwängt. Er hatte sein weißes Haar schwarz gefärbt und es zu einem Pferdeschwanz gebunden, um sein Aussehen noch stärker zu verändern. Er hatte sogar einen anderen Namen angenommen.

Der Mantel war innen mit Taschen bestückt, genauso wie sein langer Frack, den er früher getragen hatte. Er hatte sie selbst in das Futter genäht. In den Taschen befand sich alles, was er besaß: eine Schachtel mit Streichhölzern, ein aufgewickeltes Stück Schnur, ein Bleistift, fünf Murmeln, ein Satz Dietriche, sein Klappmesser, eine Lupe mit einem Griff aus Knochen, der Schraubendreher eines Uhrmachers, ein kleines Holzkästchen, das in Wahrheit ein tragbarer Vortex war, eine würfelgroße Pyramide und eine kleine Flasche mit schwarzer Tinte, mit der er sein Haar nachfärbte, wenn sich der weiße Ansatz sehen ließ.

Tag für Tag hatte Splinter die Führungen erforscht, die schmalen Pfade, die sich durch das ewige Nichts des Wirbels zogen. Er konnte durch das kleine Holzkästchen, das in einer seiner Taschen steckte, den Wirbel betreten. Es war dasselbe Kästchen, das er vor Monaten dieser alten Vettel, Ethel, gestohlen hatte, dieser verrückten Anführerin jenes hirnrissigen, erbärmlichen und schwächlichen Haufens, der sich Komitee nannte.

Der Verlauf der Führungen folgte einer Logik. Zumindest manchmal. Teils durch Schätzungen, teils durch Berechnungen fand er die Wege zu bestimmten Orten oder Augenblicken. Aber es ging so elend langsam und war ungeheuer gefährlich. Sich im Wirbel zu verirren, hieße, auf ewig verloren zu sein. Ein einziger Fehler konnte sein letzter sein. Und die Führungen besaßen die unangenehme Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit zu verschieben. Aber nach Monaten genauester Erforschung befand sich in Splinters Kopf eine exakte Karte jenes Netzwerkes, das sich quer und längs durch den Wirbel zu den unterschiedlichsten Zeiten und Orten zog – eine Karte, die er brauchte, um die richtige Zeit und den richtigen Ort zu finden.

Und jetzt verbarg sich hinter seinem gleichmütigen Gesicht ein Gehirn, das unentwegt abschätzte und rechnete. Splinter war sich der Tatsache bewusst, dass Dr. Lache ihn jederzeit töten oder ihm noch Schlimmeres antun konnte. Sie hatte die Macht dazu.

Er hätte schon längst tot sein können. Er hatte nicht gewusst, dass sie das Haus verlassen hatte; etwas Unerwartetes musste vorgefallen sein. Normalerweise war sie um diese Uhrzeit immer zu Hause. Wenn sie nicht gerade noch rechtzeitig zurückgekehrt wäre, hätte der Trottel mit der Pistole ihm womöglich den Schädel weggepustet. Und nach der zitternden Hand zu urteilen, mit der er die Waffe hielt, lag das immer noch im Bereich des Möglichen.

Splinter hatte keine Ahnung, wer Dr. Lache angerufen hatte, aber wer immer es war, er hatte dafür gesorgt, dass sie noch zur rechten Zeit zurückgekehrt war. Und zur rechten Zeit hier zu sein – genau zur rechten Zeit – war ein wesentlicher Bestandteil von Splinters Plan.

«Normalerweise versuchen Kinder nicht, in mein Haus hineinzukommen», sagte Dr. Lache, «sondern eher, daraus zu fliehen.» Als der Junge nichts darauf erwiderte, fragte sie: «Weißt du, wer ich bin, Thorne?»

An einem Ende des spärlich möblierten Raums stand eine Glasvitrine, die etliche Gewichte, Zugketten und Zahnräder enthielt. Splinter erkannte, dass es sich um eine außergewöhnliche Art von Standuhr handelte. Ein sanftes Klicken zeigte die Sekunden an.

