The Carbon Diaries. Euer schönes Leben kotzt mich an - Saci Lloyd - E-Book

The Carbon Diaries. Euer schönes Leben kotzt mich an E-Book

Saci Lloyd

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Beschreibung

Klimawandel betrifft uns alle! Saci Lloyd zeigt eindrucksvoll die Auswirkungen einer globalen Katastrophe auf. Eine Geschichte, die wachrüttelt! Laura Brown kann es nicht fassen: Die britische Regierung erlässt ein Gesetz zum Schutz der Umwelt. Alle müssen von nun an mit einer CO2-Card für ihren Luxus bezahlen. Urlaub auf Ibiza, ein warmer Winterabend vor dem Fernseher, Tanzen in der Disko mit Lichtshow, Eiswürfel im Drink - das alles gehört der Vergangenheit an. Auch Lauras Bandproben mit den Dirty Angels. Doch es kommt schlimmer, denn Stromausfälle, Wirbelstürme und Überschwemmungen sind an der Tagesordnung. Und plötzlich zählt nur noch eines: Überleben.

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Arena-Taschenbuch

Band 51213

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Saci Lloyd

hat einige Jahre in der Filmbranche gearbeitet und mehrere Drehbücher verfasst, ehe sie an einem College zu arbeiten begann. Dort betreut sie die Abteilung Medien. The Carbon Diaries.Euer schönes Leben kotzt mich an war ihr Debüt auf dem deutschen Markt.

1. Auflage im Arena-Taschenbuch 2021

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2009 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

The Carbon Diaries 2015 bei Hodder Children’s Books,

einem Imprint der Hachette Livre UK Company.

© 2008 Saci Lloyd

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Barbara Abedi

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann

E-Book-Herstellung und Auslieferung:readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

ISSN 0518-4002

E-Book ISBN 978-3-401-80948-9

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

Für meine Mutter

JANUAR

Donnerstag, 1. Jan.

Erschlafft. Die ganze Familie sieht aus wie eine Leiche nach einem ganztägigen Meeting. Als wir das letzte Mal länger als drei Stunden an einem Ort versammelt waren, hatte meine Schwester Kim uns aus Versehen zum Jahrtausendwechsel die ganze Nacht in unserem Ferienhaus in Frankreich eingeschlossen. Das waren noch glückliche Zeiten. Heute hat sie nur sich selbst in ihrem Zimmer eingeschlossen und hat geschmollt, bis Dad sie herausgeholt hat. Typisch. Mum hat ihren Ich-sehe-alles-positiv-Tag – sie schwafelt über ihren freiwilligen Einsatz in den 80er-Jahren in einem Kibbuz in Israel, wo sie Ponchos mit Perlen gestrickt hat, und dass es die beste Zeit ihres Lebens war.

Dad meinte, wir sollten uns nicht immer nur auf das Negative konzentrieren, sondern lieber einen Neujahrswunschzettel schreiben. Er tippte unsere Wünsche in seinen Laptop. Seit er Leiter des Fachbereichs Reise und Tourismus im Greenham College ist, macht er aus allem eine Excel-Liste und sichert sie als Beweismaterial. Das System hat ihn bei den Eiern gepackt, wie Mum sagt.

Mum verdrehte die Augen, als sie Dads Liste sah. »Mein Gott, Nick«, sagte sie, »ich wusste gar nicht, wie verschieden wir sind.«

Freitag, 2. Jan.

Meine Eltern wollen die Realität einfach nicht zur Kenntnis nehmen; sie haben den ganzen Tag auf dem Sofa gesessen und blind wie Amöben in den Fernseher gestarrt. Bis eben haben sie nacheinander Dumbo, Mary Poppins und Judy Garland: A Tribute in Song gesehen.

Kim habe ich ganze 5,2 Sekunden lang zu Gesicht gekriegt, als ich dem Pizzaboten die Tür aufmachte. Sie kam in den Flur gerast, riss mir mit völlig apathischem Blick den Pizzakarton aus den Händen und verschwand wieder. Sie nutzt das Weggetretensein meiner Eltern aus und kifft mit ihrem Freund Paul in ihrem Zimmer, aus dem eine fette Rauchwolke herausgequollen kam.

Ich wollte die Nachrichten sehen, um mich über den Stand der Rationierung zu informieren, aber das konnte man in diesem Haus, wo man sich nur für Drogen und Musicals interessiert, glatt vergessen, deshalb ging ich zwei Häuser weiter zu Kieran. Er war gerade dabei, den verstopften Abfluss seiner Küchenspüle zu reparieren – das ist insofern komisch, weil Kieran ein allein lebender, schwuler Friseur Mitte 30 ist, und wenn überhaupt irgendjemand einen Grund hätte, schlapp auf dem Sofa herumzuliegen und nach einer durchgemachten Nacht hirnlose Musicals anzuschauen, dann doch wohl er. Aber genau deshalb mag ich ihn. Er ist ziemlich eigenwillig, dabei jedoch sehr bodenständig, das genaue Gegenteil zu den meisten Erwachsenen. Wenn er es schafft, so zu sein, dann kann ich es vielleicht auch, wenn ich mal in dem Alter bin.

»Halt mal«, grunzte er, drückte mir ein Stück Abflussrohr in die Hand, steckte den Kopf wieder unters Waschbecken und stieß schwungvoll einen Drahtkleiderbügel durch das Rohr. Ein lautes Gurgeln ertönte und aus dem Abfluss schoss eine ekelhafte Brühe heraus.

Kieran machte einen Satz rückwärts und brüllte: »Oh mein Gott!«, während ihm Fleischreste, Fett und Möhrenstückchen übers Gesicht tropften. Widerlich.

Er rannte unter die Dusche und blieb so lange dort, dass ich die Nachrichten auf Channel 4 einschaltete. Hinter dem Moderator an der Wand haben sie eine große Countdownuhr hängen, die anstelle von Zeigern dicke leuchtende Energiesymbole auf dem Zifferblatt hat. Das hat was von einer Kindersendung, aber es ist die Wirklichkeit. Abartig.

Jedenfalls ging es bei dem heutigen Symbol um Nahrungsmeilen. Der Moderator stand vor einem geteilten Bildschirm und zeigte auf die linke Seite, auf der ein südafrikanischer Farmer eine reife Mango ins Bild hielt. Auf der anderen Seite präsentierte ein Bauer aus Kent einen verschrumpelten Apfel. Eine 12.000-Luftmeilen-Mango gegen einen 40-Minuten-im-Laderaum-eines-verdreckten-engli-schen-Lkws-Apfel. Die Energiemathematik ist simpel, aber das Leben verliert dadurch immer mehr an Glamour.

