The Distance from me to you - Marina Gessner - E-Book

The Distance from me to you E-Book

Marina Gessner

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Beschreibung

Kendra kann sich glücklich schätzen. Sie hat gerade die Highschool abgeschlossen und ab Herbst wartet ein Platz in einem namhaften College auf sie. Doch zum Leidwesen ihrer Eltern verfolgt die Siebzehnjährige ein völlig anderes Ziel: Gemeinsam mit ihrer besten Freundin will sie in den nächsten Monaten den Appalachian Trail erwandern, und der führt 3.500 km von Maine bis nach Georgia. Als ihre Freundin im letzten Moment einen Rückzieher macht, beschließt Kendra, das gefährliche Abenteuer alleine durchzuziehen. Unterwegs trifft sie Sam, der vor seinem gewalttätigen Vater geflohen und nun auf dem Trail gestrandet ist. Er läuft den langen Weg scheinbar ziellos und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Zwischen Kendra und Sam entwickelt sich langsam eine Liebesgeschichte, die so abwechslungsreich ist, wie der Weg: Sie hat Höhen und Tiefen, wunderschöne Ausblicke und gefährliche Abgründe. Doch als Kendra und Sam die markierten Wege verlassen, begeben sich die beiden in eine Gefahr, bei der schnell nicht nur ihre Liebe, sondern auch ihr Leben auf dem Spiel steht ...

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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2017

Text © Marina Gessner, 2015

Titel der Originalausgabe: The Distance from Me to You

Die Originalausgabe ist 2015 im Verlag G. P. Putnam’s Sons, Penguin Young Readers Group, New York, erschienen.

© 2017 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH,

Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Marina Gessner

Übersetzung: Katrin Behringer

Coverillustrationen: © Ana Seixas, 2015

Coverdesign: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originaldesigns von Danielle Calotta

eBook Umsetzung: Zeilenwert GmbH

Der Abdruck der Textauszüge aus Walden. Ein Leben mit der Natur erfolgt mit freundlicher Genehmigung der dtv Verlagsgesellschaft.

Henry David Thoreau: Walden. Ein Leben mit der Natur.

Deutsch von Erika Ziha. Ergänzt und übersetzt von Sophie Zeitz.

© 1999 dtv Verlagsgesellschaft, München.

ISBN eBook 978-3-8458-2193-1

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1604-3

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Athena Woodward

Mögen deine Pfade gewunden, verschlungen, einsam und gefährlich sein und dich zu einer herrlichen Aussicht führen.

Mögen deine Berge sich bis in und über die Wolken erheben.

EDWARD ABBEY

Amerikanischer Schriftsteller, Philosoph und Naturforscher

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

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Danksagung

Anmerkung der Autorin

Weitere Titel

Leseprobe zu "Worst Best Friends"

Früher

1. Kapitel

Kendra konnte es nicht fassen. Entweder stimmte etwas mit ihren Ohren nicht oder ihr Gehirn wollte ihr einen Streich spielen. Beide Möglichkeiten – Taubheit oder ein plötzlicher Anfall von geistiger Umnachtung – schienen ihr immer noch besser, als glauben zu müssen, was ihre beste Freundin ihr soeben verkündet hatte.

»Es tut mir leid«, sagte Courtney leise. Sie fing an zu weinen und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken.

Kendra wusste, dass sie ihr jetzt eigentlich über den Kopf streicheln und etwas Tröstendes sagen sollte. Doch sie konnte nicht. Nicht, nachdem Courtney ihr offenbart hatte, dass sie erstens wieder mit Jay zusammen war und zweitens ihre gemeinsame Tour sausen lassen wollte.

Seit über einem Jahr hatten Kendra und Courtney diese Reise geplant – eine dreitausendfünfhundert Kilometer lange Wandertour entlang des Appalachian Trail. Das war einer der längsten Fernwanderwege der Welt. In weniger als einer Woche sollte es losgehen. Sie hatten dafür extra die Zusage für ihren Studienplatz um ein Jahr verschoben und ihre kompletten Ersparnisse in Campingausrüstung und Wanderführer investiert – zumindest Kendra; in Courtneys Fall war ihr Vater eingesprungen und hatte die Rechnung für sie übernommen. Am schwersten war es gewesen, ihre Eltern von dem Plan zu überzeugen. Es hatte viel Überredungskunst gekostet, bis sie erlaubt hatten, dass zwei Mädchen allein den gesamten Trail, von Maine bis Georgia, wandern würden.

Und nun hatte Courtney es sich anders überlegt. Mit der allerfaulsten Ausrede, die man sich vorstellen konnte: wegen eines Typen. Der noch dazu ein Vollidiot war, an dem sie in den letzten vier Monaten kein gutes Haar gelassen hatten. Ungelogen, Kendra hatte es so satt, über ihn zu reden, dass sie sich kaum zwingen konnte, seinen Namen auszusprechen.

Sie saßen in der Mensa des Whitworth College; überall um sie herum waren Gespräche und Besteckklappern zu hören. Kendras Eltern waren beide Dozenten an dieser Uni, und sie hatte in dieser Cafeteria zu Mittag gegessen, seit sie denken konnte – die Tische um sie herum waren ihr so vertraut wie ihr eigenes Wohnzimmer. Es war ein warmer Tag Anfang Juni, das Sonnenlicht leuchtete durch die hohen Fenster, und Kendra war überzeugt, dass Courtney den gleichen Drang verspüren musste wie sie, die gleiche brennende Sehnsucht, wegzukommen von den Orten, die sie schon tausendmal gesehen hatte. Wollte sie nicht auch hinaus in die Welt reisen und unter dieser leuchtenden Sonne leben?

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, rief Kendra, ließ die Hände aber ruhig im Schoß liegen. »Du bist wieder mit Jay zusammen? Ausgerechnet Jay?«

»Ich weiß«, murmelte Courtney, ihr Gesicht noch immer zwischen den Armen vergraben.

Diese Reise war seit Ewigkeiten Kendras großer Traum gewesen. Und jetzt, so kurz bevor sie aufbrechen wollten, machte Courtney diesen ganzen schönen Plan mit einem Schlag zunichte.

»Ach Courtney«, sagte Kendra kopfschüttelnd. Mal abgesehen von der geplatzten Reise waren das alles andere als gute Nachrichten. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Jay ihrer Freundin – zum zweiten Mal – das Herz brechen würde.

»Ich weiß, was du jetzt sagen willst«, erwiderte Courtney schnell, nachdem sie sich wieder aufrecht hingesetzt hatte. »Und du hast ja auch recht. Aber ich verzeihe ihm. Ich liebe ihn, Kendra.«

Was sollte Kendra dazu sagen?

»Es tut mir leid«, wiederholte Courtney, diesmal – nach ihrer Liebeserklärung – mit ruhigerer Stimme. »Ich weiß, wie sehr du dich auf unsere Tour gefreut hast.«

»Ich dachte, du freust dich auch.«

»Ja, ich habe mich ja auch gefreut. Aber im Moment wäre es einfach nicht gut, so lange von ihm getrennt zu sein. Verstehst du?«

Kendra verstand überhaupt nichts. Selbst mit geröteten Augen und verquollenem Gesicht sah Courtney immer noch wunderschön aus. Sie war die letzte Person, die wegen eines Typen ihre Pläne aufgeben sollte, und schon gar nicht für einen Typen wie Jay. Courtney hatte glänzendes blondes Haar, um das Kendra sie – als einzige Brünette in ihrer Familie – beneidete. Sie war der Star im Leichtathletikteam, sie war diejenige, die bei den Reitturnieren die Schleifen gewann. Vor allem aber war Courtney eine treue Freundin. Mit anderen Worten: Sie war tausendmal mehr wert als Jay. Zehntausend Mal. Hunderttausend Mal.

»Courtney«, fing Kendra an, bemüht, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. »Jay wird doch immer noch da sein, wenn wir zurückkommen. Du kannst ihm SMS schreiben, ihn von unterwegs aus anrufen oder ihm Postkarten schicken. Es sind doch nur ein paar Monate.«

»Nicht ein paar. Es sind fünf Monate, vielleicht sogar ein halbes Jahr. Ich kann mich jetzt nicht im Wald verkriechen und ihn allein lassen. Nicht jetzt.« Courtneys Argumente klangen wie einstudiert, als hätte sie geahnt, was Kendra ihr vorhalten würde.

