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Ariana ist einfach eine Luftakrobatin – dachte sie. Doch als sie bei einem Jetskiunfall von dem mysteriösen und attraktiven Diego gerettet wird, findet sie heraus, dass sie nicht nur ein Mensch ist. Sie ist eine Meerjungfrau – und die Auserwählte der Meere. Plötzlich findet sie sich in einer ganz neuen Welt wieder, umgeben von Meermenschen und ihren Feinden: den Sirenen. Durch eine List wird Ariana von Raiz – dem gefährlichen und unverschämt gutaussehenden Sirenenkönig – entführt und in sein Reich auf dem Meer verschleppt. Es folgt ein Wettlauf gegen die Zeit – und gegen ihre Vernunft. Arianas Fluchtversuche scheitern. Doch sie kommt hinter ein Geheimnis der Sirenen, dessen sich nicht einmal der König selbst bewusst war. Und das alles verändert.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Danksagung
Nachwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte, die am Romanende aufgeführt sind. Bitte entscheide für dich selbst, ob du diese lesen möchtest.
Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen und bedanke mich herzlich, dass du dich für diesen Roman entschieden hast!
Es macht mich wahnsinnig.
Es war nicht nur eine Melodie, es war Gesang, aber irgendwie auch nicht. Die Stimme klang weiblich und doch männlich, jung und doch alt, wie eine einzige Person und ein ganzer Chor zugleich. Nah und fern, vertraut und unbekannt. Wunderschön und schrecklich.
Mein Puls beschleunigte sich und mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. Verwirrt und nervös runzelte ich die Stirn. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas Vergleichbares gehört.
Ich schaute mich nach den anderen Menschen um, aber jeder ging entspannt seinen Tätigkeiten nach. Einige bräunten sich auf der Wiese im Park, die von der Sonne an einigen Stellen verbrannt war, andere lasen ein Buch oder unterhielten sich. Fast so, als würden sie es gar nicht hören. Wie war das möglich? Die Melodie war doch so vereinnahmend, so … berauschend.
»Wohin gehst du?«
Eine Stimme hinter mir drängte sich langsam an dem Gesang vorbei in mein Bewusstsein. Ich blinzelte benommen und wandte mich um.
Eine kleine rundliche Frau mit kurzen roten Haaren zerrte am Arm eines Mannes. Der Mann war zwei Köpfe größer als sie, von normaler Statur und trug eine Glatze. Sein Blick ging stur geradeaus in Richtung Meer, die Frau beachtete er gar nicht. Er riss sich aus ihrer Umklammerung los, wodurch sie ein paar Schritte nach hinten stolperte.
Sie blinzelte verdutzt und rief noch einmal: »Was soll das? Wo willst du hin?«
Der Mann lief an mir vorbei, den Blick unnachgiebig nach vorn gerichtet. Ich stieg von meiner Sportmatte barfuß auf den Rasen und ein paar Schritte weiter, bis ich die kleine Frau erreichte. Mit einem letzten Blick zu dem Mann hinter mir fragte ich sie: »Entschuldigung, ist alles in Ordnung?«
Warum ich das tat, wusste ich nicht und eigentlich ging es mich auch nichts an. Vielleicht hatten sie einen Streit, und ihr Mann brauchte einfach etwas Abstand. Aber dieser starre Blick … Als würde er das Lied auch hören, das immer noch unaufhörlich ertönte und ihn in Richtung Meer zog. Denn je länger es erklang, desto sicherer war ich mir, dass sein Ursprung im Wasser lag. Auch mich zog es aus unerklärlichen Gründen dorthin, nur nicht so sehr wie den Mann.
»Ich weiß nicht«, erwiderte die Frau verwirrt. »Wir waren mitten in einer Unterhaltung, als er seinen Satz plötzlich abbrach, einen Augenblick wie gebannt zum Meer starrte, dann aufstand und losging, ohne ein weiteres Wort.«
Das wirkte zwar wie außergewöhnliches Verhalten, aber was wusste ich schon. Ich kannte die beiden ja gar nicht.
»Möchte er möglicherweise eine Runde schwimmen oder sich abkühlen?«, mutmaßte ich.
Die Frau gab ein kleines Schnauben von sich. »Das bezweifle ich. Mein Mann ist ein grottiger Schwimmer. Außerdem macht er sich Sorgen, die kleinen Fische könnten ihm in die Zehen beißen. Er war seit Jahren nicht mehr im Meer«. Ihr Blick wurde traurig und ein wenig sehnsuchtsvoll.
Für mich waren das jedenfalls genug Informationen, um mich nicht völlig zum Trottel zu machen, für das, was ich als Nächstes vorhatte. Ich lief dem fremden Mann hinterher, um ihn einzuholen. Er war schon fast bis zum Parkende gekommen.
»Entschuldigung?«, rief ich ihm zu, als ich direkt hinter ihm war. Keine Reaktion. Mein Herzschlag wurde noch etwas schneller, da es überhaupt nicht mein Ding war, fremden Männern hinterherzurennen, und mich das Lied langsam kirre machte. Ich griff ihn am Oberarm und versuchte es noch einmal, diesmal lauter. »Entschuldigung?«
Der Mann ignorierte mich weiterhin, riss jedoch seinen Arm aus meinem Griff. Ich beschleunigte meine Schritte, um mich vor ihn stellen zu können, aber er lief einfach energisch weiter geradeaus, wo ich nun im Weg stand. Da er keine Anstalten machte anzuhalten, ging ich wieder einen Schritt zur Seite.
Frustriert und ein wenig perplex blieb ich stehen und schaute ihm für einen Moment nach. Er hatte das Parkende erreicht und sprang den kleinen Mauerabsatz hinunter, der mir bis zur Taille ging und den Park von einem Fußgänger- und Fahrradweg trennte. Dahinter führte ein kleiner Hang von ungefähr zwei Metern Höhe fast direkt ins Meer.
Die Schritte des Mannes schienen schneller zu werden, je näher er dem Wasser kam. Auch schienen der Wind stürmischer und die Wellen wilder zu werden. Sie bäumten sich höher auf als noch vor Kurzem und brachen mit voller Wucht unheilbringend in sich zusammen, während dieses merkwürdige Lied nicht aufhören wollte zu erklingen.
Der Mann ging bereits den Hang hinab. Unten angekommen, waren seine Füße knöchelhoch im Wasser, und er ging entschlossenen Schrittes weiter ins Meer hinein.
Scheiße. Jetzt oder nie.
Ohne wirklich über meine nächste Handlung nachzudenken, sprang ich die kleine Mauer ebenfalls hinunter, überwand den Fußgängerweg in wenigen Schritten und rannte den Hang etwa bis zur Hälfte hinab, bevor ich mich, so weit ich konnte, mit meinem Körper nach vorn schmiss. Ich flog hoch genug, dass ich mit meinem Gewicht auf den Rücken des Mannes schlug und uns beide zu Boden riss. Er landete mit dem Bauch im Wasser, welches zwar noch sehr flach war, aber seinen Sturz hoffentlich etwas abmilderte, während er den Rest versuchte, mit seinen Armen abzufangen.
Ich wurde durch die Kraft meines Absprungs über seinen Kopf hinweggeworfen, so dass ich einen unfreiwilligen Purzelbaum machte und im Wasser landete. Der Sand und die Steine drückten sich in meinen Rücken, da das Wasser zu flach war, und ich stieß gepresst den Atem aus. Autsch. Die Chancen standen gut, dass ich mir etwas geprellt hatte.
Ich rappelte mich schnell wieder auf, um zu sehen, ob ich den Mann verletzt hatte und wenn ja, wie schwer. Er stützte sich auf die Hände und Knie, blickte mich schockiert an. Das Wasser lief an seiner Wange hinab. Aber immerhin kein Blut, jedenfalls konnte ich keins entdecken.
»Was …« Er blinzelte ein paar Mal, bevor er den Satz beenden konnte. »Was mache ich hier?«
Es dauerte einen Moment, bis ich das Ausmaß seiner Worte verstand. Hatte es funktioniert?
Ich hielt inne. Das Lied war verschwunden. Meine Hände kribbelten und meine Ohren rauschten von dem Adrenalin, das langsam abebbte.
»Meinen Sie hier im Wasser?«, fragte ich.
Er nickte nur, verlagerte das Gewicht auf seine Unterschenkel und klopfte sich den Sand von den Händen. Sie waren aufgeschürft und bluteten leicht, aber es hätte schlimmer sein können. Wir blieben beide im Wasser sitzen, während mein Verstand das Geschehene verarbeitete.
»Ihre Frau meinte, dass Sie einfach mitten in einer Unterhaltung aufgestanden seien und zum Wasser gingen. Sie reagierten nicht auf ihre Rufe, und sie machte sich große Sorgen, da Sie seit Jahren nicht geschwommen seien.«
»Ich erinnere mich nicht«, flüsterte er mehr zu sich selbst und schaute nach oben zum Park. Seine Frau stand kreidebleich an einem Baum, die Arme wie eine Umarmung schützend um sich selbst gelegt.
