THE BLACK SHEEP - Jessica Stute - E-Book

THE BLACK SHEEP E-Book

Jessica Stute

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Beschreibung

Lizzy Wallace ist ein emotionales Wrack. Sie leidet unter Schlafstörungen und die einzige Bindung, die sie aufbauen kann, ist die zu ihrer Pillendose. Ihre seelischen und physischen Narben versteckt sie hinter schwarzer Kleidung, so düster, wie ihr Mundwerk. Unüberlegt macht sie sich auf nach Los Angeles, um dort ihre kleine Schwester wiederzufinden, von der sie vor neun Jahren getrennt wurde. Im Gepäck: Nichts weiter als ihr Handy, ihre Musik sowie einen Haufen verschwommener Erinnerungen aus ihrer Kindheit. Auf ihrer Reise begegnet sie dem Musiker Aiden, der ungeahnte Gefühle in ihr weckt, und dem es gelingt, hinter Lizzys dunkle Maske zu schauen. Aber was, wenn es manchmal besser ist, dass die Vergangenheit im Verborgenen bleibt, damit sie dich nicht zerstört?

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Seitenzahl: 587

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


»You Couldn‘t Hate Enough To Love.«Slipknot – Snuff

Eine Warnung zu sensiblen Inhalten in diesem Buch findest du auf Seite →. (Achtung Spoiler!)

PLAYLIST

PIXIES | Where Is My Mind?

BADFLOWER | Ghost

CALL ME KARIZMA | Serotonin

NEW MEDICINE | Take Me Away

DEFTONES | Passenger

I PREVAILl | Bad Things

PALAYE ROYALE | Lonely

THE PRETTY RECKLESS | Kill Me

YUNG BLUD | Die A Little

BRING ME THE HORIZON | STraNgeRs

HIGHLY SUSPECT | Bath Salts

PALAYE ROYALE | No Love in L.A.

SLIPKNOT | Duality

MOTHICA | Forever Fifteen

HALESTORM | Mz. Hyde

THE NEIGHBOURHOOD | Daddy Issues

BAD OMENS | The Grey

LIL DUSTY | INSECTS

MAGGIE LINDEMANN | Loner

LANA DEL REY | High By The Beach

NESSA BARRETT | BANG BANG

THE USED | Iʼm A Fake

WILLOW L | <Coping Mechanism>

MOTIONLESS IN WHITE | Voices

I PREVAIL | Deep End

Inhaltsverzeichnis

PLAYLIST

PROLOG

5 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 1

»GLAUBST DU ECHT, BONNIE UND CLYDE HÄTTEN SEX-TAPES GEKLAUT?»

DEAR DIARY

15 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 2

»DU KÖNNTEST IHN GANZ EINFACH MIT DEINEM KOPFHÖRERKABEL STRANGULIEREN.«

DEAR DIARY

13 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 3

»WENN DAS SCHIEF GEHT, LANDEST DU SCHNELLER WIEDER IN MONTANA ALS DU BENZODIAZEPIN SAGEN KANNST.«

DEAR DIARY

11 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 4

»WENN ICH AN IHN DENKE, BEKOMME ICH EHER MORDGELÜSTE STATT EIN FEUCHTES HÖSCHEN.«

DEAR DIARY

10 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 5

»WIE HOCH IST DIE WAHRSCHEINLICHKEIT, DASS ZWEI PSYCHOPATHEN GLEICHZEITIG IN EINEM AUTO SITZEN?«

DEAR DIARY

9 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 6

»WENN MAN ZAC EFRON AUF WISH BESTELLT, DANN BEKOMMT MAN SPENCER FIERSLEY GELIEFERT.«

DEAR DIARY

8 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 7

»SIE IST SO EIN EDLES DESIGNER-TEIL . UND ICH BIN EIN MÄNGEL-EXEMPLAR VOM WÜHLTISCH.«

DEAR DIARY

7 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 8

»AUF EINER SKALA VON EINS BIS ZEHN IST SIE DEFINITIV EINE ACHT, ABER LEIDER VÖLLIG GEISTESGESTÖRT.«

DEAR DIARY

5 JAHRE ZUVOR

KAPITEL 9

»ICH LAUFE UM DIE WETTE GEGEN MEINE EIGENE PSYCHE. WER IST SCHNELLER? «

DEAR DIARY

2 JAHRE ZU VOR

KAPITEL 10

»WHERE IS MY MIND? WEISS ICH NICHT MEHR. HAB ICH VERGESSEN.«

DEAR DIARY

9 JAHRE ZU VOR

EPILLOG

WOCHEN DANACH

NACHWORT

PROLOG

5 JAHRE ZUVOR

Mattgrau. Metallisch. Scharf und hauchdünn. Wie Papier. Nur fester. Meine Hand, in der ich die Klinge hielt, zitterte. Wässrig graue Mascaratränen rannen über meine Wangen. Mein Handgelenk war fast schneeweiß und so zierlich, dass ich meine Finger ohne Mühe darum legen konnte.

Im Raum war es finster. Ich erkannte meine Silhouette im Spiegel. Ich war hier. Ich existierte. Fühlte sich bloß nicht so an. Ich wollte nur, dass es aufhört. Dass es endlich still war. Alles, was ich je wollte, war, dass es jemanden interessierte, wer ich wirklich war. Aber niemand erkannte mich. Niemand sah mich. Nicht in meiner Gesamtheit. Niemand hörte mich. Niemand konnte in mich hineinschauen und verstehen, was ich fühlte. Und niemand konnte mir helfen.

Du Freak, du verdienst es nicht zu leben.

Teuflische Worte, die mich jedes Mal runterzogen. Worte, die an mir hängen und in mir gefangen blieben. Besser, ich hielt mir die Ohren zu. Aber das half ja doch nie.

Schmeiß die Klinge weg, schrie das Engelchen laut auf meiner linken Schulter. Doch heute hörte ich nicht auf seine Bitte. Dieses Mal nicht. Denn wenn ich das täte, würde ich niemals herausfinden, wie es wäre, wenn alles um mich herum verstummt. Und wie es wäre, wenn ich keinen Schmerz mehr spüre.

So weit bist du noch nie gegangen.

KAPITEL 1

»GLAUBST DU ECHT, BONNIE UND CLYDE HÄTTEN SEX-TAPES GEKLAUT?«

Nur um ein paar Dinge von Anfang an klarzustellen. Erstens: Ich bin vermutlich die abgefuckteste und einsamste Person in diesem Universum, obwohl ich nie wirklich ganz allein bin. Zweitens: Es ist verdammt hart für mich am Leben zu sein und jeden Tag zu überstehen. Drittens: Wegen dem, was mir passiert ist, wollte ich schon öfter nicht mehr weiterleben. (Um genau zu sein: zweieinhalb Mal).

Du fragst dich jetzt sicher, wie es geht, sich ein halbes Mal umzubringen? Dazu kommen wir später. Aber wie du siehst, bin ich noch immer hier. Was mich zu meinem letzten Punkt führt. Viertens: Ich krieg einfach NICHTS auf die Reihe. Gar. Nichts. Nicht mal meinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Stattdessen muss ich mich – meiner Freundin Paige zuliebe – mit so hirnrissigen Dingen herumschlagen wie das hier:

Ich liege wach, auf einer durchgelegenen Matratze in Zacks unordentlichen, spärlich möblierten Apartment. Das einzige, was Zack von einem Obdachlosen unterscheidet, ist dieses heruntergekommene Loch am Stadtrand, in dem er seit kurzem wohnt, seit er wieder draußen ist (drei Monate hat er wegen so einer dummen Schlägerei gesessen. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als danach direkt wieder mit ihm in die Kiste zu springen). Nicht mal sein kurz geschorener Haarschnitt mit den aschblonden Fransen in der Mitte, die mal einen Iro darstellen sollten, sieht besser aus als der von einem Penner. Und er hat es seit vier Wochen nicht geschafft, seine Reisetasche auszupacken, geschweige denn, sich ein Bett zu organisieren.

Und trotzdem bist du jetzt hier.

Ja. Widerwillig!

Meine Hände zittern. Mein Herz rast. Wie immer. Wie jeden Morgen. Ich schlage die Augen auf. Dabei habe ich gar nicht geschlafen. Nur so getan und abgewartet. Draußen wird es bereits hell. Mal wieder ein neuer Tag. Ironisches Yay.

Ihr müsst wissen: Ich lebe im Hier und Jetzt und überstehe einen Tag nach dem anderen. An morgen oder an die Zukunft zu denken, fällt mir schwer und ergibt selten Sinn für mich. Mehrere Tage am Stück, ohne mich zu verlieren, sind für mich schon als großer Erfolg zu verbuchen.

Ich schaue nach rechts neben mir auf die Matratze. Dort, wo Zack liegt und pennt. Ich verdrehe die Augen.

Du hast es schon wieder getan, Lizzy. Du Schlampe. Du bist so schwach.

Und du denkst immer nur an das Eine.