Und vermutlich hatte Courtney sogar recht. Wenn sie Jay jetzt allein ließe, würde er höchstwahrscheinlich das komplette halbe Jahr damit verbringen, andere Mädchen abzuschleppen.

»Aber wenn du anfängst zu studieren, lässt du ihn doch auch allein«, gab Kendra zu bedenken. Courtney hatte einen Studienplatz an der Wesleyan University, während Jay hier in Abelard bleiben und am Whitworth College studieren würde – so ziemlich die langweiligste und vorhersehbarste Wahl, die man sich vorstellen konnte. Wozu überhaupt studieren, wenn man dafür noch nicht einmal in eine andere Stadt zog?

»Die Wesleyan ist doch bloß eine Stunde entfernt«, verteidigte sich Courtney. »Außerdem fange ich erst nächstes Jahr mit dem Studium an. Wir haben unser Studium verschoben, schon vergessen?«

»Du hast dein Studium verschoben, damit wir unsere Wandertour machen können«, entgegnete Kendra beleidigt und gereizt. Sie konnte ihren Ärger nicht länger unterdrücken. »Und nicht, um wieder mit Jay zusammen zu sein.«

»Ich weiß«, gab Courtney kleinlaut zu.

»Und was wirst du dann nächstes Jahr machen? Deine Wunsch-Uni sausen lassen für einen Typen? Hier bleiben und aufs Whitworth College gehen?« Kendra sah sich vielsagend in der Cafeteria um. Ein Studium am Whitworth College war ungefähr so, als würde man im eigenen Wohnzimmer studieren.

»Jay ist nicht ›irgendein Typ‹. Und ein Campingurlaub ist auch nicht das Gleiche, wie aufs College zu gehen.«

»Ein Campingurlaub?« Wie konnte Courtney ihren lang gehegten Traum auf dieses Wort reduzieren, ein Wort, das so unbedeutend und banal klang? Um sich zu beruhigen, holte Kendra tief Luft und sagte dann: »Vielleicht wird eure Beziehung durch den Abstand ja stärker. So wie bei Brendan und mir …«

»Du kannst doch Brendan und dich nicht mit Jay und mir vergleichen.«

Tja, da hatte sie wohl recht. Im Gegensatz zu Jay würde Brendan Kendra niemals betrügen. Dafür war er einfach nicht der Typ. Er war kein Aufreißer, sondern lieb, aufrichtig und ernst. Sie waren seit drei Monaten zusammen; Brendan würde im Herbst anfangen, an der Harvard-Universität zu studieren. Würde Kendra ihn je daran hindern, auf seine Traum-Uni zu gehen, nur damit sie zusammen sein konnten? Natürlich nicht. Genauso wenig wie er sie davon abhalten würde, den Appalachian Trail zu wandern. Sie hatten eine reife Beziehung und unterstützten einander. Genau das sagte sie Courtney auch, doch die verdrehte bloß die Augen.

»Ach komm schon, Kendra«, sagte sie. »Ihr zwei seid so romantisch wie eine Wanderkarte.«

Mit einem lauten Splittern brach Kendra die Essstäbchen auseinander. Ihr Sushi-Gericht stand noch unberührt zwischen ihnen auf dem Tisch. Zögernd betastete Kendra mit den Stäbchen die scharfe Thunfischrolle, hob sie aber nicht zum Mund. Wenn Romantik hieß, für irgendeinen Typen – der es noch nicht einmal verdient hatte – die eigenen Träume aufzugeben, dann konnte sie gern darauf verzichten.

»Unter Romantik versteht eben jeder etwas anderes«, gab Kendra zurück. »Vielleicht ist Romantik für dich ein Abendessen bei Kerzenschein. Aber für mich –« Sie brach ab, aus Angst, gleich loszuweinen, wenn sie es laut aussprechen würde.

Für Kendra war Romantik eine Nacht unter dem Sternenhimmel. Sie brauchte keinen Freund oder Verehrer neben sich, um den Moment als romantisch zu empfinden; ihr reichten frische Luft, Kiefernduft und Stille, die nur unterbrochen wurde vom Zirpen der Grillen, dem Quaken der Frösche und dem Wind in den Bäumen.

Beschwichtigend legte Courtney ihre Hand auf die von Kendra. »Ich weiß, wie viel dir diese Wanderung bedeutet«, sagte sie. »Und es tut mir wirklich wahnsinnig leid. Das musst du mir glauben.«

Noch immer schwirrten Kendra zig Argumente im Kopf herum. Vergiss Jay. Denk an die 2000-Miler-Urkunde. Diese Urkunde wurde einem nur verliehen, wenn man die gesamten 2000 Meilen des Appalachian Trail, von Kennern auch AT genannt, durchwandert hatte. Die Formulare zur Beantragung der Urkunde hingen bereits ausgedruckt an ihren Pinnwänden, direkt neben ihren Abzeichen vom Wanderclub ihrer Highschool, der Ridgefield Prep School. Sie hatten sogar AT-Pässe bestellt – grüne Büchlein, die man sich unterwegs in Hostels und anderen Stationen abstempeln lassen konnte, um die Reise zu dokumentieren. Sie hatten ihre Route extra so geplant, dass sie Norton, Courtneys riesigen knurrigen Schäferhundmischling, mitnehmen konnten. Dazu hatten sie alle Campingplätze herausgesucht, auf denen Hunde erlaubt waren. Sie hatten stundenlang über Karten und Reiseführern gebrütet. Sie waren mit vollgepackten Rucksäcken auf den Bear Mountain gestiegen, um sich an das schwere Gewicht auf ihrem Rücken zu gewöhnen. Sie waren vorbereitet, sie waren bereit.

Doch Kendra verkniff sich ihre Einwände, weil etwas in Courtneys Stimme ihr sagte, dass sie ihre Meinung sowieso nicht ändern würde, egal wie sehr sie sie auch anflehte.

»Na gut«, sagte sie stattdessen und stopfte sich endlich die scharfe Thunfischrolle in den Mund, »wenn du nicht mitkommst, gehe ich eben allein.«

Courtney blickte sie ungläubig an. Dann lachte sie.

»Doch, wirklich«, bekräftigte Kendra. Sie setzte sich etwas aufrechter hin. Es noch einmal auszusprechen, würde sie in ihrem Entschluss bestärken. »Ich gehe allein.«

»Du kannst doch nicht ein halbes Jahr allein im Wald herumrennen«, entgegnete Courtney.

»Warum denn nicht?«

Ein halbes Jahr allein im Wald. Noch vor einer Minute hatte sich Kendra entmutigt und enttäuscht gefühlt. Jetzt spürte sie, wie jeder Zentimeter ihrer Haut vor Aufregung kribbelte.

»Erstens ist es gefährlich«, sagte Courtney. »Dir kann dort alles Mögliche passieren. Es ist nicht sicher.«

»Ich mache diese Fernwanderung nicht, um mich sicher zu fühlen.«

Sie spuckte die letzten Worte voller Widerwillen aus. Sicher bedeutete, das zu tun, was von einem erwartet wurde. Sicher hieß, sich an die Regeln zu halten, gute Noten zu bekommen, aufs College zu gehen. Mit anderen Worten alles, was Kendra jede Minute ihres gesamten Lebens getan hatte.

»Im Ernst, Kendra«, sagte Courtney und runzelte dabei sorgenvoll die Stirn. »Du kannst das nicht alleine durchziehen.«

Natürlich wusste Kendra, dass es besser wäre, eine solche Tour nicht allein zu unternehmen. Doch vor ihrem geistigen Auge tauchten bereits die ersten Bilder auf: kilometerlange herrliche Einsamkeit; wie sie körperlich immer stärker und kräftiger wurde; wie ihr Erfahrungshorizont sich weitete. Zur Vorbereitung auf die Wanderung hatte sie stapelweise Bücher verschlungen: Ratgeber zum Überleben in der Wildnis, Autobiografien, Romane. Eines ihrer Lieblingsbücher stammte von einer Frau, die allein den Pacific Crest Trail gewandert war, und das lange bevor es iPhones und Navigationsgeräte gab. Sie hatte noch nicht einmal eine EC-Karte dabeigehabt. Wenn sie das konnte, warum nicht auch Kendra?