Diese Reduzierung auf 60 % schießt übers Ziel hinaus. Eigentlich hätten wir diese Marke erst 2030 erreichen sollen, aber seit dem Großen Sturm ist alles anders und die Probleme sind größer geworden. Und trotzdem: Warum ist England als Erstes betroffen? Ich weiß, dass wir am meisten unter dem Sturm gelitten haben – es war eine echte Katastrophe, Häuser wurden buchstäblich vom Erdboden weggeweht, Tausende von Menschen waren den ganzen Winter über obdachlos, einen Monat lang gab es kein Benzin. Ich glaube, damals hat es wirklich etwas bei den Leuten bewirkt. Als ob jeder gesagt hätte: Es reicht. Stopp jetzt. Europa kommt als Nächstes an die Reihe – ich meine, das kann gar nicht anders sein –, aber im Augenblick scheinen alle Länder froh zu sein, dass ihnen jemand zuvorgekommen ist. Also sind wir wohl die blöden Versuchskaninchen, die auf alles verzichten müssen, während die anderen nur dasitzen und zuschauen.

11 Uhr nachts. Ich liege im Bett. Mein Gott, Kieran hat sich wegen der Rationierung echt in Rage geredet.

»Ich bin total alle. Fix und fertig«, jammerte er. »Wir leben in einer Welt von Jägern und Sammlern, von Machos und Abflussreparierern. Wo bleibt da ein kleiner mickriger Friseur wie ich?«

Kieran geht sechs Mal in der Woche ins Fitnessstudio, also versicherte ich ihm, dass er tolle Muskeln hätte, was ihn normalerweise wieder besänftigt.

»Jaja, aber was nutzt mir das, wenn es keine Klubs mehr gibt, keine Wochenenden auf Ibiza, keinen eisgekühlten Laurent-Perrier, kein Versace? Ein männlicher Friseur ohne Lifestyle – wer soll so jemanden denn ernst nehmen?«

»Tu doch nicht so, als ob dir irgendwas davon wichtig wäre«, schnaubte ich. »Du meckerst doch ständig über diese Schickimicki-Tunten.«

Dabei war mir schon klar, dass er es kein bisschen ironisch meinte, seine Mundwinkel hingen herunter wie bei einem kleinen Jungen.

Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern vor dem Fernseher eingeschlafen, jede einzelne Lampe im Haus brannte und in Kims Zimmer liefen der CD-Player und der HD-Fernseher, obwohl sie selbst im Bad war. Ich weiß nicht, was aus dieser Familie werden soll, wenn die Rationierung erst mal wirklich zuschlägt.

Samstag, 3. Jan.

Dad wollte, dass wir uns heute Abend wieder alle zusammensetzen, um so ein grässliches Online-Formular der Regierung auszufüllen, mit dem festgestellt werden soll, wie viel CO2 unsere Familie verbrauchen darf. Das ist schon krass. Im Prinzip stehen uns 200 Energiepunkte im Monat für Benzin, Heizung und Essen zur Verfügung. Bei allen anderen Sachen – wie Klamotten und technischen Geräten und Büchern – sind die Energiepunkte bereits im Preis enthalten. Wenn man zum Beispiel einen PC aus China kaufen will, der mit schmutzigem fossilem Treibstoff gebaut wurde, dann kostet der eine ganze Menge mehr Euros – weil man die Energiekosten, die für seine Herstellung verbraucht wurden, mitbezahlen muss.

Am Anfang gab es ein freies Handelssystem: Wenn man reich war, konnte man sich so viel Energie kaufen und so leben, wie man wollte – aber nach den Massenprotesten im letzten September hat die Regierung eingelenkt und die Vorschriften geändert, jetzt darf niemand mehr als 50 Extrapunkte im Monat kaufen.

Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, müssen Kim und ich jede Menge Punkte für die Familien-Energieration abgeben, sodass uns nur noch ein lächerlicher Betrag für Reisen, Schule und Ausgehen übrig bleibt … Autofahrten sind stark eingeschränkt, PC, Fernseher, DVD- und CD-Player dürfen eigentlich nicht länger als zwei Stunden am Tag laufen, im Wohnzimmer wird die Heizung nicht höher als 16°C eingestellt, die übrigen Zimmer werden nur eine Stunde am Tag beheizt, man darf maximal fünf Minuten duschen und nur am Wochenende baden. Man muss sich entscheiden – Föhn, Toaster, Mikrowelle, Smartphone, Wasserfilter (für Mum) und Wasserkocher, Lampen, Personal Digital Assistant (PDA), e-pod, Kühlschrank, Tiefkühlschrank und und und … Fliegen geht gar nicht und Shoppen und Verreisen und Ausgehen sind auch nicht viel besser. Alles ist eine Frage der Priorität.

Ich saß da und dachte an meine Band, die Dirty Angels.

Nach einer Pause wegen musikalischer Differenzen und nach Claires Phase als streng fundamentalistischer Öko haben wir uns gerade erst wieder zusammengefunden. Sie war total militant. Man konnte in ihrer Gegenwart nicht mal ein Snickers auspacken, ohne dass sie einem eine Predigt über hungernde Kakaobohnenfarmer hielt. Egal, die Phase war beendet, als sie zu ihrem reichen Freund zurückkehrte und ein Schinkenbrot aß – an ein und demselben Tag –, so sind wir also wieder zusammen und hören uns sooooo gut an. Die Band ist mein Traum.

Und die ganze Zeit über sagen die Leute Sätze wie Das Auto verkaufe ich nicht, schließlich habe ich hart dafür arbeiten müssen, und Ich will nach der Schule erst mal ein Jahr freihaben und von eurer selbstsüchtigen verkorksten Generation wegkommen und Ich bestehe darauf, dass eine Fernsehstunde am Tag einem Nachrichtenprogramm vorbehalten ist.

Montag, 5. Jan.

Die Energiekarten sind angekommen …

Auf der einen Seite haben sie diese kleinen Quadrate von Grün nach Rot und im Lauf des Jahres verbraucht man eins nach dem anderen, bis man bei dem letzten roten angekommen ist, und dann ist man ganz allein und weint im Dunkeln. Kim will ihre Karte nicht auspacken, sie sagt, dass ihre ganze Jugend weg ist, sobald sie sie anfasst. Mir war auch ziemlich komisch zumute, als ich meine auspackte, obwohl ich in dieser Familie nicht wirklich eine Jugend habe. Die hat meine Schwester für sich gepachtet.

Dienstag, 6. Jan.

Ganz London ist heute Nacht explodiert. Bis um 9 war bei uns alles ganz normal. Freunde meiner Eltern waren zum Abendessen gekommen. Sie sprachen über denselben Scheiß wie immer, bis Marcia Hamilton, Programmleiterin für gebundene Sachbücher im Penguin-Verlag, plötzlich unter den Tisch kroch, sich wie ein kleiner Pudel an Dads Bein zu schaffen machte und jaulend verkündete: »Ich pack das einfach nicht!« Dad umklammerte sein Besteck und versuchte, so zu tun, als sei nichts. Dann haute Mum mit der Hand auf den Tisch, rief: »Du hast verdammt recht – lass es raus, Marcia!«, und kippte sich eine halbe Flasche Wein in den Hals. Dann fragte sie Phil Hamilton: »Tanzt du mit mir auf vergangene Zeiten?« Phil Hamilton, der ungefähr 1 Meter 60 groß ist, eine Glatze hat, einen Hintern wie eine Frau und ein Gesicht voller Akne – und das mit 42 Jahren!