Ja, ok, das war dieses Mal echt nicht Teil meines Plans. Aber hey, Zack und ich brauchen genau das, um etwas damit zu kompensieren. Denn nur Sex lässt mich jedes Mal für eine Weile diesen ganzen Mist vergessen. Zack ist nicht mein fester Freund. Geezus. Bloß Freundschaft Plus. (Du weißt, was ich meine.) Obwohl, nein, eigentlich ist er auch nicht wirklich ein Plus. Nicht mehr. Keine Ahnung, was er für mich ist. Und keine Ahnung, was sein Ich-bin-so-kaputt- undhasse-mein-Leben-Grund ist. Er kennt meinen ebenso wenig. Aber das ist auch gut so und gehört in Nächten wie diesen nicht hier her.

Die Uhr verrät mir, dass es mittlerweile sechs Uhr morgens ist. Bevor ich jedoch die Tatsache eines neuen Tages akzeptieren kann, muss fürs Erste mein Körper klarkommen. Meine Hände zittern immer noch, als würde man mir immer wieder leichte Elektroschocks zufügen. Nur ohne das Kribbeln in den Nervenenden.

Ich greife in meine Handtasche, die auf dem Boden neben mir liegt und suche nach der richtigen Pillendose. Die zeitlichen Abstände zwischen den Rationen, in denen die Wirkung mich halbwegs normal fühlen lässt, werden kürzer und kürzer. (Du willst ernsthaft wissen, was ich alles schlucke? Okay, ich machʼs kurz: So Einiges. Und noch mal mindestens genauso viel gegen die Nebenwirkungen all dieser Medikamente.) Mit einem Rest abgestandener Cola spüle ich meine Tagesdosierung runter.

Zack schläft noch. Kein Wunder. Ich habe ihm vor einer Stunde zwei meiner Valium in sein Bier gemixt. Denn das ist Teil meines Vorhabens. Der Grund, weswegen ich eigentlich hier bin. (Sex war es nämlich dieses Mal nicht!)

Also, ich kläre euch jetzt mal auf. Es ist so: Zack besitzt Videos von mir und Paige. Videos, die nicht jeder sehen sollte. (Und jetzt frag nicht, wieso er die besitzt. Das ist eine andere Geschichte.) Fakt ist: Zack hat sie auf seinem Handy. Und sie sollen da nicht sein. Zack erpresst mich damit. Sagt, er würde sie ins Internet stellen, wenn ich nicht (Achtung: Mr. Minderwertigkeitskomplex im Anmarsch) regelmäßig mit ihm ficke und vor seinem Bewährungshelfer vorgebe, seine Freundin zu sein. Oder ich soll ihm fünfhundert Mäuse geben. Könnt ihr mir vielleicht mal sagen, wo ich so scheißviel Kohle herkriegen soll? Nein? Seht ihr. Dilemma.

Ich habe mir geschworen, NIE WIEDER unfreiwillig in eine Situation zu geraten, in der ich einem Kerl unweigerlich ausgeliefert bin.

Ich brauche eindeutig keinen netten Typen, der auf mich und meine Probleme eingeht. Der mich umsorgt und mich mit Gefühlen und so einem Scheiß zuschüttet, die ich nicht brauche, und mit denen ich sowieso nicht umgehen kann. Aber so einen Freak wie Zack brauche ich genauso wenig. Jetzt, nach dieser Aktion, empfinde ich ihn plötzlich nur noch als unreifes Arschloch. Ich habe absolut keinen Bock mir solche Spielchen länger gefallen zu lassen. Ich bin stärker als früher.

»Mach doch, wenn dir dabei einer abgeht«, habe ich neulich leichtsinnig gemurmelt, woraufhin Zack nur dumm gegrinst hat.

Aber Paige tickt da anders, was dieses Thema betrifft und hat Panik davor, dass jemand diese pikanten Inhalte sieht. Sie hat Schiss, dass das Video Konsequenzen für ihren Job hat. Gerade jetzt, wo sie ihr Leben einigermaßen geordnet hat. Und dass ihre Familie sie genauso dafür verurteilt, wie dafür, dass sie lesbisch ist.

Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich mich nicht zwingend festlege, auf wen ich stehe. Demnach sah ich auch bisher keinen Grund, mich zwischen Paige und Zack zu entscheiden. Zumindest bis neulich, als er anfing, so eine Scheiße mit uns abzuziehen. Also muss ich Paige nun einen Gefallen tun, weil sie mir eindeutig wichtiger ist, als so ein Scheißkerl, der nur mit seinem Schwanz denkt. Und genau aus diesem Grund ist es ein Kinderspiel für mich, ihm mitten in der Nacht spontan einen Besuch abzustatten.

Ich weiß, dass er noch wach sein wird, weil er im Dunkeln meistens genauso wenig schläft wie ich, und die Nächte durch zockt.

Ich will es möglichst schnell durchziehen, damit ich ihm dann nie wieder über den Weg laufen muss. Daher komme ich dieses Mal besonders schnell zur Sache, aber das scheint Zack nicht wirklich was auszumachen. Er merkt in der Regel nicht viel, wenn er high ist. Der richtige Blick hier, ein gefaktes Stöhnen da, bis er mir aus der Hand frisst. Berührungen, die ich gekonnt abspule, um bloß nicht zu viel dabei zu fühlen. Ich nehme mir, was ich brauche und kämpfe gleichzeitig diesen inneren Kampf zwischen Lust und Abscheu. Ein Kampf zwischen mir und meiner verdrehten Libido. Aber es ist gut, weil ich verdammt wütend auf ihn bin. Und wie. Das ist noch besser als Rache-Sex. Weil ich weiß, dass das hier definitiv das allerletzte Mal ist.

Noch bevor die Folge seiner Serie irgendeines Comic-Remakes vorbei ist, die noch immer im Hintergrund plärrt und die er gerade weg suchtet, bin ich auch schon fertig mit ihm. Danach chillen wir auf seinem Bett herum und ich schnorre mir was von seinem Joint. Ich liege nackt neben ihm, betrachte rauchend meine Bissspur zwischen seinem Nacken und Schulterblatt, aber er ignoriert mich komplett und hat nur noch Augen für seinen Bildschirm, auf dem er jetzt abwesend und wie besessen Fortnite zockt.

Er ist längst überfällig, denke ich. Ich ertrage seine dumme Fresse nicht länger. Ich brauche sein Handy, verdammt. Doch das lässt er die ganze Zeit über fast nie aus den Augen, geschweige denn aus den Händen. Wahrscheinlich lässt er sich, während ich nebenan bin und dusche, von irgendwelchen anderen Psycho-Tussis Nacktfotos schicken.

Als ich wieder aus dem Bad komme, fische ich kurzerhand ein Bier aus dem kleinen Kühlschrank. Ich fühle mich wie Hermine, während ich ihm seinen persönlichen Schlaftrank braue, indem ich zwei Schlaftabletten in der Spüle zerbrösele und das Pulver in der Bierdose verschwinden lasse.

»Hier, hast du dir verdient«, scherze ich (hat er nicht!) und drücke es ihm in die Hand, während er auf dem zerwühlten Bett liegt und mich nicht mal ansieht. Er braucht einen Moment, ehe er reagiert. Dann nickt er mir zu und zieht apathisch an seinem Joint.

Jetzt hat er bekommen, was er wollte.

Jetzt kann er dich wieder wie Dreck behandeln.

Wie jedes andere männliche Wesen sonst auch. Daher lasse ich die Typen meistens zuerst fallen, bevor sie mir entweder lästig werden oder zu Idioten mutieren. Und Letzteres kommt viel zu oft vor.

Wisst ihr, wenn man sein Leben lang so sehr mit sich selbst und seinen Dämonen kämpft, wie ich, dann wird man schnell ziemlich egoistisch und fokussiert sich bloß auf sich und seinen eigenen Vorteil. Ist das richtig? Nein. Ist es gesund? Nein. Aber es ist Fakt. Reiner Selbstschutz.

»Ist es okay, wenn ich bei dir bleibe und hier penne?«, lüge ich zuckersüß, denn ich werde weder hier bleiben noch werde ich pennen.

»Was? Ja, klar, warum nicht?«, brummt Zack abwesend und rückt ein Stück auf der Matratze zur Seite, um mir Platz zu machen.

Ich warte also, bis der völlig ahnungslose Wichser das Bier ausgetrunken hat und er noch schneller als ich es erwarte wegpennt.

So ein Loser, Lizzy. Der Idiot verträgt ja echt gar nichts.

Als ich sicher bin, dass er sobald nicht wieder aufwachen wird, stehe ich auf Zehenspitzen auf und schleiche um das Bett herum auf die andere Seite. Zack schnarcht und sein Mund steht offen. Ein Sabberfaden läuft aus seinem Mund auf das Kissen.

Angewidert verziehe ich den Mund und schnappe mir sein Smartphone vom Nachttisch, entsperre es (seine PIN habe ich mir natürlich längst abgeguckt) und öffne die Bildergalerie. Ich lösche alle Dateien und entferne die Speicherkarte aus dem schmalen Fach am Rand des Handys. Ich hoffe nur, dass er keine Kopien von den Dateien gemacht hat, aber so schlau ist er vermutlich nicht.

Ich platziere Zacks benutztes Kondom von eben in seinem offenen Mund. Dann öffne ich den Kamera-Modus und mache ein Bild von seinem traumhaften Anblick, während ich mir das Lachen verkneifen muss. Mit meinen schwarz umrandeten Augen und den Überresten meines roten Lippenstifts, den ich vor Stunden aufgetragen habe, posiere ich vor der Linse. Ich betrachte mein blasses Gesicht mit der Stupsnase, eingerahmt von dem schwarz gefärbten, schulterlangen Bob und den fransigen Ponysträhnen, die mir über die graublauen Augen fallen.