«Ich weiß, wer Sie sind, Dr. Lache», sagte Splinter.

«Und weißt du auch, was ich bin?»

«Sie sind eine Kristallpriesterin», sagte Splinter ohne Umschweife, und dann fügte er hinzu: «Sie sind mächtig. Aber nicht die Mächtigste Ihrer Sorte.»

Er glaubte, die riesige Fensterscheibe würde in Millionen Splitter zerbrechen, als sein Körper vom Boden abgehoben und dagegen geschleudert wurde. Aber er durchschlug das Glas völlig geräuschlos, ohne einen Aufprall zu spüren, und dann wurde er höher getragen, höher und höher, immer schneller, hinauf in den Nachthimmel. Er stieg so rasend schnell hinauf, dass es ihm vorkam, als ob die Wälder und der glänzende See von ihm weggerissen würden. Der Regen stach ihm ins Gesicht und in den Hals, und er konnte kaum noch atmen.

Irgendwo zwischen den Wolken und dem See blieb er hängen. Der lange Mantel flatterte im scharfen Wind, und er strampelte wild mit den Beinen, als ob er sich mit aller Gewalt am Nichts festklammern wollte. Die Angst, abzustürzen, war so groß, dass seine Zähne anfingen zu klappern und sich ihm der Magen umdrehte.

«Ist das mächtig genug für dich, Thorne?»

Es klang so, als ob Oriana Lache ihm ins Ohr flüsterte. Ihre Stimme war ganz ruhig und ganz nah. «Soll es noch höher hinaufgehen?»

«Nein, nein!», brabbelte Splinter, der versuchte, das Zittern seiner Kiefer zu unterdrücken. Er fragte sich, wie viel Zeit ihm noch blieb.

«Oder tiefer?»

Noch ehe er antworten konnte, stürzte er ab, mit den Füßen voraus. Die Mantelschöße wurden durch den Fallwind nach oben gerissen, über seinen Kopf hinaus. Es war, als ob sein Körper ins Wasser des Sees geworfen werden würde. Die glänzende Schwärze raste auf seine strampelnden Beine zu und der pfeifende Wind drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er bemühte sich, nicht zu schreien. Vielleicht würde er durch das Wasser gleiten, genauso wie durch die Scheibe.

Der See schlug ihm auf die Rückseite seiner Schenkel, als bestünde er nicht aus Wasser, sondern aus Beton. Die Beine wurden ihm weggerissen, und er traf mit dem Kopf auf die Wasseroberfläche, wobei eine mächtige Fontäne aufspritzte. Eiskaltes Wasser rauschte ihm in Nase, Mund, Augen und Ohren, brannte und löschte alles aus, bis auf das verzweifelte Verlangen zu atmen. Seine Brust schmerzte von dem Aufprall, und er wusste nicht mehr, ob er kopfüber oder kopfunter im Wasser trieb. Aber er wusste, dass er sank – nicht nur das: er wurde förmlich in die Tiefe gerissen oder gestoßen, so tief hinab, dass er glaubte, ihm würde das Trommelfell platzen und die Augen würden aus den Höhlen treten.

Schlick und Wasserpflanzen. Seine Finger gruben sich in den Grund des Sees und sein Körper kam zur Ruhe. Wenn er aufgab, wenn er seine Lungen mit dem Wasser des Sees anfüllte, konnte er seine Qualen beenden.

«Ist das mächtig genug für dich, Thorne?»

Die Stimme kitzelte ihm in den klingenden, schmerzenden Ohren.

Er brauchte noch ein wenig mehr Zeit. Aber er konnte es nicht länger aushalten. Er musste Atem holen.

Wieder kollabierte die Zeit, warf ihn hoch und aus dem Wasser hinaus, zurück in das Zimmer in Dr. Laches Haus. Lud ihn direkt neben dem Feuer ab. Zu nah am Feuer.