Ich dachte, ich müsste kotzen. Ich ging nach draußen auf die Straße und holte tief Luft. Bitte, lieber Gott, lass mich sterben, bevor ihre Gene in mir durchbrechen.

Egal, ich spürte, wie sich plötzlich jemand bewegte – ich drehte mich um und da stand Ravi Datta an seine Haustür gelehnt. Vor ein paar Monaten ist seine Familie in das Haus nebenan gezogen, er geht in dieselbe Schule wie ich und ist in meinem Design-Technologie-Kurs. Und er ist total süß. Er stand unter einer Straßenlaterne, rauchte eine verbotene Zigarette und starrte auf die Feuerwerksrakete, die die Leaders über der Siedlung abschossen. Das Licht der Laterne flackerte und beleuchtete sein Gesicht und seine pechschwarzen Haare. Das Beste von allem ist, dass er nicht weiß, wie gut er aussieht. Und das Schlimmste von allem ist, dass er mich total nervös macht und ich in seiner Nähe völlig schwachsinnige Sätze von mir gebe; ich zeigte auf seine Zigarette und sagte: »Das bringt dich um.« Er drehte sich um und grinste: »Na und?«, nahm einen letzten tiefen Zug und schmiss die Funken sprühende Kippe in die Luft. Dann ging er ins Haus zurück. Er sagt nur ganz selten was. Es macht mich wahnsinnig, wenn so ein süßer Typ den Mund nicht aufkriegt und ein Langweiler seinen nicht zu.

Ich lungerte noch ein Weilchen draußen rum, schaute in die Sterne, bis plötzlich eine Rakete direkt über meinen Kopf zischte und in Kierans Fenster im oberen Stockwerk krachte. Kieran kam auf seinen Balkon gerast und kreischte, sie wären alle Schwulen hassende Schweine und Jäger und Sammler. Dann tauchte plötzlich die ganze Leader-Sippe auf den Balkons der Siedlung auf und stieß laute Pfiffe in Kierans Richtung aus.

Insgesamt gibt es ungefähr 100 Leaders, aber man sieht sie nie alle gleichzeitig, weil sie immer mal wieder im Gefängnis oder in der Jugendstrafanstalt sind. Ihr Anführer ist Tracey, sie ist zu schlau, um sich schnappen zu lassen. Tracey Leader hat Arme wie Baumstämme. Auf dem Schlüsselbein hat sie ein Tweety Tattoo und sie ist echt Furcht einflößend. Beim Lachen wirft sie den Kopf zurück und man sieht ihren Goldzahn glitzern. Ihr Bruder Karl Leader ist total süß. Ich weiß auch nicht, warum, denn der Rest der Familie sieht aus wie aus einem Horrorfilm. Karl hat Wimpern wie Bambi und eine ausgeprägte Kinnpartie.

Jedenfalls hätte es für Kieran gefährlich werden können, aber Tracey war in Goldzahnlaune und schickte ihre Cousine, Desiree Leader, mit einer Flasche Sekt rüber, um sich zu entschuldigen. Und so liefen Kieran und ich durch die Straßen bis nach Blackheath hinauf und tranken aus der Flasche. Wir hießen das neue Zeitalter stilvoll willkommen. Die Straßen waren voller ausgelassener Leute, überall rauchte und knallte es, man hörte Geschrei und Gesang und sah Prügeleien und Wahnsinn.

Ich bin aufgeregt.

Mittwoch, 7. Jan.

Mitternacht. Es ist einfach nur geil! Lasst die Dogs of War frei!

Donnerstag, 8. Jan.

Die Rationierung

Die Schule hat wieder angefangen und ich kam zu spät, weil ich Mum zur Bushaltestelle bringen musste. Ihre Augen waren voller Tränen, als wir am Saab vorbeigingen. Sie flüsterte: »Das dauert nicht ewig«, und strich über die Motorhaube. Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen – jedenfalls ist es besser als ihr ständiges Alles-wird-gut-wenn-du-nur-daran-glaubst-Gelaber.

Den ersten Bus haben wir verpasst, weil sie auf ihren hohen Absätzen nicht schnell genug laufen konnte, und wir mussten 15 Minuten im Nieselregen auf den nächsten warten. Als er schließlich kam, sprang ich hinein, zog meine Karte durch und war auf dem Weg nach oben, während Mum hektisch ihre Geldbörse, ihre Handtasche und ihre Manteltaschen durchsuchte und nur Flusen und Conran-Quittungen zutage förderte. Sie schaute zu mir hoch.

»Laura, Liebling, ich kann meine Karte nicht finden. Leihst du mir deine …«

Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Ohne Energiekarte keine Busfahrt, junge Frau.«

»Ach bitte …«

Draußen im Regen schrie eine Frau: »Raus mit dir, du blöde Kuh! Du hältst uns alle nur auf.«

Und dann fing Mum an zu weinen. Ich ging wieder runter und half ihr aus dem Bus. »Wir müssen nach Hause und deine Karte holen, Mum.«

»Da ist sie! Sie ist ins Futter gerutscht! Blödes Pack!« Mum wedelte mit der grünen Plastikkarte hinter dem Bus her, der sich in den Verkehr eingefädelt hatte.

»Ach, was reg ich mich so auf. Komm, Süße, wir gehen zu Alfredo und trinken eine Tasse Tee.«

»Es tut mir leid, Laura.« Mum rührte in ihrem trüben braunen Tee herum. »Ich weiß, ich müsste eigentlich stark sein, aber ich fühle mich so schuldig – meine Generation hat euch das alles doch eingebrockt.« Sie tätschelte meine Hand. »Du solltest nicht auf den Nägeln beißen, Süße. Ich meine, was soll aus euch jungen Dingern denn mal werden? Woodstock, Freiheit, Frauenrechte, Reisen mit dem Hippiebus … alles, was wir damals hatten – aber man weiß ja nie … Denk dran, ich bin deine Mutter und ich bin immer für dich da, wenn du reden willst.«

Ich hielt den Mund. Ich hatte mir mal ausgerechnet, dass, wenn Mum in Woodstock gewesen wäre, sie jetzt ungefähr 70 Jahre alt sein müsste, aber es ist sinnlos, so etwas zu sagen.

