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Manchmal ist nichts schwerer, als einfach man selbst zu sein
Charlotte Kingston führt ein Doppelleben: Tagsüber ist sie Vorzeigetochter, studiert Biomedical Engineering und ist das perfekte Sorority-Girl. Bei Nacht ist sie Charlie, die einfach nur Spaß haben und sich gehen lassen will. Über eine Dating-App trifft sie die beiden Eishockey-Spieler Will und Beckett, die überhaupt nichts gegen ein Date zu dritt haben. Das Problem ist nur, dass Will einen Journalisten an der Backe hat, der von seinem lästigen Politikervater engagiert wurde und der auf keinen Fall etwas von seinem unkonventionellen Liebesleben mitbekommen darf ...
»Schnappt euch euren Lieblingssnack, kuschelt euch in eure Leseecke und verliert euch in dieser wunderbaren Story, die einen reinzieht und bis zum Ende nicht mehr loslässt.« READ BY THE OCEAN
Der Abschlussband der Campus-Diaries-Reihe
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Seitenzahl: 784
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
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Epilog
Bonuskapitel
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Elle Kennedy bei LYX
Triggerwarnung
Impressum
ELLE KENNEDY
The Charlie Method
Roman
Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner
Die junge Studentin Charlotte Kingston führt ein Doppelleben, das kontrastreicher nicht sein könnte. Tagsüber studiert sie Biomedical Engineering und ist das perfekte Sorority-Girl – die Vorzeigetochter einer erfolgreichen und ehrgeizigen Familie. Doch nachts wirft sie alle Ansprüche an sich über Bord, will einfach nur Spaß haben und die College-Zeit genießen. Über eine Dating-App lernt sie die attraktiven Eishockey-Spieler Will Larsen und Beckett Dunne kennen. Die beiden Freunde und Teamkameraden haben gar nichts gegen ein Date zu dritt einzuwenden und sind mehr als bereit, der knisternden Anziehung dieser Konstellation nachzugehen. Doch es gibt ein Problem: der Journalist, den Wills Politikervater engagiert hat, um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass sein Sohn ein skandalfreies Leben führt. Mit mehr als einem Geheimnis, das enthüllt zu werden droht, müssen die drei sich entscheiden, ob die immer stärker werdenden Gefühle füreinander es wert sind, ihre sorgsam errichteten Fassaden zu zerstören und der Welt zu zeigen, wer sie wirklich sind.
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Dieses Buch ist für alle, denen es wirklich, wirklich schwerfällt, Entscheidungen zu treffen.
CHARLOTTE
Manche würden wohl sagen, ich führe ein Doppelleben
Hab nie Sex mit einem Footballspieler im Auto.
Das hat meine Mutter mir immer gesagt.
Na gut, das ist gelogen. Mom hat das nie gesagt. Aber ich kann mit absoluter Sicherheit behaupten, dass meine Mutter das, was ich gerade tue, nicht billigen würde.
Oder besser gesagt, was ich gleich tun werde.
Isaac Grant ist knapp zwei Meter, muskelbepackt und passt kaum auf den Fahrersitz seines eigenen Wagens. Ein Sportwagen natürlich. Ein silberner Porsche 911 Coupé, bei dem ich mir über die Lippen leckte, als ich in Hastings hinter dem Seniorenzentrum auf den Parkplatz fuhr und den Wagen dort stehen sah. Dieses Auto ist so sexy, dass es mich erbeben lässt.
Oder vielleicht ist es auch Isaac, der mich erbeben lässt, mit seiner Zunge, die meinen Mund erforscht und meine mit langsamen und geschickten Strichen verwöhnt. Er ist ein guter Küsser. Währenddessen bewegen seine Finger sich in mir. Auch darin ist er gut. Er krümmt diese beiden Finger, um meinen G-Punkt zu finden, und der darauf folgende Tsunami der Lust bringt meine Muskeln dazu, sich um seine Hand zu spannen.
»Mmmh, Baby«, stöhnt er an meinen Lippen. »Ich kann es kaum erwarten, zu spüren, wie du dich so um meinen Schwanz zusammenziehst.«
Verlangen jagt mir durch den Leib. Dirty Talk macht mich so was von an. Meine inneren Muskeln ziehen sich tatsächlich wieder genüsslich zusammen, als wollten sie seine Finger in mir festhalten. Erneut gibt Isaac einen erstickten Laut von sich. Ich bin schamlos, als ich mich an ihm reibe, aber mein völliger Kontrollverlust scheint ihn nicht zu stören.
Er drückt Küsse auf meinen Hals, und ich bekomme eine Gänsehaut, die zu zitternden Wogen wird, als ich ihn an meinem Oberschenkel fühle. Ein langer, harter Schaft, der die Theorie meiner besten Freundin Faith zu bestätigen scheint, dass die Größe der Hände eines Mannes auf die Schwanzgröße schließen lässt.
Apropos Faith – ich bin etwa zehn Sekunden von einem stürmischen Orgasmus entfernt, als ihr Klingelton durch den Nebel aus schweren Atemzügen auf dem Vordersitz dringt.
»Mist«, brummle ich und höre auf, die Hüften zu bewegen.
»Geh nicht ran«, brummt Isaac zurück.
»Ich muss.«
Mit großem Bedauern lehne ich mich zur Beifahrerseite, wo ich mein Handy liegen gelassen habe.
Faith Grierson ist die einzige Person, die weiß, wo ich mich gerade aufhalte. Die einzige Person, die in die heimlichen Sex-Dates eingeweiht ist, die ich mir gelegentlich gönne. Klar, ich hätte mich heute Abend mit Isaac treffen können, ohne es einer Menschenseele mitzuteilen. Damit hätte ich mir auch die gutmütigen Sticheleien erspart, die ich später zu hören bekommen werde. Aber nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Wide Receiver und Star des Footballteams auch noch als Mörder durch die Gegend läuft, ist es besser, Faith wissen zu lassen, wo ich bin. Sie wird mich nicht verurteilen.
»Neeeiin«, beschwert sich Isaac, als meine Hand sich um das Handy schließt.
»Tut mir leid. Könnte ein Notfall sein.« Ich hebe das Handy ans Ohr. »Hey, was ist los?«
»Tut mir leid, dass ich störe, aber offenbar haben wir heute Abend ein Meeting bezüglich der Präsidentinnengala.«
»Nein, haben wir nicht. Das ist morgen.«
»Tja, weißt du, Charlotte«, antwortet Faith in ihrer typisch trockenen Art, »ich weiß, dass das morgen ist, und du weißt, dass es morgen ist, aber weißt du, wer nicht weiß, dass es morgen ist, und beschlossen hat, gezielt das ganze Haus zu manipulieren, sodass jetzt alle glauben, wir lägen falsch?«
»Verdammte Agatha«, grummle ich.
»Verdammte Agatha«, bestätigt Faith. Ihr Lachen kitzelt mich im Ohr. »Ich habe ihr gesagt, du wärst unterwegs, also solltest du dich besser hierher beeilen, wenn du morgen keine zweistündige Standpauke erleben willst.«
»Uff. Ich bin bald da. Danke für die Vorwarnung.«
Ich beende den Anruf und schimpfe vor mich hin. Agatha Buckley-Ellis verbricht regelmäßig so einen Mist. Die Präsidentin der Delta-Pi-Schwesternschaft, Niederlassung Briar University, ist unfähig, zuzugeben, wenn sie sich geirrt oder einen Fehler gemacht hat. Stattdessen gräbt sie sich dann in ein derart tiefes Loch, dass es ein Wunder ist, wenn sie nicht in einem anderen Staat wieder auftaucht.
Das Meeting ist morgen, zweifelsfrei und zu einhundert Prozent. Mein Kalender ist ja nicht der Wilde Westen – kein einziger Termin schafft es ohne ordnungsgemäße Bestätigung da rein. Wahrscheinlich ist das nichts, womit ich angeben sollte, aber wenn es um meinen Kalender geht, bin ich so organisiert wie in kaum einem anderen Aspekt meines Lebens.
Außerdem halten wir freitagabends nie Meetings ab. Alle wissen, dass Agathas rechte Hand Sherise freitagabends einen festen Termin im Friseursalon in Hastings hat, um ihre grauen Haare nachzufärben. Sherise behauptet, ihre Haare hätten schon in der zehnten Klasse angefangen, an den Schläfen grau zu werden – angeblich liegt frühes Ergrauen bei ihr in der Familie –, aber Faith und ich glauben gern, dass Agatha der Grund dafür ist. Unsere Verbindungspräsidentin ist in der Lage, ein überwältigendes Level an Stress zu erzeugen.
»Es tut mir echt leid«, sage ich zu Isaac. »Ich habe ein wichtiges Meeting total vergessen.«
»Was bist du, eine Hochleistungsgeschäftsfrau?«
»Nein, aber ich bin im Leitungsgremium von Delta Pi, also muss ich da sein.«
Er starrt mich an. Ein Blick südwärts offenbart, dass seine Erektion langsam in sich zusammenfällt, obwohl sie sogar in nur halb hartem Zustand immer noch beeindruckend ist.
»Alles okay?«, frage ich, als ich von seinem Schoß klettere. Der Beifahrersitz bietet auch nicht viel Platz, aber ich schaffe es, mich wieder in meine weiße Spitzenunterwäsche zu schlängeln und meinen Faltenrock über den Oberschenkeln glatt zu streichen.
Der Footballspieler neben mir starrt mich weiter an. »Du musst ehrlich zu mir sein.«
»Okay?« Ich kämme mit den Fingern durch mein Haar und schiebe es mir dann hinter die Ohren.