»Das werden deine Eltern dir nie erlauben«, wandte Courtney ein.

Kendra warf ihre Essstäbchen auf den Tisch. »Deswegen werden wir es ihnen auch nicht sagen.«

Mit federnden Schritten überquerte Kendra den Innenhof des Campus. Sie trug ihre Wanderschuhe, obwohl alle um sie herum in Flipflops oder Stoffturnschuhen herumliefen. Seit zwei Monaten war sie ausschließlich in ihren Stiefeln unterwegs, damit die Schuhe perfekt eingelaufen sein würden, wenn die Tour startete. Sie hatte sich schon so an die schweren Stiefel gewöhnt, dass sie mühelos zur Seite springen konnte, als ein Skater fast mit einem Studenten zusammengekracht wäre, der neben ihr herging und ganz in sein Handy vertieft war. Kendra verdrehte die Augen. Es war ein wunderschöner Tag, eine leichte Brise wehte, die Luft war erfüllt vom Duft der Heckenkirsche, die Sonne schien, und trotzdem hatten fast alle Studenten, die über den Campus spazierten, nur Augen für ihr Smartphone.

Zur Vorbereitung auf die Wanderung hatte sich Kendra auch mehrere Bücher des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau besorgt. Sie musste an eines ihrer Lieblingszitate von ihm denken, das sie sogar ihrem Bewerbungsaufsatz für die Uni vorangestellt hatte: »Wir müssen lernen, wieder zu erwachen und wach zu bleiben. Nicht auf mechanischem Wege, sondern durch ein ständiges Erwarten der Morgendämmerung, das uns auch in unserem tiefsten Schlaf nicht verlässt.«

Jeden Tag musste Kendra mit ansehen, wie Leute ihr echtes Leben gegen Instagram und Facebook eintauschten. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie ihr Handy am liebsten zu Hause gelassen. Allerdings wäre es jetzt, wo sie sich allein auf den Weg machte, ziemlich hirnrissig, auf diesen Rettungsanker zu verzichten. Doch sie beschloss, das Handy im Rucksack zu lassen und nur im Notfall zu benutzen. Sie würde nicht damit telefonieren und auch keine Nachrichten schreiben, weder an ihre Eltern noch an Brendan und noch nicht einmal an ihre kleine Schwester Lucy.

Natürlich würde es schwerer werden, diesen Vorsatz umzusetzen, jetzt, wo sie auf sich allein gestellt war.

Auf sich allein gestellt. Sie wusste, dass dieser Satz eigentlich Angst in ihr auslösen sollte, doch stattdessen zauberte er ihr ein Lächeln ins Gesicht. Nachdem sie Courtney endlich davon überzeugt hatte, dass ihr Entschluss, allein zu reisen, feststand, hatten sie die Einzelheiten ihres Täuschungsmanövers besprochen. Punkt eins: Der Campus des Whitworth College war unter allen Umständen tabu, Courtney durfte auf keinen Fall riskieren, Kendras Eltern in die Arme zu laufen, wo sie doch eigentlich beim Wandern sein sollte. Courtney bot ihr an, ihr Norton mitzugeben, aber Kendra entschied sich dagegen. Sie wollte Courtneys Eltern möglichst wenig Anlass bieten, ihre Eltern zu kontaktieren. Es musste alles so aussehen, als würde es nach ihrem ursprünglichen Plan verlaufen – dem Plan, dem Kendras Eltern, wenn auch widerwillig, zugestimmt hatten.

Untermalt von einem elektronischen Piepsen schloss sie die Autotür auf. Schon bald würde ihr Leben frei sein von solchen Geräuschen. Nichts als Vogelgezwitscher, Käfer und raschelnde Blätter. Herrlich.

Sie konnte es kaum erwarten.

Ihr Freund Brendan war fast genauso schockiert von ihrem Plan, allein loszuwandern, wie es vermutlich ihre Eltern gewesen wären.

»Das ist kein Vergnügungspark da draußen«, mahnte Brendan. »Das ist die Wildnis. Da gibt es Bären und Rotluchse. Und Typen, die mitten im Wald Schwarzbrennereien betreiben, wie dieser Hinterwäldler aus den Simpsons.«

»Löwen, Tiger und Bären, ach du Schreck«, erwiderte Kendra.

Sie waren auf dem Weg ins Kino, nachdem sie im Abelard Diner ein ganzes Burger-Menü verdrückt hatten. In ihrer letzten Woche in der Zivilisation wollte es sich Kendra noch einmal so richtig gut gehen lassen – mit heißen Bädern, Fernsehorgien und vor allem mit leckerem Essen. Obwohl sie schon mehr als genug gefuttert hatte, war sie fest entschlossen, sich noch einen vor Butter nur so triefenden Becher Popcorn zu gönnen.

»Ich meine es ernst, Kendra«, sagte Brendan.

Selbst in dem halbdunklen Auto konnte sie erkennen, dass er besorgt wirkte. Anders als Jay war Brendan kein offensichtlicher Schönling. Er war kaum größer als Kendra und hatte dunkles, widerspenstiges Haar. Aber Kendra mochte sein Gesicht, seine braunen Augen und seine Grübchen, und sie mochte, dass er so wahnsinnig intelligent aussah. Außerdem war Brendan vernünftig und stand mit beiden Beinen im Leben. Als einer von nur zwei Schülern aus ihrem Jahrgang war er an der Harvard-Universität angenommen worden. Damit stand sein weiterer Lebensweg schon fest: Er würde in Harvard Jura studieren, dann als Lobbyist in Washington arbeiten und später seine eigene Firma gründen. Bestimmt waren in seinen Zukunftsplänen auch irgendwo eine Frau und 2,3 Kinder vorgesehen, aber darüber hatten er und Kendra bis jetzt noch nicht gesprochen. Brendan war nicht der Typ, der seine Highschool-Freundin heiratete. Wie gesagt, er war vernünftig.

Brendan fing an, alle möglichen Gründe aufzuzählen, warum sie die Wandertour nicht allein machen sollte. Aber bestimmt war er nur deshalb so negativ, weil er sich Sorgen um sie machte.

»Es heißt nicht ohne Grund Wildnis«, beharrte er. »Das ist kein Spiel, Kendra. Da draußen gibt es kein Sicherheitsnetz, das dich auffängt. Man kann auf tausend verschiedene Arten sterben.«

»Aber nicht, wenn man weiß, was man tut«, entgegnete Kendra.

»Unfälle können immer passieren. Ich weiß, dass du gut vorbereitet bist, aber gerade als Mädchen –«

»Was soll das heißen, ›gerade als Mädchen‹?« Nach diesen Worten war sie entschlossener denn je, ihren Plan durchzuziehen. Brendan hätte es wissen müssen. Schließlich war seine Mutter eine der besten Chirurginnen in Connecticut und sie hatte ihn ganz allein großgezogen.

»Komm schon, Kendra«, beharrte er. Sein Blick streifte sie nur leicht, dann konzentrierte er sich wieder auf die Fahrbahn. »Du weißt, was ich meine.«

»Ach so, und das College ist der sicherste Ort auf Erden, oder wie? Statistisch gesehen bin ich auf dem Appalachian Trail sicherer als auf dem Reed College. Keine Autos. Keine wilden Studentenpartys, auf denen der Alkohol in Strömen fließt. Keine Kommilitonen, die sich mit einem verabreden, um einen dann zu vergewaltigen.«

Sie fuhren an einer Straßenlampe vorbei, und Kendra konnte sehen, dass er das Gesicht verzog.

»Ich bin nicht naiv«, fuhr sie fort. »Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Ich werde nur auf offiziellen Campingplätzen zelten und den Wanderweg nicht verlassen. Wenn ich zelte, dann mindestens anderthalb Kilometer von allen Straßenkreuzungen entfernt. Ich weiß, was ich tue, Brendan.«

Er nahm ihre Hand. »Aber warum darf ich dich denn nicht wenigstens anrufen?«, fragte er. »Es wird total komisch sein, so lange nicht mit dir zu sprechen.«

»Aber überleg doch mal, wie sehr du dich freuen wirst, mich an Weihnachten zu sehen«, sagte Kendra. »Wie heißt es so schön? Die Liebe wächst mit der Distanz.« Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, doch Kendra ging gar nicht darauf ein. »Also hilfst du mir? Und verpetzt mich nicht bei meinen Eltern?«

»Nein, das werde ich nicht«, antwortete Brendan. »Aber das heißt noch lange nicht, dass mir dein Plan gefällt.«

Sie nahm seine Hand und drückte einen Kuss darauf. Vielleicht war er nicht hundertprozentig einverstanden mit ihrem Vorhaben. Aber sie wusste, dass er nichts tun würde, um sie aufzuhalten. Und das war alles, was sie im Moment brauchte.