Abgefuckt, aber immer noch cute.

Ach, komm schon, du siehst aus wie Schneewittchen auf Crack.

Mit vor den Mund gehaltener Hand kichere ich leise über diesen Vergleich. Mit erhobenem Mittelfinger forme ich einen Kussmund und schieße ein schnelles Erinnerungs-Selfie für Zack.

Zu gern würde ich Zacks Gesicht sehen, sobald er aufwacht und bemerkt, dass dies die beiden einzig verbleibenden Fotos auf seinem Handy sind. Und, dass ich sie auf Instagram gepostet habe.

Ich lasse die Speicherkarte in meiner Handtasche verschwinden, klaue mir noch zehn Dollar und etwas Weed aus seiner Jeans, die zusammengeknüllt auf dem Fußboden neben ein paar leeren Colaflaschen und Pizzaschachteln liegt, und ziehe so leise wie möglich die Tür von diesem Drecksloch hinter mir zu. Fuck You. Goodbye.

Allmählich komme ich auf den neuen Tag klar. Ich laufe durch die belebten Straßen von Helena, an deren Gebäuden bereits die wenigen warmen Sonnenstrahlen der August-Sonne abprallen und wühle in meiner Handtasche herum, weil mein Handy unablässig vor sich hin vibriert. Meine Handtasche ist eindeutig ein schwarzes Loch. Dabei ist nicht mal viel drin. Mein uralter, heiß geliebter, quietschgrüner iPod. Kopfhörer. Make-Up. Mein Ausweis. Tabak für Zigaretten. Die Speicherkarte, das Weed und die zehn Dollar von Zack sowie der Rest von dem Geld, das Shondra mir am Anfang der Woche zugeteilt hat. Und natürlich mein Lebenselixier: Meine Medikamente, die ich hüte, wie meinen eigenen Augapfel.

Ich bleibe stehen und verkneife mir einen Kommentar, als sich irgend so ein Anzugträger über mich beschwert, weil ich mitten auf dem Gehweg stehenbleibe. Endlich spüre ich das Handy zwischen meinen Fingern. Ich drücke auf das Symbol mit dem grünen Telefonhörer und stelle mich in den Schatten eines der Gebäude neben mir, weil die Sonne mich und meine von viel zu wenig Schlaf ganz empfindlichen Augen blendet. Ich kann Hitze und Helligkeit nicht ausstehen. Aber vor Dunkelheit habe ich Angst. Bleiben also nicht so viele Licht-Nuancen für mich übrig. Bin mehr so der Sommerregen- und-Gewitter-Typ.

Montana zählt zu den kältesten Bundesstaaten, daher kommt es zum Glück nur wenige Monate vor, dass die Temperaturen hier über zwanzig Grad steigen. Ich mag die Sonne, ehrlich. Aber für meinen Vampir-Teint ist sie der Feind. Und auch sonst verkrieche ich mich lieber unter der Decke in meinem Zimmer und schaue Tiktok-Videos, statt wie andere Leute an den See zu gehen. Draußen ist mir meistens nicht geheuer. Zu viel Lärm. Zu viele Menschen. Zu viele Stimmen.

»Was?« Ich weiß genau, wer am anderen Ende der Leitung ist. Es ist meine Freundin Paige. Ungeduldig und neugierig wie immer.

»Und?«, hechelt sie. »Hat es geklappt?«

Wenn ich Paige beschreiben müsste, dann würde ich das vermutlich so tun: Ich bin Bonnie, sie ist mein Clyde. Ich bin Nancy, sie ist mein Sid. Ich bin Yoko, sie ist mein John. Oder von mir aus auch anders rum, wegen dieser ganzen Emanzen-Sache. Ich könnte in diesem Beispiel genauso gut der Kerl sein. Aber ihr wisst, worauf ich hinaus will. Sie ist meine bessere Hälfte. Sie ist meine beste Freundin. Aber ich liebe sie auch. Irgendwie. Auf meine verkorkste Weise, wie ich eben in der Lage bin, einen anderen Menschen zu lieben. Ich finde, Liebe ist ein krasses Wort. Aber ich fühle mich bei ihr so wohl wie bei niemandem. Und das schon seit unserer Zeit im Treasure Home. Und ausgerechnet sie ist nun seit ein paar Wochen für mehrere Monate weg. Ein Praktikum in Illinois bei der Chicago Times. Riesen Chance und so. Klar, freue ich mich für sie, dass wenigstens eine von uns beiden ihr Leben langsam mal auf die Reihe bekommt. Aber trotzdem ist sie nicht hier bei mir. Und damit komme ich nicht gut klar. Das letzte Mal, als sie wegging und die Wellen meiner Vergangenheit bei mir über den Rand geschwappt sind, wurde ich mit aufgeschnittenen Armen in die Notaufnahme eingeliefert.

»Mission Bonnie und Clyde war erfolgreich. Over.« Ich bin gerade gut drauf und lasse meine Stimme so klingen, als käme sie von einem Band oder einem Walkie Talkie.

Paige lacht schnaubend. »Was? Bist du schon wieder high? Glaubst du echt, Bonnie und Clyde hätten Sex-Tapes geklaut?«

»Wer weiß? Ist doch alles möglich. Die müssen schließlich auch mit der Zeit gehen.« Ich kann förmlich spüren, wie Paige am anderen Ende der Leitung über meine Aussage schmunzelt.

»Also, hast du die Dateien und die Speicherkarte nun?«

»Ja doch, das habe ich damit doch gemeint. Soll ich dir ein Beweisfoto schicken, damit du mir glaubst?« Ich zünde mir eine Zigarette an und nehme einen Zug.

»Nein, ich glaub dir ja. Und danke.« Sie klingt erleichtert. Ich setze mich wieder in Bewegung, während Paige auf der anderen Seite der Leitung irgendwo in Chicago vor sich hinschweigt. Ich bin ja prinzipiell ein großer Fan von absoluter Stille, aber nicht bei Paige.

»Alles okay?«

»Klar. Sorry, dass du Zack für mich in den Wind schießen musstest.«

»Unsinn. Du gehst IMMER vor, Paige. Du weißt doch: Chick before Dick.«

Ohne Ziel laufe ich weiter die Avenue hinauf, obwohl der Weg zurück zu meinem Wohnheim in die andere Richtung viel dichter wäre. Aber was soll ich da jetzt?

»Für Zack war ich doch sowieso nur sein Bootycall. Seine persönliche Apotheke mit Titten. Ehrlich. Ich scheiß auf ihn. Von jetzt an kann er es sich selbst besorgen.«

Paige lacht auf. Sie hat meine Doppeldeutigkeit verstanden. Kein Sex und keine Drogen mehr für Zack. Ich habe für ihn in der Vergangenheit schon etliche Male irgendwelches Zeug organisiert, das ich mir über meinen Pyschodoc ganz leicht verschreiben lassen konnte. Dann war er entweder so was von drauf und wir gingen Party machen und landeten danach für ein ganzes Wochenende zusammen im Bett. Oder er kam endlich mal runter von seinem Aggro-Trip und wir chillten den ganzen Tag apathisch zwischen leeren Bierflaschen und Fastfood-Tüten, rauchten Gras, dämmerten zu irgendwelchen kranken Anime-Filmen vor uns hin und landeten dann zusammen im Bett. Eben Netflix and Chill auf unsere kaputte Art. Aber kurz gesagt haben wir uns doch nur gegenseitig ausgenutzt, um uns für einen Bruchteil etwas weniger scheiße zu fühlen. Damit ist jetzt Schluss. Ich hasse den Kerl.

»Ich vermiss dich, Lizzy«, flüstert Paige, was fast in dem Straßenlärm neben mir untergeht.

»Ich dich auch, my Girl.« Ich bleibe an einer roten Ampel stehen und quetsche meine Zigarette an einem Laternenpfahl aus. Dann lasse ich den Kippenstummel im Gulli verschwinden.

»Ich könnte Shondra fragen, ob sie es erlaubt, dass ich dich übers Wochenende besuchen komme.«

»Nie im Leben tut sie das.«

»Hey, mir geht‘s momentan echt wieder ganz gut, okay?«, rechtfertige ich mich. Sicher kann aber selbst ich mir da nicht sein. Von einer Sekunde auf die andere kann es vorkommen, dass ich wieder umswitche, ohne es steuern zu können. Die Gefahr ist immer da. Doch zumindest macht es nach außen hin den Anschein, dass es mir besser geht. Auf andere glücklich und normal zu wirken, erfordert einen erheblichen Kraftaufwand. Selbst Profis, wie meine Sozialarbeiterin Shondra, lassen sich immer wieder davon täuschen, dass ich ihnen bloß etwas vormache. Dabei sollte doch gerade sie es besser wissen, so lange, wie sie mich schon kennt.

»Wie ist dein Praktikum? Immer noch so interessant?« Ich betone das letzte Wort und setze es so quasi in Anführungszeichen.

»Ja, ich darf jetzt sogar schon Artikel Korrekturlesen.«

»Na dann weiß ich ja, woran es liegt, wenn bald aus Chicago andauernd Fake-News kommen,« stichele ich. Doch ich höre im Hintergrund bei Paige nur ein paar kurze Wortfetzen und sie spricht gedämpft zu jemand anderem.