»Findest du mich abstoßend?«
»Entschuldige, was?«
»Findest du mich abstoßend?«, wiederholt er mit zusammengebissenen Zähnen. Die Adern an seinem Unterarm treten hervor, als er sich über die Nase reibt. Das hier ist eindeutig schmerzhaft für ihn.
»Isaac … du hattest gerade deine Finger in mir«, erinnere ich ihn.
»Ja, und jetzt haust du ab. Ist es, weil ich dich nicht zum Kommen gebracht habe?«
Oh mein Gott. Ich weiß, Gelächter ist nicht die angemessene Reaktion in dieser Situation, aber es zu unterdrücken wird immer schwieriger für mich. Es blubbert tief in meiner Kehle und will freigelassen werden.
»Ist es das?«, drängt er.
»Nein.« Ich lege so viel Beteuerung in meinen Tonfall, wie ich kann. »Ich war nur Sekunden davon entfernt, zu kommen, versprochen.«
»Wirklich.«
»Todernst. Ich habe nur vergessen, dass ich heute Abend ein Hausmeeting habe.«
Als hätte ich gar nichts gesagt, fragt er: »Bin ich unattraktiv?«
Ich starre ihn mit offenem Mund an. »Du bist Isaac Grant.«
»Na ja, das dachte ich. Normalerweise kann ich Mädchen abschleppen, ohne es überhaupt darauf anzulegen. Ich betrete einen Raum, und dann sind da so fünftausend Mädchen, die alle mit mir nach Hause gehen wollen, und ganz plötzlich steht eine von ihnen nicht auf mich? Auf einmal ist da eine so: Moment, flirtest du mit mir? Tut mir leid, ich habe Pläne, bis später.« Er stöhnt entrüstet. »Ich dachte, ich sei Isaac Grant!«
»Oh, Süßer. Lässt dich etwa irgendwer daran zweifeln, wer du bist?«
»Nein.«
Offensichtlich lügt er. Das Beispiel, das er gerade gebracht hat, war sehr konkret.
Ich strecke die Hand über die Mittelkonsole aus und tätschle seinen riesigen Bizeps. »Wer immer sie ist, sie ist diesen Wirbel nicht wert.« Ich mache eine Handbewegung zu seiner breiten, muskelbepackten Gestalt. »Du bist ein Gott. Dein Körper ist …« Meine Augen werden einen Moment lang glasig, und ich ertappe mich dabei, dass ich mich vorbeuge, als wolle ich ihn küssen – bevor mir klar wird, was ich da tue, und ich mich wieder zusammenreiße. »Vertrau mir. Du bist umwerfend. Und dein Fingerspiel ist ganz große Klasse. Vergiss das Mädchen.«
Seine Lippen formen ein hoffnungsvolles Grinsen. »Muss ich dich auch vergessen?«
»Hm?«
»Das hast du gestern vor dem Coffee Hut gesagt, weißt du noch? Dass du dich heute Nacht mit mir treffen würdest, und danach würden wir vergessen, dass es je passiert ist.«
»So tun, als sei es nie passiert«, korrigiere ich.
Das ist der Standardsatz, den ich allen meinen Sex-Dates sage. Solltest du mich auf dem Campus wiedersehen, tu so, als würden wir uns nicht kennen. Ich brauche keine Horde liebestrunkener Kerle, die mir nachdackeln und von unserem One-Night-Stand schwärmen, wenn ich mit meinen zimperlichen Delta-Pi-Schwestern unterwegs bin.
Obwohl, um ehrlich zu sein, der letzte Mensch, mit dem ich erwartet hätte, ein Sex-Date abzumachen, war Isaac Grant. Als er gestern im Coffeeshop auf dem Campus mit mir zu flirten begann, wollte ich ihm schon einen Korb geben. Doch stattdessen hat er mich herumgekriegt. Ich bin immer noch verwirrt, wie er das geschafft hat. In Sachen Charme muss der Typ sich keine Sorgen machen, so viel ist mal sicher.
»Rein theoretisch zählt das hier nicht als richtiges Treffen«, meint er und wackelt mit den Augenbrauen. »Nachdem keiner von uns zum Ende gekommen ist.«
»Vielleicht, aber das war für die nächsten paar Wochen mein einziger freier Abend, also …« Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die Wange. »Fortsetzung folgt. Und falls nicht, war es schön, dich zu treffen. Aber jetzt muss ich wirklich gehen.«
»Fahr vorsichtig«, meint er.
»Mache ich.«
Ich hüpfe aus seinem Porsche und sause zu dem Sedan, den ich von meiner Schwester Ava übernommen habe, als sie vor vier Jahren ihren Abschluss an der Briar machte. Alle in meiner Familie waren auf dieser Uni. Meine Mom ist eine Legende bei Delta Pi, weshalb ich keine andere Wahl hatte, als mich in meinem ersten Jahr dort zu verpflichten. Wenn es nach mir ginge, wäre ich keiner Schwesternschaft beigetreten. Oder hätte mir zumindest eine mit mehr Spaß ausgesucht. Stattdessen bin ich nun gezwungen, von Hastings nach Hause zu rasen, weil unsere Präsidentin eine Tyrannin ist.
Hastings, nur zehn Minuten vom Campus der Briar entfernt, ist eine typische Ostküstenkleinstadt mit einer idyllischen Hauptstraße, einzigartigen Läden und einem historischen Stadtplatz. Isaac und ich haben uns heute Abend hinter dem Seniorenzentrum getroffen, weil der Parkplatz dort um Schlag sechzehn Uhr zur Geisterstadt wird und die Senioren von Hastings zu einem frühen Abendessen ins Diner strömen. Er wohnt in der Nähe einer der von Bäumen gesäumten Wohnstraßen, aber ich wollte nicht in das Haus, das er sich mit drei anderen Footballspielern teilt, denn diese Art Sichtbarkeit brauche ich nicht.
Manche würden wohl sagen, ich führe ein Doppelleben.
Na gut. Faith sagt das.
Aber meine beste Freundin hat damit nur zur Hälfte recht. Es ist weniger ein Doppelleben als vielmehr ein extrem privates Leben. Es gibt Aktivitäten, an denen ich gern teilnehme, Risiken, die ich manchmal eingehe, die nicht mit dem Image, das ich gern aufrechterhalten möchte, übereinstimmen.
Für meine Familie bin ich die fleißige, verantwortungsvolle Charlotte. Ich bin ihre perfekte Tochter, die geliebte Schwester.
Für meine Verbindungsschwestern bin ich ein Vorbild, das stark, aber sittsam ist, selbstsicher, aber keusch.
Ich soll meine Eltern stolz machen und als Rollenvorbild für meine neu hinzugekommenen Mitschwestern dienen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sex mit einem heißen Footballspieler auf einem verlassenen Parkplatz nicht gerade vorbildtauglich ist.
Aber ich vermute, letzten Endes hasse ich es, andere zu enttäuschen. Schon allein bei dem Gedanken bekomme ich Hautausschlag. Wenn ich also die niederschmetternde Wahrnehmung tiefer Enttäuschung in den Augen meiner Familie und meiner Freunde vermeiden will, ist es von entscheidender Bedeutung, meine so gar nicht seriösen Freizeitaktivitäten unter Verschluss zu halten.
Ich fahre die kurze Strecke zurück zur Briar und werde langsamer, als ich in die breite Straße einbiege, die die Greek Row darstellt. Die meisten Häuser hier erlauben das Parken nur mit Genehmigung, aber Delta Pi liegt am Ende der Straße und hat seinen eigenen Parkbereich für die Autos unserer Mitglieder.
Das Haus von Delta Pi ist auch unbestreitbar das beeindruckendste in der Greek Row. Eine imposante dreistöckige Villa mit weißen Säulen, die den Eingang säumen, und Efeu, der an einer Seite der Ziegelfassade emporklettert. Der Efeu ist nicht mehr grün, nicht mehr in der lebhaft vollen Blüte des Frühlings und Sommers, aber die braunen Ranken weigern sich, ihren Griff um die Ziegelfassade zu lockern, und klammern sich stur an die Mauern.
Ich schnappe mir meinen Laptop vom Beifahrersitz und eile dann die breiten Stufen hinauf zu der Doppeltür, die mit schimmernden Messingklopfern verziert ist. Die Türklopfer sind nur Show – um ins Haus zu kommen, muss man einen Code in das weit modernere Keypad am Türrahmen eingeben. Über der Eingangstür prangen stolz unsere goldenen griechischen Buchstaben.
Alles an Delta Pi strahlt eine Atmosphäre von Eleganz und Exklusivität aus. Wir sind keine Partyschwesternschaft. Wir sind die Studentinnenverbindung von Senatorengattinnen und First Ladys. Irgendwann in den letzten Jahrzehnten wurde beschlossen, dass wir auch selbst Politikerinnen und Karrierefrauen sein können, aber treibt es mit dem Feminismus mal nicht zu weit, Mädels. Von uns wird immer noch erwartet, dass wir uns dem Patriarchat unterordnen. Bei der Verpflichtung unserer Anwärterinnen im September waren genau das Agathas Worte.
Uff. Ich kann ihre herablassende Stimme förmlich hören. Da möchte ich am liebsten kehrtmachen und zurück zu meinem Wagen rennen.
Aber ich hole tief Luft, akzeptiere mein Schicksal und gebe den Code ein, um die Eingangstür zu öffnen. Kaum trete ich ein, höre ich das laute Schnattern weiblicher Stimmen aus dem Esszimmer dringen.