«Du bist nass, Thorne», bemerkte Dr. Lache. «Du musst trocken werden.»

Wasser tropfte aus Splinters Haaren und Kleidern. Er lag auf Händen und Knien vor dem Kamin, versuchte aufzustehen, aber sein Körper wollte ihm nicht gehorchen. Stattdessen glitt er über den Teppich immer näher an die leckenden Flammen heran.

«Vielleicht sollten wir ihn jetzt einfach umbringen», schlug Boulevant nervös vor, als ob er nicht daran denken wollte, was als Nächstes geschehen würde.

«Kein Grund zur Eile», sagte Oriana Lache. Sie stand auf und streckte ihre langen, eleganten Finger dem Feuer entgegen. «Geh näher heran, Thorne», sagte sie zu Splinter. «Merkst du, wie heiß es ist?»

Splinters Gesicht war nur wenige Zentimeter von den Flammen entfernt. Die Hitze war kaum auszuhalten. Er glaubte, seine Augäpfel müssten gleich zu kochen anfangen und die Haut würde sich kräuseln und von seinem Gesicht lösen. Er versuchte, zur Standuhr zu blicken, aber sein Kopf ließ sich nicht bewegen, und in seinen Augen stand das Wasser.

Es musste jetzt so weit sein.

«Wie fühlt sich Macht an, Thorne?»

«Lassen Sie mich los», keuchte Splinter. Schweiß badete sein Gesicht und die Sehnen in seinem Nacken verkrampften sich, während er versuchte, Dr. Lache in die Augen zu schauen. «Lassen Sie mich los, oder ich hole mir Ihr Nexal.»

Und dann saß er auf dem Sofa, hinter Dr. Lache, mit trockenen Haaren und Kleidern, und er hielt die zartgliedrige Kette in der Hand, die Dr. Lache immer um den Hals trug.

Sie drückte ihre langen, eleganten Finger gegen ihren nackten Hals und keuchte auf. Ihre Augen weiteten sich.

«Bitte. Nein. Bitte!», flehte sie.

Splinter lachte kalt.

«Soll ich es benutzen?», fragte er.

«Bitte. Bitte gib es mir zurück.» Dr. Lache lag Splinter zu Füßen. Sie lag auf den Knien.

Er hielt die silberne Halskette in die Höhe, ließ sie wie Wasserperlen über seine Fingerspitzen gleiten. Der Anhänger mit dem C und den drei winzigen Sternen baumelte vor dem flehenden Gesicht der Frau.

Splinter, die Kette immer noch in die Höhe haltend, schob sein Gesicht dicht an das von Oriana Lache.

«Wann immer ich will», flüsterte er, «kann ich es Ihnen abnehmen.»

Dann lag er wieder auf allen vieren vor dem Kamin. Die Flammen züngelten fast bis zu seinem Gesicht.

«Lassen Sie mich los!», zischte er. «Sofort.»

Dr. Lache zog sich zurück und rieb mit beiden Händen über die Kette, die wieder um ihren Hals lag. Sie sank auf dem Sofa buchstäblich in sich zusammen.

Splinters Körper wurde aus dem unsichtbaren Griff befreit, und er rollte sich zur Seite. Sein Gesicht brannte, und als er es berührte, war es heiß. Aber nicht verbrannt. Leicht schwankend stand er auf.

«Legen Sie die Waffe weg», befahl er, ohne Dr. Lache auch nur eine Sekunde aus seinen eisblauen Augen zu lassen.

«Bitte, Boulevant.» Dr. Lache schluckte und bemühte sich, ihre Fassung wiederzugewinnen. «Bitte, leg sie weg.» Sie schaute zu dem groß gewachsenen, hageren Jungen in seinem braunen Ledermantel hoch, aus dem immer noch das Seewasser tropfte. Nach zwei flachen Atemzügen fragte sie: «Wie ist das möglich?»

