The Enchanted Greenhouse - Sarah Beth Durst - E-Book

The Enchanted Greenhouse E-Book

Sarah Beth Durst

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Beschreibung

Weiße Magie und heiße Schokolade. Der neue Cozy-Fantasy-Bestseller von Sarah Beth Durst. Zugegeben, ihr Zauber war verboten – aber hatte man die Bibliothekarin Terlu deshalb direkt in eine Statue verwandeln müssen? Sicher nicht. Als sie nach sechs Jahren wieder aufgeweckt wird, befindet sie sich fernab der Hauptstadt des Reiches auf einer einsamen, verschneiten Insel. Um sie herum stehen zahllose Gewächshäuser, die von einem einzelnen Gärtner – Yarrow – gepflegt werden. Doch etwas stimmt nicht: ein Teil der Pflanzen ist bereits gestorben, die Magie, die die Gewächshäuser beschützt, verliert an Kraft. Um die Insel zu retten (und das Herz des Gärtners zu gewinnen), wird sich Terlu einiges einfallen lassen und so manchen Zauber wirken müssen. Auch auf die Gefahr hin, dass man sie erneut für ihre Anmaßung bestraft. Für Leser*innen von Travis Baldree, T. J. Klune und Sarah Rees Brennen und T. Kingfisher

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Seitenzahl: 598

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sarah Beth Durst

The Enchanted Greenhouse

Ein Schimmer der Hoffnung

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Aimée de Bruyn Ouboter

 

Über dieses Buch

 

 

Zugegeben, ihr Zauber war verboten – aber hatte man die Bibliothekarin Terlu deshalb direkt in eine Statue verwandeln müssen? Sicher nicht. Als sie nach sechs Jahren wieder aufgeweckt wird, befindet sie sich fernab der Hauptstadt des Reiches auf einer einsamen, verschneiten Insel. Um sie herum stehen zahllose Gewächshäuser, die von einem einzelnen Gärtner – Yarro – gepflegt werden. Doch etwas stimmt nicht: ein Teil der Pflanzen ist bereits gestorben, die Magie, die die Gewächshäuser beschützt, verliert an Kraft. Um die Insel zu retten (und das Herz des Gärtners zu gewinnen), wird sich Terlu einiges einfallen lassen und so manchen Zauber wirken müssen. Auch auf die Gefahr hin, dass man sie erneut für ihre Anmaßung bestraft.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Sarah Beth Durst ist Autorin von fast 25 Fantasybüchern für Kinder und Erwachsene. Sie ist mit dem Alex Award der American Library Association und dem Mythopoetic Fantasy Award ausgezeichnet worden und wurde dreimal für den Nebula Award nominiert. Zusammen mit ihrem Ehemann, ihren Kindern und einer äußerst ungehobelten Katze lebt sie in Stony Brook, New York.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Enchanted Greenhouse« bei Tor Books, New York.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Lektorat: Bernd Sambale

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einer Idee von Lulu Chen

Coverabbildung: Lulu Chen

ISBN 978-3-10-492272-0

 

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Inhalt

[Widmung]

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Personen und Pflanzen

Die Bewohner der Insel Belde

Die Pflanzen mit Bewusstsein

Yarrows Verwandtschaft

Weitere Ankömmlinge auf Belde

Die Seefahrer

Danksagungen

Für meine Mutter,

Mary Bartlett,

die mir die Liebe zu Geschichten vermittelt hat

und deren Daumen deutlich grüner ist als meiner.

 

Ich liebe dich.

Kapitel 1

Die Pflanze traf keine Schuld. Darüber waren sich alle einig.

Dennoch hätte Terlu vor Erleichterung beinahe geweint, als der Richter es mit durchdringender Stimme für die offizielle Aufzeichnung verkündete. Seit man sie verhaftet hatte, war das ihre größte Sorge gewesen: Dass Caz zur Verantwortung gezogen werden könnte. Aber er hatte nichts getan! Sie war es gewesen, sie ganz allein, und sie hatte sich die größte Mühe gegeben, das klarzustellen.

Der Gerichtsdiener führte das Spinnenkraut davon, und sie reckte den Hals, um ihnen nachzuschauen. Caz streckte eine Ranke nach ihr aus. Verstohlen legte sie einen Finger an die Lippen und deutete dann auf ihn. Ihren neuen Freund. Die Pflanze, die nun ein Bewusstsein hatte.

Lass dir nichts anmerken! Sie hatte nichts Falsches getan. Verboten mochte es gewesen sein, streng verboten sogar – aber nicht falsch. Bisher hatte sie noch keine Träne vergossen, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Jetzt allerdings hätte sie beinahe laut aufgeschluchzt. Nur der finstere Blick des Anklägers hielt sie davon ab – und die Hand der obersten Bibliothekarin auf ihrem Arm, das einzige Zeichen des Wohlwollens ihr gegenüber im ganzen Gerichtssaal.

Rijes Velk neigte sich zu ihr. »Ich kümmere mich persönlich darum, dass für ihn gesorgt ist«, flüsterte sie. »Bei uns hat er ein Zuhause.«

Terlu schluckte schwer.

Reiß dich zusammen!

Steif, aber dankbar nickte sie der obersten Bibliothekarin zu, dann schaute sie wieder zum Richter auf.