Ich kann nicht leugnen, dass das Zusammenwohnen mit lauter Mädchen meinen Lebensstil einschränkt. Es gibt keinerlei Privatsphäre. Null. Das bedeutet, null Chance, meine Sex-Dates mit nach Hause zu nehmen. Tatsächlich dürfen Männer die oberen Etagen nicht einmal betreten. Das Patriarchat billigt keine Übernachtungspartys. Es geht ja nicht an, dass all diese künftigen Ehefrauen Sex mit notgeilen Burschenschaftskerlen und Hipster-Kunststudenten haben. Wir geben auch sonst keine Partys, mit Ausnahme der Dinnerpartys, die unser Haus zwei Mal im Jahr veranstaltet. Und ich rede von feinem Porzellan, komplettem Catering und Cocktailkleidern.
Bei unserem letzten Dinner beging Faith einen schwerwiegenden Verstoß, indem sie ihr Date nach oben schmuggelte. Sie alberten herum, bis eine von Agathas Lakaiinnen sie verpfiff, woraufhin Faith ein Treffen mit dem Vorstand besuchen musste, um ihre Bestrafung für eine so abscheuliche Tat zu bestimmen.
Als Vizepräsidentin der Finanzen war ich Teil der aufreibenden Überlegungen. Ich stimmte dagegen, eine Verwarnung in Faiths Akte zu vermerken, wurde aber von den anderen überstimmt. Ich sitze in einem Vorstand, der nach Blut lechzt.
Meine flachen Schuhe klacken auf dem Holzfußboden im Foyer, als ich an der ausladenden Treppe vorbeieile, die sich hinauf ins Obergeschoss windet. An der Decke hängt ein Kristallleuchter und wirft einen silbrigen Schimmer über den Raum. Das Innere des Hauses ist so makellos wie sein Äußeres. Agatha hat den Laden fest im Griff, daher ist unser Plan für Hausarbeiten nicht verhandelbar.
Im Esszimmer steht ein langer Mahagonitisch, an dem bis zu dreißig Mitglieder Platz finden, zu formellen Abendessen und wöchentlichen Meetings. Darüber hängen weitere Kristallleuchter, und auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befinden sich zwei Fenstertüren, die nach hinten auf eine große Veranda mit Korbmöbeln hinausgehen. Alles hier schreit förmlich nach Ostküstenreichtum.
Als ich eintrete, sitzen schon alle am Tisch. Unsere Niederlassung hat etwa einhundert Mitglieder, aber nur dreißig wohnen im Haus, und bei Meetings sind nie mehr als fünfzig Leute da.
Alle Blicke richten sich auf mich. Agatha, unsere glorreiche Präsidentin, hebt eine perfekt gezupfte Augenbraue.
»Sieh an, wer da beschlossen hat, uns mit ihrer Anwesenheit zu beehren.« Ihre Stimme trieft vor falscher Liebenswürdigkeit.
»Tut mir sehr leid«, antworte ich ihr. »Ich hatte dieses Treffen für morgen in meinem Kalender.«
Ich setze mein entschuldigendstes Lächeln auf, als ich zu meinem üblichen Sitzplatz eile, neben unserer Vizepräsidentin Sherise, einem umwerfenden schwarzen Mädchen mit dunklen, lernbegierigen Augen und Lippen, die sich missbilligend über meine Verspätung verziehen. Die Mitglieder unseres Vorstands nehmen diese Posten sehr ernst.
Die Mädchen, die keine Stühle haben, hauptsächlich Anwärterinnen und niederrangige Mitglieder, stehen bei diesen Treffen an den Wänden, so als seien sie kleine Kinder in einer Auszeit.
Kaum berührt mein Hintern den Stuhl, beuge ich mich vor und hole meinen Laptop aus der Tasche. Und die ganze Zeit über kann ich Agathas bohrenden Blick spüren.
Als ich aufsehe, neigt sie den Kopf und mustert mich prüfend, als sei ich ein Käfer und sie überlege, ob sie ihn zerquetschen soll. »Pünktlichkeit ist eine Schlüsseltugend einer Delta-Pi-Schwester, Charlotte. Vor allem für unsere Vizepräsidentin der Finanzen, der wir noch mehr als allen anderen vertrauen sollten.«
Noch mehr als allen anderen? Wieso? Bin ich der Papst?
Ich bin nur die Finanztussi. Ich plane das jährliche Budget der Niederlassung. Ich überwache alle Einnahmen und Ausgaben. Wenn ich Glück habe, darf ich manchmal die Bücher prüfen, aber selbst ich weiß, dass meine Position in dieser Schwesternschaft von jeder anderen übernommen werden könnte, die die Grundlagen der Mathematik beherrscht.
Meine Güte, ich war gar nicht scharf auf den Posten und hätte mich wahrscheinlich auch nicht auf das Klischee von »Asiaten sind gut in Mathe« eingelassen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass meine Mom hier schon Finanz-Vizepräsidentin war. Und sie wollte wirklich, dass ich im Vorstand bin. Ich meine, sie hat es nicht gesagt, aber ich wusste, dass es ihr viel bedeuten würde, wenn ich in ihre Fußstapfen trete, vor allem nachdem meine ältere Schwester mit der Erfahrung einer Schwesternschaft nichts zu tun haben wollte.
»Verstanden. Ich werde meinen Kalender sorgfältiger führen«, sage ich und meide Faiths Blick. Ich kann das belustigte Glitzern in ihren Augen fühlen.
Agatha blinzelt leicht, als versuche sie zu ergründen, ob ich das sarkastisch meine. Offensichtlich ist sie enttäuscht, dass ich nicht mehr katzbuckle, aber das gesamte Esszimmer wartet auf uns, also nickt sie und sagt: »Fangen wir an.«
Sie nimmt am Kopfende des Tisches Platz, umschließt die Hände auf der glänzenden Tischfläche und verschränkt die manikürten Finger. Um den Hals trägt sie eine Perlenkette.
Ich schwöre, nur Agatha Buckley-Ellis trägt Perlen zu einem Hausmeeting. Ihr ganzes Leben dreht sich darum, ein makelloses Image aufrechtzuerhalten. Ihre Garderobe ist eine kuratierte Kollektion von Designerklamotten, alles perfekt aufeinander abgestimmt in Pastellfarben oder adretten Mustern, und sie verlässt ihr Zimmer niemals ohne makelloses Make-up und perfekte Frisur.
Heute Abend besprechen wir die Präsidentinnengala, ein jährliches Event, das wir im Januar veranstalten, um ehemalige Präsidentinnen von Delta Pi zu feiern. Normalerweise würde ich Samantha, unsere Vizepräsidentin der Programmgestaltung, die die Organisation aller Veranstaltungen in unserer Niederlassung überwacht, ausblenden, aber es hat sich nun einmal ergeben, dass eine der beiden Geehrten der diesjährigen Gala meine Mutter ist. Doch als Samantha langatmig über Gästelisten und potenzielle Veranstaltungsorte referiert, verdrehe ich innerlich derart die Augen, dass ich schon riskiere, mir den Sehnerv zu verrenken. Sie spricht immer in diesem todernsten Tonfall, als stünde die Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen und Kennenlernpartys auf der gleichen Stufe wie Gehirnchirurgie.
Die nächste Stunde mache ich mir Notizen und sage nur etwas, wenn jemand fragt, ob wir uns dieses oder jenes leisten können. Als das Meeting sich dann endlich vertagt, bin ich eine der Ersten, die vom Stuhl aufspringt.
Im Flur greift Faith mich am Arm und neigt den Kopf nahe zu mir. Ihre dunklen Locken hüpfen, und mir dringt ein Hauch Erdbeershampoo in die Nase.
»Bitte sag mir, dass du wenigstens einen Orgasmus hattest, bevor ich dich unterbrochen habe«, flüstert sie mir ins Ohr.
Ich lege mürrisch den Kopf an ihre Schulter. »Nein.«
»Tut mir leid. Ich hatte ein echt schlechtes Gewissen, weil ich dich gestört habe.«
»Nein, ist schon gut. Wenn ich das Meeting verpasst hätte, hätte ich mir das ewig anhören dürfen.«
Im weitläufigen Foyer erspähe ich Blake Logan, die auf mich wartet. Ich hebe die Hand zu einem kurzen Winken und werfe dann Faith einen Blick zu. »Ich muss mit Blake reden. Lust darauf, nachher in meinem Zimmer zu chillen und uns was anzusehen?«
»Ich kann nicht. Ich fahre nach Fairview House, um mit ein paar Freundinnen aus dem Kurs abzuhängen. Du kannst gern mitkommen.«
»Danke, aber mir ist nicht danach, noch mal auszugehen.«
»Besuchst du morgen immer noch deine Familie?«
Ich nicke. »Ich fahre am Morgen los.«
Sie wirft mir einen strengen Blick zu. »Und diesmal sagst du es ihnen?«
»Das ist der Plan«, antworte ich unbekümmert.
Das war auch schon letztes Wochenende der Plan. Doch stattdessen machte ich die zweieinhalbstündige Fahrt nach Connecticut nur, um dann zu kneifen und ihnen den wahren Grund für meinen Besuch nicht zu sagen. Ich aß schlicht zu Mittag mit meinen Eltern und fuhr dann den ganzen Weg zurück zur Briar. Fünf Stunden lang pendeln für eine Stunde Mittagessen. Und da glauben die Leute, ich sei intelligent.
»Okay, also, falls du moralische Unterstützung brauchst, stell mich heimlich auf Lautsprecher, und ich schicke dir Aufmunterungswellen durch das Handy«, verspricht Faith.