»Alles okay?«, frage ich wieder.

»Ja«, seufzt sie. »Aber ich muss jetzt Schluss machen. Habe schon wieder wegen dir meine Frühstückspause maßlos überzogen.«

Ich bin etwas enttäuscht, weil sie in letzter Zeit durch diese Arbeit so wenig Zeit für mich hat. Wir telefonieren meistens nur einmal am Abend, wenn sie Feierabend hat. Manchmal trifft sie sich noch mit Kollegen auf einen Drink. Oder sie ist dann ziemlich müde und wortkarg. Dabei drehe ich nach Sonnenuntergang gerade erst auf und habe Redebedarf.

»Okay, bye. Ich kläre das mit Shondra und melde mich wieder.«

»Wetten nicht.«

»Wetten doch.«

Etwas später am Morgen stehe ich in der Schlange in meinem Lieblings-Diner und bestelle den schwärzesten Kaffee im Universum. Du könntest einen Löffel hineinstellen und er würde aufrecht darin stehen bleiben. Ist so. Glaub es oder lass es.

Wie jedes Mal fragt die Bedienung, ob ich etwas essen möchte. Ich bin oft hier, aber wie jedes Mal verneine ich. Noch nie habe ich hier etwas zu essen bestellt. Langsam sollte sie es mal begreifen. Die Tabletten hemmen permanent mein Hungergefühl. Kein Wunder, dass ich so dürr bin. Die Leute starren mich immer an, weil sie denken, ich stecke mir jeden morgen den Finger in den Hals. Dabei stimmt das gar nicht. Ich habe einfach nur keinen Appetit. Wenn ich wollte, würde ich auf der Stelle zwei Burger verdrücken. Aber ich will nun mal nicht. Der Kaffee und ʼne Kippe reichen mir.

Mit meinem Becher setze ich mich auf die Sitzbank in der hinteren Ecke, von der aus man den besten Überblick über den Laden und aus dem Fenster hat. Und was noch besser ist: man hat niemanden mehr hinter sich. Denn das kann ich nicht leiden. Ich habe dann immer das Gefühl, dass mir jemand auflauert. Ich weiß, ihr denkt jetzt: Das Mädchen hat doch ʼne Macke. Noch besser: Ich habe einen ganzen Strauß voll Neurosen. (Beispiel gefällig? Ich berühre mit dem Löffel nie den Rand des Keramikbechers, weil ich dieses Klimpern hasse. Das schrillt immer so in den Ohren und lässt mich zusammenzucken). Die Härchen auf meinem Unterarm stellen sich schon auf, wenn ich auch nur an das Geräusch denke.

Ich bin oft hier und sitze einfach nur so rum und beobachte die Menschen, die hier ein und aus gehen. Es ist neun Uhr früh und der morgendliche Ansturm hat nachgelassen. Nur wenige Tische sind besetzt, die Schlange ist nicht erwähnenswert und im Hintergrund höre ich die leisen Stimmen der Moderatoren des Frühstücksfernsehens aus dem Gerät in der Ecke.

Manchmal ist es schön, so in den Tag hinein zu leben, ohne Verpflichtungen. Dann ist es wieder seltsam und es macht, dass ich mich so überflüssig fühle, weil ich nichts zur Gesellschaft beitrage. Ich existiere einfach nur. Und selbst damit falle ich genug Menschen zur Last. Vor allem mir selbst. Klar, ich habe meine Routinen, an die ich mich auch strikt klammere, um die Kontrolle zu bewahren. Lediglich ein paar feste Termine habe ich in der Woche. Montag: Wochenplan-Besprechung mit meiner Sozialarbeiterin Shondra. Dienstag und Donnerstag: Psychiater-Tag. Freitags: Einkaufen und gemeinsames Kochen in der Einrichtung. Am Wochenende: Entweder Gaming-Marathon oder Serien bingen mit Paige. Alternativ je nach Stimmung: Hirn wegfeiern und was zum Vögeln suchen. So oft es geht, treffe ich mich in meiner freien Zeit mit Paige. Aber die ist ja nun erst mal weg. Darüber hinaus mache ich gerade so einen unnützen Computer-Kurs, zu dem Shondra mich neulich überredet hat, wo man lernt, wie man Fotos bearbeitet und Excel-Tabellen befüllt und all so Zeug. (Manchmal muss ich vor Shondra nachgeben, damit sie Ruhe gibt.) Aber ich weiß wirklich nicht, wozu ich das brauche. Denn ich will später weder Fotos bearbeiten noch Excel-Tabellen befüllen. In Wirklichkeit weiß ich überhaupt nicht, was ich später mal machen will. Ich sage immer, mich stellt doch sowieso nie ein Arbeitgeber ein, wenn er meine Akte sieht. Bis jetzt habe ich jeden Nebenjob hingeschmissen oder bin rausgeflogen. Aber etwas Ablenkung während Paige weg ist, wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Eine Beschäftigung. Irgendwas, damit ich hier nicht durchdrehe.

Mein Handy vibriert schon wieder. Erst denke ich, es ist noch mal Paige. Oder Zack. Aber dann ist es bloß Shondra. Wenn man vom Teufel spricht ...

»Was gibt‘s?«, frage ich gelangweilt und verbrühe mir meine Zunge an dem viel zu heißen, zähflüssigen Kaffee.

»Wo steckst du um alles in der Welt?«

Okay, keine Begrüßung. Sie kommt mal wieder gleich zur Sache und zetert: »Du warst die ganze Nacht unterwegs.« (Ach echt?! Ist mir gar nicht aufgefallen. Ironie off.)

Ich runzele die Stirn und murmele bloß kryptisches Zeugs: »Du weißt doch, ShoSho, die Sonne ist meine Finsternis. Der Mond ist mein Licht.«

»WAS? Bist du betrunken? Es ist zehn Uhr morgens.«

Ja, und???

Ich kann mir Shondra bildlich vorstellen, wie sie vermutlich gerade in ihrem Auto oder an ihrem Schreibtisch sitzt, sich wegen mir nervös ihren gewaltigen, blondierten Afroschopf rauft und sich eine der vielen Locken um den Finger dreht. Ich glaube – nein, ich weiß – dass ich sie manchmal zur Weißglut treibe. Entweder ich mache, fühle und denke von allem zu viel. Oder ich mache, fühle und denke phasenweise gar nichts. Beides scheiße. Und schwer für andere, damit umzugehen. Aufgewühlt durch Shondras vorwurfsvollen Ton, zupfe ich nervös an meinen Haaren herum. Ich reiße mir ein paar davon aus und betrachte sie wehmütig, bevor ich sie auf den Boden gleiten lasse (noch so ein seltsamer Tick).

Aber Shondra Williams hat mich ansonsten ziemlich gut im Griff. Und doch nervt sie mich ganz schön oft mit ihrer Überfürsorglichkeit. Fürs Protokoll: Ich brauche keine Mutter. Brauchte ich nie.

Red dir das nur immer wieder ein, Lizzy.

»Du weißt, dass du mir Bescheid sagen sollst, wenn du über Nacht wegbleibst. Ich habe mir echt Sorgen gemacht, als dein Bett heute morgen leer war. Schreib doch nächstes Mal bitte eine Nachricht.«

Ich verdrehe die Augen. »Man, ich bin fast einundzwanzig.«

»Dann benimm dich zur Abwechslung auch mal wie eine Erwachsene, dann kann ich dir auch mehr Freiraum gewähren. Aber so lange du in meiner Einrichtung lebst, bin ich nun mal für dich verantwortlich. Und rede mit mir. Du weißt, du kannst mir alles sagen.«

»Ja ja«, murmele ich abwesend, weil es immer die gleichen Phrasen sind, die sie mir wie einen Ohrwurm auf Repeat einpflanzt.

»Also, Missy, wo warst du letzte Nacht? Wo bist du jetzt? Und wann kommst du nach Hause?« Sie verschießt ihre Fragen, wie mit einem Maschinengewehr. Ratatatatat.

Nach Hause, denke ich sarkastisch. Mein Zimmer im Wohnheim ist kein zu Hause für mich. So etwas habe ich nicht. Muss zu Hause immer gleich ein bestimmter Ort sein? Wenn zu Hause eine Person wäre, dann wäre es wahrscheinlich Paige. Und wenn zu Hause wirklich ein echter Ort sein müsste, dann wäre es wenigstens ein gemütliches Plätzchen irgendwo am Pazifik. Aber bestimmt nicht hier in dieser tristen, grauen Kleinstadt inmitten von Montana.

»Bei Zack. Im Diner. Weiß nicht«, beantworte ich knapp und gelangweilt nacheinander ihre Fragen in chronologischer Reihenfolge.

»Zackary Armstrong?« Ihre Stimme klingt schrill, als sie seinen vollen Namen ausruft. Sie kann Zack nicht ausstehen. Sie sagt immer, ich solle mich nur mit Menschen umgeben, die meinen stabilen Zustand fördern und mich nicht wieder runterziehen und mich emotional strapazieren. Zitat Ende. Daher unterbreche ich sie gleich, weil ich genau weiß, was andernfalls jetzt kommen würde.