«Ich kann Dinge tun», verkündete Splinter mit einem bösen Grinsen, das nicht verriet, dass er hauptsächlich bluffte. «Dinge, die Sie sich nicht einmal vorstellen können.»

Splinter war von Anfang an klar gewesen, dass er schnell handeln und einen entsprechenden Eindruck hinterlassen musste, wenn er den bevorstehenden Wettstreit überstehen wollte. Er musste einen Fuß in die Tür bekommen, musste sich zu seinen übermächtigen Kontrahenten gesellen und von ihnen akzeptiert werden. Das war der Grund, warum er sich monatelang im Wirbel herumgetrieben hatte: Welt für Welt hatte er erkundet, Zentimeter für Zentimeter, Sekunde für Sekunde.

Es war eine schwindelerregend genaue Berechnung vonnöten gewesen, um entlang der Führungen in einem Moment scheinbar aus dem Nichts aufzutauchen und Dr. Laches wertvollsten Besitz an sich zu nehmen, ehe dieser Moment in sich zusammenfiel und niemals wiederkehren würde. Aber er hatte es geschafft, vor ein paar Tagen. Er war durch den Wirbel in einen Moment der Zukunft gegangen, nur für zehn Sekunden, und hatte ihr die Halskette abgenommen, ehe er wieder verschwand. Solange Dr. Lache nicht zufällig überprüfte, was die unmittelbare Zukunft für sie bereit hielt, würde dieser Moment auf immer eine Rückblende sein. Oder eher eine Vorschau? Egal, er musste einfach dafür sorgen, dass er bei Dr. Lache war, wenn dieser Moment eintrat. Das Timing musste perfekt sein. Und zwar stets. Als er hier eingebrochen war und festgestellt hatte, dass sie nicht da war, hatte er schon das Schlimmste befürchtet. Dem Unbekannten, der sie angerufen hatte, verdankte er sein Leben.

Dr. Lache starrte ihn an. Sie wartete ab, überdachte vielleicht ihre Möglichkeiten. Es hatte Monate der Planung und Vorbereitung gekostet, um an diesen Punkt zu gelangen. Der König der Ratten hatte all sein Geschick und sein Wissen eingesetzt, um einen Augenblick der Zeit zu stibitzen. Eine solche Gelegenheit würde nicht wiederkehren. Die Ereignisse überschlugen sich. Er musste seinen Vorteil ausnutzen. Hier und jetzt.

«Ich kann es Ihnen wegnehmen, jederzeit», versicherte ihr Splinter. «Vergessen Sie das niemals. Niemals, hören Sie?»

«Aber wie?» Dr. Lache wagte es, ihre zarten Finger von der Kette zu lösen, aber ihren Blick hielt sie unverwandt auf Splinter gerichtet.

«Ich verfüge über gewisse Fähigkeiten», sagte Splinter, «und über Wissen.» Er wusste alles Mögliche, besonders über die Verbogene Symmetrie, über ihre Methoden und ihre Streitkräfte. Als er auf Surapoor bei diesem Philosophen, selbsternannten Kämpfer und froschäugigen Irren Balthazar Broom festgesessen hatte, hatte er sich in dessen Bibliothek vergraben. Er hatte sich wochenlang mit dem Omnikon beschäftigt, dem Buch von allen Dingen, das jedem, der clever genug war, um es zu benutzen, unendliches Wissen vermitteln konnte. Dieser Narr Balthazar hatte ihm erklärt, es gebe zwei von diesen unglaublichen Büchern, aber eins sei verloren gegangen.

Aber Balthazar irrte sich. Mit Hilfe von Balthazars Omnikon hatte Splinter den anderen Band aufgespürt, ein Band, der ihm die Geheimnisse enthüllen würde, nach denen ihn verlangte.