»Deal.«
Sie umarmt mich zum Abschied, saust dann davon, und ich gehe zu Blake ins Foyer. Die hübsche, sommersprossige Brünette ist meine »Kleine« dieses Jahr. Ich habe die Bezeichnung noch nie gemocht – sie ist ein Erstsemester, kein Vorschulkind. Delta Pi hält sogar eine ganze Zeremonie für die »Große-Kleinen-Enthüllung« nach der Verpflichtungswoche ab. Sie ist widerlich süßlich, mit Geschenken passend zum Anlass und einer aufwendigen Präsentation, so als wären wir werdende Eltern, die Ballons platzen lassen, um zu sehen, ob der Glitzer darin pink oder blau ist.
Der Mentorenpart dabei stört mich nicht. Mein Job dieses Jahr besteht darin, sie zu betreuen, und wir versuchen, uns ein Mal wöchentlich zu treffen, um ihre Ziele, ihre akademischen Tätigkeiten oder was ihr sonst noch durch den Kopf geht, zu besprechen.
»Hey«, sage ich und drücke grüßend ihren Arm.
Ich registriere das Armband an ihrem Handgelenk – es ist das, das ich ihr bei der »Große-Kleinen«-Party geschenkt habe – und bin gerührt, zu sehen, dass sie es trägt. Die glatten blaugrünen Steine sollen einem helfen, Klarheit zu finden – zumindest hat die Verkäuferin in der ganzheitlichen Boutique in Hastings das behauptet. Es schien passend für Blake, denn in der Rekrutierungsperiode räumte sie ein, dass sie keine Ahnung habe, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Sie hat noch kein Hauptfach gewählt, was für die meisten Erstsemester normal ist, aber Agatha ist sehr strikt, wenn es darum geht, ein Ziel, Struktur und einen Plan zu haben, und zwar mit ganz großem P.
»Wie war deine Woche?«, frage ich.
Blake wohnt nicht im Haus – Erstsemester auf der Briar müssen in den Wohnheimen wohnen –, aber eine Teilnahme an allen Meetings ist für neue Schwestern obligatorisch. Um eins zu schwänzen, müssten sie schon so ziemlich tot sein oder im Sterben liegen.
»Gut. Aber ich wollte mit dir über meinen Rundfunkkurs sprechen. Vielleicht können wir uns ja am Sonntag zum Frühstück treffen …« Dann zuckt sie abrupt zusammen und greift in ihre Tasche. »Tut mir leid. Vibrationsmodus. Hat mich gerade zu Tode erschreckt.«
Ich grinse und sehe zu, als sie ihr Handy herausholt. Sie checkt das Display, verdreht die Augen und schiebt das schlanke schwarze Gerät zurück in ihre Tasche.
»Wer war das?«
»Niemand Wichtiges. Na ja, jemand, der wichtig sein will«, gesteht sie. Bevor ich weiter fragen kann, sagt sie: »Auf jeden Fall: Frühstück am Sonntag? Ich könnte hierherkommen, oder wir können uns in Carver Hall treffen. Ich habe gehört, die Omelette-Station dort ist der Hit.«
»Gehen wir zu Carver. Soll ich meinen Laptop mitbringen? Müssen wir ausführliche Listen schreiben?«
Sie presst die Lippen zusammen, als wolle sie ein Lachen unterdrücken. »Du solltest wissen, dass der orgasmische Blick, den du bekommst, wenn du über Listenschreiben sprichst, ein bisschen … beängstigend ist.«
»Ich weiß«, seufze ich. »Ich versuche, meine Erregung im Zaum zu halten.«
Blake schnaubt.
»Komm, ich bringe dich nach draußen«, sage ich.
Wir erreichen die Haustür gleichzeitig mit Noelle und Veda, die dachten, sie könnten sich heimlich hinausschleichen.
»Wollt ihr irgendwo hin?«, frage ich amüsiert.
Daraufhin wirbeln beide herum, und Schuld steht in ihren hübschen Gesichtern. Ich registriere, dass keine von ihnen ein Agatha-gebilligtes Outfit trägt.
»Bei Sigma läuft eine Party.« Noelle senkt die Stimme und wirft einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass die Wärterin nicht in Hörweite ist.
Funfact: Manche Colleges der Ivy League raten von einer Teilnahme am Gesellschaftsleben in Studentenverbindungen ausdrücklich ab oder schränken sie strikt ein. In der Briar-Niederlassung von Delta Pi? Da schränkt die Schwesternschaft selbst sie ein.
Delta Pi gilt als eine der Top-Schwesternschaften für Philanthropie, Führungsentwicklung, akademische Spitzenleistung – und gähnende Langeweile. Doch auch wenn uns davon abgeraten wird, Partys in der Greek Row zu besuchen, kann nicht einmal Agatha Collegemädchen davon abhalten, sich auf dem College amüsieren zu wollen.
»Wollt ihr mit?« Noelle flüstert inzwischen praktisch, während Veda mit scharfem Blick die Treppe im Auge behält, um sicherzugehen, dass Agatha nicht überraschend herabsteigt.
»Wir kommen klar«, antworte ich, und die beiden Mädchen fliehen aus dem Haus wie Flüchtlinge.
Ich verabschiede mich von Blake, bleibe noch in der Tür stehen, um sicherzustellen, dass sie wohlbehalten in ihr Uber steigt, und gehe dann nach oben in mein Zimmer. Alle im zweiten Stock teilen sich einen Raum, aber höherrangige Mitglieder und Vorstandsmitglieder haben Vorrang. Ihnen stehen die Einzelzimmer im ersten Stock zu. Einschließlich meiner Wenigkeit.
Im Flur gehe ich an Jia vorbei, der anderen Korea-Amerikanerin im Haus. Aber wir sind nicht die einzigen Asiatinnen. Trotz aller unausstehlichen Fehler, die Agatha hat, heißt sie BIPoC-Mitglieder mit Freuden bei Delta Pi willkommen … solange sie aus reichem Hause stammen. Unsere hochverehrte Anführerin ist keine Rassistin. Nein, sie ist klassenbewusst. Deine Familie ist nicht gut situiert? Vergiss eine Bewerbung hier.
Ich ziehe meine Schuhe aus und schließe die Tür ab – wenigstens dürfen wir Türschlösser haben. Obwohl Agatha tatsächlich einmal versucht hat, eine neue Hausregel einzuführen, um sie zu verbieten. Das war, nachdem Fareedas Freund sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und geweigert hatte, herauszukommen, bis sie sich einverstanden erklärte, mit ihm zusammenzubleiben. Wir mussten die Feuerwehr rufen, um die Tür aufzubrechen und den Trottel herauszuholen.
Alle lachten Agatha aus, als sie vorschlug, unsere Türschlösser abzuschaffen. Es war nett, zu sehen, dass meine Delta-Pi-Schwestern in der Lage sind, gegen die Wünsche der Queen zu rebellieren, zumindest dann, wenn unsere Privatsphäre in Gefahr ist.
Nachdem ich meinen Pyjama angezogen habe, schlüpfe ich unter meine dicke weiße Bettdecke und scrolle auf meinem Handy. Es ist noch nicht einmal halb zehn, aber ich muss morgen früh raus, um nach Hamden zu fahren.
Während ich scrolle, blinken einige Benachrichtigungen auf, alle von meiner Dating-App.
Na gut. Es ist eine Sexting-App. Dating? Wer hat schon Zeit für Dates? Mein Arbeitspensum ist enorm, was bei einem MINT-Studium nun einmal vorkommt. Außerdem will ich gerade keinen festen Freund. Die erfordern viel zu viel Arbeit, jedenfalls nach meiner letzten Beziehung zu urteilen.
Mitch brauchte ständig Bestätigung und ein Übermaß an Streicheleinheiten für sein Ego. Er hatte Probleme, über die ich nicht urteile, denn jeder hat sein Päckchen zu tragen, ich eingeschlossen. Aber Mitch verdient jemanden, der ihm all das gibt, was ich ihm nicht geben konnte. Jemanden, der geduldiger ist. Eine Freundin, die ihn nicht versehentlich versetzt, weil sie bis spätnachts im Labor arbeitet und dabei die Zeit vergisst. Eine, deren stressbedingte Libido nicht ständig auf Hochtouren ist und dafür sorgt, dass sie in seinem Wohnheim auftaucht und sich auf seinen Schwanz stürzt, und das häufig, ohne auch nur Hallo zu sagen.
Dieser Tage bin ich zufrieden damit, mich mit zwanglosem Sex zu begnügen, aber das ist eine Gratwanderung, denn ich muss meinen Ruf wahren. Ein Delta-Pi-Mädchen kann sich nicht einfach durch den Campus schlafen.
Zum Glück sind sexy Posts manchmal alles, was nötig ist, um das Verlangen zu stillen.
Ich öffne die App und gehe in meinen Posteingang. Da ist dieser eine Typ, mit dem ich eine Weile gechattet habe, aber seine Sexting-Skills sind unterirdisch. Ich checke seine neueste Nachricht und muss ein Kichern unterdrücken.
Ich bin voll hart und poche für dich.
Wie in aller Welt soll das irgendwer erregend finden?
Ganz klar Zeit, einen neuen Chatpartner zu finden.
Ich verbringe die nächsten zehn Minuten mit einer Wischorgie, die ein paar Möglichkeiten zutage fördert, aber kein Match. Zumindest nicht jetzt. Wahrscheinlich hätte ich viel öfter ein Match, wenn ich ein Foto von meinem Gesicht hochladen würde. Faith meint, die meisten Typen würden denken, dass die süßen Fotos von Körpern ohne Gesicht zu Bot-Accounts gehören.