Der Mann winkte ihr zaghaft zu und rappelte sich auf. »Ich sollte schnell zu ihr gehen, sie ist sicher wahnsinnig vor Sorge geworden. Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben – was auch immer passiert ist und wie auch immer Sie das geschafft haben.«
»Gerne«, erwiderte ich leise, doch bevor ich noch mehr sagen konnte, war er bereits den Hang hinauf und hastete leicht humpelnd zu seiner Frau.
Ich blieb noch einen Moment sitzen und konzentrierte mich aufs Atmen. Das Wasser war über die letzten Wochen hinweg von der Sonne aufgewärmt worden, sodass es wirklich angenehm war. Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich ein wenig benebelt, als wäre ich gerade erst aus einem Traum aufgewacht.
Was war da eben geschehen? Warum war der Mann nicht ansprechbar gewesen, bis ich ihn ins Wasser gestoßen hatte? Bei dem Gedanken daran wurden meine Wangen warm.
Es musste einfach mit der Melodie zu tun gehabt haben. Schließlich hatte auch ich mich nicht ganz wie ich selbst gefühlt. Als wollte sie mich … in einen Bann ziehen. Und bei dem Mann hatte sie es geschafft? Aber woher sollte sie gekommen sein? Nichts konnte doch so eine Wirkung auf Menschen haben. Drogen vielleicht, ja … Aber doch keine Musik.
Ich musste mich wohl damit abfinden, vorerst auf keine logische Erklärung zu kommen, also rappelte ich mich auf und stöhnte von dem stechenden Schmerz, der mir in den Rücken fuhr.
Mit meinen Händen auf der Taille, den Fingern auf meinem unteren Rücken ging ich einen Moment bewusst ins Hohlkreuz, um mich zu dehnen. Das gelang mir ohne große Schmerzen, was mir Hoffnung gab, doch nicht nachhaltig verletzt zu sein. Dann machte ich mich an den Aufstieg des Hangs und überquerte den Fußgängerweg zurück zum Park.
Ein paar Meter rechts von mir registrierte ich eine Gruppe von Leuten, die mich anstarrte. Bis jetzt hatte ich noch gar nicht darüber nachgedacht, wer meine Rettungsaktion möglicherweise alles mitbekommen hatte und was sich die Leute wohl dabei dachten. Das Ganze hatte vermutlich total dramatisch und verrückt ausgesehen.
Ich konnte die Blicke der Gruppe deutlich auf mir spüren und im Augenwinkel sehen, wie sie nicht aufhören wollte zu starren. Das ging mir so auf die Nerven, dass ich stehen blieb und ganz bewusst in deren Richtung schaute. Was sich als Fehler herausstellte. Mir stockte der Atem.
Die Gruppe bestand aus zwei Frauen und drei Männern, alle wunderschön. Eine der beiden Frauen hatte glattes hellblondes Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden war. Ihre Augen waren grün und erinnerten mich an einen sauren Apfel. Der hochnäsige Gesichtsausdruck passte ebenfalls zu diesem Bild.
Die andere Frau trug ihr braunes Haar offen, welches gelockt und so lang war, dass es ihr bis zum Hintern reichte. Ich hatte noch nie so seidig glänzende Haare gesehen, noch dazu in dieser Länge.
Der Mann, der ganz vorn in der Gruppe stand und mir am nächsten war, hatte braune Haare, die an den Seiten kurz geschnitten und obendrauf mit Gel lässig zur Seite gestylt waren. Er war groß und muskulös und trug ein Tanktop, das einen guten Blick auf seine breiten Arme, Schultern und Teile seiner definierten Brust freigab. Auf seiner linken Brust befand sich ein Tattoo, das nicht ganz zu sehen war und ich aus dieser Entfernung ohnehin nicht entziffern konnte.
Der schöne Mann neigte den Kopf leicht zur Seite wie ein Raubtier, das gerade seine Beute fixierte. Sein Blick wanderte an mir hinab und hinauf, bevor er an meinem Gesicht hängen blieb. Diese unbeschreiblich schönen Augen, die so klar blau strahlten, dass mir der Atem stockte. Als hielte er den gesamten Ozean darin gefangen.
Er machte ein paar Schritte auf mich zu, seine Freunde folgten ihm wie ein Schatten, und mein Puls beschleunigte sich noch mehr. O je. Wieso zum Teufel kamen sie her?
Ich schaute kurz in die andere Richtung, ob hinter mir womöglich jemand war, den sie kannten. Aber da war weit und breit niemand. Ich blickte schnell wieder zur Gruppe und wartete ab. Sie blieben einen Meter vor mir stehen.
»Hallo«, stammelte ich und schluckte.
»Kanntest du den Mann?«, gab der Braunhaarige zurück.
Verdutzt sah ich ihn an. »Wie bitte?« Dann eben kein Hallo.
»Ob du diesen Mann kanntest?«, wiederholte er, diesmal in einem Tonfall, als wäre ich schwer von Begriff. Die Arroganz dieses Mannes ging mir jetzt schon gegen den Strich.
»Ja, ich kenne ihn«, log ich und der gutaussehende Typ vor mir zog einen Mundwinkel empor, als wüsste er genau, dass es eine Lüge war.
»Wieso bist du auf ihn gesprungen und hast ihn ins Wasser gestoßen?«, erwiderte er und legte den Kopf erneut schräg. Das veranlasste meinen Puls dazu, noch mehr in die Höhe zu schnellen.
Zum einen, weil ich irgendwie sauer war, dass er mir diese Fragen überhaupt stellte. Was ging ihn das an? Er kannte weder mich, noch kannte er wahrscheinlich den Mann, den ich getackelt hatte.
Zum anderen schlug mein Herz schneller, weil mich seine Kopfhaltung nervös machte. Es machte ihn … raubtierhaft. Und noch attraktiver.
Geht dich nichts an. »Er kann nicht gut schwimmen und war bereits ziemlich angetrunken. Durch den Alkohol kam er auf die grandiose Idee, sich im Meer abzukühlen, und da er weder auf mich noch auf seine Frau hören wollte, blieb mir keine andere Wahl.« Ich versuchte das Ganze betont gleichgültig und ein wenig schnippisch zu sagen, um ihm zu verstehen zu geben, dass ihn das einen Scheiß zu interessieren hatte und ich aus reiner Höflichkeit antwortete.
»Aha«, war alles, was er mit einer hochgezogenen Augenbraue dazu sagte.
»Wie heißt du?«, wollte einer seiner Freunde wissen. Er war blond und hatte eine ähnliche Frisur wie der andere, nur etwas kürzer. Seine Statur war ebenfalls muskulös, und er war wenige Zentimeter kleiner als der Braunhaarige. Die Farbe seiner Haare und seiner Augen glich der der Blonden, was mich zu der Vermutung brachte, dass es sich um Geschwister handeln könnte.
Die beiden Frauen und der dritte Mann, kleiner und weniger muskulös als die anderen beiden, mit roten lockigen Haaren, die durcheinander, aber dennoch gepflegt auf seinem Kopf verteilt waren, beobachteten die Szene genau, hielten sich aber bedeckt.
Ich blickte zum Blonden und dann wieder zu dem anderen, der mich herausfordernd ansah. »Ariana.« Die Antwort war schneller heraus, als ich darüber nachdenken konnte. Aber ich konnte nicht leugnen, dass sie mich neugierig machten und ich möglicherweise noch etwas über sie herausfinden wollte. Die Gruppe starrte mich jedoch nur unverwandt an, ohne etwas zu erwidern, also fügte ich mit Nachdruck hinzu: »Und ihr?«
»Unwichtig.«
Das kam vom arroganten Mistkerl, der mich jetzt schief anlächelte, als hätte er ein Spiel gewonnen, von dem ich nicht wusste, dass wir es spielten. Na gut, vielleicht hatte ich doch keine Lust mehr auf diese Unterhaltung, wenn man sie denn überhaupt so nennen konnte.
»Also dann, schönen Tag, Herr Unwichtig«, antwortete ich genervt, drehte mich um und ging mit schnellen Schritten davon, bevor er etwas erwidern konnte. Oder ich es mir anders überlegte und mich noch länger zum Narren halten ließ.
Ich erreichte meinen Platz und stellte erleichtert fest, dass alle meine Sachen noch da waren.
Eigentlich war ich mitten in meinem Dehntraining gewesen. Das Varieté, in dem ich als Luftakrobatin arbeitete, war wegen Renovierungsarbeiten für drei Wochen geschlossen und in dieser Zeit nicht zu trainieren, kam für mich nicht in Frage. Aber da das Training am Luftring in der Halle mit den hohen Decken und der stickigen Luft, in der ich außerhalb des Varietés oft trainierte, bei dieser Hitze wenig attraktiv war, hatte ich mich stattdessen entschieden, an meiner Flexibilität zu arbeiten. Die war sowieso mein Schwachpunkt.