Er trug eine bestickte, voluminöse Robe – so verwandelte sich ein skelettdürrer Mann mit Spinnengliedern in eine berüschte Seidenwolke. Terlu erinnerte er an einen Einsiedlerkrebs. Auf ihrer Heimatinsel hatte es am Strand viele gegeben. Ja, ihnen glich er: der knorrige Leib, der in einem prachtvollen Schneckenhaus steckte, und vorn ragten die Scherenbeine heraus. Er thronte auf einem Podium hoch über den Anklagten. Über mir, dachte sie jammervoll.

Er war von Buntglasfenstern eingerahmt, die eine stilisierte Karte des Mondsichel-Inselreichs zeigten. Jedes leuchtende Stückchen Land war von saphirblauen Glasscheiben eingeschlossen. So war der Gerichtssaal nicht von warmem bernsteingelbem Tageslicht erfüllt, sondern von einem bläulichen Schein. Kalt und unfreundlich, wie auch die blaugefärbten Gesichter der Zuschauer, die von der Galerie auf sie herabstarrten. Das alles sollte einschüchternd und überwältigend wirken, und man konnte wohl sagen, dass der Architekt sein Vorhaben meisterhaft umgesetzt hatte.

Wenn der Richter ein Einsiedlerkrebs war, war sie eine Auster, aus ihrer Schale gekratzt und Wind und Wetter ausgesetzt. Sie fummelte an den aufgerollten Ärmeln des Kittels herum, den man ihr gegeben hatte. Er war aus grauer Baumwolle und so abgetragen, dass er ganz weich geworden war. Für sie war er viel zu groß. Wie viele (hünenhafte!) Verbrecher mochten vor ihr schon darin gesteckt haben? Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie sie wirkte: wie ein verkleidetes Kind. Bestimmt nicht wie eine erwachsene Frau in den Zwanzigern! Wem mache ich was vor? Wie ein Backenhörnchen sehe ich aus. Sie war klein und mollig, hatte runde Wangen und Lachfältchen in den Mundwinkeln, und ihre großen Augen verliehen ihrem Gesicht stets einen leicht überraschten Ausdruck. Eine gute Verbrecherin gab sie nicht ab. Und Backenhörnchen hatten wohl kaum ein zartlila Fell! Die Haut ihrer Mutter hatte einen kräftigen Blauviolett-, die ihres Vaters einen hellen Rosaton; in Terlus Fall hatte das ein hübsches Lavendelblau ergeben. Es passte wunderbar zu dem Grau des Kittels. Doch so adrett und freundlich sie sich auch präsentierte, auf die Verhandlung schien es nicht den geringsten Einfluss zu haben. Dabei hatte sie sich sogar bemüht, ihre Locken zu zähmen – als würde eine ordentliche Frisur ihre Unschuld beweisen.

Leider war sie nicht unschuldig, denn sie hatte Magie gewirkt. Hatte den Spruch studiert, die Zauberzutaten gesammelt und über der Frage gebrütet, ob es klug war, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Selbstverständlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass es das nicht war. Und dann hatte sie es trotzdem getan. Sie hatte Caz erschaffen, ein sprechendes, denkendes Spinnenkraut, damit er ihr im menschenleeren Magazin Gesellschaft leistete. Hatte sich einen Freund herbeigezaubert, weil sie die Einsamkeit nicht mehr hatte ertragen können. In der Stadt hatte sie keine Familie, und in ihren stillen Winkel der großen Bibliothek von Alyssium verirrte sich äußerst selten jemand. Ihr war nur die Wahl geblieben, die furchtbare Isolation zu ertragen – oder aufzugeben. Einzugestehen, dass es ihr nicht gelungen war, ihren Platz in der Welt zu finden. Dass es ein Fehler gewesen war, von zu Hause wegzugehen, und dass ihre Verwandten und Bekannten mit ihrer Einschätzung richtiggelegen hatten: Auf sich gestellt, kam Terlu nicht zurecht.

Sie hatte wirklich nicht geglaubt, dass jemand sich an Caz stören würde.

Niemand war ihretwegen zu Schaden gekommen. Nicht einmal Unannehmlichkeiten hatte sie jemandem bereitet! Und Caz selbst war überglücklich: Sein neues Leben an Terlus Seite gefiel ihm. Doch jener Bibliotheksbesucher, der einen Blick auf das wandelnde Spinnenkraut erhascht hatte, war alles andere als begeistert gewesen.

Magie zu treiben, war nur der Elite der Zauberer gestattet. Die vielen Grimoires in der großen Bibliothek standen nach kaiserlichem Recht einzig diesen Auserwählten zur Verfügung. Der herbeigerufene Ermittler hatte auch im Fall einer niederrangigen Bibliothekarin kein Auge zugedrückt – stattdessen hatte er als Ankläger wortgewandt für ihre Verurteilung plädiert.

Er hätte sich gar nicht so anstrengen müssen. Ein Spinnenkraut, das herumlief und redete, war schließlich ein erdrückender Beweis für ihre Schuld.

Daher war sie auch nicht überrascht, als der Richter erklärte: »Ich erkenne Terlu Perna, ihres Zeichens Bibliothekarin vierten Ranges im zweiten Stock des Ostflügels der großen Bibliothek von Alyssium, der illegalen Zauberei für schuldig. Das Urteil wird sofort verkündet.«

Rijes Velk erhob sich. »Ich bitte um Milde!«

Wie der Richter war die oberste Bibliothekarin in ein Gewand aus bestickter Seide gekleidet, aber im Gegensatz zu ihm stand es ihr ausgezeichnet. Sie war eine elegante Frau. Ihr silbergraues Haar war zu einer Flechtfrisur gebunden, die an die Transennatür des Kinney-Saals erinnerte. Ihre Wangen, schwarz wie Onyx, waren mit goldener Schminke bemalt. Die Symbole standen für ihren Eid: die Geschichte, die Weisheit und das Wissen der Sichelmond-Inseln zu hüten. Terlu wusste, dass Rijes ihre Großmutter sein könnte; andernfalls hätte sie sie für alterslos gehalten.