Aber ich werde auf keinen Fall mein Gesicht auf einer Sex-App veröffentlichen. Mein Profil zeigt zwei Fotos: einen Bikinischnappschuss ohne Kopf vom Familienurlaub auf den Bahamas letztes Jahr und mich auf meinem Bett liegend in einem purpurnen Spitzenmieder und dazu passendem knappen Höschen.
Dieses zweite Foto ist gewagt, aber ich habe vor dem Hochladen sichergestellt, dass es nichts Identifizierbares enthält. Falls es irgendwo online auftaucht, ist es nur ein gesichtsloses Mädchen auf einem nichtssagenden Bett. So gut wie ausgeschlossen, dass jemand das zu mir zurückverfolgt. Oder zumindest war das das abschließende Ergebnis, bestimmt durch DieMethode, und ich vertraue ausdrücklich auf meine Methode.
Faith macht sich deswegen über mich lustig, aber sie sollte meine Methode nicht verurteilen, bis sie sie ausprobiert hat. Die Methode hat mich noch nie im Stich gelassen. Und ja, es gibt ein ganzes Dokument auf meinem Laptop voll mit Entwürfen zu der Methode, einschließlich der Frage, ob ich sexy Fotos von meinem Körper auf einer Dating-App posten soll.
Ich bin ein zwanghafter Nerd und werde immer einer sein.
Und ich habe Sex mit Footballspielern auf Parkplätzen.
Faith meinte einmal, ich wäre eine scharfe Zwiebel – Schichten über Schichten.
Ich wische durch weitere Profile und werde überschwemmt mit verlockenden nackten Oberkörpern, aber keins der Gesichter macht mich an. Ich wische wie auf Autopilot, bis die App mir einen Curveball zuwirft: nicht einen, sondern gleich zwei nackte Oberkörper auf demselben Foto.
Profilname LARS & B.
Okay. Ich bin fasziniert.
Ich klicke darauf, um mehr zu lesen, doch um ehrlich zu sein, ist es weniger Lesen und mehr Sabbern. Das sind zwei extrem sexy Körper. Ich kann die einzelnen Bauchmuskeln zählen.
Einer der Jungs ist sonnengebräunt und hat kaum Körperbehaarung, bis auf einen leichten Flaum auf Armen und Beinen. Er ist blond – das erkenne ich, weil sein Haar bis zum Kinn geht, wo das Foto aufhört. Ich stelle mir eine Art Thor vor, basierend auf Größe, Hautfarbe und Muskeln.
Der andere ist auch hellhäutig, mit etwas Brustbehaarung zwischen den definierten Oberkörpermuskeln und einer appetitlichen dunklen Spur aus kurzen Härchen, die zu einer Badehose führt, die tief genug sitzt, um das V seiner Unterleibsmuskeln zu zeigen.
Thor hat auch V-förmige Unterleibsmuskeln.
Wir ertrinken hier in Männermuskeln.
Ich kann nicht aufhören zu starren. Das sind buchstäblich die sexysten Körper, die ich je gesehen habe, was bedeutet, dass ihre Gesichter wahrscheinlich ganz übel aussehen. Niemand kann genetisch mit derart viel Sexyness gesegnet sein.
Ich halte den Atem an, wische zum nächsten Foto und mache mich darauf gefasst, zwei grinsende Oger zu sehen.
Nein. Nur noch ein Foto ohne Kopf. Dieses hier zeigt den Blonden allein. Er trägt eine graue Jogginghose. Noch mehr verhüllte Appetithäppchen locken meinen Blick.
Das dritte Foto zeigt den anderen Typen in eingerissenen Jeans und einem engen Poloshirt, das seine muskelbepackten Arme zur Geltung bringt.
Ihre Bio ist gleichermaßen faszinierend.
Zwei Jungs, ein Profil. Zweifacher Charme, Trouble im Doppel. Auf der Suche nach einer Frau, die mit doppeltem Spaß umgehen kann ; ) Also wenn du zur experimentierfreudigen Sorte gehörst, lass uns chatten.
Lass uns chatten, hm?
Ich meine, ich denke schon, dass ich zur experimentierfreudigen Sorte gehöre. Aber …
Nichts aber. Ist ja nicht so, als würde ich einen Blutschwur unterzeichnen, um mich mit diesen Typen zu treffen. Hier gibt es keine andere Verpflichtung, als mit ihnen in der App zu chatten und sie zu löschen, wenn ich nicht weiterchatten will. Wir gehen hier keinen digitalen Ehevertrag ein.
Mein Finger schwebt über dem Herzchensymbol. Ich lecke mir über die Lippen und … tippe darauf.
Nichts passiert.
Der ganze Spannungsaufbau, und dann sind wir nicht einmal ein Match.
BECKETT
Denken wird überbewertet
Wir verlieren das Spiel heute Abend, aber wir dürfen uns nicht entsprechend verhalten, denn uns wurde unter Androhung von Tod-durch-Coach befohlen, positiv zu sein. Uns strahlende Energiewellen vorzustellen, die Freude durch die gesamte Umkleide jagen, als befänden wir uns in einem Rudelbums der Positivität.
Mit anderen Worten: Diese Teambuilding-Berater, die in der letzten Saison Chaos und Verwüstung im männlichen Hockeyteam der Briar U angerichtet haben? Die sind zurück, um uns zu quälen.
Als meine Teamkameraden und ich aus dem Tunnel in die Umkleide trotten, starrt unser hiesiger Hitzkopf Jordan Trager einen Linksaußen und Erstsemester mit einem Blick wie Dolche an.
»Verdammte Hölle, Ingram! Du hast verdammt noch mal …«
»Hey!« Die scharfe Zurechtweisung kommt von Assistenzcoach Maran, der uns von der Tür aus stirnrunzelnd ansieht. »Positiv bleiben, Arschlöcher.«
Trager rudert hastig zurück. »Du hast … eine Seifenblase aus Hoffnung platzen lassen, als du auf das Netz geschossen und danebengetroffen hast, statt zu Kansas Kid zu passen, der …«
»Der freudig ausrief, dass er komplett frei war«, beendet der Geschädigte, Patrick Armstrong, den Satz.
Unser Co-Captain, Case Colson, wendet sich mit schmerzerfüllter Miene an Maran. »Kommen Sie schon, Coach. Wie lange müssen wir diese Sonnenschein-und-Regenbogen-Nummer noch durchziehen? Wieso tun Sheldon und Nance uns das an?«
»Gebt diesen Dummköpfen nicht die Schuld. Ihr könnt euch bei der UCS dafür bedanken, dass die Verwaltung Sheldon und Nance zurück in unser Leben gebracht hat.«
Gottverdammte UCS. Es ist erst Oktober, und die Saison hat kaum angefangen, aber die University of California, Sacramento Campus, ist komplett zusammengebrochen. Deren gesamtes Männer-Hockeyprogramm wurde stillgelegt, und zwar aufgrund eines gefährlichen Aufnahmerituals, das damit endete, dass ein Neuling vom Dach ihrer Eissporthalle stürzte.
In den Tod.
Der Skandal hat so viele Aussage-gegen-Aussage-Elemente, dass man kaum noch erkennen kann, wie die richtige Geschichte geht. Aber angesichts der unzähligen Aggro-Trottel, denen ich in meiner Hockeykarriere schon begegnet bin, neige ich dazu, zu glauben, dass der Neuling, der gestorben ist, absolut gemobbt wurde.
Nachdem ihr Programm ausgesetzt wurde, ist die UCS gezwungen, jedes Spiel ausfallen zu lassen, und während die Campuspolizei und die Polizei von Sacramento ermitteln, will die NCAA keine Risiken mit irgendeinem anderen ihrer D1-Teams eingehen. Sie hat Vertreter in jedes Programm entsendet, die gelegentlich hereinschauen, um Hallo zu sagen und zu beobachten. Um halt sicherzugehen, dass wir keine betrunkenen Kids dazu nötigen, von Gebäuden zu springen. Das Übliche.
Unser Chefcoach, Chad Jensen, hat letzte Woche ein Teammeeting abgehalten und uns unmissverständlich erklärt, dass wir den Rest der Saison aussehen, klingen und uns verhalten sollen, als seien wir Chorknaben. Offenbar gilt jetzt sogar Blödsinnreden als potenzielles Schikanieren und/oder Mobbing.
Ich bezweifle jedoch, dass es die Entscheidung vom Coach war, Sheldon und Nance zurückzuholen, um uns moralisch zu leiten. Jensen hasst diese Dumpfbacken ebenso sehr wie wir.
Ich schäle mir das verschwitzte Trikot von den Schultern und grummle, als es an meinem Brustschutz hängen bleibt. Ich kann jetzt schon fühlen, wie sich an meiner linken Seite, gleich unter dem Brustkorb, ein Bluterguss bildet. Ich habe im zweiten Drittel einen üblen Schlag abbekommen, als der Verteidiger von Yale mich gegen die Bande knallte.
Mit Shane Lindley und Luke Ryder im Schlepptau marschiere ich zu den Duschen und drücke die taillenhohe Trennwand der nächstgelegenen Kabine auf. Meine Kumpel belegen Kabinen links von mir, während Trager und Colson nach rechts gehen.
»Okay, hier ist ein richtig gutes«, meint Shane zu mir, während er die Dusche aufdreht. »Ein mysteriöser Brite im Trenchcoat kommt auf dich zu …«
»Wie heißt er?«, fragt Trager von der anderen Seite neben mir.
Ach, sieh mal an, wer sich plötzlich an unseren Gedankenspielen beteiligt. Letzte Saison, als Eastwood College, meine ehemalige Schule, mit Briar fusionierte, war Trager der Erste, der uns Eastwood-Jungs wegen unserer bescheuerten Traditionen verspottete. Und jetzt hängt er bei jedem Wort an Shanes Lippen.