»Aaah, jetzt geht’s mir besser!« Sie trank ihren Becher leer. »Guck dir den schmierigen Löffel an, ist das nicht komisch? In so einer Kneipe war ich das letzte Mal in den 80ern, als ich für die Bergarbeiter in Bradford demonstriert habe.«

Ich stand auf und zog meine Jacke an. Lieber würde ich mir in den Kopf schießen, als mir diese Geschichte noch einmal anhören zu müssen.

Als ich endlich am College ankam, hatte sich am Eingang eine lange Schlange gebildet, weil jeder am Drehkreuz seine Energiekarte durchziehen musste und das Gerät immer wieder den Geist aufgab und Alarm auslöste. Ich weiß nicht, warum wir die Karte überhaupt durchziehen müssen – im Inneren des Gebäudes war es eisig kalt.

»Willkommen in der Zukunft,«, murmelte Adisa frustriert. »Sie bescheißen uns jetzt schon.«

Adi ist mein bester Freund. Er ist so tiefsinnig.

Als ich es endlich zu meinem Kurs geschafft hatte, zitterten alle vor Kälte und stießen weiße Atemwölkchen aus. Man hatte uns eine neue Kursleiterin zugewiesen, weil die bisherige, Katy Willis, an einer Art Linsentrübung leidet, eine unsichtbare Krankheit, wie sie die Leser des Guardian bekommen können. Die neue heißt Gwen Parry-Jones, die mich mit einem fröhlichen »Willkommen« begrüßte, als ich hereinkam, und meine Hand schüttelte wie ein Mann. Sie schaute auf die eingetragenen Fächer in meinem Stundenplan. »Design-Technologie – sehr gut. Endlich macht mal jemand was Sinnvolles.«

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Schlangestehen und dem Besorgen von offiziellen Unterlagen. Überall war es seltsam still, weil niemand wirklich Lust hatte zu reden. Genau wie zu Hause. Wir aßen zu Abend wie die Zombies und starrten auf den Premierminister, der im Fernsehen positives Zeug von sich gab. Die Premierminister tun mir echt leid, wenn das Land sich in einem so beschissenen Zustand befindet. Sie wissen ganz genau, dass sie nie so gut sein werden wie Churchill.

Sonntag, 11. Jan.

2 Uhr morgens. Schon wieder wache ich in kalten Schweiß gebadet auf. Zum zweiten Mal in dieser Woche. Vielleicht bin ich dabei, wahnsinnig zu werden …

Montag, 12. Jan.

Im College sehen alle echt schlecht aus. Claire, Adi und ich hatten nicht mal Lust, jemanden zur Sau zu machen. Wenn es so weit gekommen ist, dann ist es wirklich schlimm.

In der Aula gab es eine äußerst merkwürdige Schulversammlung. Alle Lehrer standen aufgereiht an den Seiten und waren zu einem positiven Gesichtsausdruck verdonnert worden. Man konnte ihnen ansehen, dass es sie fast umbrachte, ganz besonders die Lehrerinnen mit den krausen Lockenköpfen. Man hatte den Eindruck, als stünden sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Bob Jenkins, der Direktor, ging auf die Bühne und redete einen Haufen Unsinn über neue Horizonte, aber meiner Meinung nach ging es ihm am allerschlechtesten von allen (heute Morgen habe ich gesehen, wie er mit dem Bus ankam – wo ist denn jetzt dein Volvo mit den Ledersitzen, Bobby-Boy?). Schweißperlen tropften von seiner Stirn auf die Notizen über unsere neue Heizungs- und Lichtzuteilung. Seine Ansprache endete mit der Ankündigung eines neuen Pflichtfachs »Umweltschonung und Energiesparen«. Gwen Parry-Jones wird es unterrichten.

Beim Rausgehen bekam jeder Schüler eine Energiespar-Mappe mit Merkblättern, Stiften, Büroklammern und pathetischen Klebezetteln, auf denen Macht Charlton grün stand. Das ist genauso hoffnungslos, als bekäme man im Flugzeug zusammen mit der Schwimmweste eine Trillerpfeife, bevor man in einem Feuerball mitten in den haiverseuchten Pazifik fällt.

Dienstag, 13. Jan.

Ich habe keine Familie mehr. Dad verbringt die ganze Nacht an seinem Laptop im Arbeitszimmer, Mum steckt immer irgendwo in einem Bus fest und Kim lebt nur noch in ihrem Zimmer – ein bösartiges, wortlos schmollendes Etwas. Sie verströmt so viel schlechte Energie, dass es mir in ihrer Nähe buchstäblich übel wird. In ihrem Zimmer läuft der Fernseher rund um die Uhr, das kann ich durch die Wand hören. Letzte Nacht hatte ich wieder einen schrecklichen Albtraum, in dem sie mich würgte und immer mehr Arme bekam, je mehr ich zu entkommen versuchte. Ich wachte auf und schnappte nach Luft. Und dann hatte ich eine Idee – ich nahm einen Stift und fing an zu zeichnen. Das ist die beste Art und Weise, wie ich das Gift in mir wieder loswerden kann. Das einzige Papier, das ich finden konnte, waren diese blöden Charlton-Klebezettel.

Aber es hat funktioniert. Als ich fertig war, legte ich mich wieder hin und schlief ein.

Mittwoch, 14. Jan.

Heute Morgen, als ich wach wurde, war es bitterkalt. Ich darf nur zwischen 7 und 8 in meinem Zimmer die Heizung anmachen. Ich guckte auf das Smartmeter in der Diele. So heißt dieses Ding, das einen über den gesamten Energieverbrauch im Haus informiert. Sogar für die eine Heizungsstunde hat Dad die Schlafzimmertemperatur auf 12 °C begrenzt. Ein Witz – das reicht nicht mal, um den Frost auf den Fensterscheiben abzutauen.

Donnerstag, 15. Jan.

In ganz Südeuropa wüten heftige Schneestürme.

Freitag, 16. Jan.

Ich muss bis nächsten Freitag für das Fach Kritisches Denken einen Essay schreiben: Schreibe einen persönlichen Bericht, wie das neue Energierationierungssystem dein häusliches Leben beeinflusst.

Wer sich so was ausdenkt (Krit.-Denken-Lehrerin Lisa Bell), braucht ganz sicher mehr Sex. Sie muss einfach frustriert sein. Sonst käme sie bestimmt nicht auf die Idee, unschuldige Teenager so schrecklich zu bestrafen.

Montag, 19. Jan.

Die Schneestürme in Europa haben zugenommen – und breiten sich Richtung Norden aus. In Italien ist die gesamte Stromversorgung zusammengebrochen. In den Nachrichten konnte man sehen, wie das Licht im Vatikan ausging, ein Fenster nach dem anderen wurde dunkel. Später setzte man Notfallgeneratoren ein, um den Papst zu beleuchten, der in ein Mikrofon sprach und auf Latein etwas zu einer Gruppe von Kardinälen sagte. Oder so ähnlich.

Dienstag, 20. Jan.