Es war ihr sowohl eine Ehre als auch unbegreiflich, dass eine derart bedeutende und charismatische Persönlichkeit bei ihrer Verhandlung Fürsprache einlegte – und das eingedenk ihrer unbestreitbaren Schuld!

»Die Bibliothekarin Terlu Perna hatte keine bösen Absichten.« Rijes Velks Stimme klang durch den großen Gerichtssaal, schwang sich bis zur Kuppel auf. »Überdies hat sie keinen Schaden verursacht. Kein einziger Bürger der Stadt wurde verletzt. Niemandes Besitz wurde in Mitleidenschaft gezogen. Nichts ist zerbrochen, wurde gestohlen oder ging verloren. Ihr Fehlurteil hat keine negativen Konsequenzen nach sich gezogen. Daher bitte, ja flehe ich vor diesem Gericht um Gnade. Es ist ihr erstes Vergehen, und sie hat aus ihrem Fehler gelernt. Sie wird nie wieder zaubern, dafür bürge ich!«

Terlu traute ihren Ohren kaum. Es wog schwer, dass die oberste Bibliothekarin für ihr zukünftiges gutes Benehmen die Hand ins Feuer legte. Die Zauberer auf der Galerie regten sich in ihren Logen und raunten, offenbar ebenfalls überrascht.

Mit wallender scharlachroter Robe erhob sich der Ankläger. »Deine Versprechen sind nicht von Belang. Ebenso wenig, welche Absichten die überführte Verbrecherin hatte oder was sie sich für die Zukunft vornimmt. Nein, von Belang ist nur eins: Was andere tun werden, die von dieser Verhandlung hören. Fällt die Strafe zu milde aus – und dafür bürge ich –, dann wird es weitere illegale Zaubereiversuche geben, und nicht alle werden ohne Konsequenzen bleiben. Ich beschwöre das Gericht, all jenen eine unmissverständliche Botschaft zu schicken, die danach trachten, trotz Verbots mit Magie herumzuspielen. Gesetz ist Gesetz! Der Wille des Kaisers ist stark und ungebrochen.«

»Gnade zu zeigen, ist keine Schwäche«, erwiderte Rijes Velk.

»Euer Ehren, die oberste Bibliothekarin scheint zu wollen, dass Ihr die schwelenden Unruhen noch nährt …«

Rijes fiel ihm ins Wort. »Terlu Pernas Fall hat rein gar nichts mit irgendwelchen …«

Scharf debattierten sie, bis der Richter schließlich eine seiner krebsscherenartigen Hände hob. »Ich habe mich bereits entschieden. An Terlu Perna soll ein Exempel statuiert werden, das dem Schutz und der Gesundheit des Inselreichs dient.«

Terlus Mund wurde trocken. Sie klammerte die Hände im Schoß zusammen und knüllte dabei ihren Kittel. Ein Exempel? Was soll das heißen? Was wollen sie mir antun?

»Sie soll in eine Statue verwandelt und in der großen Bibliothek ausgestellt werden, eine Mahnung für alle Bibliothekare, Gelehrten und Besucher, die sich versucht fühlen könnten, das Gesetz zu brechen.«

Eine fassungslose Stille trat ein.

Die Strafe war härter, als Terlu erwartet hatte – viel härter. Ein Zittern überkam sie. Ihr Herz flatterte so schnell wie ein Kolibri.

Die Trommeln tönten, tief und dröhnend – das Zeichen, dass ein Urteil gefällt war. Sie spürte es in den Knochen; jeder Schlag ging durch ihren ganzen Körper.

Lärm brach los. Rijes Velk stürmte auf das Podium zu. Terlu sank in sich zusammen und schlang die Arme um sich. Erst als der Richter sie anbrüllte und scharf zur Ruhe ermahnte, begriff sie, dass sie schrie wie ein sterbendes Kaninchen.

 

Danach ging alles ganz schnell.

Terlu wurde von zwei Gerichtsdienern aus dem Saal geführt. Sie stolperte zwischen ihnen her, als könnte sie sich nicht richtig erinnern, wie man lief. Das Geschrei war verklungen, als hätte man sie unter Wasser gedrückt. In ihrem Kopf wirbelte ein Gedankensturm, der jedes äußere Geräusch übertönte.

Eine Statue.

Sie, eine Statue!

Wird es weh tun?

Muss ich sterben?

Und wenn nicht … Werden sie mich je zurückverwandeln? Der Richter hatte nichts über die Dauer der Strafe gesagt. Ist es für immer? Aber das war doch nicht möglich, oder? Das wäre zu grausam. Nur: Wäre es anders, hätte der Richter dann nicht einen Zeitrahmen gesetzt? Von einer solchen Strafe hatte sie noch nie gehört! Ebenso wenig allerdings von einem Bibliothekar, der das Magieverbot für Nicht-Zauberer übertreten hatte. In Anbetracht der vielen Grimoires in den Regalen konnte sie sich nicht vorstellen, dass nie jemand in Versuchung geraten war – aber vielleicht war außer ihr noch niemand erwischt worden.