»Sein Name ist Albert«, wirft einer unserer Verteidiger ein. »Das klingt sehr britisch.«
Shane verdreht die Augen. »Klar, egal. Jedenfalls meint er so: Tag, mein Name ist Albert, und dann macht er dir ein Angebot. Er gibt dir die nächsten zwanzig Jahre jeden Monat eintausend Mäuse …«
»Dollar oder Pfund?«, fragt Trager ernsthaft.
»Genau«, meint Colson nicht ganz so ernst, »wie ist der Wechselkurs?«
»Dollar«, antwortet Shane. »Ein Riese pro Monat, insgesamt zwanzig Jahre lang.«
Auf der anderen Seite von Shane streckt Ryder den Kopf unter den Wasserstrahl und streicht sich das dunkle Haar aus dem Gesicht. Seine Stimme klingt gedämpft durch das rauschende Wasser, das die dampfige Kabine erfüllt. »Wo ist der Haken?«
Shane sieht mächtig zufrieden mit sich aus, als er offenbart: »Um das Geld zu bekommen, müsst ihr ein Mal im Jahr euren Eltern beim Sex zusehen.«
Der ganze Raum bricht in Gelächter aus, und lautes Schnauben hallt von den Fliesenwänden wider. Ich schäume die Seife auf und fange an, mir den Oberkörper einzuseifen, während ich über Shanes Szenario nachdenke.
Colson antwortet schnell. »Ich passe«, meint er und wird blass. »Da wäre ich lieber arm.«
»Du hast zu schnell geantwortet«, tadelt ihn Trager. »Ich habe noch klärende Fragen.«
»So viele klärende Fragen gibt es nicht auf der Welt, dass ich mich überzeugen lasse, meinen Leuten beim Sex zuzusehen.«
»Lindley«, ruft Trager Shane zu. »Passiert es in einem dunklen Zimmer, sodass man sie kaum sehen kann?«
»Hell erleuchtetes Zimmer«, ruft Shane zurück.
»Kommen sie dabei?«
»Beide. Sie mehrmals.«
»Machen sie Geräusche beim Kommen?«
»Sie sind sehr laut.«
Nach einem langen Moment des Überlegens seufzt Trager. »Ich würde es machen. Ich kann kostenloses Geld nicht ablehnen.«
Grinsend wirft mir Shane einen Blick zu. »Beck?«
Ich drehe mich der Dusche zu, um die Seife von meinem malträtierten und schmerzenden Körper zu spülen. »Nein«, antworte ich schließlich. »Ich denke, ich bin in der Lage, zwölf Riesen im Jahr zu verdienen, ohne meinen Eltern beim lautstarken Orgasmus zuhören zu müssen. Ich investiere lieber in mich selbst.«
Ryder kichert.
Während Trager sein eigenes Gedankenexperiment raushaut, drehe ich das Wasser ab, schnappe mir mein Handtuch vom Haken und wickle es mir um die Taille. Mit Shane und Ryder hinter mir gehe ich zurück zu meinem Spind. Am Spind neben mir sehe ich Will Larsen stehen, immer noch in voller Montur, während er stirnrunzelnd auf sein Handy blickt.
»Alles okay?«, frage ich.
Sogar ohne das Stirnrunzeln würde ich erkennen, dass ihm etwas zu schaffen macht. Larsen und ich sind einfach voll auf einer Wellenlänge. So etwas passiert, wenn man sich genügend Frauen im Bett teilt. Was versauter klingt, als es ist. Wir verehren Frauen. Deshalb kommen sie auch immer wieder.
Will grummelt vor sich hin. »Alles gut. Mein Dad ist nur genauso ätzend wie immer.«
Er wirft mir das Handy zu. Ich muss lachen, als ich die Mail auf dem Display lese.
Von: Alessia Mason-BybeeAn: Will LarsenBetreff: Anfrage für ein Meeting
Hi Will,
Ihr Vater möchte ein Treffen mit Ihnen vereinbaren, so früh es Ihnen möglich ist. Bitte teilen Sie mir mit, wann Sie diese Woche verfügbar sind.
Beste GrüßeAlessia
»Er lässt Besuche von seiner Assistentin planen?«, staune ich.
»Klar.« Wills Tonfall ist sarkastisch. »Ich bin nur ein weiteres Geschäftsmeeting.«
»Bro, das ist heftig«, meint Shane und wirft ihm einen mitfühlenden Blick zu.
Schulterzuckend legt Will das Handy oben in sein Spindfach, fängt an, sich auszuziehen, und wirft sein Trikot auf die Bank. »Egal. Ist schon immer so. Ich weiß nicht einmal mehr, wann wir zuletzt ohne eine formelle Agenda miteinander geredet haben. Die schickt Alessia auch vorab per Mail.«
Ryder lacht schnaubend. »Mist. Ich meine, als jemand, der keine Eltern hat, kann ich das nicht wirklich beurteilen, aber ich denke nicht, dass eine Eltern-Kind-Beziehung so laufen sollte.«
Ich verberge meine Überraschung. Es passiert selten, dass Ryder seine Kindheit erwähnt, in der seine Mutter ermordet wurde und sein Vater dafür in den Knast kam. Aber wir haben alle bemerkt, dass er viel offener ist, seit er das Goldmädchen der Briar U geheiratet hat, Gigi Graham. Gigi ist die Tochter des berühmtesten Absolventen dieser Schule, und das sagt eine Menge, denn die Briar hat auch zwei US-Präsidenten hervorgebracht.
Dank Gigi ist Ryder nun auf dem Weg, ein vollkommen neuer Mensch zu werden. Er hat jetzt eine ganz neue Familie, und ich freue mich voll für ihn. Der Mann hat es verdient.
Und Larsen, nun ja, der tut mir echt leid. Er ist im August ins Haus gezogen, nachdem Shane und Ryder ausgezogen waren, und sein Dad hat ihn bisher nicht ein Mal besucht. Der Mann klingt nach einem totalen Arsch.
»Ja, so funktioniert es auch nicht«, bestätigt Shane und hält dann zum Beweis sein Handy hoch. »Seht ihr das? Das ist alles mein Dad. Ganze Berge von Text, Bro.« Er scrollt so etwa drei Abschnitte durch. »Und hier fragt er mich nur, was er für mich grillen soll, wenn ich in ein paar Wochen nach Hause komme.«
»Muss nett sein«, meint Will trocken.
Ich grinse ihm zu. »Dann schickst du ihm also deinen Terminplan?«
»Nein.« Er schaltet das Handy aus und schiebt es in seine Tasche.
Die meisten Jungs gehen jetzt ins Malone’s, die Sportbar in der Stadt, aber Will und ich haben schon etwas vor, also trennen wir uns auf dem Parkplatz hinter dem Graham Center von unseren Teamkameraden und steigen in Wills glänzend schwarzen SUV. Natürlich freundlicherweise von seinem Vater zur Verfügung gestellt.
Will gleitet auf den Fahrersitz und wirft mir einen Blick zu. »Wann kommt Caitlin rüber?«
»Ich weiß nicht genau. Sie hat während des Spiels geschrieben. Lass mich nachsehen.«
Aber in ihrer Nachricht steht nur: Ruf mich an.
»Yo, mach den Mist mal leiser«, grummle ich, bezogen auf die Countrymusik, die aus den Autolautsprechern dröhnt. Ich bin mehr der Typ für Rock und Rap, doch Mr Boston hier steht aus irgendeinem unerklärlichen Grund auf Country. Aber sein Wagen, seine Regeln. Wichser.
»Hey«, grüße ich, als Caitlin abhebt. »Wann kommst du rüber?«
Darauf folgt kurze Stille.
»Caitlin? Bist du noch da?«
»Ja. Tut mir leid. Ich bin hier. Ähm … ich denke, ich werde nicht kommen.«
Ich runzle die Stirn. »Wieso nicht?«
Nach einer langen Pause dringt ein schweres Ausatmen an mein Ohr.
»Ich habe Gefühle entwickelt.«
»Du hast Gefühle entwickelt«, wiederhole ich.
»Ja.«
»Für welchen von uns?«
Das bringt mir ein Kichern vom Fahrersitz ein. Will und ich grinsen uns an.
»Für dich, du Vollpfosten.«
Ich nicke vor mich hin. Für gewöhnlich stehen die Chancen fifty-fifty, in wen von uns beiden eine Frau beschließt, total verliebt zu sein.
Noch nie war die Antwort »in beide«.
Nicht, dass ich das will. Ich meine, das wäre schon echt seltsam. Klar, wir teilen die gleichen Macken im Bett, aber wir sind nicht zwei Typen auf der Jagd nach der einen speziellen festen Freundin, die unsere Triade komplettiert, oder wie zum Teufel man das heutzutage so nennt.
»Ich weiß, dass wir eigentlich nur Spaß haben wollten«, fährt Caitlin fort und klingt verlegen dabei. »Und es hat Spaß gemacht, miteinander herumzumachen. Ich hatte ganz ehrlich nicht erwartet, dass sich da Gefühle entwickeln.«
Hat sie nicht?
Ich meine, ich hatte damit gerechnet. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt einer Frau begegnet bin, die bei irgendetwas, das über einen One-Night-Stand hinausging, keine Gefühle entwickelt hat. Oh, richtig. Noch nie. Genau so vielen emotionsimmunen Frauen bin ich bisher begegnet. Null.
Ich liebe Frauen. Wirklich. Ich würde auf die Knie sinken und ihnen an ihrem Schrein der Weiblichkeit huldigen. Ich liebe es, wie sie aussehen, wie sie schmecken, wie sie riechen. Wie weich sie sich in meinen Armen anfühlen. Wie ihr Stöhnen in meinem Ohr klingt.