»Bevor du gleich wieder ausflippst. Das war das letzte Mal. Ich bin durch mit ihm. Zufrieden?«

Shondra grummelt irgendetwas am anderen Ende, das klingt, wie: das habe ich schon öfter gehört, und ich wechsele das Thema.

»Und weil du immer wieder sagst, ich soll mich mal wie eine Erwachsene benehmen und, dass ich Fortschritte mache, darf ich dann vielleicht demnächst für ein paar Tage zu Paige nach Chicago fahren?«

»Chicago? Allein?«

»Man, Shonnie«, bettele ich. »Ich krieg‘ das schon hin. Du darfst mich auch hinbringen und wieder abholen.« Bevor ich nämlich auch nur einen Fuß in ein Flugzeug setze, foltere ich mich lieber zwanzig Stunden auf Shondras Beifahrersitz mit RʼnʼB und langweiligem Gesülze über ihre Schlaftablette von Freund.

Sie lacht herzhaft auf. »Klar, das könnte dir so passen«, scherzt sie. Aber natürlich würde sie das tun, um dafür zu Sorgen, dass ich heil ankomme. Vermutlich würde sie sogar noch in Chicago bleiben, und mir immer sagen, wann ich zu essen habe und wann es besser wäre, ins Bett zu gehen. Ich schüttele mich. Allein die Vorstellung, sie würde mich bei allem, was ich tue, begleiten ist creepy.

»Schön, dann fahr ich eben Bus. Bitte, ShoSho. Paige fehlt mir so.« Sie ignoriert meine Bettelei und meine albernen Spitznamen für sie und meint nur: »Ich denk‘ drüber nach, aber nur, wenn du ... «

Den Rest höre ich nicht mehr, denn dann starre ich entgeistert auf den Fernseher an der Wand, in dem gerade VIP Flash läuft.

In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, als ich da plötzlich dieses Mädchen auf dem Bildschirm sehe. Wie sie in irgendeiner reichen und sonnigen Gegend aus einem teuren Wagen steigt und mit ihrem perfekten Make-Up ein knappes Statement abgibt. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, weil der Ton ganz leise gestellt ist. Aber das ist auch nicht wichtig. Ich sehe nur diese Augen, die genau wie meine sind. Diese Gesichtszüge, wenn sie den Mund verzieht. Jade. Das ist das einzige, was mir in dieser Millisekunde durch den Kopf schwirrt. JadeJadeJade. EineMillionMalJade.

Das ist absolut unmöglich. In der Einblendung unter ihrem Gesicht steht: Mackenzie di Angelo, Influencerin, 18 Jahre.

Aber diese Beschreibung hält mich nicht davon ab, zu tausend Prozent sicher zu sein, dass es sich bei diesem Mädchen um meine jüngere Schwester handelt. Mir wird sofort schwindelig.

»Lizzy?« Shondras Stimme ist ganz weit weg, wie in Watte eingehüllt, und es dauert, bis sie wieder zu mir durchdringt.

»Hey, Lizzy. Bist du noch da?«

Ich reiße mich zusammen und wimmele Shondra hastig unter einem Vorwand ab. Sie soll mir nicht anmerken, dass gerade wieder mal alles bei mir ins Wanken gerät.

Sonst lässt sie dich NIE nach Chicago fahren.

Meine Hände, die den Kaffeebecher umklammern, beginnen zu zittern und zu schwitzen. Als ich abrupt aufstehe, werfe ich aus Versehen den Becher um und er fällt mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf den Boden. Die gesamte, schwarze Flüssigkeit verteilt sich unter dem Tisch. Die Leute drehen sich um, gucken, aber ich zucke nicht mal zusammen, sondern laufe nur schnurgerade durch den Gang und rempele dabei einen der Gäste an. Ich nehme nichts mehr von meiner Umgebung wahr. Ich habe nur noch einen Tunnel vor Augen, der mich in letzter Sekunde zum Ausgang manövriert, bevor ich anfange zu hyperventilieren. Weil ich den Moment vor meinen Augen sehe, in dem ich Jade das letzte Mal sah. Dann kotze ich direkt neben die Eingangstür vom Diner.

Ich schnappe nach Luft. Selbst hier draußen ist zu wenig Sauerstoff für meine Lunge. Ich laufe, ohne zu wissen, dass ich laufe. Mein Kopf stellt in solchen Augenblicken sofort auf Autopilot. Zumindest, was meine Bewegungen angeht. Mein Gehirn fokussiert sich nur noch auf meinen inneren Konflikt.

Das kann nicht sein. Du weißt, was die Leute gesagt haben, Lizzy.

Halt die Klappe, schreie ich stumm. Oder habe ich das gerade doch laut gesagt? Niemand sieht zu mir, also vermutlich nicht?

Ich habe sie doch gesehen. Sie war dort. Diese Ähnlichkeit. Ich habe immer gewusst – nein, gespürt – dass Jade irgendwo ist. Und, dass ich sie eines Tages wiederfinden werde.

Alle haben mir all die Jahre über weismachen wollen, ich würde Jade nie wiedersehen. Aber mir war immer klar, dass sie lügen. Ich hab‘s immer gewusst. Jade ist irgendwo da draußen. Und wartet auf mich. Die ganze Zeit. Das konnte ich fühlen. Aber wieso nur wollte man mich von Jade abschirmen? Wieso wurde sie mir weggenommen, nachdem wir eh schon alles verloren hatten? Ich hatte ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt. Wieso haben sie Jade nicht in das gleiche Heim, die gleiche Familie, gegeben wie mich? Jade war doch das Einzige, was ich noch hatte und was mir wichtig war. Was also hatte es den Leuten genützt, sie vor mir fernzuhalten? Was sollte es mir nützen, all die Jahre das Falsche zu glauben und allein zu sein? Ich sag es euch: Es hat mich zerstört.

Du musst sie finden, Lizzy.

Du musst mit Shondra reden, vielleicht weiß sie mehr.

Warum sollte Shondra mir ausgerechnet jetzt die Wahrheit sagen?

Und wie soll ich Jade überhaupt ausfindig machen?

Obwohl es schon neun Jahre her ist, dass ich meine jüngere Schwester zuletzt gesehen habe und sie damals noch ein kleines Kind war, spürte ich eben sofort diese Verbundenheit, als ich Mackenzie di Angelo in die Augen sah. Diese Vertrautheit kann doch kein Zufall sein, oder? Ich schlage mir mit der Hand auf meinen Kopf und mein Gesicht, reibe mir über meine Augen und meine Stirn, in der Hoffnung, dass sich dadurch alle Fragen aufklären.

Das kann kein verdammter Zufall sein, oder? ODER?, sage ich in meinen Gedanken wiederholt vor mich her, um mich selbst mehr und mehr davon zu überzeugen, dass es die Wahrheit ist. Aber ich finde keine Antwort darauf. Ich muss einfach darauf vertrauen.

Hör auf, dich da reinzusteigern und beruhige dich.

Wie soll ich mich beruhigen? Wenn es stimmt, dann ist es mein gutes Recht, so auszuflippen. Es geht immerhin um meine Schwester.

Jade war alles für mich. Nein, falsch. Jade ist alles für mich. Ihre Existenz in greifbarer Nähe würde alles verändern.

Ich stoppe und das erste, was ich wieder wahrnehme, ist, dass ich den Sandboden unter meinen Stiefeln spüre und wie ich die Staubkörner unter meinem Sohlen aufwirbele. Ich bin in einem Park am Rande von Helena gelandet. Ich muss wie eine Irre gerannt sein, so außer Atem bin ich. Die letzten Minuten, seitdem ich aus dem Diner gestürmt bin, sind wie ein Blackout. Als hätte ich mich hier her gebeamt. Aber meine brennende Lunge verrät mir, dass mein Körper selbst mich hierher befördert haben muss.

Ich habe sie all die Jahre so sehr gebraucht. Und sie ihre große Schwester sicherlich auch. Gar nicht auszudenken, wie es IHR ergangen ist, wenn es mir schon MEIN Leben versaut hat.

Ich glaube, als ich diesen Gedanken forme – all die versäumten Jahre – stoße ich einen Schrei aus und sinke auf die Knie. Meine Schultern beben, aber weinen kann ich nicht. Konnte ich noch nie. Früher war es mir peinlich, von anderen gesehen zu werden, wenn ich so irrational handele, wie jetzt gerade, während mir die Kontrolle über meinen Körper entgleitet. Die Leute schauen mich dann immer so an, als würde ich mich ihnen zur Schau stellen und sie hätten das Recht, sich über mich lustig zu machen, wie ich gegen meine Ticks und meine eigene Psyche verliere, statt mir zu helfen. Helfen kann ich mir nur selbst. Ich weiß genau, welche Hebel ich in Bewegung setzen muss, wenn sich eine meiner zahlreichen Panikattacken ankündigt. Ich kralle meine Fingernägel in den staubigen Boden. Das Gefühl der kleinen, spitzen Steine, die sich in meine Handflächen bohren, lenken mich ab. Aber es genügt nicht.