In der Nacht ist der Strom ausgefallen. Im Haus ist es jetzt so eisig, als würden mir 200 Jahre geballte Kälte in die Knochen kriechen. Erinnert mich an den Großen Sturm. Stromausfälle sind mir unheimlich – man knipst das Licht an und nichts passiert. Es war so kalt, dass ich mit Mum und Dad zu Waitrose zum Einkaufen gegangen bin, nur um in Bewegung zu bleiben.

Ein superseltsames Erlebnis. Es war dunkel da drin, weil nicht nur fast die ganze Beleuchtung abgeschaltet war, sondern auch die Klimaanlage und die Ventilatoren, die den Geruch nach frisch gebackenem Brot in den Laden blasen. Es war wie in einer großen Lagerhalle. Schon komisch, all die netten Mittelklasseleute, die so taten, als würden sie keine Panikkäufe tätigen und als wäre es vollkommen normal, sechs voll beladene Einkaufswagen vor sich herzuschieben. Die Kassierer mussten die Leute ständig auffordern, Dinge wieder zurückzustellen, weil sie ihre Energiepunktzahl überschritten hatten.

Meine Mutter hätte sich wegen einer Großpackung Knoblauch- und Basilikumpesto beinah mit einer anderen Frau geprügelt.

Sie hatten beide gleichzeitig die Hände nach der Packung ausgestreckt, zerrten daran, sagten Entschuldigen Sie bitte, zerrten erneut und sagten Aha, ha, ha, während ihre Fingerknöchel um den Karton herum weiß wurden. Dann legte meine Mutter los: »Normalerweise würde ich nicht darauf bestehen, aber dies ist eins der wenigen Nahrungsmittel, die meine Tochter (dabei strich sie mir über die Haare) zu sich nehmen kann – sie leidet nämlich unter einem Säuremangel. Wenn die Säure unter ein bestimmtes Level fällt, löst sich ihre Haut ab.«

Die andere Frau wich zurück wie ein unterlegenes Tier in einem Naturfilm.

Donnerstag, 22. Jan.

Italien hat gerade erst wieder Strom bekommen. Der Grund für den Ausfall war ein Baum, der an der Schweizer Grenze auf ein Hauptkabel gefallen war. Eine verdammte Pflanze war schuld daran, dass ein ganzes Land 60 Stunden lang lahmgelegt wurde. Es sind haufenweise alte Leute gestorben. Merkwürdig. Ich hatte keine Ahnung, dass Kälte Leute einfach so umbringen kann. Frankreich liegt unter tiefem Schnee begraben, der immer näher auf uns zukommt.

Am Sonntag hat es bei uns einen Braten gegeben, der erste meines Lebens. Mum wünscht sich verzweifelt, dass alles seinen normalen Gang geht, und Dad unterstützt sie darin. Er kam in die Küche, rieb sich die Hände und sagte: »Mmm, das riecht aber gut«, wie ein Dad in einer Glückliche-Familie-Sitcom.

Kim weigerte sich, ihr Zimmer zu verlassen und mit uns zu essen, obwohl mein Vater sie darum bat. Das ist ungewöhnlich, weil sie sich normalerweise von ihm erweichen lässt, sofern sich ein Krokodil überhaupt erweichen lässt. Schließlich verlor Mum die Beherrschung. Sie rief aus der Küche: »Ich hab den ganzen Nachmittag lang für dich gekocht, da kann man doch wenigstens erwarten, dass du zum Essen kommst.«

Kim machte für eine Sekunde ihre Zimmertür auf. »Tu doch nicht so, als hättest du das für mich getan. Du hast es für dich selbst getan. Du machst mich krank!« Ein lauter Knall, dann war die Tür wieder zu.

Was einen am meisten an Kim nervt, ist, dass sie der ehrlichste und gleichzeitig der zickigste Mensch ist, den ich kenne. Nachdem ihre Reise nach New York, wo sie das freie Jahr zwischen Schule und Studium zubringen wollte, gestorben ist, hat sie ihre Spielchen zur Strafe auf ein ganz neues Niveau gestellt und einen Krieg gegen meine Eltern begonnen, den sie nicht gewinnen können.

Als eine Art Sonntagsbelohnung sahen wir unterschiedliche Filme in unterschiedlichen Zimmern an. Das war das Beste am unbegrenzten Energieverbrauch gewesen – die Freiheit.

Ich weiß nicht, ob unsere Familie gemeinsam überleben kann.

Freitag, 23. Jan.

Als ich wach wurde, schien die Sonne auf eine glitzernde Schneedecke. Zuerst kriegte ich ein bisschen Angst, aber andererseits sah es so schön aus. In der Pause machten wir eine richtige Schneeballschlacht auf dem Schulhof. Claire war gestern Abend im Nobelkaufhaus John Lewis wegen eines Stromausfalls im Aufzug stecken geblieben. Geschieht ihr recht, wenn sie sich so spießig benimmt! Ein paar Leute standen vor dem Energiesparunterricht um sie herum.

»Also, ich habe drei Stunden lang festgesteckt. Hat sich angefühlt wie eine Ewigkeit.«

»Hast du geschrien und so?«, fragte der kleine Nathan. »Mann, ich hätte gekreischt wie ein Mädchen, wenn ich so eingesperrt gewesen wäre.«

Alle lachten, nur Claire nicht.

»Nate, mach mich nicht zum Klischee. Natürlich habe ich zuerst geschrien, aber dann tat mir der Hals weh und meine Knöchel fingen vom Klopfen an zu bluten … Aber das hat alles nichts geholfen.«

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich hatte doch mein Smartphone dabei.«

»Ja, gut, aber vorhin hast du gesagt, dass es kein Netz gab da drin.«

Claire zog eine Augenbraue hoch. »Aber ich hatte eine Batterie. Ich nahm das Smartphone vom Handgelenk und hielt es an die Sprechanlage im Aufzug – dann habe ich immer wieder den Klingelton betätigt – bis es schließlich und endlich der Sicherheitsdienst gehört und mich gerettet hat.«

Nathan stieß einen Pfiff aus. »Gut gemacht, Mädchen.«

Claire schaute auf ihr Handy. »Kann schon sein. Aber den Ton kann ich nicht mehr hören. Ich hab ihn abgestellt.«

Dann kam Gwen Parry-Jones herein und es wurde still. Sie ist spindeldürr, wie eine dieser Frauen, die aus lauter Spaß Marathons laufen. Die Stunde begann, sie lief vor der Klasse auf und ab und dann kam ausgerechnet Ravi Datta 20 Minuten zu spät. Meine Ohren glühten. Ob das normal ist?

GPJ teilte uns in Zweiergruppen auf und wir mussten ein Diagramm des Golfstroms farbig ausmalen und Zahlen eintragen, wo er abkühlte. Ravi arbeitete mit einem Mädchen auf der anderen Seite des Raums zusammen. Die Glückliche. Ich war mit Zafran zusammen, der insgesamt über ungefähr drei Hirnzellen verfügt. Er übernahm das Ausmalen.