Doch obwohl mein Training noch nicht beendet und meine nasse Kleidung von der erbarmungslosen Mittagssonne fast vollständig getrocknet war, hatte ich wirklich nicht das Bedürfnis, noch länger hierzubleiben.
Ich packte die Kopfhörer in meine schwarze Sporttasche, auf deren Mitte in Weiß das Logo des Varietés prangte. Eine Frau mit offenen Haaren, die auf einem durchgestreckten Bein stand, den Bauch in Richtung Boden geneigt. Das andere Bein zog sie mit beiden Händen auf Unterschenkelhöhe hinter ihrem Rücken nach oben, so dass die Beine in einer Linie waren.
Ein perfekter so genannter Needle Scale. Ein Traum.
Drumherum befanden sich drei Kreise, die an verschiedenen Stellen offen waren und in verschnörkelter Schrift stand obendrüber halbkreisförmig Varieté Eagle.
Erst jetzt bemerkte ich, wie durstig ich war, also nahm ich die Wasserflasche heraus und trank ein paar große Schlucke, während ich den Blick vorsichtig durch den vertrockneten Park wandern ließ.
Die kleine Frau und ihr Mann waren wie zu erwarten verschwunden, und zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass auch die Gruppe fort war. Dennoch durchfuhr mich ein kleiner Stich der Enttäuschung.
Die nächsten Stunden nach diesen merkwürdigen Geschehnissen war ich so durch den Wind, dass ich mich am frühen Abend doch dazu entschloss, ein Training am Luftring in der Halle zu machen.
Meine Gedanken drifteten immer wieder ab, wanderten unaufhörlich zu der eindringlichen Melodie und dem undefinierbaren Gesang. Zu dem starren Blick des Mannes, gefangen in einer Art Bann, und dem verwirrten Ausdruck, als alles vorüber war. Zu diesen kristallblauen Augen, die mich taxierten, als könnte ich in ihnen ertrinken. Und zu diesem überheblichen Lächeln.
War es Zufall gewesen, dass sich die Gruppe in dem Moment in meiner Nähe aufgehalten hatte? Hatten seine Fragen einen tieferen Sinn gehabt als die bloße Neugierde, warum eine junge Frau einen Mann mittleren Alters im Meer zu Boden riss? Oder hatten sie etwas mit dem Lied zu tun? Womöglich hatten sie es auch gehört?
Die Fragen drehten sich in Dauerschleife in meinem Kopf und drohten mich irre werden zu lassen. Ich hatte bisher niemandem davon erzählt, nicht einmal Lia.
Sie war meine beste Freundin und arbeitete im gleichen Varieté wie ich als Kontorsionistin. Sie konnte sich ohne Weiteres verbiegen und wurde zu Recht auch öfter als Schlangenmensch bezeichnet, als hätte sie gar keine Muskeln und Knochen, die ihr im Weg wären.
Normalerweise erzählten wir uns alles, hatten keine Geheimnisse voreinander und schrieben seit unserer ersten gemeinsamen Saison im letzten Jahr täglich miteinander, wenn wir uns nicht sowieso sahen. Außer heute.
Ich hatte eine ungelesene Nachricht von ihr, in der Hey, wie war dein Training? stand. Das wusste ich durch die Vorschau der Messenger-App, die einem als Push-Benachrichtigung angezeigt wurde. Aber ich hatte noch keine Energie gehabt, ihr ehrlich darauf zu antworten, und sie anlügen wollte ich auch nicht.
Das Erlebte war jedoch so verrückt, dass ich nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde. Sie würde es vermutlich mit einer einfachen, plausiblen Erklärung abtun. Wie etwa, dass der Mann bestimmt bekifft war und die Musik von einem Partyboot kam. Diese Reaktion könnte ich durchaus nachvollziehen, und ich würde vermutlich genau so argumentieren. Aber ich wollte so eine simple Antwort nicht hören, war noch nicht bereit dazu. Dafür war das alles zu intensiv gewesen.
Also tat ich, was ich immer tat, wenn ich schlecht drauf war. Ich fuhr zur Halle und verdrängte das Chaos in meinem Kopf, das mich seit heute Vormittag zu verschlingen drohte, mit Training am Luftring. Übte sämtliche Drops und Flips, die ich kannte, und suchte mir weitere auf Pictobook – eine Social-Media-App, wo man Bilder und Videos teilen konnte – heraus. Drops – gezieltes, kontrolliertes Fallen – die an jedem anderen Tag viel zu gruselig gewesen wären, um sie das erste Mal allein zu machen.
Oft trainierte ich mit ein paar anderen aus dem Varieté zusammen, damit wir uns bei schwierigen und gefährlichen Tricks Hilfestellungen geben konnten. Heute war ich allein gefahren, da ich keine Gesellschaft wollte.
Und die Angst, die ich bei den neuen Tricks empfand, war eine willkommene Ablenkung zu der Angst, die ich vor einigen Stunden empfunden hatte und die sich immer wieder an die Oberfläche bahnte.
Ich verstand nicht einmal, warum. Mir selbst hatte nie wirklich Gefahr gedroht, und es war alles einigermaßen gut gelaufen. Es war vorbei. Und trotzdem war ich so unglaublich unruhig und nervös.
Nachdem ich so lange trainiert hatte, dass mir alle Muskeln weh taten und meine Beine vom Reifen blau waren, schnappte ich mir meine Wasserflasche und mein Handy und ließ mich erschöpft auf die Holzbank an der Wand fallen. Ich trank einen großen Schluck und schaute in den Raum hinein.
Es war eine große Turnhalle mit sechs Meter hohen Decken. Diese Höhe nutzte ich nie. Mein Reifen – ein Metallring mit einem Durchmesser von 95 cm – hing meist 1,90 Meter über dem Boden. Der Abstand reichte aus, um genug Fallhöhe bei Flips und Saltos zu haben, war aber gerade so hoch, dass ich noch mit den Händen drankam. Für meine Kolleginnen am Lufttuch war die Höhe jedoch Gold wert.
Bis auf den Reifen und eine dicke Fallschutzmatte waren alle Geräte weggeräumt und hinter den Holztüren verstaut. Ein paar Holzbänke standen an der Wand.
Da die Halle überwiegend vom Varieté genutzt wurde und die meisten ihre drei Wochen Pause durchaus lieber ohne Training verbrachten, war hier länger nicht gelüftet worden. Es gab eine Klimaanlage, aber durchs Schwitzen erkältete ich mich leicht und hatte mich daher heute dagegen entschieden.
Ich warf einen Blick auf mein Handy, auf das eine neue Nachricht dazu gekommen war.
Hey Ariana, hast du Lust, morgen Jetskifahren zu gehen?
Die Nachricht war von Tim, einem sehr guten Freund von mir, der ebenfalls im Varieté arbeitete. Seine Disziplin waren alle Arten von Handständen, und seine Körperspannung versetzte mich jedes Mal wieder ins Staunen.
Vor ein paar Wochen war unsere Freundschaft etwas ins Wanken geraten, da er mir seine Gefühle gestanden hatte. Ich hatte es vorher schon geahnt und fühlte mich manchmal sogar fast schlecht, weil ich seine Liebe nicht erwidern konnte. Er war ein toller Mann, freundlich, zuvorkommend und ein wirklich guter Zuhörer. Er brachte mich viel zum Lachen und in seiner Nähe konnte ich ganz ich selbst sein. Alles fantastische Eigenschaften und doch empfand ich für ihn nicht mehr als für einen Freund. Manche Sachen brauchten einfach Zeit, redete ich mir immer wieder ein, vielleicht würde ich seine Gefühle eines Tages erwidern. Aber man konnte sich eben nicht dazu zwingen, sich zu verlieben.
Danach waren die ersten Treffen ein wenig holprig gewesen, aber mittlerweile war es mit ihm wieder so unbeschwert wie vorher. Zumindest empfand ich es so.
Hey Tim. Ich bin mir unsicher. Ich habe heute was Komisches im Park erlebt und fühle mich nicht danach, morgen wieder ans Meer zu gehen …
Das war die Wahrheit. Nur beim Gedanken daran stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Oh, wirklich? Was denn?
Ich starrte seine Nachricht an, ohne darauf zu antworten. Er schien mein Zögern bemerkt zu haben, denn kurz darauf schrieb er hinterher: Vielleicht möchtest du es mir morgen erzählen. Wir wären doch an einer ganz anderen Stelle, und ich weiß, wie sehr du das Meer eigentlich liebst. Ich passe auch auf dich auf, versprochen.
Er hatte Recht. Der Ort morgen war ein gutes Stück vom Park entfernt und ein wunderschöner, weitläufiger Sandstrand mit viel besseren Möglichkeiten zum Liegen, Sonnen und Wassersport nachgehen. Ich seufzte.
Also schön, morgen Jetskifahren.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis ich seine Antwort erhielt, und ich konnte sein breites Grinsen förmlich vor mir sehen.
Juhuu! Morgen um 14 Uhr, ich hole dich ab.