Wäre sie doch bloß vorsichtiger gewesen! Klüger vorgegangen!

Dass sie es gelassen hätte, wünschte sie sich nicht. Denn hätte sie den Zauber nicht gewirkt, so hätte Caz nie das Licht der Welt erblickt – und er hatte sich so darüber gefreut! Unter keinen Umständen würde sie das ungeschehen machen. Hoffentlich würde Rijes Velk ihr Versprechen halten und sich gut um ihren Freund kümmern. Sie wollte, dass er glücklich war.

Die Gerichtsdiener brachten sie in eine achteckige Kammer aus schwarzem Stein. Fenster gab es nicht; die einzige Lichtquelle war ein Kandelaber mit zwölf brennenden weißen Kerzen in der Mitte des Raums. Es roch nach Talg und verbrannten Kräutern. Neben dem Leuchter wartete ein bärtiger Mann mit hohlen Wangen, der eine Schale in den bleichen Händen hielt.

Ein Magier … Und er hatte die Zutaten für einen Zauber bei sich.

Sie begriff sofort, was das bedeutete: Eine Begnadigung stand außer Frage. Niemand würde sich ihrer im letzten Moment erbarmen. Ihre Strafe hatte schon festgestanden, bevor der Richter sie verkündet hatte.

Wie gebannt hing ihr Blick an dem Zauberer.

Sie fühlte sich innerlich zu leer, um noch zu schreien oder zu weinen. Aber sie hätte gern einen Augenblick gehabt, um Rijes Velk zu danken. Sie wusste ihre Warmherzigkeit und Güte wirklich zu schätzen.

»Zieh dich um«, befahl der Zauberer.

Auf einem Stuhl lag zusammengefaltet die blaue Kluft einer Bibliothekarin des vierten Rangs. Sie zögerte nur kurz, dann schlüpfte sie aus dem grauen Kittel und zog die vertrauten Sachen an. Wenigstens musste sie ihrem Schicksal nicht wie eine Verbrecherin gekleidet ins Auge schauen! War auch das Rijes Velks Freundlichkeit zu verdanken, oder sollte Terlu einfach als Bibliothekarin zu erkennen sein?

Unbewegt schaute der Magier sie an. Was würde er wohl tun, wenn sie zu fliehen versuchte? Weit kommen würde sie nicht – zweifellos standen draußen Wachen vor der Tür –, und sie wollte nicht, dass er den Zauber sprach, während sie davonstolperte. Wenn sie schon zu einer Statue werden musste, sollte ihr Gesicht nicht auf ewig angstverzerrt sein. Sie wollte wenigstens versuchen, tapfer zu sein.

»Bleibe ich am Leben?«, fragte sie.

Der Magier zögerte. »Ja.« Dann begann er mit dem Spruch.

Ihr Blut floss langsamer und langsamer, ihr Atem erstarb, und bald konnte sie kein Glied mehr rühren. Sie bestand nun von Kopf bis Fuß aus poliertem Holz. Da kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht nicht die richtige Frage gestellt hatte – aber eine bessere fiel ihr auch jetzt nicht ein.

Solange ich lebe, kann ich hoffen.

 

Finsternis.

Stille.

Wie ein schwarzes Meer, in dem sie lautlos ertrank. Sie konnte die Augen nicht öffnen. Nein, nicht schließen.

Wo bin ich?

Sie lauschte. Es war nichts zu hören. Kein Atemzug. Kein Herzschlag.

 

Ein Knarren, dann ein schmaler Streifen Licht. Sie sah Umrisse und Schatten: Regale, eine Kiste, einen Karren. Hinter sich hörte sie gedämpfte Stimmen, die erörterten, wohin man am besten einen Stapel Stühle stellte.

Sie war in einer Abstellkammer!

Sie wollte rufen, die unsichtbaren Menschen auf sich aufmerksam machen, sie bitten, nein, anflehen, mit ihr zu sprechen. Könnten sie nicht vor sie treten, so dass sie sie sah? Wie sie sich danach verzehrte, in ein Gesicht, in jemandes Augen zu blicken! Ein Lächeln zu sehen. Sie wollte sie wissen lassen, dass sie am Leben war, bei vollem Bewusstsein.

Ich bin hier!

Die Tür fiel zu.

 

Manchmal träumte sie oder träumte beinahe, denn Statuen schlafen nicht. Ihr liebster Traum war der, im Sonnenlicht zu stehen. Musik umwehte sie – ach, Musik! –, und sie schmeckte noch Gebäck auf der Zunge. Oder spürte einen Kuss auf den Lippen. Überall um sie herum waren Menschen, die redeten und lachten, und das war die allerschönste Musik. In der Luft hing der betörende Duft von Rosen.

Doch stets endete der Traum, und das Nichts verschlang sie erneut.

 

Sie vergaß ihre Angst.

Ihre Wut.

Sogar ihre Trauer.

Aber sie sehnte sich … Oh, wie sie sich sehnte! Nach Sonnenlicht, Atem, einer freundlichen Stimme. Sie träumte, erinnerte sich und trieb durch die Tage. Bald verlor sie jedes Zeitgefühl. Verlor sich selbst.

 

So stand die Statue in Stille und Finsternis.

Als sie endlich kamen, um sie im nördlichen Lesesaal der großen Bibliothek von Alyssium auf einen Sockel zu stellen, wollte sie ihnen danken.