Am nächsten Tag kam Kendra von ihrem letzten Arbeitstag in diesem Jahr nach Hause. Drei Jahre lang hatte sie im Yankee Clipper, einem Frühstückscafé mit Mittagstisch, gekellnert. Während des Schuljahrs arbeitete sie nur an den Wochenenden, in den Sommerferien jedoch kellnerte sie an sechs Tagen pro Woche, und diesen Sommer hatte sie bis drei Tage vor ihrer Abreise gearbeitet. Nur die wenigsten Schüler der Ridgefield Prep School hatten einen Nebenjob. Die meisten hatten Eltern, die Staranwälte, erfolgreiche Börsenmakler oder berühmte Chirurgen waren.

Die Burneys dagegen konnten sich die exklusive Privatschule nur leisten, weil das Whitworth College, der Arbeitgeber von Kendras Eltern, an einem speziellen Programm teilnahm. Weil Whitworth im Rahmen dieses Programms verpflichtet war, Kendras Studiengebühren an jeder anderen teilnehmenden Universität zu übernehmen, mussten ihre Eltern kein Geld für die Collegegebühren zurücklegen. Deshalb war es ihnen möglich, ihre Tochter auf die noble Ridgefield Prep School zu schicken. Natürlich waren die Burneys nicht arm – weit gefehlt! Kendras Mutter verdiente sich etwas dazu, indem sie ein Architekturbüro beriet, und ihr Vater schrieb ein Internetblog für ein landesweit erscheinendes politisches Magazin. Zudem hatten beide Professorenstellen, für die sie ganz ordentliche Gehälter bezogen.

Kendra wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte. Sie beneidete ihre Klassenkameraden nicht um ihre Reisen nach Europa oder ihre Marc-Jacobs-Handtaschen, oder wenn, dann höchstens ein bisschen. Außerdem machte es ihr Spaß zu arbeiten. Und aus materiellen Dingen machte sie sich ohnehin nicht viel. Eines ihrer Lieblingsbücher war Walden von Henry David Thoreau. Sie besaß eine uralte Ausgabe des Buchs, die schon ganz abgegriffen war und in der sie so viel unterstrichen und markiert hatte, dass die Seiten schon ganz wellig waren. Sie wusste, dass Besitztümer nur »hübsche Spielereien« waren, wie Thoreau es ausgedrückt hatte. Kendra war nicht an Oberflächlichkeiten interessiert, sondern an den tiefgründigeren Dingen, die das Leben zu bieten hatte.

Schon seit Längerem ging sie fast jeden Nachmittag wandern, um sich in Form zu bringen. Heute wollte ihr Dad versuchen, pünktlich nach Hause zu kommen, um sie zu begleiten. Er war es gewesen, der sie ursprünglich auf die Idee gebracht hatte, den Appalachian Trail zu laufen. Schon ihr ganzes Leben lang hatte sie gebannt gelauscht, wenn er davon erzählte, wie er und sein bester Freund Krosky im Sommer nach ihrem Highschool-Abschluss den Pacific Northwest Trail gewandert waren. Natürlich war dies auch einer der Gründe gewesen, warum er ihr die Reise erlaubt hatte. Schließlich konnte er ihr die Wanderung schlecht verbieten, nachdem er immer wieder betont hatte, die Tour sei die beste Erfahrung seines Lebens gewesen.

»Dad?«, rief Kendra, gleich nachdem sie die Eingangstür aufgeschlossen hatte.

Ihre Schwester Lucy war wahrscheinlich noch in der Ferienbetreuung, aber ihre Eltern sollten eigentlich zu Hause sein – einer der Vorteile, wenn man als Professor an der Uni arbeitete: Man hat Sommerferien. Und damit jede Menge Zeit, um mit der ältesten Tochter wandern zu gehen, bevor sie zu einer monatelangen Reise aufbrach.

»Mom?«, rief Kendra, während sie die Treppe hinaufstieg.

Sie ahnte, dass sie keine Antwort bekommen würde. Vermutlich war ihre Mutter in ihrem Architekturbüro und tat ihre Meinung zu den neuesten Entwürfen kund.

Und ihr Dad war höchstwahrscheinlich in seiner Sprechstunde von einem ehrgeizigen Politikstudenten aufgehalten worden. Selbst während der Semesterferien bot er Sprechstunden an, in denen er Hof hielt mit den Studenten, die ihn verehrten. Oft lud er ganze Scharen von ihnen zum Abendessen ein. Manchmal wünschte sich Kendra, er wäre immer noch wissenschaftlicher Mitarbeiter mit jeder Menge Zeit, die er mit ihr verbringen konnte.

Kendra stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf, ließ sich rückwärts auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke. Als sie ein leises Klimpern hörte, stützte sie sich auf einem Ellbogen hoch und sah, wie Buddy, der arthritische, schokoladenbraune Labrador der Familie, ins Zimmer trottete. Er tapste auf sie zu, leckte ihr übers Gesicht und legte dann beide Vorderpfoten auf ihr Bett. Mittlerweile kam er nur noch hinauf, wenn Kendra ihn hochhob.

»Weißt du was?«, flüsterte sie ihm zu, »ich werde den Appalachian Trail ganz allein wandern. Aber sag’s niemandem weiter.« Sie streichelte ihm über den Kopf. »Ich werde dich vermissen, Buddy.«

Am Abend, nachdem sie allein in den Nationalpark Flat Rock Brook gewesen war, traf sie ihren Dad in der Küche, als er sich gerade ein Bier aufmachte.

»Hallo, Kleine«, sagte er. »Na, zurück vom Wandern?«

»Ja«, erwiderte Kendra. »Du wolltest doch eigentlich mitkommen, weißt du nicht mehr? Du hast es vergessen, stimmt’s?«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht, doch er hatte sich schnell wieder im Griff. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte einen neuen Doktoranden in meiner Sprechstunde und konnte mich nicht rechtzeitig loseisen.«

Kendra ärgerte sich, dass er nicht zugab, was sie deutlich an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte – dass er schlicht nicht mehr daran gedacht hatte.

»Schon gut«, entgegnete sie und schenkte sich ein Glas Wasser mit Eiswürfeln ein.

»Heute Morgen habe ich mit Al Hill gesprochen«, sagte ihr Vater, das Thema wechselnd. »Er ist gerade dabei, seine Forschungsergebnisse zu ordnen, und freut sich schon darauf, dass du ihm hilfst.«

Dafür, dass ihre Eltern ihr die Wanderung erlaubt hatten, hatte Kendra sich im Gegenzug bereit erklärt, den Freund ihres Vaters bei seiner Arbeit zu unterstützen. Ihre Aufgabe würde es sein, seine Forschungsergebnisse zu katalogisieren. Er arbeitete als Ornithologe an der Cornell University in Ithaca. Zwar hatte das Geld, das Kendra im Yankee Clipper verdient hatte, für die gesamte Campingausrüstung gereicht, aber während ihrer Wandertour würde sie die Kreditkarte ihrer Eltern benutzen, und dank dieses Jobs wäre sie in der Lage, ihre Schulden zumindest teilweise zurückzuzahlen. Abgesehen davon freute sich Kendra auch darauf, mit einem der besten Vogelkundler des Landes zusammenzuarbeiten.

»Hört sich gut an«, erwiderte Kendra. »Bist du zum Abendessen zu Hause?«

»Nein, deine Mom und ich gehen essen, mit einem neuen Dozenten. Aber du kannst doch bestimmt für dich und Lucy etwas zaubern, oder?«

»Na klar«, sagte Kendra und schenkte ihm ein beruhigendes kleines Lächeln, als hätte sie sich noch nie über irgendetwas geärgert, was er je getan – oder nicht getan – hatte.