Ein ehrliches Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Die Ablenkung mit Tim würde mir garantiert guttun, und ich freute mich darauf. Ich schickte auch Lia endlich eine kurze Nachricht.
Hi Lia, Training war gut. Ich bin sogar nochmal in die Halle gefahren, jetzt tut mir alles weh. Bin morgen mit Tim Jetskifahren, ich melde mich danach.
Ich steckte mein Handy und meine Armschoner, die ich für ein paar Rollen im Reifen benutzte, in meine Tasche, warf sie mir über die Schulter und machte mich auf in Richtung Ausgang.
Vor dem großen Spiegel an der Wand neben der Tür blieb ich einen Moment stehen und betrachtete mich. Mein Dutt hatte sich fast vollständig aufgelöst und einige braune Strähnen hingen heraus. Ich öffnete ihn komplett und ließ meine braunen Haare über meinen Rücken fallen. Sie waren dick und lang, aber nicht annähernd so lang wie die der Braunhaarigen aus dem Park, und gingen mir bis über die Brust. Meine dunkelbraunen Augen wanderten an meinem Outfit hinab.
Ich trug einen hautengen, bordeauxfarbenen Jumpsuit ohne Ärmel, dessen Träger am Rücken gekreuzt waren. Durch den hautengen Anzug ließ sich gut meine Statur erkennen: die Rundungen meines Hinterns und meiner Brüste, die zwar einigermaßen groß waren, aber nicht zu groß, dass sie beim Training störten.
Bevor ich mit Luftakrobatik vor fünf Jahren begonnen hatte, war ich eher unsportlich gewesen, meine Brüste aber ein gutes Stück größer. Das Training hatte sie etwas kleiner werden lassen, aber es war immer noch genug. Dafür waren meine Taille schmaler und mein Hintern größer geworden.
Meine Arme und mein Bauch waren definiert, ohne zu massig zu wirken. Es wäre mir auch egal, ich mochte Muskeln. Nicht nur bei Männern, ich war auch stolz auf jeden Einzelnen von meinen, denn sie waren der Beweis für meine harte Arbeit und für all das, was mein Körper bereits geschafft hatte. Noch nie hatte ich mich so wohl in meiner Haut gefühlt.
Ich schaute in mein schmales Gesicht, betrachtete die ausgeprägten Wangenknochen, die vollen Lippen, geschwungenen Augenbrauen und langen Wimpern. Ich bekam oft Komplimente dafür, dass ich schön sei, und ich fand mich auch hübsch. Was Genetik betraf, hatte ich definitiv Glück gehabt.
Allerdings war ich nicht so atemberaubend schön wie die Frauen im Park, dachte ich unweigerlich. Ich hatte vor knapp zwei Jahren damit aufgehört, mich mit anderen zu vergleichen – zumindest versuchte ich es – und fokussierte mich stattdessen auf mich, auf das, was ich bereits erreicht hatte und noch erreichen wollte. Aber diesen Gedanken konnte ich dennoch nicht unterdrücken.
Ich setzte meinen Weg nach draußen fort, raus auf den Parkplatz zu meinem kleinen hellblauen Auto. Es war nichts Besonderes und nicht das Neuste, aber es brachte mich zuverlässig von Ort zu Ort.
Perle, so hatte ich es getauft, als ich es vor einem Jahr nach Saisonende von einem privaten Händler abgeholt hatte, nachdem feststand, dass ich Calariva so schnell nicht verlassen würde.
Eigentlich hatte ich meinen Eltern mit meinen damals noch 22 Jahren versichert, dass ich nur für vier Monate von Elderam nach Calariva ziehen würde, um meinen Traum zu verwirklichen, für den ich die letzten fünf Jahre hart gearbeitet hatte. Aber meine erste Saison war so unglaublich gewesen und ich hatte mich Hals über Kopf in die Insel verliebt, dass ich mich doch entschieden hatte, noch etwas länger zu bleiben. Auch meine Freunde, die überwiegend bei mir im Varieté arbeiteten, waren mir unglaublich ans Herz gewachsen.
Das Auto stand damals in seiner kleinen, rundlichen Pracht in einem Hof und wurde von der Sonne schimmernd glänzend angestrahlt, so dass mir sofort der Name in den Sinn gekommen war. Natürlich brauchte ein Auto keinen Namen, meins hatte trotzdem einen. Und Tim zog mich regelmäßig mit meiner kleinen Knutschkugel namens Perle auf.
Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln, stieg ins Auto und fuhr zu meiner Wohnung.
* * *
Die Nacht war schrecklich gewesen. Ich war früh ins Bett gegangen, konnte jedoch erst mitten in der Nacht einschlafen. Die Erlebnisse des Tages stiegen mir unaufhörlich in den Kopf, ganz egal, wie sehr ich versuchte, an etwas anderes zu denken.
Im Schlaf träumte ich von dem Lied, das so schön und so schrecklich zugleich gewesen war. Träumte, wie der Mann ins Wasser ging und ich ihn nicht aus seiner Trance wecken konnte. Wie er weiter und immer weiter ins Meer stieg, wild mit den Armen fuchtelte, als das Salzwasser in seine Atemwege drang und er dennoch unaufhörlich weiterlief, bis ihn die Wellen vollständig verschlangen. Ich konnte seine Atemnot regelrecht fühlen, hatte das Gefühl, selbst nicht mehr atmen zu können …
… Bis ich panisch die Augen aufriss, tief Luft holte und mit hämmerndem Herzen registrierte, wo ich war.
Zuhause, in meinem Bett. Es war alles in Ordnung, ich hatte nur schlecht geträumt.
Ich warf einen Blick auf die Uhr, es war 6.02 Uhr. Ich versuchte, noch einmal einzuschlafen, gab es dann jedoch auf und verließ mein Bett.
Die nächsten Stunden wollten nicht vergehen. Ich räumte die Spülmaschine ein und aus und machte zwei Ladungen Wäsche im Gemeinschaftsraum. Das war viel für eine Person, aber einer der Körbe bestand vollständig aus Sportkleidung, der andere aus einer Mischung aus normaler Kleidung und Unterwäsche. Meine Mutter hatte Kleidung und Unterwäsche immer getrennt gewaschen, aber ich bekam den Korb dann nicht voll und hielt es für Verschwendung, die Waschmaschine nur halb gefüllt anzuschmeißen. Meine Sportkleidung hängte ich über den Wäscheständer, den Rest warf ich in den Trockner.
Der Gemeinschaftsraum befand sich im Keller, und ich stieg die Treppen hoch in den zweiten Stock, in dem sich meine kleine, aber feine Wohnung befand.
Ich kam die Eingangstür herein und stand direkt im Wohnzimmer mit einer weißen Couch und einem Couchtisch aus Glas auf der linken Seite und einem gegenüber stehenden kleinen Flachbild-Fernseher auf einem tiefen, breiten Schrank.
In der Mitte war eine Aufhängung an der Decke montiert, damit ich am Reifen trainieren konnte, wenn ich den Glastisch zur Seite schob. Der Luftring lehnte derzeit jedoch auf der anderen Seite des Raums an der Wand.
Die Wohnung war nicht groß oder luxuriös, aber sie war modern eingerichtet und bot genug Raum für mich zum Leben. Ich hielt mich sowieso nicht sehr viel zuhause auf, besonders nicht, wenn die Saison wieder losging.
Um 12 Uhr entschied ich mich für ein spätes Frühstück und ging in die Küche, um mir etwas zu Essen zu machen. Gestern Abend und heute Morgen hatte ich nichts mehr runterbekommen, mir war dafür zu schlecht gewesen. Aber langsam meldete sich mein Magen doch, also machte ich mir zwei Scheiben Brot mit einer dünnen Schicht Frischkäse und Avocado.
Nach dem Essen ging ich ins Schlafzimmer, um mich für das Jetskifahren umzuziehen. Ich wählte einen khakifarbenen Triangel-Bikini mit einem goldenen Ring zwischen den Brüsten und an den Seiten der Bikini-Hose. Darüber zog ich ein weißes gehäkeltes Strandkleid mit Spaghetti-Trägern. Ich schnappte mir eine weiße Strandtasche, die farblich und vom Stil gut zu meinem Kleid passte, und packte das Nötigste ein: mein Portemonnaie mit Geld, mein Handy, Wasser, Taschentücher und ein Handtuch.
Es klingelte an der Tür und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Tim wie gewohnt ein paar Minuten früher da war. Er hasste Unpünktlichkeit, und die lockere Art der Calariverer, die es mit Pünktlichkeit nicht allzu genau nahmen, war für ihn monatelang ein Schock gewesen.
»Hallo, Hübsche«, begrüßte Tim mich mit einem strahlenden Lächeln, als ich ihm die Tür öffnete. Wir hatten uns nur vier Tage nicht gesehen, so lange hatte das Varieté bereits geschlossen. Er kam ein paar Schritte auf mich zu und drückte mich fest.