«Ich weiß zum Beispiel, dass das Nexal, das sie tragen, so kostbar wie ihr Leben ist.» Splinter hob die Hand und deutete damit fast anklagend auf Dr. Laches Halskette. «Ich weiß, dass es für jeden Kristallpriester den Quell größter Stärke bedeutet. Gleichzeitig», fügte er mit einem messerscharfen Grinsen hinzu, «ist es auch ihr größter Schwachpunkt.»

Splinters gründliche Nachforschungen hatten ihn auf die Spur der Macht geführt, mit der die Verbogene Symmetrie ihre treuesten menschlichen Diener ausgestattet hatte. Wenn sich ein menschliches Wesen durch besondere Heimtücke, Rücksichtslosigkeit und eine fanatische Ergebenheit zur Symmetrie auszeichnete, konnte es vorkommen, dass ein Inquisitor diesen Menschen mit einem Geschenk beehrte. Das Geschenk konnte in Form eines Rings daherkommen, eines Armbands oder einer Halskette, aber der Zweck dieses Geschenks – dieses Nexals – war es, eine enge Verbindung zwischen dem Träger und dem Inquisitor zu knüpfen, die den Menschen dazu befähigte, von der schier unendlichen Macht des Inquisitors zu zehren.

Aber Splinter erkannte, wie clever diese Strategie war, wie herrlich fesselnd, denn was gegeben wurde, konnte auch wieder genommen werden. Und so blieb der Kristallpriester auf immer und ewig der Gnade des Inquisitors ausgeliefert.

Und Splinter wusste auch, dass er selbst, zumindest vorläufig, der Gnade der Kristallpriesterin ausgeliefert war. Der Trick bei der Sache war, es sie nicht merken zu lassen.

Dr. Oriana Lache schien ihre Fassung wiedererlangt zu haben. Sie setzte ihre Brille ab, strich sich das schwarze Kleid zurecht und schlug ihre Beine übereinander. Aber Splinter sah deutlich, dass es hinter diesen kühlen, haselnussbraunen Augen der Kristallpriesterin genauso arbeitete wie in seinem eigenen Kopf.

«Du bist ein ungewöhnlicher Junge, Thorne», bemerkte sie steif.

Splinter wollte nicht, dass sie sich zu sehr entspannte. «Fenley Ravillious will Sie umbringen.» Mit Argusaugen beobachtete er die Reaktion der scheinbar selbstsicheren Frau.

«Du weißt ja nicht, was du da redest.»

Ihre Pupillen zogen sich zusammen und in ihrer Stimme lag die Anstrengung, derer es bedurfte, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen. Sie gab sich alle Mühe, unbeteiligt zu wirken.

Splinter konnte ihre Angst förmlich riechen.

Im Stillen gratulierte er sich. Er hatte wieder einmal einen guten Riecher bewiesen. Aber es war mehr als eine Vermutung gewesen; es war die Erkenntnis – die Erkenntnis, was Menschen für Macht zu tun bereit waren. Natürlich würde der mächtigste der Kristallpriester danach streben, Behrens’ Platz einzunehmen. Aber dieser Platz gehörte ihm, Splinter. Die Konkurrenten mussten aus dem Weg geräumt werden.

«Ich bin ein Dieb», erklärte Splinter. Er war selbst überrascht, mit welcher Leichtigkeit er diese Tatsache über die Lippen brachte.

«Boulevant, hol dem Jungen eine Tasse Kakao.» Oriana Lache winkte mit dem Finger in Richtung ihres korpulenten Untergebenen, der vor dem Kamin herumlungerte. «Und vielleicht ein Handtuch? Er ist klatschnass.»

«Ich werde nichts essen oder trinken, bis Sie gemerkt haben, wie nützlich ich Ihnen sein kann», sagte Splinter, woraufhin Boulevant mitten in der Bewegung innehielt, als wäre er eine Marionette, an der die Kristallpriesterin und der Junge abwechselnd die Schnüre zogen. «Und das Handtuch können Sie auch vergessen. Es ist ja nicht mein Teppich, der nass wird.»