Am Abend vor Kendras Aufbruch kam Buddy in ihr Zimmer getrottet und ließ sich auf den Boden plumpsen, wo er wie ein einsames und verlassenes Fellbündel liegen blieb. Kendras Bett war übersät mit den ganzen Sachen, die sie in ihren Rucksack packen wollte. Mittendrin saß ihre zehnjährige Schwester Lucy, die dürren Beinchen im Schneidersitz gekreuzt.

»Ich glaube nicht, dass das alles reinpasst«, sagte Lucy sorgenvoll, als sie ihren Blick über das Sammelsurium schweifen ließ.

Vor ein paar Wochen hatte sie ihre langen weißblonden Haare abgeschnitten, und Kendra musste sich erst noch an den neuen Anblick gewöhnen. Die Frisur wirkte zottelig und ungleichmäßig, wodurch Lucy noch mehr nach Wildfang aussah als vorher, als ihr die Haare lang über den Rücken hingen.

»Ach, es wird schon passen«, rief Kendra aus ihrem kleinen Bad herüber, wo sie sich gerade das Gesicht wusch. In den kommenden Monaten würde sie ausschließlich auf die Pfefferminzseife von Dr.Bronners zurückgreifen können, deshalb gönnte sie sich noch einmal den Luxus warmen Wassers und machte ausgiebig Gebrauch von ihrem Badspiegel.

Ihre Mutter steckte den Kopf ins Zimmer. »Ein paar Studenten von Dad kommen heute zum Abendessen«, informierte sie die beiden.

»Ach nö«, protestierte Kendra, als sie mit Seife im Gesicht aus dem Bad kam. »Das ist mein letzter Abend, Mom. Ich dachte, wir wären für uns.«

»Tut mir leid, Liebes. Aber einer der Studenten ist Dads neuer wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er wird Dad bei seiner Forschung helfen, und heute Abend war der einzige Abend, an dem wir ein Treffen organisieren konnten.«

Kendra stapfte zurück in ihr Bad, spritzte sich Wasser ins Gesicht und gab ihre letzte Hoffnung auf, ihre Familie wenigstens heute Abend für sich zu haben und sich richtig von ihnen verabschieden zu können. Aber vielleicht war es ja sogar besser so, dachte sie, als sie nach einem Handtuch griff. Zumindest wäre das Risiko geringer, dass ihr irgendetwas herausrutschte, woraus ihre Eltern schließen könnten, dass sie die Wanderung allein machen wollte. Denn mit Gästen am Tisch würde sie ohnehin nicht zu Wort kommen.

Ihre Mutter stand in der Tür zum Badezimmer. »Ich weiß, es ist ein bisschen kurzfristig, aber möchtest du vielleicht Courtney zum Abendessen einladen?«

»Nein«, antwortete Kendra. »Ihre Eltern veranstalten doch heute einen Abschiedsabend für sie, mit ihrem Lieblingsessen. Und nur mit der Familie.«

»Ach so«, sagte ihre Mutter. In ihrer Stimme schwang ein entschuldigender Tonfall mit. »Immerhin habe ich Enchiladas gemacht.«

»Danke, Mom.«

Nachdem ihre Mutter wieder gegangen war, hob Lucy den riesigen faltbaren Wasserkanister hoch. »Wenn der gefüllt ist, dann ist dein halber Rucksack voll. »Was meinst du, wie viel der wohl wiegt?«

Zusammen gingen sie in Kendras Badezimmer und füllten ihn bis zum Rand. Kendra musste einsehen, dass Lucy recht hatte. Der Kanister war so schwer, dass sie ihn kaum an seinem Plastikgriff aus dem Waschbecken hieven konnte.

»Das wird nicht gehen«, sagte Lucy.

Laut Kendras Reiseführer für Durchwanderer – Wanderer, die den gesamten Trail liefen – gab es auf dem AT genügend Schutzhütten, die so dicht beieinanderlagen, dass manche Leute sich noch nicht einmal die Mühe machten, ein Zelt mitzunehmen. Für Kendra war das jedoch keine Option – sie wollte auf jeden Fall die Möglichkeit haben, in ihrem eigenen Zelt zu schlafen statt in einer beengten Hütte mit Fremden. Normalerweise gab es in der Nähe jeder Schutzhütte eine Trinkwasserquelle. Und wenn nicht, hatte Kendra zur Sicherheit einen Wasserfilter dabei und – für den Fall, dass der Filter kaputtging – einen beeindruckenden Vorrat an Jodtabletten.

»Dann lass ich den Kanister eben hier«, sagte Kendra. »Die kleineren Wasserflaschen tun es auch.«

Lucy nahm die zwei Ein-Liter-Flaschen und schob sie in die dafür vorgesehenen Halterungen an Kendras Rucksack.

»Sportlich«, sagte Lucy und schüttelte sich eine widerspenstige Strähne aus den Augen.

»Sportlich«, stimmte ihr Kendra zu.

Da klingelte es an der Tür und die begeisterte Stimme ihres Vaters hallte durch das Treppenhaus. Er war bereit, Hof zu halten.

Lucy seufzte und sagte: »Ich werde dich echt vermissen.«

Kendra setzte sich aufs Bett. Am liebsten hätte sie Lucy erzählt, dass Courtney nicht mitkommen und dass sie den Trail allein laufen würde. Aber das durfte sie nicht riskieren; außerdem war es nicht fair, einer Zehnjährigen ein solches Geheimnis aufzubürden. Beide Mädchen hatten ihre Eltern noch nie angelogen; überdies war Lucy immer die ängstlichere von beiden gewesen.

»Hey«, sagte Kendra. »Du könntest doch auch den Appalachian Trail wandern, wenn du mit der Schule fertig bist. Wir könnten zusammen gehen.«

»Meinst du das ernst?«, fragte Lucy und blickte Kendra mit großen blauen Augen an.

»Natürlich«, antwortete Kendra. »Bis dahin kenne ich auch alle Tricks und Kniffe.«

Lucy griff nach dem Schlüsselring, der neben Kendras faltbarem Topf und ihrem Campingkocher lag, und blies in die Trillerpfeife, die daran hing. Eine kleine Dose mit Pfefferspray war ebenfalls daran befestigt. »Ist das auch einer deiner Tricks?«, fragte sie. »Um Mörder zu vertreiben?«

»Na ja, eigentlich habe ich das Spray gekauft, falls ich mal einem Bären begegne«, erklärte Kendra. »Aber vermutlich hilft es auch gegen Mörder.«

Lucy nickte. Kendra spürte, dass ihre kleine Schwester mit den Tränen kämpfte.

»Ich komm schon klar«, sagte Kendra. »Und ich bin schneller wieder zurück, als du dir vorstellen kannst.«

»Ich weiß«, sagte Lucy schnell. »Ich werde dich einfach vermissen. Das ist alles.«

Kendra zog ihre Schwester an sich und umarmte sie, ihren ganzen, nur dreißig Kilo schweren Körper; Lucy fühlte sich leichter an als Luft und doppelt so knochig.

Da drang die Stimme ihrer Mutter die Treppe herauf. Sie bat sie, nach unten zu den Gästen zu kommen. Kendra ignorierte sie, zumindest einen Moment lang. Sie hoffte, ihre Eltern würden Lucy genug Beachtung schenken, während sie weg war. Es konnte ziemlich einsam werden in diesem Haus, in dem jeder immer so beschäftigt war.

Der neue wissenschaftliche Mitarbeiter ihres Vaters, ein schmächtiger Typ mit einer zweijährigen Tochter, konnte es überhaupt nicht fassen, dass Kendras Eltern ihr und einer Freundin tatsächlich erlaubt hatten, ganz allein eine Fernwanderung zu unternehmen. Wenn der wüsste, dachte Kendra und musste insgeheim schmunzeln.

»Ich bin mit achtzehn den Pacific Northwest Trail gewandert«, erzählte ihr Dad. »Das war die wahre Wildnis. Wir haben den ganzen Sommer über kaum eine andere Menschenseele zu Gesicht bekommen. Jeden Bissen Nahrung, den wir gegessen haben, mussten wir auf dem Rücken mit uns herumschleppen. Krosky und ich haben zusammen um die fünfundzwanzig Kilo abgenommen.«

Die beiden Doktoranden nickten bewundernd. Das war nichts Neues. Kendra hatte schon tausendmal miterlebt, wie die Studenten ihrem Dad an den Lippen hingen.