Schon wieder ein Stromausfall. Was ist denn bloß los? Als ich nach Hause kam, hörte Dad die Nachrichten auf einem batteriebetriebenen Radio, das Mum ihm vor vier Jahren zu Weihnachten geschenkt und das er bis heute nicht einmal ausgepackt hatte. Es ging um stromsparende Notstandsmaßnahmen der Regierung. Die Geschäftswoche soll auf vier Tage begrenzt werden, um den Energieverbrauch zu senken. Dad stellte das Radio ab.

»Mein Gott, das haben sie das letzte Mal beim Bergarbeiterstreik in den 80ern gemacht.«

Ich rannte aus dem Zimmer. Beide Eltern ließen sich über die Bergarbeiter aus! Wenn sie nicht aufpassen, kriege ich echte Persönlichkeitsstörungen.

Montag, 26. Jan.

Heftige Schneestürme gestern Nacht. Jede Menge Stromleitungen im Land sind gekappt worden. Ich hatte keine Ahnung, dass Kälte so schlimm sein kann. Es tat weh, heute früh aufzustehen. Die Nachrichten sind voll von Stromausfällen, es heißt, die Stromnetze sind veraltet und total im Arsch, weil die privaten Betreiber sie seit ewigen Zeiten vernachlässigt haben. Niemand weiß, wie man die Probleme lösen kann. Immer nur Argumente – Atomkraft hier, erneuerbare Energien dort. Blablabla.

Ich kam kaum aus dem Haus hinaus. Dad musste unsere Tür freischaufeln, damit ich mein Fahrrad hinausschieben konnte.

Er runzelte die Stirn. »Schaffst du das?«

Ich schaute die Straße hinunter. »Ich glaub schon, solange ich auf den Reifenspuren bleiben kann.«

Ich radelte los und versuchte, möglichst cool zu wirken, weil ich spürte, dass er mir hinterhersah. Alles ging gut, bis ich an einer Kreuzung gegen einen Bordstein prallte. Ich bremste wegen eines Hundes, schlitterte über die Kreuzung und landete unsanft auf dem Bürgersteig. Aber ich stieg sofort wieder auf, weil ich das Gefühl hatte, unbedingt bei den anderen im College sein zu müssen. Ich wollte nicht schwänzen. Auf einigen kleineren Straßen musste ich absteigen und mir einen Weg durch die Schneeverwehungen bahnen.

Mein Design-Tech-Kurs ist gerammelt voll. Im letzten Semester waren wir nur zu sechst. Ursprünglich habe ich mich für DT entschieden, um den Bassverstärker an meiner Gitarre reparieren zu können, aber jetzt will jeder in diesen Kurs – anstelle von Philosophie, Soziologie und Kunst – und etwas Praktisches lernen. Dave Beard, der DT-Lehrer, sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen.

Um drei war es schon dunkel. Ich presste mein Gesicht ans Fenster und sah dicke Schneeflocken, die aus einem grauen Himmel fielen. Dann betrachtete ich uns alle, wie wir uns in der Scheibe spiegelten – wir wirkten ziemlich mickrig. Und als der Unterricht zu Ende war, hatte keiner so richtig Bock, nach Hause zu gehen.

Sehr langsam zog ich meine Jacke an, damit ich hören konnte, wie sich Ravi mit Dave Beard unterhielt.

»Gestern Abend habe ich zu Hause die Stromspannung gemessen. Es waren nur so um die 150 oder 160 Volt anstatt 220. Die halten uns ganz schön knapp.«

Dave zuckte mit den Schultern. »Was bleibt ihnen denn sonst übrig? Die Kraftwerke bekommen nicht mehr genug Gas. Die Dänen liefern noch durch die Nordsee-Pipeline, aber die Franzosen lassen nichts mehr durch den Kanal. Die sind doch selbst metertief eingeschneit.«

»Und was ist mit unseren eigenen Gasvorräten bei Schottland?«

»Alles weg … Wir importieren nur noch – und unsere Lagerkapazitäten sind sehr gering. Es gibt nur einen Elf-Tage-Vorrat für das gesamte Land. Einige europäische Länder haben genug für fünfzig, sechzig Tage.«

Ravi strich sich die Haare aus der Stirn. »Aber wenn man doch wusste, dass so etwas passieren kann – warum hat man nicht rechtzeitig vorgesorgt?«

»Gute Frage. Wegen der vielen Proteste sind die neuen Atomkraftwerke noch nicht einsatzbereit; Windparks liefern nur 30 Prozent und die Nutzung von Wasserkraft ist vorerst noch ein schöner Traum. Wir sind abhängig von Öl und Gas, Ravi. Und diese Drogen werden langsam knapp.«

»Dann fahren wir eben alle nach Ibiza«, mischte Nathan sich ein. »Da können wir so richtig Spaß haben.«

Dave lachte. »Schön, aber was glaubst du, wie lange die Spanier einen Haufen fauler britischer Energierebellen bei sich aufnehmen werden?«

»So lange, wie sie bar bezahlen.«

»Ah, aber ich habe gehört, dass die Regierung die Konten einfriert. Alle britischen Bürger sind auf Rationierung.«

Nathan schnipste mit den Fingern. »Krass.«

»Es gibt kein Entkommen, Nathan.« Dave seufzte. »Zum Guten oder zum Schlechten, wir sitzen alle im selben Boot.«

Endlich habe ich heute Abend mal was Normales gemacht. In Adisas Garage fand die erste Bandprobe nach der neuen Weltordnung statt. Ich war Feuer und Flamme, weil ich einen monstermäßig geilen neuen Song geschrieben hatte, echt Old Skool, im Stil von Minor Threat. Ich fing an mit einem Wahnsinns-Gitarrenriff und dann kreischte Claire los:

Ich habe keine Energie für deine verkorkste Welt Ich habe keine Energie für deine blöden Spielchen Ich habe nur Syn-ergie Fantasie Autonomie

Komm du mir bloß nicht blöd!

Gott, ich hätte für mein Leben gern selbst gesungen, aber Claire würde ums Verrecken nicht das Mikro aus der Hand geben. Manchmal schreibe ich einen Text, und wenn ich ihn ihr gebe, sagt sie nur »cool« und steckt ihn in die Hosentasche, die so eine Art schwarzes Loch ist, weil keine einzige Zeile je wieder auftaucht.

Zum Schluss wurde alles ein bisschen hektisch und Stacey, die Schlagzeugerin, schmiss ihre Trommelstöcke ans Garagentor – aber anstatt auf Metall prallten sie auf die Brust von Adisas Mum, die gerade mit Cola und Chips hereinkam. Seine Mum kommt aus Nigeria und ist eine echte Powerfrau. Sie holte tief Luft und murmelte etwas über die Musik von Weißen vor sich hin.