»Hi, Tim, schön dich zu sehen«, sagte ich aufrichtig, und er gab mich aus seiner Umarmung frei.
Er war groß – fast zwei Köpfe größer als ich – und definiert, aber nicht so breit und muskulös wie die meisten anderen Akrobaten bei uns. Oder wie die Kerle im Park.
Seine blaugrauen Augen funkelten vor Vorfreude und sein blondes Haar war ein Wirrwarr aus Locken. So lässig, wie er dort mit seinen Sommersprossen im Gesicht in der Sonne wartete, erinnerte er mich an einen Surfer-Boy, wie er im Buche stand.
Er trug beige Badeshorts und ein weißes Tanktop. Ich ließ mich zu seinem schwarzen Auto führen und stieg ein. Auf dem Boden vor unseren Sitzen war überall Sand verstreut.
»Du hast dich die letzten Tage oft am Strand aufgehalten, oder?«, meinte ich grinsend.
Er stieß ein helles Lachen aus.
»Tja, was soll ich sagen, diese drei Wochen der Freiheit muss man nutzen.«
Wir unterhielten uns darüber, wie sehr wir uns auf die kommende Saison freuten und waren gespannt, welche neuen Kollegen wir wohl bekommen würden. Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten, da waren wir schon auf dem Parkplatz und gingen den Weg zum Strand entlang.
»Willst du mir erzählen, was du gestern Sonderbares im Park erlebt hast?«, fragte Tim, während er sich seine Sicherheitsweste überzog. Die Mitarbeiter hier kannten ihn bereits und kümmerten sich daher gar nicht groß um uns. Tim kam an seinen freien Tagen oft zum Jetskifahren her und kannte die Vorschriften in- und auswendig.
»Ehrlich gesagt, nicht«, gab ich zurück. »Du würdest mich nur auslachen und für verrückt erklären.«
»Würde ich nicht«, erwiderte er ernst.
Ich schlüpfte ebenfalls in meine Weste und fummelte an meiner Plastik-Schnalle herum, welche die Weste vorn zusammenhielt und klemmte. Tim sah meine missliche Lage, kam zu mir und schloss die Schnalle mit einer präzisen Handbewegung, während er mir in die Augen schaute. Wir waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und sein Blick ließ mich nervös werden.
»Danke«, hauchte ich, und er grinste.
»Eine Lady in Not muss man retten, so will es das Gesetz.«
Ich lachte und verdrehte die Augen.
»Gar nicht dramatisch«, erwiderte ich sarkastisch und brachte etwas Abstand zwischen uns.
»Aber ich meine es ernst«, sagte Tim, sein Grinsen war verschwunden. »Du kannst mir alles anvertrauen.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, als eine Männerstimme einige Meter entfernt rief: »Euer Jetski ist bereit.«
Erleichtert atmete ich aus, dankbar für diese Unterbrechung. Wir drehten uns in die Richtung des Mannes, der am Meer an einem gelben Jetski stand und wild mit einem Arm wedelte.
»Sollte man das nicht eigentlich sein lassen?«, murmelte ich zu Tim, und er brummte zustimmend. Zu winken oder mit den Armen zu wedeln war im Meer, beispielsweise beim Tauchen, immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmte oder man sich in Gefahr befand.
Der Mann war zwar nicht mitten im Wasser und wirkte erstmal nicht gefährdet, aber es war trotzdem nicht ratsam, uns heranzuwinken.
Tim hob die Arme über den Kopf und bildete damit einen großen Kreis. Das Zeichen dafür, dass alles in Ordnung war oder in unserer Situation dafür, dass er verstanden hatte und wir gleich kommen würden.
Er drehte sich wieder zu mir. »Also, Ariana, bist du bereit?«
Es war erst mein zweites Mal auf einem Jetski. Das erste war letztes Jahr an einem unserer seltenen freien Tage mitten in der Saison gewesen.
Ich saß hinter Tim und hielt mich an seiner Taille fest, um nicht runterzufallen. Er raste mit hoher Geschwindigkeit auf den Wellen entlang, und wir machten einige Sprünge darüber. Nach anfänglicher Angst genoss ich die Schnelligkeit und verspürte ein Gefühl von Freiheit. Das Wasser spritzte uns ins Gesicht.
Tim warf einen kurzen Blick über die Schulter, um nach mir zu sehen. Sein freudiges Lächeln war ansteckend, und ich schenkte ihm eins zurück, das mit seinem um die Wette strahlte.
Wir fuhren einige Minuten schweigend weiter, nur begleitet von dem Brummen des Motors und dem Geräusch der tosenden Wellen, als wir plötzlich gerammt wurden.
Tim blieb abrupt stehen und ich stieß gegen seinen muskulösen Rücken. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich entsetzt rief: »Was war das?«
Er ließ den Blick über das Wasser schweifen. »Wahrscheinlich ein Tier. Vielleicht eine Seekuh.«
»Denkst du, wir haben sie verletzt?«, erwiderte ich, während ich mich ebenfalls umblickte.
»Bist du verletzt?«, wollte er stattdessen wissen und schaute mich sorgenvoll an. Ich blickte an mir herunter und schüttelte den Kopf. Etwas stieß erneut gegen uns, diesmal kraftvoller als das erste Mal. Und noch einmal von der Seite.
»Scheiße«, schrie Tim, und ich kreischte, als der Jetski kenterte und wir mit ihm ins Wasser gerissen wurden. Eine Welle schwappte über meinen Kopf hinweg, bis ich wieder auftauchen und mich sammeln konnte. In meine Nase drang Salzwasser, und ich musste husten.
Tim hielt mich am Oberarm fest, was nicht nötig gewesen wäre, weil wir durch den Salzgehalt im Wasser und unseren zusätzlichen Schutzwesten sowieso oben trieben.
Er wischte mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich musste mich unterbrechen, um erneut zu husten. »Und bei dir?«
»Auch«, erwiderte Tim mit steinerner Miene. »Ich muss den Jetski umdrehen.« Er schwamm zur Maschine, die ein paar Meter von uns weggetrieben war.
Er war gerade dabei sie aufzurichten, als mich etwas am Bein streifte.
»Aaaah«, schrie ich, als ich nach unten ins Meer blickte und nichts sehen konnte. Ich zappelte mit den Beinen, um was auch immer dort war zu vertreiben.
»Was ist?«, schrie Tim panisch zu mir rüber.
»Ich glaube, mich hat ein Tier am Bein berührt«, sagte ich kleinlaut, weil ich mir jetzt dumm vorkam.
»Dann hör gefälligst auf zu strampeln! Wenn hier ein Hai rumschwimmt und du so zappelst, hält er dich vermutlich für Beute.«
Ich schluckte. Er hatte Recht. Sofort stellte ich meine Beinbewegungen ein und atmete tief durch, versuchte, mich zu entspannen.
Etwas umgriff meinen Knöchel und zog mich nach unten. Panik durchfuhr mich, als ich unter die Wasseroberfläche gerissen wurde. Ich schrie, was lediglich verschwendeter Atem war, und Salzwasser drang in meinen Mund. Ich trat erneut um mich und riss die Augen auf, um sehen zu können, was mich da versuchte umzubringen. Das Salzwasser brannte mir direkt in den Augen.
Um mich herum herrschte Dunkelheit, und ich konnte kaum etwas erkennen, während sich die Wasseroberfläche immer weiter entfernte.
Mir blieb fast das Herz stehen, als mir zwei schwarze Augen entgegenschauten, und ich fuchtelte noch stärker mit den Armen und Beinen, um mich irgendwie zu befreien. Am liebsten hätte ich laut geschluchzt, als mir klar wurde, dass es kein Entkommen gab.
Was vermutlich nur Sekunden waren, fühlte sich an wie Minuten, und ich bekam keine Luft. Den Sauerstoff hatte ich durch mein Schreien und Zappeln aufgebraucht, und es kostete mich jegliche Willenskraft, die ich aufbringen konnte, um den Mund geschlossen zu halten. Schmerz durchfuhr mich, als meine Ohren knackten. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren, während ich immer weiter nach unten gezogen wurde.
Unendliche Panik überkam mich. Meine Brust wurde eng und schmerzte vom Hämmern meines Herzens. Mein Magen krampfte sich zusammen, denn es gab kein Entkommen. So würde es enden, und ich würde nie herausfinden, warum und wer dafür verantwortlich war. Aber ich wollte noch nicht sterben. So durfte es nicht enden.
Hilfe. Bitte. Irgendjemand muss mir helfen.
Meine Muskeln brannten und mein Strampeln erschlaffte.
Ich merkte einen leichten Druck von oben, als würde etwas auf mich und was auch immer da in der Tiefe lauerte zugerast kommen. Ein paar Luftbläschen streiften meine Haut. Der Griff um meine Knöchel löste sich, stattdessen legte sich eine Hand von hinten auf mein Gesicht, hielt meinen Mund geschlossen und drückte mir die Nase zu.