Wie durch einen Schleier nehme ich eine Frau wahr, die mich anspricht und fragt, ob alles in Ordnung ist, aber ich stoße sie weg. Bemühe mich, wieder aufzustehen und gehe ein paar Meter weiter. Der Gedanke dieser neuen Wahrheit wächst und wächst und wächst in mir. Doch statt zu etwas Gutem wird daraus eher so etwas wie ein Parasit, der mich auffrisst. Weil dieser Gedanke an Jades Leben unweigerlich die Erinnerungen an meine Kindheit wieder aufleben lässt. Und wenn das passiert, dann ist die gesamte Arbeit der letzten Monate mit meiner Psychologin wieder dahin.

In meinen Sitzungen betrachten Dr. Pathel und ich meine Vergangenheit immer als eine Schachtel oder eine Box, die ich vorsorglich ganz, ganz weit oben im Regal in meinem Kopf verstaue und nur äußerst selten aufmache, und nur, wenn Dr. Pathel mit dabei ist und auf mich aufpasst.

Vergangenheit.Lizzy.exe darf nicht geöffnet werden! Virusgefahr.

Aber jetzt ist Jades Geist irgendwie aus dem Nichts gegen dieses Regal gerempelt. Die Schachtel ist heruntergefallen und der Deckel ohne Vorwarnung aufgesprungen. Und ich stehe schutzlos davor und bin wie gelähmt. Der entsetzliche Schmerz ist innerhalb von Sekunden überall und übernimmt die Kontrolle. Mir bricht der Schweiß aus und trotzdem zittere ich, als wäre mir eiskalt.

Es gibt jetzt nur zwei Möglichkeiten. Die erste hilft garantiert, ist aber nicht empfehlenswert. Und sie besteht aus einer leeren Glasflasche, die ich kurzerhand an der Parkbank neben dem Mülleimer zerschelle und ich, wenn niemand herschaut, mit einer der scharfkantigen Scherben einen langen Schnitt über meinen Arm ziehe.

Ja, das könnte ich jetzt machen, um den Schmerz, der von meinem ganzen Körper Besitz ergreift, zu lokalisieren und ihn auf diesen einen Schnitt zu beschränken, auf den ich mich dann konzentrieren kann. Das würde zwar helfen, aber die Sache erfahrungsgemäß danach eher verschlimmern. Und noch bevor ich die Flasche zerschlage, die mir ins Auge springt, und die Stimme in mir schreit Nimm sie. Tu es. Dann hört es auf, entscheide ich mich für die zweite Option, die ich mit Dr. Pathel lange geübt habe.

Mit letzter Kraft fingere ich mit zittrigen Händen meinen iPod aus der Tasche, schalte ihn an und stecke mir die Kopfhörer links und rechts in meine Ohren. Fahrig scrolle ich durch meine zahlreichen Songs und wähle ein ganz bestimmtes Lied aus.

Where Is My Mind? von den Pixies.

Als die erste Melodie ertönt, lege ich mich auf die Parkbank und lasse meinen Kopf über den Rand baumeln, sodass ich meine gesamte Umgebung verkehrt herum sehe. Dieser falsche Blick auf die Welt setzt paradoxerweise mein Hirn auf Reset. So, als würden alle toxischen Gedanken und Unsicherheiten aus meinem Kopf zu meinen Ohren herausrieseln. Und stattdessen würden die Texte und Töne dieses Liedes, das ich in- und auswendig kenne, in meinen Kopf kriechen und so die Leere, die entstanden ist, wieder mit Klarheit ausfüllen.

Und tatsächlich. Nach nur wenigen Sekunden, als der vertraute Refrain einsetzt, kann ich wieder klarer denken als zuvor und meine Atmung beruhigt sich. Ich setze mich aufrecht hin, schließe die Augen und hole drei Mal tief Luft, während ich weiterhin den Tönen lausche. Was soll ich denn jetzt bloß machen?

Du weißt doch schon längst, was du machen wirst, Lizzy.

Ich habe mich seit meiner Panikattacke nicht vom Fleck bewegt, sitze immer noch auf der Parkbank und ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, seit ich mich wieder eingekriegt habe.

Zum Glück gelingt es mir von Jahr zu Jahr besser, das ganze allein mit mir auszumachen und es zu schaffen, mich wieder ins Lot zu bringen. Ich habe noch eine Xanny – eine meiner besten Freundinnen – eingeworfen, nur zur Sicherheit, sodass der Nebel, der sich eben noch auf mein Gemüt gelegt hat und mich zu erdrücken schien, allmählich weggepustet wird. Ich fühle mich leichter. Und das wiederum hilft, dass ich wieder handeln und denken kann.

Ich greife nach meinem Handy und brauche Gewissheit. Bevor ich etwas voreiliges und unüberlegtes unternehme, muss ich mehr herausfinden. Ich öffne den Internetbrowser und tippe mit meinen hageren Fingern, so flink wie Spinnenbeine, ihren Namen auf dem Display ein. Sofort erscheinen ein paar, offenbar von Paparazzi geschossene Fotos in der Bildersuche. Darunter werden etliche Seiten von verschiedenen VIP-News-Seiten und von diversen Klatschpresse-Magazinen vorgeschlagen, die mir alle irgendwelche Informationen über Mackenzie mitteilen wollen. Sie ist bekannter als ich dachte. Wieso habe ich sie nicht früher entdeckt?

Es gibt allerhand Berichte, in denen davon geschrieben wird, wann sie vergangenen Monat auf irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung war. In denen sie in einer Morning Show über den letzten Dreh ihrer Reality-Doku lamentiert und ein paar mehr oder weniger schlimme Skandale rund um freizügige Party-Bilder in edlen Schickeria-Clubs in Hollywood oder ihrer protzigen Sweet-Sixteen-Feier im vergangenen Jahr.

Das Alter stimmt auf jeden Fall überein, doch diese ganze Welt, die sich da gerade vor mir eröffnet, erscheint mir völlig suspekt und fremdartig. Mit so einem Lifestyle wurde ich mein ganzes Leben lang noch nie konfrontiert. Das Leben von Mackenzie di Angelo ist so ganz anders als mein Leben. Als Jades früheres Leben.

All diese Artikel bringen mich kein Stück weiter, denke ich. Bis auf diese unheimliche Ähnlichkeit, die mich mehr und mehr darin bestärkt, dass ich das richtige tun werde.

Ich fahre mit meinen Fingerspitzen über das Foto mit ihrem Gesicht, das noch immer auf meinem Display geöffnet ist. Durch meinen Körper rast ein ungewohntes Gefühl. Ist das Sehnsucht?

Sie muss damals adoptiert worden sein, als wir auseinander gerissen wurden. Das würde auch ihren neuen Namen erklären und warum niemand mir etwas sagen wollte. Aber, was ich nicht verstehe ist, warum man uns als Geschwister nicht zusammen irgendwo untergebracht hat? Wir hätten uns doch gegenseitig so sehr gebraucht. Bis heute kann ich es einfach nicht begreifen, warum sie uns beiden das angetan haben.

Ich will Jade unbedingt sehen. Ich will mit ihr sprechen. Ich will ihr sagen, dass ich ihre große Schwester bin, die sie immer beschützt hat, und die sie lieb hat, auch wenn uns so viele Jahre und all die schrecklichen Umstände voneinander getrennt haben.

Jade. Ich habe dich so vermisst. Hast du mich auch vermisst?

Erinnerst du dich an mich? Du warst noch so klein damals.

Ich finde noch einen spärlich geführten Wikipedia-Eintrag zu Mackenzie di Angelo. Dort stehen nur ihr Geburtsjahr, ein paar Aktivitäten als It-Girl und Influencerin, kleine Nebenrollen in Sitcoms, TV-Spots und diesem Reality-Dating-Format. Und dort steht, dass sie in Los Angeles, West Hollywood, lebt.

Ich schaue zögerlich auf und nehme erst jetzt wieder meine Umgebung war, so abgetaucht war ich in meine Recherche. Leute gehen mit ihren Hunden spazieren, Jogger huschen an mir vorbei und hinten höre ich lautes Kinderlachen von dem Spielplatz. Dann stehe ich auf und laufe entschlossen Richtung Busbahnhof.

Okay, Paige und Chicago müssen vorerst warten. Ich habe ein neues Ziel.

DEAR DIARY

15 JAHRE ZUVOR

In dem Sommer, als ich sechs wurde, passierten zwei Dinge. Jade und ich verbrachten die Ferien, bevor ich in die Schule kam, bei Gran in Washington an der Pazifikküste. Und meine Mom ließ ihren Freund Warren bei uns einziehen, weil er seinen Job verloren hatte. (Du kannst jetzt selbst rätseln, was davon später wohl zu einer positiven und was zu einer negativen Erinnerung wird.)

Bei Gran war es immer ganz anders als Zuhause. Zuhause bedeutete dieses heruntergekommene Haus am Rande einer Sackgasse in Great Falls, Montana. Zuhause bedeutete Moms Stimmungsschwankungen, Überstunden und Geldsorgen. Zuhause bedeutete jeden Tag Tiefkühl-Chicken-Nuggets mit Instant-Kartoffelbrei und der Versuch einzuschlafen, während Mom mit Warren viel zu laut im Wohnzimmer stritt.

Bei Gran konnte ich das alles für drei Wochen vergessen. Bei Gran gab es leckeres, selbstgekochtes Essen, langes Aufbleiben und Vorlesenächte unter der Decke mit Taschenlampen. Gran lebte in diesem unglaublich urigen Häuschen am Strand, das eher so aussah, als sei es einem der Bücher, die ich gerade lernte zu lesen, entsprungen.