Bevor wir uns trennten, schworen wir uns, dass jeder 10 Punkte in der Woche für die Band ausgeben würde. Ich war total gerührt, als ich meinen Schwur leistete. Diese Band rettet mir das Leben. Ich weiß nicht, wie lange wir noch durchhalten können – eine kreischende Straight-Edge-Punkband hat im Moment vielleicht nicht bei jedem oberste Priorität.

Gerade habe ich was ganz Seltsames erlebt. Auf dem Nachhauseweg von der Probe ging ich die vereiste Blackheath High Street herunter, als plötzlich alles um mich herum dunkel wurde. Alle Straßenlaternen und Schaufensterbeleuchtungen gingen aus. So einen Stromausfall hatte ich bisher nur zu Hause erlebt. Ich kam gerade an einem Internetcafé vorbei, wo alle Monitore schwarz wurden. Seltsamerweise reagierte lange Zeit niemand und ich hatte das Gefühl, als würde ich träumen.

Der Stromausfall erstreckte sich über ganz Südlondon. Vorher waren immer nur ein paar kleinere Gebiete betroffen. Jetzt ist der Strom wieder da, aber ich fühle mich immer noch etwas wackelig, so als hätte sich etwas Grundsätzliches verändert.

Dienstag, 27. Jan.

Heute Morgen kam Mum in mein Zimmer gestürmt.

»Liebling, im Wetterbericht haben sie gesagt, das Schlimmste wäre vorbei!«

Ich hob den Kopf vom Kissen. Ihre Augen waren voller Tränen. »Von morgen an soll es aufklaren! Kannst du dir das vorstellen?«

Nein, kann ich nicht. Wann hätte der Wetterbericht jemals recht gehabt? Aber das sagte ich meiner Mutter nicht. Sie könnte damit nicht umgehen.

5.30 nachmittags Ich schlage mich immer noch mit diesem Scheißthema für Kritisches Denken herum, morgen muss ich es abgeben.

11 Uhr abends Fertig!

Die Elterngeneration der 1970er-Jahre war sehr egoistisch. So haben sie beispielsweise das Moodlight erfunden, statt wie unsere Großeltern die Socken unter einer 40-Watt-Birne zu stopfen. Sie ließen sich von Lifestyle-Magazinen wie der Daily Mail beeinflussen, was zu zügellosem Konsumverhalten führte. Meine Eltern sind Exhippies aus der Generation von 1970, ihr Hochzeitsfoto ist einfach nur superpeinlich. Alle beide haben darauf so viele Haare, als würden sie darum wetteifern, wer die meisten hat. Sie sehen aus wie Einwanderer aus Osteuropa, dabeikommt mein Vater aus Axminster in Devon und leitet den Fachbereich Reise und Tourismus in einem College und meine Mum kommt aus dem Norden des Staates New York und arbeitet in einem Verlag. Meiner Meinung nach gehören Exhippies zu der gefährlichsten Sorte von Leuten, weil sie ihr Leben tatsächlich für lebenswert halten.

Ich zeigte es Dad. Er löste den Blick von seinem Laptop, las die Seite und seufzte. Tief.

Vielleicht steckt er in den Wechseljahren. Er wird ständig rot am Hals und im Gesicht und dann stößt er richtig heftig die Luft aus – so wie damals im Roten Meer, als er zu lange unter Wasser geblieben war und von drei süßen Schwedinnen gerettet wurde, die ganz in der Nähe oben ohne auf dem Wasser schaukelten. Später erzählte er uns, er wäre hinter einem wunderschönen Schwarm Kaiserfische hergeschwommen und dabei zu tief getaucht. Haha.

Mittwoch, 28. Jan.

Heute Nachmittag war ich bei Adi, als schon wieder der Strom ausfiel. Ein Kraftwerk ist ganz abgestellt und die anderen laufen nur mit halber Kraft, weil es nicht genug Treibstoff gibt. Es ist schon erstaunlich, wie schnell man sich an manche Dinge gewöhnen kann. Vor zwei Wochen hätten wir es noch unheimlich gefunden, aber jetzt blieben wir einfach sitzen und machten eine kleine Jamsession, und als es zu dunkel wurde, um noch was sehen zu können, wickelten wir uns in Decken, setzten uns auf Adis Veranda, schauten in den glitzernden Sternenhimmel und versetzten uns gedanklich in frühere Zeiten, als es ringsherum nur Wald und wilde Tiere gab.

Auf dem Nachhauseweg klopfte ich bei Kieran an die Tür, aber er machte nicht auf, obwohl ich seinen Kater Gary drinnen schnurren hörte. Gary schnurrt nur, wenn Kieran zu Hause ist – er ist ein sehr auf Menschen fixierter Kater. Ich wollte gerade weitergehen, als irgendetwas mich dazu trieb, noch einmal zu klopfen. In der Wohnung hörte ich jemanden stöhnen. Ich drückte gegen die Tür, bis sie aufging. Kieran saß da im Dämmerlicht und hatte seine Füße in eine Plastikschüssel gesteckt.

»Sieh sie dir an«, wimmerte er. »Blasen so groß wie Untertassen.«

»Kier, was ist denn passiert?«

»Der Stromausfall hat mich erwischt, Schätzchen, auf der obersten Etage von Foyles an der Charing Cross Road. Das ganze West End wurde dunkel, als hätte jemand eine Dose mit schwarzer Farbe über uns ausgekippt.«

Ich hockte mich auf die Kante des Sofas. »Und warum bist du nicht im Laden geblieben?«

»Na ja, zuerst entstand so eine Art Panik und jeder wollte nur aus dem Gebäude heraus – du weißt schon, wie bei einem Terrorangriff. Als ich es dann auf die Straße hinuntergeschafft hatte, hieß es ›Nein, nein, es ist nur ein Stromausfall‹.«

»Und woher wusste man das?«

Kieran zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, vielleicht weil weder Fernseh- noch Radioreporter da waren. Es war ziemlich merkwürdig, Laura. Als der erste Schock vorbei war, wurde die Stimmung irgendwie ganz friedlich. Niemand schrie oder brüllte herum, die Straßen waren voller Leute, die sich wie die Lemminge auf die Brücken zubewegten. Ich habe zusammen mit Tausenden von Leuten bei Westminster den Fluss überquert. Der Verkehr war bis weit in den Süden total zusammengebrochen, weil alle Ampeln aus waren.«

Ich betrachtete seine geröteten Füße. »Und du bist den ganzen Weg zu Fuß gegangen?«

»Nee, in Lambeth hat mich jemand im Auto mitgenommen, aber nur bis Camberwell, wo dem Typ dann das Benzin ausging und keine Tankstelle offen hatte. Ich sag’s dir, ich wollte nur noch nach Hause.«

»Das geht doch wieder vorbei, oder?«, sagte ich. »Ich meine, das ist doch nicht …«

Kieran nahm meine Hand. »Ach, das wird schon wieder. Es sind nur ein paar Stromausfälle. Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

Ich nickte.