Wenigstens würde sie nun nicht mehr allein sein!

Kapitel 2

Sanft fiel Schnee auf die Statue herab – ein bezauberndes, aber recht unerwartetes Ereignis. Flocken setzten sich auf ihre Nase und wehten ihr in die weit offenen, starren Augen. Warum stand sie nicht wie gewöhnlich in ihrer Nische im nördlichen Lesesaal?

Ich muss etwas wirklich Wichtiges verpasst haben.

Eigentlich hätte sie auf Bücherregale schauen müssen, die vom Boden bis zur gewölbten Decke reichten und mit zahllosen (staubigen!) Büchern und Schriftrollen von unschätzbarem Wert gefüllt waren. Stattdessen blickte sie auf einen tief verschneiten Kiefernwald. Sie schien mitten darin zu stehen.

Ihr Geist war oft vernebelt gewesen, vom Schlaf umfangen. Doch sie musste wirklich entrückt gewesen sein, wenn sie nicht mitbekommen hatte, dass man sie aus der großen Bibliothek fortgebracht hatte … Wohin? Das wusste sie nicht. Wie lange war ich nicht ganz bei mir?, fragte sie sich. Wie viel habe ich versäumt? Und wo bin ich hier? Zwischen zwei Kiefern sah sie Sonnenlicht flirren, als gleißte es auf einer spiegelnden Oberfläche, aber sie konnte nicht erkennen …

Plötzlich durchlief ein Zittern ihren hölzernen Leib.

Das sollte ganz unmöglich sein! Sie war ein Gegenstand, unbelebt und reglos. Warum also … Das Zittern wurde stärker, schüttelte sie beinahe, und sie hörte ein bedrohliches Knarren – wie wenn ein Baum sich neigt. Oh nein, kommt das aus mir?

Und dann: ein Knistern, ein Knacken. Von ihren Zehenspitzen schienen sprudelnde Bläschen aufzusteigen, höher und immer höher. Sie passierten die Knie, wanderten durch die Schenkel in ihren Rumpf und wirbelten ihr durch die Brust, schneller und schneller.

So lange war ihr ganzer Körper taub gewesen. Nun empfand sie alles auf einmal.

Sie verbrannte. Erfror. Es war eine Qual … So musste es sich anfühlen, zerrissen zu werden! Im nächsten Augenblick war ihr, als flöge sie durch die Wolken, während eintausend Farben vor ihren Augen tanzten. Eine Supernova war sie, barst unter unbeschreiblichen Schmerzen und voll weißglühender Freude.

Terlu Perna – einstmals Bibliothekarin des vierten Rangs im zweiten Stock des Ostflügels der großen Bibliothek von Alyssium (Juwel des Sichelmond-Inselreichs), zuletzt verurteilte Verbrecherin und Statue im nördlichen Lesesaal – schwankte und stürzte auf den verschneiten Waldboden.

Sie war wieder aus Fleisch und Blut!

Sie lag auf der linken Seite, und der nasse Schnee drang durch den dünnen Stoff ihres langen, ärmellosen Bibliothekarinnenblusenkleids. Die Kälte stach ihr wie mit Nadeln in Hüfte, Bein und Schulter, und der frostige Wind biss ihr in die bloßen Arme. Sie schnappte nach Luft; die war so eisig, dass sie ihr im Rachen brannte. Lachend stieß sie den Atem wieder aus.

Sie konnte wieder etwas spüren! Atmen! Sich bewegen! Sprechen! Aus vollem Halse sang sie: »La, la, la!« Ihre Stimme brach – nach der langen Zeit war ihre Kehle wie ausgedörrt. Erschrocken flog ein Vogel aus einer Kiefer auf. »Entschuldige!«, rief sie ihm nach. Seine roten Flügel hoben sich deutlich gegen den weißen Himmel ab.

Wieder schöpfte sie Atem, sog tief den Duft der Kiefern und die frische Schärfe des Winters ein. Die Lunge schmerzte ihr dabei. Tatsächlich tat ihr alles weh: Gelenke, Muskeln … So sehr, dass sie zitterte wie Espenlaub. Doch nicht einmal das konnte ihr Lächeln verscheuchen. Sie war wieder am Leben!

Kurz war sie ganz überwältigt. Beinahe hatte sie alle Hoffnung aufgegeben! Sie hatte ja auch wenig Grund gehabt, zu glauben, es könne sich alles noch zum Guten wenden …

Sie wollte aufstehen, kippte aber prompt wieder in den Schnee.

»Au …«

Jetzt war ihr Blusenkleid sehr nass. Abermals stemmte sie sich hoch und schaffte es endlich, sich in die Hocke zu setzen. »Ganz ruhig«, redete sie sich zu. »Du schaffst das, Terlu!« Ihre Stimme klang jetzt kräftiger, bebte kaum noch. Langsam und vorsichtig stand sie auf. Ihre Knie zitterten, und sie musste sich an einem Ast festhalten. Die Borke bohrte sich in ihre Handfläche, aber sie konnte sich aufrecht halten.

Sie fröstelte bis ins Mark. Wäre es nicht furchtbar, von ihrer Strafe erlöst zu sein, nur um auf der Stelle zu erfrieren? Grauenhaft! Mein Erwecker kann kaum gewollt haben, dass ich mir den Tod hole!