Und auch, wenn das Wetter in Washington meist rau und windig war, so waren wir dennoch jeden Tag am Strand. Jade wurde in ein paar Monaten drei und konnte endlich besser und schneller laufen, als noch vergangenes Jahr, wo sie immer im Sand gestolpert war. Barfuß, und ihre kleine Hand fest in meiner Hand, liefen wir in der Gischt auf und ab, lachten quiekend, wenn das eiskalte Wasser an unsere Arme spritzte und zwischen unseren Zehen hindurchfloss. Unaufhörlich warfen wir Sanddollar ins Wasser und ließen sie auf der Wasseroberfläche hüpfen. Am Ende des Sommers kannte ich fast alle heimischen Fisch- und Vogelarten und hatte einen Berg an Steinen und Muscheln gesammelt.

»Wenn ich groß bin, dann will ich Meeresbiologin werden«, sagte ich zu Gran, als wir zusammen Shrimps an einem Imbiss im Hafen aßen.

Jeden Tag bauten wir Burgen und andere Skulpturen aus Sand und gruben Wassergräben. So lange, bis Gran uns irgendwann zu sich rief, damit wir nicht anfingen zu frieren und uns erkälteten.

Abends kochte sie uns Kakao mit Marshmallows und Jade und ich machten es uns unter Grans selbstgewebten, bunten Decken gemütlich und schauten unsere Lieblings-Disneyfilme rauf und runter.

Manchmal legte Gran diese Musik von früher auf. Musik aus den Siebzigern und Achtzigern. Mit einem Plattenspieler. Und wir tanzten und tobten dazu durch ihr Wohnzimmer und quer über das Sofa.

»Das waren noch Zeiten«, schwärmte Gran. »Stellt euch vor, eure Gran war auch mal jung und lebhaft, so wie ihr.« Und ich konnte es mir wirklich vorstellen, weil Gran viel jünger aussah, wenn sie so unbeschwert tanzte. Mir blieben diese Lieder noch all die Jahre über im Kopf und ich rief sie immer ab, wenn es Zuhause so unendlich still war. Oder wenn Mom und Warren stritten und ich das alles ausblenden wollte. Bei uns lief nie Musik. Immer nur der Fernseher. Vermutlich auch ein Grund, warum es sich bei uns nie so lebendig und warm anfühlte.

»Ein Haus ohne Musik ist kein richtiges Zuhause,« sagte Gran und ich verstand genau, was sie meinte. Gran sang und pfiff ständig. Sie wurde nie wütend. Und wenn sie mal fluchte, dann erfand sie Worte, die es gar nicht gab und rief laut Fledermausscheiße, wenn sie vor uns fast das böse F-Wort gesagt hätte. Jade und ich kicherten dann immer vor uns hin. Wenn Mom wüsste, was Gran vor ihren Enkelkindern sagte, hätte sie bestimmt einen Rüffel gekriegt.

Ich weiß noch, wie es gerochen hat. Dort am Meer. Und bei Gran im Haus. Ihr Parfüm und diese salzige, frische Luft, in der man so richtig aufatmen konnte. Dort am Ozean war es einfach unmöglich zu ersticken. Mom hätte mit uns kommen sollen, dachte ich. Denn genau das sagte sie immer: »Ich ersticke hier noch. Ich ersticke in Arbeit.«

Stattdessen war sie dieses Jahr Zuhause geblieben. Ich verstand Mom oft weniger als Gran. Bei Gran war immer alles so klar. Alles wirkte leichter. Hier wäre es Mom ganz bestimmt besser gegangen und sie hätte auch mal vergessen können, dass wir Zuhause diese Probleme hatten. Bloß wollte Mom dieses Jahr nicht mit, als wir zu Gran fuhren.

Mom sagte: »Gran versteht nicht, wie schwer es ist, allein mit zwei kleinen Kindern zu überleben. Sie redet mir immer in mein Leben rein, dabei weiß sie gar nichts. Ich bin alleinerziehend. Wenn ich Urlaub nehme, fehlt uns am Ende des Monats viel Geld.«

Und Gran sagte: »Eure Mom liebt euch über alles. Und genau deswegen weiß sie, dass es besser für euch ist, wenn ihr eure Ferien allein hier bei mir verbringt. Sie will nur das Beste für euch. Und dafür muss sie eben mehr arbeiten.«

Aber ich verstand es damals nicht, dass Mom darauf verzichtete, den Urlaub mit uns zu verbringen, das Meer zu sehen und uns selbst zu ihrer eigenen Mom zu bringen. Stattdessen ließ sie es zu, dass ich mit Jade allein neun Stunden Busfahrt bis nach Seattle auf mich nahm.

Unverantwortlich, fand Gran. Daher kam sie uns mit dem Wagen auf halber Strecke in Idaho entgegen, um uns heil zu sich nach Hause zu bringen. Mom hatte sich nie dafür bei ihr bedankt, weil sie immer nur mit sich selbst beschäftigt war.

Mom verlangte sehr viel von mir, weil sie immer arbeiten musste. Ja, ich war weit für mein Alter. Ich konnte bereits in der Vorschule lesen und verbrachte oft mehrere Stunden allein Zuhause, wenn Mom mit Jade unterwegs war oder wenn sie Nachtschicht hatte. Ich konnte mir selbst Essen aus der Dose zubereiten. Manchmal ging ich zusammen mit unserer gebrechlichen Nachbarin Mrs. Arnolds mit ein paar Dollar zum Supermarkt und half ihr anschließend dabei, ihre eigenen Einkäufe reinzutragen, wofür sie mir jedes Mal einen zusätzlichen Dollar in die Hand drückte. Ich konnte mich und Jade selbst ins Bett bringen und einschlafen, wenn ich abends ganz allein war. Aber eigentlich hatte ich Angst im Dunkeln. Doch das sagte ich Mom nie, weil ich ihr dadurch kein schlechtes Gewissen machen wollte, wenn sie mal wieder so lange arbeiten musste. Und schon bald würde ich morgens mit dem Wecker zur Schule aufstehen, wenn Mom erst in den frühen Morgenstunden nach Hause kommt.

Gran sagte: »Eure Mutter mutet euch viel zu viel zu. Sie sollte mehr Verantwortung übernehmen und sich mehr um euch kümmern.«

»Aber Mom sorgt doch dafür, dass wir Geld haben und ein Dach über dem Kopf und das ist schließlich das wichtigste. Also finde ich, dass sie ihr Bestes gibt. Sie muss eben viel arbeiten. Außerdem hilft sie kranken Menschen. Das ist doch was Gutes. Das hast du selbst gesagt.«

Wenn ich Mom verteidigte, und das gleiche sagte, wie das, was sie mir einbläute, lächelte Gran immer ein seltsames Lächeln, was eher traurig aussah, aber sie erwiderte nie etwas darauf.

Und als Mom eines Nachmittags bei Gran anrief, um sich nach uns zu erkundigen, berichtete sie mir überschwänglich: »Liza, wenn du und deine Schwester wieder Zuhause seid, dann wird alles besser.«

Ich wollte wissen, wieso und sie erklärte: »Warren ist gestern hier eingezogen. Das sollte eigentlich eine Überraschung werden, wenn ihr zurück seid, aber ich musste es dir einfach erzählen.«

Ich spürte durch die Telefonleitung, wie sehr Mom sich freute, mir das mitzuteilen, auch, wenn ich Warren nicht sonderlich mochte.

»Von jetzt an wird endlich wieder ein Mann im Haus sein, der für uns sorgt. Er wird sich einen neuen Job suchen und es wird uns endlich wieder besser gehen. Dann müsst ihr auch nicht mehr so oft allein sein nachts, wenn ich arbeite. Das ist doch klasse, oder?«

»Ja«, murmelte ich, weil ich ihr das in dem Moment wirklich glaubte. Mom musste schließlich wissen, was gut für uns war. Sie klang so froh und hoffnungsvoll, als sie mir davon berichtete. Und der Gedanke fühlte sich irgendwie seltsam und gut zugleich an, von jetzt an so was wie einen Ersatzvater zu haben, weil ich doch nie einen echten hatte. Dad war abgehauen, als Mom mit Jade schwanger war. Mom sagte immer, Dad lebt in Kanada. Aber Gran hatte sich mal verplappert, dass man das so sagte, wenn man jemandem nicht sagen wollte, dass derjenige in Wirklichkeit im Gefängnis saß.

Mom kannte Warren erst seit ein paar Monaten. Aber sie wirkte unbekümmerter seitdem. Die älteren Kinder in der Straße sagten, sie hatte eine rosarote Brille auf. Aber das Bild – Mom mit einer solchen Brille – stellte ich mir merkwürdig vor. Mom war kein Typ für rosa. Genauso wenig, wie ich. Ich glaubte damals schon, dass ich nicht so ein typisches Mädchen war.

Als ich an dem Abend Gran davon berichtete, sagte sie bloß: »Warren ist ein Nichtsnutz. Mit dem wird Diane mehr Ärger haben als ohne ihn. Genau wie mit eurem Vater.« Grans Stimme klang barsch, was sie nur tat, wenn es um Mom ging. Meinen Vater kannte ich ja gar nicht wirklich, genauso wie Warren, deswegen konnte ich auch nicht beurteilen, ob Gran recht hatte.