»Im Vergleich mit dem Pacific Northwest Trail«, sagte ihr Vater, »wird es auf dem Appalachian Trail zugehen wie auf einem Parkplatz.«

Kendra runzelte die Stirn und spießte ein Salatblatt auf. »Vielleicht sollten wir morgen Richtung Westen fahren«, meinte sie. »Und stattdessen den PNT laufen.«

»Auf keinen Fall«, rief ihre Mutter schnell. »Auf dem Appalachian Trail habt ihr mehr als genug Wildnis.« Sie wandte sich an den wissenschaftlichen Mitarbeiter. »So war Kendra schon immer. Man darf sie nie herausfordern oder auf die Probe stellen. Selbst als kleines Kind war sie schon unheimlich mutig und hatte nie Albträume. Mit zehn Jahren hat sie alle Folgen von Buffy, die Vampirjägerin gesehen.«

Auf der anderen Tischseite rutschte Lucy unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Sie hatte häufig Albträume und konnte Horrorfilme nicht ausstehen. Ihre Mutter trank noch einen Schluck Wein und gab dann weitere Geschichten aus Kendras Kindheit zum Besten, die sie alle schon hundertmal gehört hatten.

Kendra lauschte mit halbem Ohr und gab Lucy gleichzeitig mit einem Lächeln zu verstehen, dass es nicht schlimm war, dass sie nicht so mutig war wie sie. Trotzdem tat es zugegebenermaßen gut, dass jemand ihre Furchtlosigkeit lobte, jetzt wo ihre große Wanderung so kurz bevorstand.

Auch wenn Kendra keine Sekunde daran zweifelte, dass sie auf dem Trail zurechtkommen würde.

Am nächsten Morgen stand Kendra zusammen mit ihren Eltern und Lucy in der Einfahrt und wartete auf Courtney und Brendan. Ursprünglich sollte Brendan die beiden Mädchen nach Maine fahren und sie im Baxter State Park absetzen, weshalb sie so tun mussten, als wäre das noch immer ihr Plan.

»Bist du sicher, dass du alles dabeihast?«, fragte Kendras Vater. »Hast du deine Packliste benutzt?«

Kendra nickte, wich seinem Blick jedoch aus. Jetzt musste sie nur noch einsteigen und losfahren, dann hatte sie es geschafft. Dann war sie frei.

»Hör mal, Kendra«, sagte ihre Mutter. »Ich habe mir überlegt, du könntest uns doch jeden Morgen eine kurze SMS von unterwegs schicken. Damit wir wissen, dass es dir gut geht. Einfach ein ›Guten Morgen. Ich lebe noch.‹ So etwas in der Art. Am besten vor neun?«

»Mom«, erwiderte Kendra seufzend. »Ich nehme das Handy nur für Notfälle mit. Ich will nicht jeden Morgen eine SMS schreiben oder nachsehen müssen, wie spät es ist. Und bitte ruft mich nicht an, ich werde nämlich nicht drangehen und ich werde auch keine Nachrichten abhören. Die Wanderung soll ein richtiges Naturerlebnis werden und keine halbherzige Sache.«

»Das verstehen wir natürlich«, erwiderte ihr Vater in diesem hypervernünftigen Tonfall, dem normalerweise ein kritischer Einwand folgte. »Aber du musst auch verstehen, dass deine Mutter sich Sorgen macht.« Ihre Mutter forderte mit einem strengen Seitenblick Solidarität ein, woraufhin er hinzufügte: »Und ich natürlich auch. Wie wäre es mit zweimal pro Woche? Sagen wir, jeden Mittwoch und jeden Freitag schickst du uns bis zehn Uhr morgens eine SMS.«

»Ich will aber wirklich nicht dauernd auf die Uhr sehen müssen. Hast du nicht immer gesagt, dass das zu deinen besten Erfahrungen auf der Wanderung gehört hat, dass du nie wusstest, wie spät es war?«, wandte Kendra ein.

»Dann sagen wir vor Einbruch der Dunkelheit«, lenkte ihre Mutter ein. »Du schreibst uns mittwochs und freitags eine Nachricht, in der steht, wo du gerade bist. Einfach zur Sicherheit, damit wir wissen, wo du steckst, ja?«

Sie klang so flehentlich, dass Kendra ein schlechtes Gewissen bekam. »Na gut«, sagte sie.

Und dann kam endlich der Kleinbus von Brendans Mutter um die Ecke gebogen. Kendra stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte wie wild, als hätte sie Angst, Brendan würde an ihr vorbeifahren, wenn sie ihn nicht aufhalten würde.

Ihr Dad hob ihren Rucksack hoch. »Ach du meine Güte«, entfuhr es ihm, als er ihn auf die Schulter nehmen wollte. »Meinst du, du wirst das Ding tragen können?«

»Dad«, sagte Kendra und streckte die Hand nach dem Rucksack aus. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass ihr Dad den leeren Kofferraum zu Gesicht bekam, in dem eigentlich Courtneys Campingausrüstung liegen sollte. »Ich mach das schon.«

»Nein, nein«, beharrte er. Er ging auf das Heck des Minibusses zu und öffnete den Laderaum, während Kendra vor Schreck fast einen Herzinfarkt bekam. Doch da lag Courtneys Rucksack, fast genauso vollgepackt wie ihr eigener. Jeglicher Groll, den Kendra gegen Courtney verspürt hatte, wich in diesem Moment spontaner, echter Zuneigung.

»Und du, Courtney, bist du auch startklar?«, wollte ihre Mom von Courtney wissen.

»Äh ja, ich bin auch startklar«, antwortete Courtney. Ihre Stimme klang schrill und nervös.

Kendra umarmte ihren Vater und Lucy. Ihre Mutter drückte sie ein wenig zu lange und flüsterte ihr dabei ins Ohr: »Pass auf dich auf da draußen. Sei vorsichtig.«

»Das werde ich, Mom«, sagte Kendra und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Dann stieg sie ein und setzte sich auf den Rücksitz, ohne sich noch einmal nach ihren Eltern umzudrehen, die in der Einfahrt standen und ihr zum Abschied hinterherwinkten.

Kendra wäre überrascht gewesen, wenn sie gewusst hätte, wie lange sie stehen blieben und ihr nachsahen, nachdem der Kleinbus längst losgefahren war.

»Ich fasse es nicht«, sagte Kendras Mutter, als der Bus fast außer Sichtweite war. »Ich fasse es nicht, dass wir ihr das wirklich erlaubt haben.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ihr Vater. »In einer Woche sind sie wieder zurück.«

Ihre Mutter nickte. Sie winkte immer noch und folgte Kendra mit den Blicken, bis der Bus um die Ecke gebogen war.

»Hoffentlich hast du recht«, sagte sie, umschlang ihren Oberkörper und rieb sich die Arme, als ob ihr kalt wäre, obwohl das Außenthermometer einunddreißig Grad anzeigte. »Hoffentlich.«

Kendra beugte sich vom Rücksitz nach vorn und legte Courtney und Brendan die Hand auf die Schulter. »Oh Mann! Ich bin fast gestorben, als mein Dad plötzlich den Kofferraum aufgemacht hat. Das war echt schlau von dir, den Rucksack dort zu deponieren! Danke!«

»Tja, ich habe schließlich auch einen Vater«, erwiderte Courtney.

Kendra lehnte sich wieder zurück, während Brendan die Broad Avenue entlangfuhr. Ihr entfuhr ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Die ganze Woche über und vor allem letzte Nacht hatte sie kaum schlafen können vor lauter Angst, ihre Eltern könnten ihr doch noch verbieten, allein loszuwandern. Sie war gar nicht dazu gekommen, sich über die Tour an sich Gedanken zu machen. Jetzt, wo sie endlich unterwegs waren und Courtney ganz überzeugend mit ihren Wanderstiefeln im Auto saß, hätte sie fast glauben können, dass sie sich, wie ursprünglich geplant, gemeinsam auf den Weg machen würden. Doch dann fuhr Brendan auf den Parkplatz des Flat Rock Brook-Naturparks, wo Jay bereits wartete, und Kendra war gezwungen, der Realität ins Auge zu blicken. Courtney würde hier in Abelard bleiben.