Ihr Erwecker …

Natürlich! Jemand musste den Zauber gesprochen haben, um sie zurückzuverwandeln. Wahrscheinlich war dem Magier bloß nicht klar gewesen, wie schnell die Wirkung eintreten würde! Bestimmt würde er gleich mit Decken, einem warmen Mantel und heißer Schokolade gelaufen kommen und ihr genau erklären, wo sie waren und weshalb er sie hergebracht hatte. Dann würde sie ihm von ganzem Herzen danken können.

»Hallo!«, rief sie. »Ich bin …« Was war das richtige Wort? Wach? Lebendig? Fleischlich? Aber dass sie fleischlich war, wollte sie nicht hinausschreien. »Ich bin hier! Hier drüben! Hallo?«

Vergebens wartete sie auf Antwort. Es war beinahe still: Der Schnee fiel lautlos, und der Wind strich leise säuselnd durch die Zweige. Es kam ihr vor, als wäre sie das einzige Lebewesen im Wald. Aber das konnte nicht sein! Jemand hatte den Bann von ihr genommen – also, wo war er?

»Du hast es geschafft!«, rief sie. »Du hast mich gerettet! Juhu! Kannst du rauskommen, damit ich mich bei dir bedanken kann? Wirklich, ich bin dir sehr verbunden! Und ich friere gewaltig …«

Doch nichts geschah. Niemand kam.

Sie schlang die Arme um sich, aber das half nicht viel. Zögerlich tat sie einen Schritt nach vorn. Ihre Beine waren so unsicher wie die eines Rehkitzes, aber sie schlug nicht wieder hin. Ein weiterer Schritt, dann noch einer. Sie ging auf das Schimmern zu, das sie vorhin schon zwischen den Stämmen bemerkt hatte, denn überall sonst sah sie bloß Bäume und Schnee.

Wer sprach denn einen Erweckungszauber und wartete dann nicht, bis das Werk vollendet war? Verantwortungsloser Umgang mit Magie war das! Wenigstens einen Notizzettel hätte der Zauberer ihr anheften können: »Muss nur schnell was essen, bin gleich wieder da!« Oder ein Schild aufstellen, damit sie wusste, in welche Richtung sie gehen musste. Er hätte auch einfach einen Pfeil aus Kiefernzapfen oder Steinen legen können: Hier lang geht’s ins Warme! Das war doch wohl kaum zu viel verlangt.

Wollte er womöglich nicht, dass sie Unterschlupf fand?

Gehörte das hier etwa zu ihrer Strafe? Hatte sie nur nicht mitbekommen, dass dieser eisige Kiefernwald auf sie wartete? Möglich war es. Das Urteil hatte sie tief erschüttert … Nein, nicht das Urteil selbst, damit hatte sie gerechnet. Ihre Schuld ließ sich nicht leugnen. Es war die Schwere der Strafe gewesen, die sie unvorbereitet getroffen hatte. Alle waren überrascht gewesen. Terlu dachte an Rijes Velk, die für Milde plädiert hatte – ohne Erfolg. Wie hatte der Richter gesagt? Sie hatte ein Exempel sein sollen. Daher hatte man sie verholzt. Konnte man das sagen? Oder war verfestigt das richtige Verb? Statuisiert vielleicht? Ihr fehlte das Wort für den Vorgang, und das störte sie ungemein. Wenn man jemandem etwas antun wollte, sollte es doch wenigstens ein Wort dafür geben, ein ordentliches Verb! Musste man erst weit ausholen, um die Sache zu beschreiben, dann ließ man es vielleicht lieber ganz.

Der Schnee wurde dichter und stob so sehr, dass sie schützend einen Arm vors Gesicht halten musste, damit ihr die Flocken nicht in die Augen flogen. Sie sank bis zu den Knöcheln ein, stapfte mühsam vorwärts. Die Kiefern standen dicht beisammen und zerkratzten ihr mit ihren nadeligen Zweigen die nackten Arme.

Als sie sich unter einem größeren Ast hindurchducken wollte, stieß sie ungeschickt mit dem Rücken dagegen, und ein Armvoll Schnee fiel ihr ins Genick. Sie quietschte und stolperte vorwärts, war jedoch noch nicht in der Verfassung, schnell auf irgendetwas zu reagieren. Sie stürzte auf die Knie. Vor Schmerz entfuhr ihr der Atem, und Tränen schossen ihr in die Augen.

»Hallo? Ist da irgendwer? Bitte! Ich brauche Hilfe!«

Der Schnee umwirbelte sie gleichmütig.

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich hoch und taumelte weiter. Den nächsten schweren Zweig schob sie beiseite und passte diesmal gut auf, dass er seine Schneelast nicht auf sie entlud. Dahinter tat sich eine Lichtung auf.

Vor sich im Schneegestöber sah sie … ein Fenster. Viele Fenster! Eine ganze Fensterwand, die einzelnen Scheiben umrankt von kunstvoll geschmiedetem schwarzem Eisen. Sie hob den Blick. Das Gebäude war riesig! Weit oben glaubte sie, eine verschneite Kuppel auszumachen.

Sie wankte vorwärts, bis sie die Hände gegen das Glas drücken konnte. Kühl war es, aber nicht vereist. Es wirkte trüb, wie von innen beschlagen. Da drinnen ist es warm, begriff sie. Wunderbar warm! Durch das vernebelte Glas sah sie nur Schemen. Und … Grün? Das Gebäude schien voller Pflanzen zu sein.