Meine Gegenwehr war mittlerweile vollständig verschwunden. Meine Muskeln brannten, meine Gliedmaßen waren erschlafft. Schwarze Schatten schoben sich in mein Gesichtsfeld, und Sterne tanzten vor meinen Augen.
Mein Körper wurde wieder mitgerissen. Ob ich nach oben oder weiter nach unten gezogen wurde, konnte ich nicht sagen, aber es fühlte sich schnell an.
Ich durchbrach mit dem Kopf die Wasseroberfläche, die Hand löste sich sofort von meinem Gesicht und ich holte tief Luft. Immer wieder, als hätte ich mein ganzes Leben nicht geatmet.
Meine Atemzüge wurden schneller und schneller. Ich merkte, wie ich hyperventilierte, schluchzte, weinte und zitterte. Das Salzwasser brannte dermaßen in meinen Augen, dass ich sie nicht öffnen konnte. Meine Ohren rauschten vom Adrenalin und vielleicht auch von einem geplatzten Trommelfell.
Jemand sagte etwas, das ich nicht verstand. Für mich klang es, als würde man versuchen, durch geschlossene Lippen zu reden.
»Ariana!«
Langsam drangen die Worte an mein Ohr, ich konnte wieder besser hören.
»Ariana! Geht es dir gut?«
Das kam vermutlich von Tim.
Noch immer benebelt zwang ich meine Augen dazu, sich zu öffnen. Ich blinzelte ein paar Mal, um klarer sehen zu können.
Tim saß auf einem blauen Jetski hinter einer Person, sein Gesicht war kreidebleich. Der Arm der Person, die mich gerettet hatte, lag immer noch um mich herum. Ich drehte den Kopf.
Strahlend blaue Augen trafen mich mit voller Wucht. Es war der schöne Mann aus dem Park, der mich mit seinen Freunden zum Narren gehalten hatte. Wahrscheinlich war der Kerl bei Tim einer von ihnen. War es Zufall, dass ausgerechnet sie mich beim Ertrinken fanden?
Der Schöne drehte mich zu sich um, hielt mich aber immer noch fest. Seine Augen kamen mir dunkler vor als gestern, und sie schienen lebendig zu sein. Als wütete in ihnen hinter diesem tiefen Blau ein Sturm. Er trug keine Sicherheitsweste und hielt sich mühelos über Wasser, schien von der Rettungsaktion nicht mal aus der Puste zu sein.
Mein Blick streifte für einen Moment über seine muskulöse Brust. Auf der linken Seite war eine große Meeresschildkröte tätowiert. Ich sah wieder zu seinen Augen, sagte aber nichts.
»Du scheinst ein Händchen dafür zu haben, dich in Schwierigkeiten zu bringen.« In seiner Miene lag keine Spur von Humor.
»Komischer Zufall, dass du … dich dabei immer in meiner Nähe befindest«, erwiderte ich noch immer außer Atem.
»Ist das deine Art, mir zu danken, Ariana?«, spottete er und legte den Kopf schräg.
Wenn mein Herz nicht immer noch vor Anstrengung und Angst gerast hätte, hätte diese Geste definitiv dafür gesorgt. Meinen Namen betonte er in dem Wissen, dass ich seinen nicht kannte.
»Danke«, sagte ich kleinlaut und wandte den Blick ab. Er verstärkte den Griff um mich und schwamm mit mir im Schlepptau zu den Jetskis.
»Ariana, alles okay bei dir?«, fragte Tim erneut, als wir ihn erreichten. Er war immer noch blass, hatte aber etwas mehr Farbe als zuvor.
»Ja, ich denke schon«, beruhigte ich ihn.
Mir wurde bewusst, dass er sich nicht getraut hatte, hinter mir her zu tauchen, um mich zu retten. Ich warf ihm einen eindringlichen Blick zu, bevor ich zu dem Mann vor ihm auf dem Jetski blickte. Es war der Blonde aus dem Park mit den grünen Augen, der die gleiche Haar- und Augenfarbe hatte wie die Frau von gestern.
Ich schaute wieder zu meinem Retter, da mir eine wichtige Frage in den Sinn kam.
»Hast du da unten was gesehen?«
Er runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinst du?«
»Na, hast du gesehen, was mich nach unten gezogen hat?«
Er warf seinem Freund einen flüchtigen Blick zu, der ganz sicher etwas zu bedeuten hatte. »Da unten war nichts«, begann er vorsichtig, als redete er mit einer Verrückten. »Du warst allein im Wasser.«
»Nein, ich wurde von etwas nach unten gezogen. Irgendetwas oder irgendjemand hat mich am Knöchel gepackt und mitgeschleppt«, protestierte ich.
»Und wie sollte es unter Wasser so lange ohne Sauerstoff überleben? Ein Fisch hätte dich nicht am Knöchel packen können. Und mir fällt kein Tier ein, das das könnte.«
Niedergeschlagen schwieg ich. Für das, was passiert war, hatte ich selbst keine Erklärung. Jedenfalls keine, an die ich glauben wollte.
»Wir fahren schon mal und rufen einen Krankenwagen«, rief der Blonde vor Tim uns zu. Er wartete keine Antwort ab und fuhr mit hoher Geschwindigkeit mit meinem Freund davon. Wir waren noch im Wasser, aber der Blonde schien sich darüber keine Sorgen zu machen.
Mein Retter umgriff meinen Oberarm und hielt mit der anderen Hand unseren gelben Jetski fest. Er half mir aufzusteigen und schwang sich mit einer galanten Bewegung vor mich.
Ich schaute zu meinen Knöcheln. Bei der Intensität des Griffes an meinem Bein mussten Spuren zurückgeblieben sein.
Ich beugte mich tiefer, um besser sehen zu können. Zu meiner Enttäuschung zeichneten sich keine Griff- oder Kratzspuren ab, und ein Schauer überlief mich. Das konnte nicht sein.
»Halt dich an mir fest«, befahl mein Retter, und ich umfasste seine Taille. Ich konnte jeden Muskel an seinem Bauch und Rücken spüren. Die Konturen seines Sixpacks drückten gegen meinen Arm. Ziemlich sicher errötete ich, was er zum Glück nicht sah.
Mein Griff war schwach vom ganzen Strampeln und Kampf um mein Leben. Er spürte es und legte sicherheitshalber einen Arm auf meinen, um mich zu sichern.
»Verrätst du mir jetzt, wie du heißt?«, fragte ich und wappnete mich gegen seine Ablehnung. Ich hatte wahrlich andere Sorgen als seinen Namen, aber tief in meinem Inneren wollte ich ihn unbedingt wissen.
Er hielt einen Augenblick inne und wog wahrscheinlich ab, ob er ihn mir sagen sollte oder nicht. Überraschenderweise entschied er sich dafür.
»Ich heiße Diego.«
Diego ließ mir keine Zeit, um etwas zu erwidern, und fuhr mit rasanter Geschwindigkeit los Richtung Festland.
* * *
Am Strand tummelten sich etliche Menschen. Ein Krankenwagen, zwei Bademeister, drei Mitarbeiter des Jetski-Verleihs und ein paar Polizisten.
Diego führte mich ohne Umschweife zu dem Krankenwagen, den Arm auf meinen Rücken gelegt. Er erzählte den Notärzten seine Version des Vorfalls, dass ich glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt komplett ohnmächtig gewesen wäre, und wies auf die möglichen Schäden meines Trommelfells hin. Ich war dankbar, dass ich nicht reden musste.
»Ich spreche noch mit der Polizei«, sagte er mit einem Kopfnicken in Richtung der Polizisten, bei denen auch Tim stand. Er war bestimmt untersucht worden, als wir noch im Meer gewesen waren. Da er nicht fast ertrunken war, hatte es mit Sicherheit nicht lange gedauert.
»Kommst du allein zurecht?«, fragte Diego.
»Ja. Danke«, erwiderte ich aufrichtig. Er nickte knapp und ging.
Was auch immer Tim und Diego den Polizisten erzählten, es reichte aus, um dankbarerweise nicht noch mit mir reden zu wollen. Ich wusste nicht, ob ich ihnen meine Wahrheit oder eine Lüge erzählt hätte.
Die Ärzte checkten mein Bewusstsein, untersuchten meine Augen und Ohren und nahmen mich dann mit ins Krankenhaus.
Es folgten ein paar weitere Tests und Blutuntersuchungen, die wohl nicht besorgniserregend ausfielen. Wenige Stunden später wurde ich mit Augen- und Ohrentropfen entlassen. Die Ärzte hatten Tim angerufen, damit er mich abholen konnte, und er wartete am Ausgang auf mich.
Auf der Rückfahrt zu meiner Wohnung redeten wir kaum ein Wort miteinander. Ich war natürlich nicht wütend auf ihn, nur so unglaublich müde.
Er parkte auf der Straße vor meiner Wohnung, und ich schnallte mich ab.