Kendras Magen machte einen nervösen Satz, aber dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass Gefühle wie Angst und Aufregung nah beieinanderlagen. Es lag an einem selbst, wie man die Emotion nennen wollte.

Die Autofahrt von Abelard im Bundesstaat Connecticut nach Piscataquis County in Maine dauerte sieben Stunden. Während der Fahrt hielt Kendra den Blick auf die Wälder entlang des Highways gerichtet. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen. Ihre Wanderroute würde sie zunächst zurück nach Connecticut führen. Wenn sie dort ankam, würde sie allerdings noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft haben.

Als sie im Süden Maines die Küstenstraße entlangfuhren, ließ Kendra die Fenster herunter, sodass die Meeresbrise hereinwehen konnte.

»Hey«, sagte Brendan. »Ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass ich ein Hotel gebucht habe.«

»Wirklich?« Eine Haarsträhne löste sich aus Kendras Pferdeschwanz und flatterte ihr ins Gesicht.

Sie hatten noch gar nicht besprochen, wie sie sich voneinander verabschieden wollten. Kendra war zwar davon ausgegangen, dass sie die Nacht zusammen verbringen würden, doch sie dachte, sie würden hinten im Bus von Brendans Mutter im Schlafsack übernachten. Brendans Vater war Leiter der neurologischen Abteilung in einem Krankenhaus in New Haven, hatte aber sechs Kinder aus zwei verschiedenen Ehen. Auch wenn er an sich gut verdiente, musste deshalb an allen Ecken und Enden gespart werden. Es sah Brendan gar nicht ähnlich, Geld für ein Hotelzimmer auszugeben.

»Ich dachte, du würdest gern noch einmal in einem richtigen Bett schlafen, bevor du loswanderst«, sagte er.

»Klingt super«, erwiderte Kendra. Brendan und sie waren seit drei Monaten zusammen, doch sie hatten noch nie im selben Bett übernachtet. Sie waren auch beide noch Jungfrau, obwohl sie schon mehrmals kurz davor gewesen waren, diesen Zustand zu ändern.

Als sie an dem Hotel namens Katahdin Inn and Suites ankamen, erlaubte Kendra ihrem Freund, ihren Rucksack aus dem Laderaum des Kleinbusses zu heben.

»Wow«, entfuhr es ihm. »Bist du sicher, dass du dieses Monster tragen kannst?«

»Ja, kann ich«, antwortete sie und versuchte, dabei nicht schnippisch zu klingen.

Sie checkten ein und gingen auf ihr Zimmer. Dort stand es, ein einzelnes schmales Doppelbett. Kendra hatte noch nie die Nacht mit einem Jungen verbracht.

Brendan nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Hast du Hunger?«, fragte er.

»Und wie«, sagte sie.

Das River Driver’s Restaurant war voller Leute, die Outdoor-Klamotten trugen und sich in einem mehr oder weniger drastischen Zustand der Ungewaschenheit befanden. Manche hatten noch nasse Haare von ihrer womöglich ersten Dusche seit Tagen oder gar Wochen. Andere sahen aus, als kämen sie direkt vom Trail. Kendra fragte sich, ob auch Durchwanderer dabei waren, die von hier aus Richtung Süden aufbrechen würden. Höchstwahrscheinlich nicht, da nur die wenigsten Wanderer auf dem Appalachian Trail den gesamten Weg liefen. Außerdem waren die meisten, die von Norden Richtung Georgia wanderten, in weiser Voraussicht bereits Anfang Juni gestartet.

Brendan bestellte ein Steak und Kendra die Nudeln mit Sommergemüse.

»Füllst du noch mal deine Kohlenhydratspeicher auf?«, fragte Brendan mit einem Kopfnicken, als ihr Teller mit Pasta kam. Kendra hatte sich jedoch hauptsächlich für das Gericht entschieden, weil es eine Weile dauern würde, bis sie wieder frisches Gemüse zu Gesicht bekommen würde. Sie hatte zwar einen Campingkocher dabei, war aber keine große Köchin.

Ursprünglich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Courtney für das Kochen zuständig sein würde, aber da Kendra sich nun allein verpflegen musste, würde sie sich wohl mit kleinen Wandermahlzeiten begnügen und dafür richtig essen gehen, wenn sie in eine Ortschaft kam. Sie hatte nicht nur gefriergetrocknete Fertigmahlzeiten mit verschiedenen Nudelsorten, sondern auch einen gewaltigen Vorrat an Truthahn-Trockenfleisch, Dörrobst und Müsliriegeln eingepackt.

Als sie beim Essen waren, blieb der Kellner an ihrem Tisch stehen und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei.

»Ja, alles bestens«, erwiderte Brendan. »Könnte ich noch ein Bier bestellen?«

»Natürlich. Ich müsste nur vorher deinen Ausweis sehen.«

»Oh.« Brendan tat, als würde er seine Taschen durchstöbern. »Den habe ich wohl im Hotelzimmer vergessen.«

»Da kann ich leider nichts machen«, sagte der Kellner.

Kendra warf Brendan einen misstrauischen Blick zu. Normalerweise trank er kein Bier, noch nicht einmal auf Partys. Wieder fragte sie sich, ob er für heute Nacht etwas Besonderes geplant hatte.

Brendan zuckte mit den Schultern. Er wirkte so verlegen, dass es schon fast wieder süß war. Sie beobachtete, wie er sich beschämt wieder seinem Steak widmete. Seine dunklen Haare hingen ihm in die Stirn und seine Wangen waren noch immer gerötet von der Abfuhr des Kellners. Es war wirklich lieb und aufmerksam von Brendan gewesen, mit ihr bis hierher zu fahren, bei ihr zu bleiben, sie nicht zu verraten. Er war wirklich der perfekte Freund. Vielleicht sollte es heute Nacht passieren, egal ob er es nun geplant hatte oder nicht. Sie war fast achtzehn. Vielleicht war es Zeit.

Sie streckte die Hand über den Tisch und berührte ihn am Unterarm. »Ich bin wirklich froh, dass du bei mir bist«, sagte sie.

Brendan blickte hoch. »Ich auch.« Er nickte in Richtung ihres halbvollen Tellers. »Du solltest besser aufessen. Wer weiß, wann du das nächste Mal wieder eine warme Mahlzeit serviert bekommst.«

Genau in dem Moment rutschten zwei Jungs im Collegealter in ihre Sitzecke. Einer setzte sich neben Kendra, der andere neben Brendan. Auch sie schienen direkt vom Trail ins Restaurant gekommen zu sein. Noch bevor Kendra den Mund öffnen konnte, holte der Junge neben ihr einen silbernen Flachmann heraus.

»Wir haben mitbekommen, dass der Kellner dir kein Bier bringen wollte«, sagte er und grinste durch seine Bartstoppeln. Er verströmte den unverkennbaren Geruch von Schweiß und Lagerfeuerrauch, aber beide Jungs wirkten so sympathisch, dass Kendra gegen ihren Willen lächeln musste. Der Junge neben ihr hielt den Flachmann über ihre Cola, und sie ertappte sich dabei, wie sie nickte.

»Rum?«, fragte sie, etwas zu spät, nachdem er ihr bereits einen großzügigen Schluck in ihr Glas eingeschenkt hatte.

»Bourbon Whiskey«, antwortete er und gab auch Brendan einen Schuss in sein Getränk. »Ich bin Stewart und das ist Jackson. Wir sind gerade aus Georgia eingetrudelt.«

»Wirklich?«, rief Kendra. »Ihr seid den ganzen Trail gelaufen? Und seid gerade fertig geworden?«

»Jepp«, erwiderte Jackson. »Wir haben im Februar angefangen. Da war noch heftiges Winterzelten angesagt.«

»Wow«, staunte Kendra. »Gratuliere. Und ihr wart ganz schön schnell.«

Brendan nippte an seinem Drink. Er wirkte dankbar für den Alkohol, sah aber gleichzeitig aus, als hätte er nichts dagegen, wenn sich ihre neuen Kumpels möglichst bald wieder verziehen würden.