Ein Gewächshaus … Mitten im Wald! Es musste jemandem gehören, auch wenn sie kein Licht sah. Wenn sie den Besitzer ausfindig machen könnte, würde sie dann zugleich ihrem Retter gegenüberstehen?

Nicht dass er groß zum Retter taugte! Schließlich hatte er sie einfach in der Kälte alleingelassen. Trotzdem würde sie ihm verzeihen – er musste ihr nur öffnen. Dann ist sofort alles vergeben und vergessen! Immerhin hatte er sie wieder zu einem Menschen gemacht. Sie klopfte ans Glas. »Hallo!«, rief sie. »Ich bin hier draußen! Bitte lass mich rein.«

Sie ging an der Wand entlang und klopfte dabei die ganze Zeit. Es musste doch eine Tür geben! Oder wenigstens ein Fenster, das sie aufdrücken konnte. Vielleicht könnte ich eins einschlagen … Aber dann würde auch die Winterkälte ins Gewächshaus gelangen. Und was würde der Besitzer davon halten?

Hätte er sie nicht sich selbst überlassen, müsste sie jetzt auch nicht zu verzweifelten Maßnahmen greifen!

Trotzdem würde sie lieber darauf verzichten. Es war ja wirklich keine Art! Und sie war nicht einmal sicher, ob sie Erfolg haben würde. Das Glas war dick, und sie fühlte sich so elend … Hatte sie überhaupt noch genug Kraft?

Das mache ich nur, wenn mir gar nichts anderes übrigbleibt.

Die Fensterwand wollte kein Ende nehmen. Weit konnte Terlu nicht sehen in dem Schneetreiben. Ihre Füße in den dünnen Bibliotheksschühchen schienen bei jedem Schritt tiefer einzusinken. Sie spürte ihre Zehen nicht mehr und ebenso wenig ihre Fingerspitzen. Hatte sie Erfrierungen? Noch nie zuvor war ihr so kalt gewesen. Auf ihrer Heimatinsel Eano war die Gefahr deutlich größer, sich einen Sonnenbrand zuzuziehen. Als Kind war sie immer barfuß durch den warmen Sand gelaufen, um ihre Cousins und Cousinen zu besuchen, und noch bei Sonnenuntergang hatte sie im Meer gebadet. Im Hochsommer konnte man auf Eano Muscheln backen, indem man sie auf Steine legte, und man musste viel trinken, sonst zog man den Zorn der Großväter auf sich, die an jeder Straßenecke Guaven- und wässrigen Honigbeerensaft verteilten. Jetzt schmeckte Terlu die Honigbeeren beinahe auf der Zunge. Ach! Das erinnerte sie an die Sommersonnenwende, wenn die Häuser mit Blumen geschmückt wurden und es auf der ganzen Insel nach Schokolade, Zimt und Zitrusfrüchten duftete! Alles wetteiferte darum, die köstlichsten Gebäckstücke für das Festessen zu backen …

Endlich bog sie um die Ecke des Gebäudes und sah – noch mehr Glas.

Ich muss da rein. Wenn ich noch länger hier draußen bleibe, verwandele ich mich wieder in eine Statue … Aber dieses Mal eine aus Eis. Wäre das eine ironische Wendung oder einfach bloß erbärmlich? Sie lachte, aber es klang ein wenig schrill.

Einen Stein würde sie brauchen! Oder einen kräftigen Ast … Suchend schaute sie sich um. Der Schnee hatte alles unter sich begraben, aber schließlich entdeckte sie einen abgebrochenen Kiefernzweig, der aus der weißen Decke hervorragte. Er war noch klebrig vom Harz. Sie schleppte ihn zur Fensterwand und begutachtete sie. In der Mitte waren die Scheiben sicher am zerbrechlichsten.

»Es tut mir leid«, sagte sie zu ihrem unbekannten Gastgeber. »Wirklich. Ich räume wieder auf, das verspreche ich!«

Dann schwang sie den Ast gegen das Glas.

Volltreffer! Sie spürte die Erschütterung in den Armen, aber die Scheibe zerbrach nicht. Kurz musste sie verschnaufen. Sie fühlte sich, als hätte sie ewig keinen Muskel gerührt – was ja auch der Fall war. Erneut wuchtete sie den Ast in die Höhe und versuchte es noch einmal.

Vergebens. Nichts blieb zurück – keine Delle, kein Kratzer.

Wieder und wieder hieb sie auf das Fenster ein, doch irgendwann hielt sie keuchend inne. Entweder war sie nicht stark genug, oder das Glas war kein echtes Glas, sondern in Wahrheit etwas anderes. Vielleicht war es auch verzaubert. Die Fenster des Kaiserpalastes in Alyssium waren es, das wusste Terlu. Und es hieß, wenn der Kaiser die ärmeren Viertel der Stadt besuchte, reiste er in einer Kutsche ganz aus unzerbrechlichem Glas. Vielleicht war das Gewächshaus mit einem solchen Spruch belegt worden. Das würde bedeuten … Ich brauche mich gar nicht weiter anzustrengen.

Sie ließ den Ast fallen und sackte gegen die Wand. Also blieb ihr nur, weiter nach einer Tür zu suchen. Sie musste weitergehen. Vielleicht nach einer klitzekleinen Pause …

Nein! Bleib in Bewegung.

Ihr war nicht mehr so kalt. Das mochte daran liegen, dass mittlerweile beinahe ihr ganzer Körper gefühllos war … Sie zwang sich, weiter durch den Schnee zu stapfen. Eine Hand zog sie über das Glas. Hätte sie das nicht getan, hätte sie nichts bemerkt.