Und ja, ich bezweifle nicht, dass es Ausnahmen gibt, aber in den einundzwanzig Jahren meiner Existenz bin ich noch keiner begegnet, die nicht irgendwann Gefühle entwickelt hat.
»Also …« Sie seufzt erneut. »Ich weiß nicht … Statt dass ich rüberkomme, können du und ich uns vielleicht einen Film ansehen oder so? Du weißt schon, so wie …« Sie verstummt.
»So wie ein Date?«, souffliere ich.
Will wirft mir erneut einen Blick zu, interessiert diesmal.
»Ja«, meint sie. »Wäre das so schlimm?«
»Nein, ich bin mir sicher, dass das Spaß machen würde, aber …« Ich mache mich auf die Reaktion gefasst, die meine nächsten Worte auslösen werden. »Ich will keine feste Freundin.«
Stille.
Die Anspannung, die aus dem Handy dringt, erfüllt den Wagen. Will fährt tatsächlich das Fenster herunter, als sei sie etwas Greifbares, das er spüren kann. Aber der kleine Hauch kühler Luft auf meinem Gesicht ist ganz nett.
»Du bist nicht interessiert? Nicht mal ein winziges bisschen? Wieso, bin ich nicht gut genug als Freundin?«
»Das ist es ganz und gar nicht. Würde ich eine feste Freundin wollen, wärst du ganz oben auf meiner Liste«, beteuere ich. »Himmel, du wärst die Einzige auf der Liste. Du verstehst meine Witze und kommst mit den Zeitreisefilmen klar. Weißt du, wie selten das passiert?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich Will wieder grinsen.
»Diese Filme sind so was von langweilig«, teilt sie mir mit.
»Ich weiß, und ich liebe es, dass du sie dir trotzdem mit mir ansiehst. Glaub mir, Caitlin, wenn ich nach etwas Ernsthaftem suchen würde, wäre ich total bei dir. Aber ich mache nichts mit Verpflichtungen. Darin bin ich nicht gut. Alles, was ich in meinem vierten Jahr tun will, ist Hockey spielen und zwanglos vögeln.«
Ich bin einfach nur ehrlich. So halte ich es schon immer mit Frauen, vor allem nach dem, wie meine letzte Beziehung endete. Ich bin single seit meinem letzten Highschooljahr und habe nicht die Absicht, diesen Status in naher Zukunft zu ändern.
Ich warte auf irgendeinen Gegenschlag, aber Caitlin erweist sich als so cool, wie ich sie eingeschätzt habe.
»Na schön. Aber nachdem das gesagt ist, kann ich euch beide offensichtlich nicht mehr treffen. Ich hoffe, ihr versteht das.«
»Ich verstehe das.«
»Aber ich hatte eine echt gute Zeit.« Sie klingt wehmütig.
»Ja. Ebenfalls.«
»Grüß Will von mir. Wir sehen uns, Beckett.«
»Wir sehen uns, Babe.« Ich beende den Anruf und drehe mich zum Fahrersitz. »Ich habe gerade mit einer Frau Schluss gemacht, mit der ich nicht einmal zusammen war.«
Will schnaubt. »Willkommen im Club. Erinnerst du dich noch an Felicity, vom Frühling? Bro, sie hat geweint, als ich ihr sagte, dass ich ihre Liebe nicht erwidere. Du bist leicht davongekommen.«
»Stimmt.«
Wir erreichen unser Stadthaus, in dem es sehr viel ruhiger ist, seit Shane nicht mehr hier wohnt. Dass Ryder, Mr Schweigsam und Grüblerisch, nicht mehr da ist, nun ja, das fällt kaum auf, aber Shane ist eine andere Geschichte. Der Typ hat eine Persönlichkeit, die jeden Raum ausfüllt, in dem er sich befindet. Will und ich sind chilliger. Wahrscheinlich sind wir deshalb so gut klargekommen, als unsere beiden Hockeyprogramme zusammengelegt wurden.
Von dem Moment an, als ich den Typen traf, war mir, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Leider war es den Eastwood-Spielern nicht erlaubt, die Briar-Bros zu mögen – Todfeinde und so –, also hielten wir unsere Freundschaft monatelang geheim. Aber nachdem Ryder angefangen hatte, mit Case Colsons Ex Gigi ins Bett zu gehen, war alles möglich. Wenn er sich mit dem Feind verbrüdern durfte, dann drauf gepfiffen – dann durfte ich auch Will fragen, ob er mit mir ein paar coole Science-Fiction-Filme anschauen will.
Larsen ist ein Typ, mit dem man sich einfach wohlfühlt, egal, was man macht. Doch als ich zum ersten Mal aufwachte und eine nackte Frau und einen nackten Will in meinem Bett vorfand – ich kann nicht leugnen, dass das … abgefahren war.
Die Nacht vor diesem peinlichen Morgen danach war ein echter Spaß gewesen. Wenn es um Sex geht, bin ich auf je verrückter, desto besser abonniert. Und, wie sich herausstellt: je mehr, desto besser. Ich hatte eine steinharte Erektion, als ich zusah, wie eine heiße Brünette auf Will ritt, als sei er ihr preisgekröntes Rennpferd und sie dabei, das Kentucky Derby zu gewinnen. Dann beugte sie sich vor und nahm meinen Schwanz in den Mund, noch während sie auf ihm saß, und alles wurde noch tausendmal heißer.
Ich hatte davor schon so einige Dreier, aber noch keinen, der so war wie dieser. Und es wurde nur noch besser. Bis zu diesem Sommer, als Will beschloss, dass unsere unanständigen Aktivitäten ein wenig zu unanständig für ihn seien. Ich glaube, abartig war das Wort, das er benutzte.
Ich verstehe schon, wo das herkam. Will ist ein analytischer Geist. Er denkt zu viel. Meine Meinung? Denken wird überbewertet. Mach das, womit du dich gut fühlst. Ende.
»Sollen wir ins Malone’s gehen?« Will macht den Motor aus und schnallt sich ab.
»Ja, können wir ebenso gut machen.«
Wir haben morgen kein Spiel, auch kein Skatetraining, und wenn Caitlin nicht vorbeikommt, gibt es keinen Grund, sich heute Abend nicht total abzuschießen.
Von unserem Haus sind es nur zehn Minuten Fußweg zur Main Street, also entscheiden wir, zur Bar zu laufen, statt einen Wagen zu bestellen.
Als wir auf dem Gehweg nebeneinanderher marschieren, meint Will: »Dann willst du Caitlin wirklich nicht daten?«
»Nein, Kumpel.«
Er verdreht die Augen. »Sich zu binden ist nicht so schlimm, wie du denkst.«
»Ja, es ist nicht schlecht. Sondern total beschissen.«
Das endet nur in der reinen und absoluten Zerstörung deiner Seele und des Glaubens an alles Gute, wie ich traurigerweise bezeugen kann.
Tja, pfeif drauf. So wie Shannon mir in der Woche vor meinem Highschoolabschluss das Herz herausgerissen hat, habe ich für eine sehr, sehr lange Zeit nicht die Absicht, mit einer anderen Frau etwas Ernstes anzufangen.
Vielleicht in ferner Zukunft. Irgendwann. An irgendeinem vagen, unbestimmten Tag.
Aber ganz klar nicht heute Abend. Nein, heute Abend rufe ich unsere bevorzugte Sex-App auf, denn Caitlin ist bereits fest im Rückspiegel meines Sexlebens.
»Bist du gerade auf unserem Profil?« Will klingt amüsiert, als er einen Blick auf mein Handy wirft.
»Ja. Ich checke nur Nachrichten.«
Vor ein paar Wochen haben wir ein gemeinsames Profil erstellt, hauptsächlich weil es unangenehm ist, irgendwo mit einer Frau zu flirten und herauszufinden, ob sie an uns beiden interessiert ist, ohne dabei wie Widerlinge rüberzukommen. Eine Sex-App fühlt sich nach einer effizienten Möglichkeit an, jemanden vorab zu durchleuchten und sich dabei die Peinlichkeit einer Ablehnung oder entsetzten Zorn zu ersparen.
Nicht dass ich so leicht in Verlegenheit zu bringen bin. Es braucht schon einiges, bis mich etwas kümmert. Meine Werkseinstellung war schon immer »unbeeindruckt«.
»Irgendwas Gutes?«
»Ich denke, diese Nachrichten kommen von einem Bot.«
Ich lösche sie, unmatche die Frau und will schon die App beenden, als mir das Profil auf dem Hauptbildschirm ins Auge fällt.
»Oh verdammt, Larsen. Sieh dir das an.«
Als ich ihm das Foto zeige, wirft er mir ein wissendes Grinsen zu. »Die Schleife?«
»Die Schleife«, stöhne ich.
Die Frau auf dem Foto liegt im Bett, trägt einen purpurroten Spitzen-Bralette und ein Höschen im gleichen Farbton mit einer kleinen pinken Schleife mitten auf dem Gummibund. Ich stehe voll auf Schleifchen. Ich will dieses Schleifchen mit den Zähnen einfangen. Daran knabbern. Und danach an jedem Zentimeter dieses Körpers. Kleine feste Brüste. Schmale Taille. Lange Beine.
Mir ist sogar egal, wie ihr Gesicht aussieht. Ihr Körper ist eine Waffe. Ich will meinen Mund überall auf ihr haben.
»Ja, die liken wir.«
Will kichert in sich hinein. »Denkst du auch mal nicht an Sex?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
Ich tippe auf das Herz in der Ecke ihres Profilfotos und hoffe inständig, dass sie uns auch liked. Und eine Sekunde später taucht meine liebste Benachrichtigung auf.