Als wir eine Woche später abreisten und uns von Gran und vom Meer, den Fischen, dem Sand, den Dünen und den Möwen verabschiedeten, fiel es mir, wie jedes Mal, schwer und ich wollte am liebsten mit Jade hier bleiben. Aber Moms Worte machten mir Hoffnung. Jetzt wird alles besser und es geht bergauf.

Als wir wieder zu Hause in Great Falls waren, gingen wir zur Feier des Tages zu viert essen. Kein Diner, sondern das Golden Palace, ein richtig schickes chinesisches Restaurant. Mom und Warren tranken Wein und stießen mit uns auf die gemeinsame Zukunft an. Als sie ihr Glas hob, sagte sie: »Jetzt sind wir wieder eine richtige Familie.« Und in meinen Ohren hörte sich das ungewohnt perfekt an.

Ein paar Wochen später kam ich endlich in die Schule und ich saß zum Glück neben meinem besten Freund Jeremiah. Mom würde wieder mehr Zeit für uns haben. Und wir würden mehr Geld für schöne Sachen haben, weil Warren sich irgendeinen neuen Job mit Finanzen oder so suchen würde, was ziemlich wichtig klang. Und Mom würde hoffentlich wieder glücklicher sein. Genau wie ich.

Ja, ich glaube, hier begann meine Geschichte. In dem Sommer, als ich sechs wurde, und Jade und ich zurück nach Hause, nach Great Falls fuhren, ohne zu wissen, was uns dort in Zukunft erwarten würde. Zurück in ein Haus, was von da an kein Zuhause mehr sein würde. Denn du kannst einen Ort nicht als Zuhause bezeichnen, wenn du dort die ganze Zeit verloren bist. Vielleicht war es auch schon vorher kein richtiges Zuhause, aber es war eindeutig besser, als das, was dann folgte.

Die Erinnerungen an das Davor waren viel zu schnell verblasst und in den Hintergrund gerückt. Ich wünschte, all die darauf folgenden Jahre wären genauso schleierhaft und unscharf, wie die ersten sechs Jahre meines Lebens – die Jahre ohne ihn. Aber sie sind noch immer scharf wie ein Messerschnitt.

In diesem Sommer sah ich zum letzten Mal das Meer, wo ich erfahren durfte, was Glück bedeuten konnte. Dieser Sommer war der letzte mit Gran. Weil sie uns dann für immer verließ. Viel zu früh. Ich weinte tagelang. Mom sagte, sie hatte einen Herzinfarkt und nicht lange leiden müssen. Ich glaubte, Mom verstand meine Trauer nicht. Vielleicht war sie fast erleichtert, dass Gran nun fort war, weil sie nie eine gute Bindung zueinander hatten. Ich konnte es nicht begreifen und noch Jahre später war ich wütend darüber, dass Gran mich und Jade mit unserem Schicksal einfach allein gelassen hatte. Wäre sie noch da gewesen, wäre alles anders gekommen.

Wir waren nicht mal zu ihrer Beerdigung gefahren, weil Warren der Weg nach Washington zu weit und zu teuer war. Er war ein richtig egoistischer Geizkragen. In dem Moment hasste ich ihn zum ersten Mal. Irgendwann hatte ich aufgehört, die Male zu zählen.

Kennt ihr dieses Gefühl, was manche Leute haben, wenn sie meinen, sich an früher zu erinnern? An eine bestimmte Situation? Und dabei ist es nur ein Foto, an das sie sich erinnern und nicht die Erinnerung selbst. Nein? Ich auch nicht. Denn die Sache ist die: Von meiner Kindheit gibt es keine Fotos. Nicht eins. Nicht mehr. Nur Erinnerungen. Aber das Schlimmste daran ist: Fotos kann man verbrennen. Erinnerungen nicht. Die brennen sich ein.

KAPITEL 2

»DU KÖNNTEST IHN GANZ EINFACH MIT DEINEM KOPFHÖRERKABEL STRANGULIEREN.«

Dreißig Stunden. So lange bin ich schon wach, während Montanas unzählige Felder unscharf an mir vorbei rauschen. Nichts in der Welt hält mich hier. Ich könnte genauso gut an jedem x-beliebigen Ort in der Welt existieren. Paige ist in Illinois. Jade in Kalifornien. Niemand würde mich hier vermissen. Meinen Nebenjob im Truckstopp habe ich längst wieder hingeschmissen. Zu viel struggle.

Ich sag‘s euch: Selbsthass ist ein Vollzeitjob. Nächtliche Überstunden garantiert. Da bleibt nicht viel Raum für so banale Dinge wie Arbeiten, Beziehungen und Yoga. (Hahaha, seht ihr, wie ich lache?)

Im Bus mieft es nach den alten, staubigen Sitzpolstern, dem Geruch fremder Menschen und stinkendem Diesel. Und ich kann noch immer nicht schlafen. Nicht zur Ruhe kommen. Nicht nach allem, was ich heute herausgefunden habe. Und nicht hier drin.

Meine Therapeutin hat mal über meine Insomnie gesagt: »Wenn du immer nur müde bist und Schlafen nicht hilft, dann liegt das daran, dass nicht dein Körper müde ist, sondern deine Seele.«

Der Bus ist ziemlich voll und ich fühle mich unwohl. Habe nicht genug Raum für mich allein. Keine Komfort-Zone. Und ich mag den Gedanken nicht, zu wissen, dass ich nicht jederzeit diese Umgebung verlassen kann, wenn es nötig ist. Der Bus würde weiterfahren und keine Ausnahme für mich machen, mitten auf der Straße anzuhalten, nur weil ich das Gefühl habe, nicht genug Luft zu bekommen. Ich mache immer wieder das seitliche Fenster auf. Eine Frau hinter mir schließt es jedes Mal wieder. Nach dem dritten Versuch und einer verbalen Verdammnis in die Hölle gibt sie auf.

Ich ziehe den Kragen meiner Sweatshirtjacke bis über meine Nase, um die fremden Gerüche auszusperren und lasse meine Haare unter der Kapuze verschwinden. Meine Finger mit den abgekauten Fingernägeln und dem abgeblätterten, schwarzen Nagellack krampfen sich an den Ärmeln fest, sodass sie nicht hoch rutschen und niemand aus Versehen meine Handgelenke sehen kann. Ich starre aus dem Fenster und spiele mit der Zunge an meinem Nasenring herum. Die Kopfhörer fest an meine Ohren gepresst, versuche ich, mich trotz der unbehaglichen Stresssituation und so vieler Fremder um mich herum, zu entspannen. Trotz der Tatsache, dass ich mich gerade auf dem Weg nach Kalifornien befinde, um meine Schwester zu finden. Es klingt noch immer so surreal.

Die Musik und die lauten, harten Klänge meiner Lieblings-Songs lenken mich ab und lassen mich allmählich in ihnen versinken und die Umgebung um mich herum ausblenden.

Vor rund drei Stunden habe ich die geklaute Kohle von Zack sowie den Rest von Shondras Wochengeld dem Busticket-Verkäufer am Schalter in Helena auf den Tisch geknallt und gefragt:

»Komme ich damit nach Los Angeles?«

Der Typ runzelt die Stirn, mustert mich und zählt jeden einzelnen Schein mühselig. Ich bin ungeduldig, weil ich Angst habe, dass irgendwas oder irgendwer mich davon abhält, es durchzuziehen, wenn ich noch eine Minute länger hier bleibe und ernsthaft darüber nachdenke, was ich gerade vorhabe.

»Los Angeles, Kalifornien?«

Ich nicke, kaue nervös auf meiner Unterlippe und wackele mit den Füßen hin und her. »Ja, oder gibt‘s noch ein anderes Los Angeles?«

»Also, weiter als bis Salt Lake City ist nicht drin für vierzig Mäuse, tut mir leid.« Ich verziehe den Mund, aber lasse mir das Ticket ausstellen.

Was hast du denn gedacht, Schätzchen? Dass es so einfach wird?

Klappe. Ich reise eben nicht so oft. Nie ...

Der holperige Asphalt rauscht unter mir und dem alten Greyhound. Mit geschlossenen Augen starte ich Passenger von den Deftones auf meinem iPod, weil er sich so nach Vorankommen anfühlt und ich mich darin so gut verlieren kann. Abwesend starre ich aus dem Fenster und habe bis eben Blickkontakt vermieden.

An der vorigen Station sind Leute aus- und zugestiegen und wir haben lange am Busbahnhof herumgestanden. Neben mir hat sich ein hagerer Typ um die dreißig mit Brille und einem vollgestopften Reiserucksack niedergelassen, der nun hochkonzentriert in seinem Reiseführer liest.

Ich rümpfe die Nase. »Wie weit muss man sinken, um hier Urlaub zu machen?«, rutscht es mir heraus und ich presse mir erschrocken meine Hand vor den Mund.

F ... Fledermausscheiße, hast du das gerade laut gesagt?

»Was?« Ich befürchte, der Typ ist verärgert, aber er lacht nur. »Was ist so schlimm an dieser Gegend? Ich bin halt ein Naturmensch. Und du bist?«

»Nicht an einem Gespräch interessiert.« Ich wende mich von ihm ab und starre angestrengt aus dem Fenster.