»Ich glaube, so schön habe ich London noch nie erlebt. Es war Vollmond und man konnte so viele Sterne sehen …« Kieran verzog sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Und es war so unbeschreiblich still.«

Donnerstag, 29. Jan.

Langsam kriege ich Angst. Im Supermarkt standen sie Schlange für Brot, wie im Krieg. Es ist immer noch bitterkalt. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn einem warm ist.

FEBRUAR

Sonntag, 1. Feb.

Stacey kam zu mir, um sich zu waschen. Sie wohnt in der 12. Etage und sie haben kein Wasser, weil der Druck nicht stark genug ist. Die Regierung setzt die Energie für wichtigere Orte wie das Queen Elizabeth Krankenhaus in Greenwich ein.

»Mann, wenn das so weitergeht, mach ich mir eine Niere oder sonst was kaputt, damit ich ins Krankenhaus komme«, schimpfte Stacey zähneklappernd, als sie sich mit eiskaltem Wasser das Gesicht wusch.

Montag, 2. Feb.

Gerade habe ich erfahren, dass es ab Dienstag im Shepherds Bush Empire Tickets im Vorverkauf für The Hydrogen gibt. Da muss ich unbedingt hin – das ist die coolste Band in ganz London. Sie haben sich in einem riesigen Lagerhaus in Südlondon niedergelassen und betreiben es mit Brennstoffzellen aus Wasserkraft. Sie machen keine Tourneen, die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, ist, zum Lagerhaus zu gehen.

Ich werde Adi fragen, ob er mit mir geht, um die Tickets zu besorgen. Meinen Eltern sage ich nichts davon, wenn sie hören, dass ich durch die ganze Stadt muss, flippen sie aus bei all den Stromausfällen.

Dienstag, 3. Feb.

In allen Geschäften ringsum sind Kerzen ausverkauft, deshalb geht jeder zur katholischen Allerheiligen-Kirche am Rand des Heath und kauft sie dort. Alte und Kranke kriegen sie von den Priestern umsonst. Mum hat mich heute nach dem College hingeschickt, es war total surreal – die hohen Gewölbe waren nur von flackernden Kerzen beleuchtet und die Leute standen Schlange am Altar, um ihre Kerzenration zu bekommen. Heuchler. Wann waren wir eigentlich das letzte Mal in der Kirche?

Noch was Seltsames ist mir aufgefallen: Die Leute laufen herum und halten Selbstgespräche. Auf dem Heimweg von der Kirche habe ich drei oder vier alte Frauen gesehen, die mit sich selbst redeten, während sie die Straße hinuntergingen oder vor ihrer Tür standen.

Mittwoch. 4. Feb.

11 Uhr abends. Lieber Gott im Himmel! Ich und Adi haben in der Hauptverkehrszeit in der U-Bahn festgesessen.

Wir hatten total gute Laune, als wir einstiegen, weil wir die Hydro-Tickets bekommen hatten, und dann passierte es – direkt hinter Marble Arch. Wir standen dicht an die Türen gequetscht und die Bahn fuhr sehr schnell und ratterte und schlingerte und dann plötzlich Wuuuummm! Totale Finsternis und Motor aus. Trotzdem blieb die Bahn nicht stehen – wir ratterten durch die Röhre, als würden auch die Bremsen nicht mehr funktionieren. Alle schrien durcheinander und versuchten aufzustehen, aber es gab einfach nicht genug Platz. Im Kopf wiederholte ich unablässig Bitte lass es vorbei sein, aber es ging nicht vorbei. Ich dachte, wir müssten sterben. Schließlich hörte man die Bremsen quietschen, Funken stoben durch den Wagen, es roch nach Rauch – und dann kamen wir zum Stehen.

Einen Moment lang war es still, man hörte nur den Atem der Leute. Und dann rief jemand: »Wir müssen hier raus!« Das Geschrei ging von Neuem los und ein wildes Geschiebe begann. Ich dachte, meine Lungen würden platzen, so fest wurde ich gegen die Tür gedrückt. Eine Stimme rief: »Hört mal zu, wenn wir heil hier rauskommen wollen, müssen wir Ruhe bewahren. Die Leute, die an den Türen stehen – könnt ihr sie öffnen?«

Ich spürte, wie der Typ neben mir den Türgriff mit beiden Händen packte und versuchte, ihn mit aller Kraft herunterzudrücken. Dann ließ er ihn wieder los. »Geht nicht, Mann. Unmöglich.«

»Was ist mit den Fenstern? Wo ist der verdammte Notfallhammer?«

Neben mir sagte jemand: »Wir brauchen Licht … hat jemand eine Taschenlampe?«

»Ich hab ein Feuerzeug.«

»Nein«, antwortete die erste Stimme. »Kein offenes Feuer – das ist zu gefährlich hier unten.«

Ich schwor mir, wenn ich herauskam, würde ich nie mehr ohne Taschenlampe vor die Tür gehen. Nie, nie mehr.

»Es ist bestimmt eine Bombe!«, sagte eine Frau mit zitternder Stimme.

»Bleiben Sie ruhig. Wir kommen alle hier raus. Wir müssen nur dran glauben. Kann jemand sehen, wo wir sind?«

Ich spähte durch die schmierige Scheibe. Nichts, nur ein dreckiger Tunnel. Scheiße. Ich spürte, wie die Panik um mich herum größer wurde.

Dann eine andere Stimme. Jemand rief aus dem nächsten Wagen: »Der Fahrer lässt ausrichten, dass es sich um einen Stromausfall handelt – aber wir haben Glück gehabt, weil der erste Wagen schon im Bahnhof Bond Street steht. Er sagt, wir sollen ganz langsam von Wagen zu Wagen gehen, bis wir vorn angelangt sind. Aber Sie müssen so lange stehen bleiben, bis die Leute vor Ihnen losgehen können. Weitersagen!«

Adi drückte meine Hand. »Oh Gott!«

Der große Kerl neben mir fing leise an zu weinen.

Und dann standen wir eine Ewigkeit lang im Dunkeln, bis wir losgehen konnten. Man spürte, dass jeder versuchte, die Angst zu unterdrücken. Unter der Erde festzusitzen, eng zusammengequetscht, zunehmende Hitze, stockfinster. Plötzlich flackerte ein Lichtstrahl durch den Wagen. Über ein Meer von blassen, furchtsamen Gesichtern.

»Alles in Ordnung, Leute. Ich bin Polizist. Ist jemand verletzt?«

Niemand antwortete. »Dann helfe ich Ihnen, hier rauszukommen. Bitte treten Sie von der Verbindungstür zurück, damit ich sie öffnen kann. Und wenn Sie losgehen, dann – bitte – langsam und ruhig.«