It’s a match!
CHARLOTTE
Meine innere Kritikerin ist eine echt streitlustige Bitch
Ich war sechs Jahre alt, als mir zum ersten Mal klar wurde, was es »bedeutete«, adoptiert zu sein. Es dämmerte mir bei einer Auseinandersetzung auf dem Schulhof mit einem Mädchen aus meiner Klasse. Stacey. Gottverdammt, Stacey. Ich weiß nicht mehr, wie es anfing, aber es war ein absolut bescheuerter Streit, in dem jede von uns behauptete, dass unsere Eltern uns alles kaufen würden, was wir wollten. Was eine absurde Ansicht war, denn ich war in keinerlei Hinsicht ein verzogenes Kind.
Stacey prahlte damit, dass ihre Eltern ihr Eiscreme in einem Blizzard kaufen würden, wenn sie darum bitten würde. Nachdem ich eine gleichermaßen alberne Antwort gegeben hatte, behauptete sie: »Deine würden das niemals tun.«
Und dann, mit spöttischem Grinsen, haute sie die unbekümmerte Bemerkung raus, die meine Welt zerschmetterte.
»Du bist ja nicht einmal ihre richtige Tochter.«
Ihre Worte trafen mich wie winzige Dolche ins Herz. Ich hatte gewusst, dass ich adoptiert war, seit ich alt genug war, um zu fragen, warum ich mehr wie meine Freundin Daisy Jeong und ihre Eltern aussah als wie meine eigene Familie. Aber ich glaube, ich hatte das Konzept nie wirklich begriffen – bis zu diesem Streit mit Stacey.
Ich rannte weg, und Tränen rannen mir übers Gesicht. Ich war so aufgebracht, dass die Schule meine Eltern anrufen musste, damit sie mich abholten. Es war Dad, der den Kürzeren zog und mitten am Tag seinen Arbeitsplatz verlassen musste. Ich weigerte mich, ihm zu sagen, was los war, und wollte mich auch nicht von ihm trösten lassen. Aber später an dem Abend, als er mich ins Bett brachte, konnte ich schließlich nicht mehr, brach in Tränen aus und gestand ihm, was Stacey gesagt hatte. Mom kam in mein Zimmer geeilt, und beide trösteten mich und erklärten, nur weil wir nicht blutsverwandt seien, hieße das nicht, dass ich nicht ihre richtige Tochter sei.
Aber ihre Worte konnten den Schrecken nicht auslöschen, der in meinem Herzen Wurzeln geschlagen hatte.
Was, wenn sie beschließen, dass sie mich nicht mehr wollen?
Ich versuchte, diese Ängste zu begraben, aber als ich aufwuchs, fanden sie immer wieder einen Weg, um an die Oberfläche zu steigen. Immer wenn ich mich danebenbenahm, immer wenn ich eine schlechte Note nach Hause brachte, flüsterte eine Stimme in mir, dass sie mich vielleicht zurückschicken würden. Ich begann, jede ihrer Bewegungen zu beobachten, ihre Worte und Handlungen zu analysieren und nach Anzeichen dafür zu suchen, dass ihre Liebe zu mir an Bedingungen geknüpft war.
Inzwischen bin ich einundzwanzig, werde nächsten Sommer zweiundzwanzig, und diese Ängste sind größtenteils verschwunden. Es ist schon sehr lange her, seit ich die auf unserem Kamin aufgereihten Familienfotos betrachtet und in Zweifel gezogen habe, ob ich wirklich auf diese Fotos gehöre.
Aber es sind Momente wie diese, wenn wir am Esstisch reihum gehen und alle ein Ziel nennen, das sie sich gesetzt haben, oder eine Leistung, auf die sie diesen Monat stolz sind, in denen ich mir wünsche, dass die Menschen, die mich adoptiert haben, nicht so verdammt perfekt wären.
Ich liebe sie innig, aber meine gesamte Familie ist ein Haufen von Strebern.
Mom kann aus dem Nichts ein Soufflé zaubern und hat einen Doktortitel in Mathematik. Aber sie zwingt andere nicht, sie Doktor zu nennen. So aufgeblasen ist sie nicht.
Dad leitet seine eigene multimillionenschwere Cybersecurityfirma von seinem Büro im Obergeschoss aus.
Ava, die vier Jahre älter ist als ich, hat direkt nach dem College ihren Traumjob ergattert, mit einem derart hohen Gehalt, dass sie es sich leisten kann, in einem Dreizimmerapartment in Manhattan zu wohnen statt in einer kakerlakenverseuchten Einzimmerwohnung.
Oliver, sechs Jahre älter, ist auf dem besten Weg, der jüngste Partner in der Firma zu werden, in der er als Anwalt für Familienrecht arbeitet.
Sie sind widerlich erfolgreich und gut angepasst, allesamt. Sogar Olivers Ehefrau Katherine passt in dieses Bild. Kat arbeitet für eine Organisation, die gegen Kinderhandel kämpft und Überlebende wieder mit ihren Eltern vereint. Oliver hat buchstäblich die einzige Person als Ehefrau gewählt, die noch perfekter ist als er.
»Das sind fantastische Neuigkeiten.« Mom strahlt Ava an, die gerade verkündet hat, dass sie eine Beförderung in Aussicht hat. Denn natürlich hat sie das. »Ich bin ja so stolz auf dich, Liebes.«
»Was ist mit dir, Kleines?« Dad lächelt mir zu und schneidet sich mit seiner Gabel ein Stück Apfel-Crumble ab. »Irgendeine Leistung oder ein erreichtes Ziel?«
»Ich hatte eine Eins in meiner letzten Bioklausur.«
Die Antwort fühlt sich an wie ein Ausweichmanöver.
Aber was soll ich sonst sagen? Ich hatte Autosex mit einem Wide Receiver?
Dad würde sich wahrscheinlich an seinem Dessert verschlucken. Aber er käme schon klar, da alle in meiner Familie Erste-Hilfe-Techniken beherrschen, einschließlich Heimlich-Handgriff. Es war eines Sommers Moms Idee, dass die ganze Familie einen Kurs in Wiederbelebung und Erste Hilfe machen sollte – zum Spaß. Ihre Vorstellung von Spaß unterscheidet sich deutlich von meiner.
Du kannst ihnen jederzeit erzählen, dass du es geschafft hast, eine DNA-Probe an eine Ahnenforschungswebsite zu schicken.
Uff. Meine innere Kritikerin ist eine echt streitlustige Bitch.
Na gut. Gut, okay? Ich vermute, das ist eine solide Eröffnung. Von erreichten Leistungen zu einer aufregenden neuen Entwicklung in meinem Leben überzugehen.
Stellt euch vor! Ich suche nach meiner echten Familie!
Oh mein Gott. Was, wenn sie es so auffassen? Ich will nicht, dass sie denken, ich wäre undankbar oder dass sie nicht genug für mich wären.
Es ist nur etwas, zu dem ich mich genötigt sehe. Etwas, das mich schon seit einigen Jahren verfolgt. Ich war acht Monate alt, als ich adoptiert wurde. Ich habe keine Ahnung, woher ich stamme. Und die längste Zeit war es mir auch nicht wichtig, es herauszufinden. Ich hatte Fragen im Hinterkopf, klar, aber Antworten zu suchen fühlte sich nicht notwendig oder entscheidend an. Ich war glücklich mit meinem Freundeskreis, meiner Familie und meinem Leben. Und ich bin immer noch glücklich damit.
Aber in letzter Zeit nagt das Bedürfnis nach Antworten ununterbrochen an mir.
Ich will verstehen, vermute ich. Ich will wissen, wer meine leiblichen Eltern sind. Oder waren, falls sie nicht mehr leben. Ich will wissen, warum meine leibliche Mutter mich verlassen hat. Warum sie glaubte, es sei ihre einzige Wahl.
Meine Eltern sagten, sie habe mich beim Waisenhaus in Seoul abgegeben, in einem Wäschekorb aus Plastik, mit einem blauen Plüschhasen an meiner Seite. Den Hasen habe ich immer noch. Sein Name ist Tiger. Oliver hat ihm den Namen gegeben. Meine Eltern erzählten mir, dass Oliver und Ava auf der Stelle ganz vernarrt in mich waren, als sie mich nach Hause brachten und mich meinen neuen Geschwistern vorstellten.
Und sie sind meine Geschwister. Sie sind meine Eltern. Ich habe nie einen von ihnen als »meinen Adoptivbruder« oder »meine Adoptivmutter« bezeichnet. Vergiss es. Sie sind meine Mom und mein Dad. Oliver ist mein Bruder. Ava ist meine Schwester. Sie sind die einzige Familie, die ich je gekannt habe, und ich liebe sie innig.
Mir bleibt ein Stöhnen in der Kehle stecken. Verdammt, wieso habe ich mich auf dieser Website registriert? Ich hasse emotionales Chaos. Oder eigentlich jedes Chaos. Nur wenn ich mein anderes Leben lebe, das, in dem man nicht von mir erwartet, dass ich fehlerlos bin, darf ich die Anarchie willkommen heißen. Jenes Leben ist randvoll mit Risiko und Aufregung.
Dieses hier … nicht so sehr.
Ich tauche aus meinen Gedanken auf und erkenne, dass mein perfektes Zeitfenster wieder geschlossen ist und der Fokus nun auf Kat liegt, die erzählt, sie habe ihr Ziel erreicht, eine Woche lang jeden Tag zehntausend Schritte zu gehen, und dann sind wir fertig.