»Es tut mir leid, dass ich nicht versucht habe, dich zu retten«, gestand Tim, bevor ich ausstieg. »Ich hatte den Kopf kurz untergetaucht, um nach dir zu sehen, aber du warst bereits verschwunden. Ich konnte dich nicht finden und hatte zu große Angst, einfach wild drauf loszutauchen.«
»Schon gut, ich verstehe das. Mir wäre es bestimmt auch so gegangen«, beschwichtigte ich ihn und sah ihm in die Augen. Es war unmöglich zu mutmaßen, wie man sich selbst in solch einer Extremsituation verhalten hätte.
Er erwiderte für einen Moment meinen Blick und wandte sich dann ab. »Der Typ, der dich gerettet hat, hat keine Sekunde gezögert«, sagte er verbissen. In seinem Tonfall schwang Wut mit. Wut gegen sich selbst. Ich blickte auf meine Hände in meinem Schoß.
»Wie haben sie mich gefunden?«, wollte ich wissen.
Tim seufzte.
»Sie kamen mit ihrem Jetski angerast, kurz nachdem du abgetaucht bist.« Er machte eine kurze Pause, als bereiteten ihm seine Worte körperliche Schmerzen. »Ich schrie ihnen von Weitem zu, dass du verschwunden bist, und Diego hat sich mit dem Kopf voran ins Wasser gestürzt, bevor sie überhaupt richtig angekommen waren. Narius übernahm das Lenkrad, kam zu mir und hievte mich auf seinen Jetski.«
»Narius?« Ich schaute zu Tim, kurz verwirrt über diesen neuen Namen. »Kanntest du die beiden schon vorher?«
»Nein, erst seit dem Unfall. Sie haben gesehen, wie wir gekentert sind. Du hattest riesiges Glück, Ariana«, fuhr er fort und schaute mir eindringlich in die Augen.
Ich nickte nur. Mein Glück namens Diego.
Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis ich ausstieg und in meine Wohnung ging. Ich ließ mich auf die Couch fallen und sämtliche Emotionen und Gedanken der letzten zwei Tage schlugen auf mich ein.
Zwei Tage.
Wie konnte all das in nur zwei Tagen geschehen sein?
Ich schüttelte den Kopf, versuchte, diese überwältigenden Gefühle abzuschütteln. Erst jetzt fand ich die Kraft, um auf mein Handy zu sehen. Es war bereits 23.19 Uhr und ich hatte einige ungelesene Nachrichten, davon vier von Lia.
Nummer 1: Huhu, ich hoffe, ihr habt Spaß beim Jetskifahren! Ich muss jetzt zum Kuchenessen mit meinen Verwandten, gar keine Lust. Melde dich mal, wenn ihr fertig seid.
Nummer 2: Ich hab eben im Radio gehört, dass ein Jetski am Strand verunglückt ist, ich hoffe das wart nicht ihr! Aber Tim ist ja ein guter Fahrer. Sag trotzdem mal Bescheid.
Nummer 3: Ach du Scheiße! Tim hat erzählt, dass ihr wirklich verunglückt seid und du jetzt im Krankenhaus bist. Hoffe, dir geht es ganz okay.
Nummer 4: Sorry für die vielen Nachrichten. Tim meinte, du darfst jetzt nach Hause, bin ich froh! Schreib mir einfach, wenn du dich danach fühlst.
Ich schmunzelte. Ich war wirklich dankbar, eine Freundin wie Lia zu haben, die sich um mich sorgte. Und Tim natürlich auch. Ich schrieb ihr eine kurze Nachricht, um sie zu beruhigen.
Hey, ja, was für ein Tag … Ich will nicht lügen, ich fühle mich schrecklich. Aber das ist, nachdem man fast ertrunken wäre, wohl normal. Ansonsten geht’s mir gut, ich bin nur echt platt. Ich melde mich bald mal in Ruhe bei dir, jetzt brauche ich Schlaf. Gute Nacht.
Es war nach 11 Uhr, als ich aufwachte. Sonnenstrahlen fielen an den Seiten der Vorhänge in mein Zimmer, und ich streckte mich. Diese Mütze voll Schlaf hatte ich dringend gebraucht. Meine Augen und Ohren fühlten sich besser an, aber mein Magen schmerzte vor Hunger. Wie lange war es her, dass ich etwas gegessen hatte? Fast einen ganzen Tag.
Ich tauschte mein Nachtkleid gegen eine Jeans-Hotpants und ein schlichtes Oberteil, das mein Bauchnabelpiercing hervorblitzen ließ, bevor ich mich auf den Weg in die Küche machte.
Es gab wieder zwei Scheiben Brot mit Frischkäse und der übrigen Hälfte Avocado von gestern. Ich musste dringend einkaufen gehen.
Während des Essens schweiften meine Gedanken zu dem gestrigen Tag und mir wurde übel. Ich zwang mich aufzuessen und schrieb Lia eine Nachricht.
Hey. Magst du herkommen? Ich muss dringend mit jemandem reden.
Keine halbe Stunde später stand Lia bereits vor meiner Haustür.
»Hey, Aria!«, quietschte sie vor Freude, als ich die Tür öffnete. Sie nannte mich meistens bei meinem Spitznamen.
»Hey, Lia«, hauchte ich mit Tränen in den Augen und umarmte meine große schlanke Freundin fest.
Wir machten es uns mit einem Kaffee auf meiner Couch gemütlich und ich erzählte ihr von den skurrilsten zwei Tagen meines Lebens, begleitet von Tränen und hin und wieder einem Schluchzen. Lia hörte aufmerksam zu, versuchte, mich zwischendrin zu trösten, und stellte ein paar Fragen. Sie gab mir jedoch nicht das Gefühl, dass sie mich für verrückt hielt, und das rechnete ich ihr hoch an.
»Also«, sagte sie irgendwann gedehnt. »Wirst du deinen gutaussehenden, mysteriösen Retter wiedersehen?«
Ich lachte bei ihrem vielsagenden Blick. Das erste aufrichtige Lachen seit zwei Tagen.
»Nur, wenn ich mich wieder in Schwierigkeiten bringe, und davon habe ich mein restliches Leben lang genug.«
Auch wenn ich mir diese Frage ebenfalls andauernd gestellt hatte. Würde ich ihn wiedersehen? War es Zufall, dass er gestern anwesend gewesen war? Verfolgte er mich? War er für den Unfall verantwortlich? Die letzte Frage stieg mir ungewollt in den Kopf, den ich daraufhin schüttelte.
»Schade«, sagte sie mit einem breiten Grinsen, das ich automatisch erwiderte, und lehnte sich zurück.
Lia war eine hoffnungslose Romantikerin und verschlang einen Liebesroman nach dem anderen. Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihr eigenes Leben und das der anderen zu romantisieren. Es tat mir leid für sie, dass sie ihr eigenes Liebesglück noch nicht gefunden hatte. Die Romane hätten sie anspruchsvoller werden lassen, meinte sie mal, und sie würde nicht weniger nehmen als einen Prinzen, der sie auf Händen trug. Ich hoffte, dass sie eines Tages auf einen Mann treffen würde, der all ihre Erwartungen erfüllte. Das hatte sie verdient.
»Er war doch sowieso total überheblich«, zerstörte ich ihre Illusion.
»Ja, noch«, erwiderte sie bedeutungsschwanger. »So ist das am Anfang immer bei Männern.«
Ich lachte und zog eine Augenbraue nach oben. »Du meinst bei den Männern in deinem Buch?« Sie lachte ebenfalls und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter.
»Du hast nicht zufällig ein Foto von ihm, oder?«, fragte sie und nippte an ihrem Kaffee.
»Nein, habe ich nicht.« Ich nahm mir meinen Kaffee ebenfalls vom Tisch. »Wann hätte ich das machen sollen?«
Sie brummte enttäuscht, doch dann strahlte sie bei ihrem nächsten Einfall. »Vielleicht hat er Pictobook!«
Ich verdrehte die Augen mit einem Grinsen und konnte meine eigene Aufregung nicht ganz verbergen. Ihn bei Pictobook zu suchen, war eine tolle Idee. Vielleicht konnte ich so etwas mehr über ihn erfahren.
Lia rutschte nah an mich heran, so dass sich unsere Schultern berührten, ihr Handy bereits in ihrer Hand. Sie öffnete die App. »Nimm du dein Handy auch, vielleicht bekommen wir unterschiedliche Ergebnisse angezeigt.«
»Gute Idee.« Ich stellte meine Tasse ab und nahm stattdessen mein Handy vom Tisch. Wir gaben beide Diego in die Suchleiste ein und bekamen tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse. Wir hielten unsere Handys nebeneinander, damit ich beide Bildschirme betrachten und nach einem Bild von meinem Retter Ausschau halten konnte.
»Das sind viel zu viele Diegos«, murmelte ich ernüchtert, nachdem wir ein paar Minuten gescrollt hatten. »Vielleicht finden wir seinen Kumpel, der hat einen Namen, den ich noch nie gehört habe.«
»Wie heißt er denn?«, wollte Lia wissen.