»Ach, das ist noch gar nichts«, sagte Stewart. »Der Rekord liegt bei sechsundvierzig Tagen.«

»Ich weiß!«, rief Kendra. »Das war Jennifer Pharr Davis. Ich habe ihr Buch gelesen.«

Sie warf Brendan einen triumphierenden Blick zu. Irgendwie war sie stolz darauf, dass der Geschwindigkeitsrekord auf dem Appalachian Trail von einer Frau aufgestellt worden war.

»Aber sie hatte natürlich auch ein Team, das sie in regelmäßigen Abständen mit Proviant versorgt hat«, erläuterte Stewart, »deshalb musste sie nicht so viel Gepäck herumschleppen. Im Gegensatz zu uns.«

»Oder zu mir«, warf Kendra ein. »Ich starte morgen mit meiner Durchwanderung.«

»Ja, wir wollen den kompletten Trail laufen«, fügte Brendan schnell hinzu. Kendra wollte ihm gerade einen empörten Blick zuwerfen, doch vermutlich war es gar nicht so dumm von ihm, sich einzuschalten. Dass sie alleine loszog, sollte sie besser nicht an die große Glocke hängen.

»Wow.« Jackson stieß einen leisen, beeindruckten Pfiff aus. »Ihr wandert von Norden nach Süden. Das ist nicht ohne. Hoffentlich habt ihr für die letzte Etappe genug warme Kleider dabei. Im Süden kann es in den Bergen ganz schön kalt werden, das könnt ihr mir glauben.«

»Ja, habe ich«, sagte Kendra. »Beziehungsweise haben wir.«

»Der Mount Katahdin ist die anstrengendste Etappe auf der ganzen Strecke. Ihr solltet also etwas vorsichtig sein mit dem Zeug hier«, sagte Stewart und schenkte ihnen noch einen winzigen Schluck Bourbon in ihre Gläser. »Ihr könnt es ja als eure erste Dosis Trail Magic ansehen.«

»Trail Magic?«, wiederholte Brendan fragend.

Kendra antwortete, noch bevor Stewart oder Jackson etwas erwidern konnten. »Das sind kleine Überraschungen unterwegs – wenn Wanderer sich gegenseitig helfen oder Leute einem etwas Gutes tun.«

»Gut, dass du sie mit dabeihast«, sagte Stewart zu Brendan und legte kumpelhaft den Arm um Kendras Schultern. »Hört sich an, als hätte sie die ganze Recherche übernommen.« Und dann ließen er und Jackson alle möglichen Geschichten vom Stapel über leckere Mahlzeiten, die Anwohner aus den umliegenden Ortschaften in die Schutzhütten gebracht hatten, und über eiskalte Coca-Cola-Flaschen, die in Bächen auf die Wanderer warteten.

Kendra lächelte Brendan über den Rand ihres Glases hinweg an. Siehst du?, hoffte sie ihm mit ihrem Blick zu sagen. Ich werde überhaupt nicht allein sein. Auf jedem Schritt ihres Weges würde es Menschen geben, die auf sie aufpassten und ihr Gesellschaft leisteten. Das war die Magie des Trails – Trail Magic eben.

Als sie endlich in ihr Zimmer zurückkehrten, war Kendras Bauch so voll, dass sie ihre Shorts aufknöpfen musste, bevor sie sich aufs Bett fallen ließ. Der Bourbon pochte dumpf hinter ihren Schläfen. In der Nacht zuvor hatte sie kaum geschlafen, und heute im Auto war sie immer noch so aufgeregt und nervös gewesen, dass sie ebenfalls kein Auge zugetan hatte. Nun forderten das schwere Essen, die vielen schlaflosen Stunden und der Alkohol allmählich ihren Tribut. Sie zwang sich, wach zu bleiben, aber das Rauschen des Wassers aus dem Badezimmer, wo Brendan sich bettfertig machte, sorgte fast so effektiv wie eine Schlaftablette dafür, dass ihr die Augenlider zufielen.

»Hey.«

Kendra schreckte hoch. Brendan beugte sich über sie und schüttelte sie sanft an den Schultern. »Willst du dir nicht die Zähne putzen gehen?«, fragte er mit einem leicht flehenden Blick und einem winzigen Lallen in der Stimme.

Nach diesem Blick, in dem so viele Fragen lagen, war sie mehr denn je davon überzeugt, wie sein Plan, sich von ihr zu verabschieden, aussehen würde. Na, und wenn schon. Sie war nicht prüde. Solange er ein Kondom dabeihatte … Kendra hatte zwar ihren Kompass, ihre Handschaufel und ein Nylonseil eingepackt, aber an Verhütung hatte sie definitiv nicht gedacht. Sie rutschte vom Bett herunter und schnappte sich ihren Kulturbeutel.

Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte, spritzte sie sich Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild: die versprengten Sommersprossen auf der Nase, die blauen Augen. Sie versuchte, in ihrem Gesicht eine Spur von Unschuld zu entdecken, die beim nächsten Blick in den Spiegel verschwunden sein würde, konnte aber beim besten Willen nichts erkennen.

Als sie aus dem Badezimmer kam, lag Brendan bereits im Bett. Er war von der Hüfte aufwärts nackt, aber so wie Kendra ihn kannte, hatte er unter der Bettdecke bestimmt etwas an. Kendra hatte sich zum Schlafen eine Jogginghose eingepackt, doch die war für derartige Aktivitäten denkbar ungeeignet. Eine neue Welle der Erschöpfung überrollte sie, und sie beschloss, die Jogginghose in ihrem Rucksack zu lassen.

Sie ließ sich neben Brendan auf die Bettdecke plumpsen und sank auf das weiche Hotelkissen. Brendan stützte sich auf die Ellbogen und sah auf sie herab.

»Kendra«, fing er an. »Ich habe mir überlegt, dass … Wir sind doch jetzt so lange getrennt. Und du weißt, dass ich dich liebe. Und jetzt sind wir hier. Und deshalb dachte ich …«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Kendra. »Das war nicht schwer zu erraten.«

»Ist das okay für dich? Wenn nicht, dann –«

»Es ist okay für mich«, sagte sie. »Es ist absolut okay. Aber lass uns nicht davon sprechen, ja?«

Sie wartete einen Augenblick, und als Brendan keine Anstalten machte, sie zu küssen, zog sie sein Gesicht zu sich heran und küsste ihn. Brendan war ein guter Küsser, er war sanft und zärtlich, und sie knutschten eine Weile herum. Schließlich ließ er seine Hand von ihrem Nacken hinab zu ihrer Taille gleiten und fasste nach dem Saum ihres T-Shirts.

»Darf ich?«, fragte er und zupfte eher fragend als entschlossen daran herum. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr das T-Shirt auszog. Aber vermutlich war er nervös angesichts dessen, was sie gleich tun würden, und fragte deshalb die ganze Zeit nach.

»Ja«, erwiderte Kendra. Sie setzte sich halb auf, damit er ihr das Shirt leichter über den Kopf streifen konnte. Nun waren sie beide oben ohne. Sie küssten sich noch eine Weile, bis Brendan seine Hände auf die Knöpfe ihrer kurzen Hose legte.

»Darf ich?«

»Ja, klar, du musst nicht fragen.«

Kendra fand es gut, dass Brendan so rücksichtsvoll war. Und sie mochte den Geschmack nach Bourbon in seinem Mund, wenn er sie küsste. Kurze Zeit ließ sie sich mitreißen, ihr Atem ging schwer und sie stieß zitternde Seufzer aus. Gleichzeitig jedoch war ihr Bauch so voll, dass es ein wenig unangenehm war, als er sich über sie beugte; außerdem war ihr Kopf vor Müdigkeit ganz benebelt. Die ständige Wiederholung der Frage »Darf ich?« wirkte eher einschläfernd als verführerisch.

Sein letztes »Darf ich?« konnte Kendra kaum noch hören, es war, als würde seine Stimme aus einem anderen Raum kommen. Sie konnte keine Sekunde länger wach bleiben und erwiderte die Frage mit einem leisen Schnarchen. Vage nahm sie wahr, dass er sich von ihr wegdrehte und frustriert seinen Kopf auf das Kissen fallen ließ. Sie wollte sich entschuldigen, doch bevor sie etwas sagen konnte, war sie bereits in einen tiefen, bleiernen Schlaf geglitten.