«Vielleicht möchten Sie eine Tasse Kakao, Dr. Lache?», schlug der dickliche Mann vor und trommelte mit den Fingern auf die Schwellung seines Bauchs unter der gelben Weste. Auf seinem schweinsähnlichen Gesicht lag ein zögernder und fragender Ausdruck.

«Halt den Mund, Boulevant», fuhr ihn Dr. Lache an. Sie wandte sich wieder Splinter zu und warf das feuchte Haar zurück, sodass es ausgebreitet auf der Rückenlehne des Sofas lag.

Splinter fühlte, wie der Raum dunkler wurde, das Feuer gelber und die Augen der Frau ihm gegenüber strahlender. Ein heißer, intensiver Blick verschränkte sich mit seinem.

«Sprich weiter, Thorne.» Sie schürzte die Lippen und ließ ein Lächeln erahnen.

Splinter lenkte seinen Blick auf die Kette. In Orianas Augen zu schauen bedeutete eine Ablenkung, die wenig hilfreich war.

«Ich bin in der Lage, mich unbemerkt von einem Ort zum anderen zu bewegen.» Er fühlte ihren durchdringenden Blick, spürte die Hitze, die davon ausging, auch wenn er ihr nicht in die Augen sah. «Ich kann Dinge stehlen. Dinge wie Ihr Nexal.»

Seine Worte schienen Dr. Laches Konzentration ins Wanken zu bringen, denn sie fuhr mit der Hand an ihre Kehle, und wieder glomm Angst in ihren Augen auf. Welche Gedanken auch immer drauf und dran gewesen waren, sich in seinen Kopf zu schleichen, Splinter zog ihr Unbehagen doch allem anderen vor.

Du darfst dich nicht ablenken lassen, von nichts und niemandem, warnte eine der Stimmen in seinem Kopf.

«Ich kann Ihnen jederzeit Ihr Nexal stehlen», zischte Splinter, der jetzt über Dr. Lache stand. Er genoss es, dass sich ihre Augen weiteten, dass ihre Brust sich schwer hob und senkte, während ihre Atmung sich beschleunigte.

«Nein, bitte nicht …»

Splinter hatte die Hand erhoben, als ob er jeden Moment blitzartig zugreifen und die Kette an sich reißen wollte. Gelbes Flammenlicht umgab ihn wie ein Heiligenschein. Mit offenem Mund schaute Boulevant von Oriana Lache zu Splinter und wieder zu Oriana Lache. Er packte die Pistole fester.

«Wenn du dich auch nur einen Millimeter vom Fleck rührst, Fettsack», knurrte Splinter, «dann schlitze ich dir den Bauch auf und füttere dich mit deinen eigenen Eingeweiden.» Splinter hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, aber er war von den bestialischen Drohungen von General Saxmun Vane dermaßen beeindruckt gewesen, dass er meinte, er könne es auch einmal ausprobieren. Splinter war jederzeit begierig darauf, neue Methoden zu lernen, wie man das bekam, was man haben wollte, und der Kommandant der Hundetruppen hatte keinen Zweifel aufkommen lassen, dass die Aussicht auf einen schmerzvollen und blutigen Tod absoluten Gehorsam zur Folge hatte.

Splinter fühlte, wie die Narbe auf seiner linken Schulter bei der Erinnerung an den General und seinen Keulenstab anfing zu pochen. Der Unterschied zwischen ihm und dem General war, dass der General seine Drohung wahr gemacht hätte und Boulevant jetzt schon an seinen eigenen Innereien ersticken würde. Aber Boulevant wusste nichts von Splinters begrenzten Möglichkeiten.

«Fallen lassen», befahl Splinter.

«Bitte, lass die Waffe fallen», flehte Dr. Lache.

Die Pistole schlug dumpf auf dem Boden auf.