»Narius.«
»Okay, den Namen habe ich auch noch nicht gehört.«
Wir gaben beide Narius in die Suchleiste ein.
»Na toll«, stöhnte ich, halb enttäuscht und halb lachend, als ich auf die Suchergebnisse blickte.
»Ach komm schon, Pictobook.« Lia verdrehte genervt die Augen und schob sich eine blonde Strähne ihres schulterlangen glatten Haares hinters Ohr.
Narius schien wirklich ein seltener Name zu sein, denn wir bekamen keinen einzigen Vorschlag, dafür aber unzählige Accounts namens Marius.
»Tja, also das können wir direkt vergessen«, erwiderte sie und ließ sich enttäuscht auf die Couch fallen. Ich scrollte trotzdem kurz durch die Namen, ob sich nicht doch ein Narius dazwischen befand. Vergeblich.
»Hey, lass uns Pizza bestellen«, beschloss Lia schließlich.
»Seit wann isst du Pizza?« Ich musterte sie verwundert. Lia war immer sehr streng, was ihre Ernährung betraf. Ich versuchte, mich auch überwiegend gesund zu ernähren, gönnte mir aber trotzdem hin und wieder Fast Food und Süßigkeiten.
»Ich habe mir vorgenommen, mich etwas mehr zu entspannen, was meine Ernährung betrifft. Und wenn außerhalb der Saison kein guter Zeitpunkt ist damit anzufangen, dann weiß ich auch nicht, wann.« Entschlossenheit glitzerte in ihren hellbraunen Augen, und ich lächelte sie stolz an.
Wir bestellten für sie eine vegetarische Pizza mit Brokkoli, Paprika und Mais und für mich eine Pizza Caprese mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum. Während wir aßen, machten wir uns einen Film an. Wir debattierten zwischen Der Wunsch der Lampe und Eine Meerjungfrau auf Abwegen als Realverfilmungen, aber ich wollte aktuell nichts vom Meer und den darin lebenden Kreaturen wissen, also schauten wir den Film mit der Wunderlampe.
Wir bekamen sowieso nicht viel davon mit, da wir die ganze Zeit über noch so viel zum Reden hatten. Über zwei Stunden quatschten wir weiter, bis sich Lia spät am Abend verabschiedete.
»Vielen Dank, dass du gekommen bist und mir zugehört hast, Lia. Das habe ich wirklich gebraucht.« Ich zog meine Freundin in eine dicke Umarmung.
»Nicht dafür, Aria. Ich hatte wie immer sehr viel Spaß.«
Wir lösten uns voneinander und sie verschwand die Treppen runter. Ich winkte ihr zum Abschied nochmal zu und ging zurück in die Wohnung.
Es war zum Glück wirklich schon spät, also machte ich mich schnell fertig fürs Schlafengehen, bevor mich meine Gedanken wieder einholen konnten. Das funktionierte leider nur so semi-gut, und es dauerte einige Zeit, bis ich endlich Schlaf fand.
Ich wachte früh morgens schweißgebadet auf. Mein Mund war staubtrocken und mir war heiß, obwohl es nicht wärmer war als die letzten Wochen. Meine dünne Decke hatte ich in der Nacht bereits von mir weggestrampelt. Ein Blick zum Fenster und den Schlitzen zwischen den Vorhängen verriet mir, dass die Sonne gerade erst aufging.
Ich ging in die Küche und schnappte mir eine Flasche mit stillem Wasser. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, ein Glas zu nehmen, sondern trank direkt aus der Flasche. Das machte ich ohnehin meistens.
Ich trank den halben Liter fast in einem Zug aus und fühlte mich irgendwie immer noch durstig. Außerdem hatte ich das dringende Bedürfnis nach einer Abkühlung. Mir ist so heiß.
Auf den ersten Blick schien das Meer eine großartige Idee zu sein, doch dann erinnerte ich mich an meine letzten beiden Erlebnisse und entschied mich um. Auf gar keinen Fall würde ich so schnell wieder ins offene Gewässer gehen. Eine kühle Dusche würde den gleichen Effekt haben.
Ich ging ins Badezimmer, zog meine Kleidung aus und stieg unter die Dusche. Den Duschhahn auf eiskalt ließ ich das Wasser auf mich einprasseln. Ich schloss die Lider, riss sie jedoch sofort wieder auf. Bilder von dem tiefen, dunklen Ozean und den zwei schwarzen Augen, die mich aus den Tiefen heraus anstarrten, holten mich ein. Panik umspülte mich wie eine Welle und mein Puls beschleunigte sich direkt.
Ich zwang mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, behielt die Augen aber lieber offen. Es war besser zu sehen, was um mich herum geschah. Die Dusche milderte meine innere Hitze, aber es war nicht so befriedigend, wie ich erwartet hatte.
Nach fünfzehn Minuten trocknete ich mich mit einem Handtuch ab und legte es um meine Brüste bis über meinen Po. Meine Haare wrang ich aus und wickelte sie in ein weiteres Handtuch, das ich mir wie einen Turban auf den Kopf setzte.
Die Hitze stieg sofort wieder hoch, mein Mund war erneut staubtrocken. Wurde ich krank? Hatte ich Fieber? Ich legte einen Handrücken an die Stirn, meine Temperatur fühlte sich aber normal an.
Verwirrt ging ich zurück ins Schlafzimmer, nahm mir auf dem Weg dorthin noch eine Flasche mit und riss die Vorhänge auf. Mein Fenster war gekippt und es wehte mir eine angenehme Morgenbrise entgegen. Also war es nicht mal heiß draußen.
Ich blickte hinaus und hatte von meinem Zimmer einen wunderschönen Blick aufs Wasser. Es war so nah, dass ich es hören konnte, und ich erfreute mich normalerweise jeden Morgen daran. Außer die letzten Tage.
Das Meer sah friedlich aus, fast als würde es selbst erst aufwachen. Ich spürte eine überwältigende Sehnsucht in mir aufsteigen und hatte das Gefühl, dass es mich rufen würde. Die Wellen waren niedrig und schienen in regelmäßigen Abständen zu brechen.
Der Anblick ließ meinen Mund noch trockener werden. Ich trank ein paar weitere Schlucke, während ich überlegte, ob ich meinem Verlangen, ins Wasser zu gehen, nachgeben sollte. Ich müsste nur die Straße überqueren und würde ein paar hundert Meter später eine kleine Bucht mit einem Stück Strand erreichen, die so gut wie nie besucht war. Um diese Uhrzeit erst recht nicht, die Sonne war immer noch nicht vollständig aufgegangen.
Aber nein, das konnte ich wirklich nicht noch einmal riskieren. Erst dieses komische Lied und der Mann, der wie in Trance gewesen war. Dann der Unfall mit Tim und etwas, das mich nach unten gezogen hatte. Ich war fast ertrunken. Was würde dann heute erst passieren?
Aber zu dem brennenden Verlangen und der Hitze in meinem Inneren gesellte sich ein neues Gefühl.
Neugierde.
Was, wenn alles irgendwie so sein musste? Dass bald alles Sinn ergäbe, wenn ich mich nicht hier versteckte und der inneren Stimme, die mir sagte, ins Wasser zu gehen und zu vertrauen, dass alles gut werden würde, nachgäbe? Wie oft hatte mich meine Intuition bisher getäuscht? Eigentlich noch nie.
Entschlossen und doch irgendwie unsicher zog ich mir einen türkisenen Bikini und mein weißes Strandkleid an, packte ein paar Sachen in eine Tasche und verließ in Flip-Flops das Haus.
Ich lief über das kleine Stück Rasen an meiner Wohnung und überquerte die unbefahrene Straße, an deren Seiten einige Palmen standen. Eine Weile ging ich den trockenen, erdigen Weg entlang, bis ich zu der kleinen Bucht gelangte.
Wie zu erwarten war sie menschenleer. Das Wasser war relativ ruhig, die Wellen waren klein und brachen ein gutes Stück vor dem Strandanfang.
Ich lief den Sandstrand vor, kramte mein Handtuch aus der Tasche und breitete es vor mir aus. Darauf waren zwei Delfine, die unter Wasser schwammen, abgebildet.
Meine Tasche legte ich auf dem Handtuch ab und schlüpfte aus meinen Schuhen. Der Sand fühlte sich kalt unter meinen Füßen an.
Mit Blick in den Himmel betrachtete ich die aufgehende Sonne und den wunderschönen, klaren Himmel, der an manchen Stellen rötlich-orange war. Die Bucht lag noch überwiegend im Schatten und wurde vereinzelnd durch goldene Strahlen erleuchtet, die sich im Wasser spiegelten.
Nervös blickte ich mich noch einmal um, auf der Suche nach einem Anzeichen dafür, dass ich doch nicht allein sein könnte. Als ich nichts fand, versuchte ich, mich etwas zu entspannen und ging mit langsamen Schritten auf das Meer zu.
Mit jedem Schritt beschleunigte sich mein Herzschlag in einer Mischung aus Angst und freudiger Erwartung.