In der Mitte der langen Fensterwand strichen ihre tauben Finger plötzlich über eine Klinke. Schwankend blieb sie stehen und starrte. Es dauerte eine Weile, bis sie vollends begriff, was sie sah.

Eine Tür!

Das war wirklich und wahrhaftig eine Tür!

»Geh auf, geh auf!«, flehte sie und drückte mühsam mit beiden Händen die Klinke nieder. Die Tür schwang nach innen, und Terlu stolperte hindurch. Sie sah nichts als sattes Grün. Ein Schwall Wärme schlug ihr entgegen. Sie drückte die Tür wieder zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Nach einem Augenblick begannen ihre Finger und Zehen zu stechen. Sie sank an der Tür hinab, setzte sich auf den warmen Kies. Hinter ihr wirbelte der Winterwind Schneeflocken vorbei. Sie hauchte sich die Finger an und rieb sie, bis der Schmerz nachließ. Dabei staunte sie das Sommergrün vor sich an.

»Wahnsinn!«, flüsterte sie.

Im Gewächshaus roch es nach feuchter Erde und unzähligen Blumen. Es war der Duft einer vollkommenen Sommernacht, wenn die Zikaden den Tenor über den Bass der Ochsenfrösche singen und der Mond rund und groß eine reiche Ernte verspricht. Bloß war kein Mond zu sehen, es war still, und der Schnee fiel lautlos auf die gläserne Kuppel. Ihre Analogie mochte ein wenig hinken; sie fand aber dennoch, dass es im Gewächshaus wundervoll roch.

Sie rappelte sich auf. Kies hing an ihren durchweichten Kleidern und klebte ihr an der nassen Haut. Sie klopfte sich ab und nahm dann ihre Hände in Augenschein. Die lavendelblaue Haut war von der Kälte gerötet, aber weiße Stellen sah sie keine. Die Finger taten kaum noch weh. Versuchsweise wackelte sie mit den Zehen, und auch die fühlten sich deutlich besser an. Ich bin nicht erfroren! Hurra!

»Hallo?«, rief sie. »Ist jemand hier?«

Die dichte Vegetation verschluckte ihre Stimme.

Sie folgte einem Kiespfad zwischen den Pflanzen hindurch. Noch nie hatte sie eine solche Überfülle gesehen! Rankengewächse kletterten an Säulen empor, üppige Büsche mit elefantenohrgroßen Blättern säumten den Pfad, und Bäume mit spindeldürren Stämmchen und Kronen aus farnkrautähnlichen Blättern ragten hoch auf. Inmitten des Grüns erspähte sie Blumen: glänzende rote Kelche mit leuchtenden gelben Staubgefäßen, weiße Blütentrauben und gelb-orange gestreifte Lilien. Bald hatte sie die Fensterwände vollkommen aus den Augen verloren. Nur wenn sie den Kopf in den Nacken legte, sah sie durch die Glaskuppel noch die Außenwelt. Zumindest sah sie weiß. Aber ob das nun der Schnee oder die Farbe des Himmels war, konnte sie nicht sagen.

Nur das Knirschen ihrer Schritte im Kies und das Quatschen ihrer durchweichten Schuhe war zu hören. Immer wenn der nasse Stoff ihres Kleids ihre Haut berührte, schauderte sie. Allerdings war die Temperatur hier drinnen viel höher; ihre Sachen würden sicher schnell trocknen.

Es wurde wärmer, je näher sie dem Herzen des Gewächshauses kam. Der Grund dafür war ein weißer Porzellanofen in Form eines Schneckenhauses, über dem die Luft waberte. Ringsum lief eine blau gekachelte Bank. Terlu fegte ein paar welke Blätter hinunter und setzte sich. Mit einem glücklichen Seufzen rückte sie näher an das Schneckenhaus.

Weder konnte sie eine Klappe entdecken, durch die man Holz hätte nachlegen können, noch roch sie Rauch. Ein magischer Ofen! Ungewöhnlich, aber unmöglich wohl nicht. Ha, eindeutig nicht unmöglich, denn er stand ja vor ihr!

Sie könnte sich auf der Bank zusammenrollen und schlafen. Zugegeben, ein paar Kissen wären schön … Und die Bank müsste mal richtig sauber gemacht werden. Sie war ziemlich staubig, und es lag noch mehr gefallenes Laub darauf und daneben. Anscheinend hatte hier lange niemand mehr gesessen. Ihr Blick wanderte über die wuchernden Pflanzen. Wann war das letzte Mal jemand vorbeigekommen?

Ihr wurde unwohl zumute.

Dieses riesige Gebäude konnte doch nicht völlig menschenleer sein, oder?

Terlu war keine Gärtnerin, aber sogar sie erkannte, dass die Büsche, Bäume und Kletterpflanzen verwildert waren. Die Vegetation war nahezu undurchdringlich, ein Flechtwerk voller Knoten, das allen verfügbaren Platz ausfüllte.

Was, wenn niemand hier ist? Wenn ich ganz allein bin?

Die Angst würgte sie. Ihr Herz jagte, und sie schnappte nach Luft. So lange hatte sie kein Gespräch mehr geführt, hatte nicht einmal Hallo zu jemandem sagen können … Niemanden berühren. Nie berührt werden. Und nun sollte sie ganz verlassen sein? Das kann nicht sein! Das Gewächshaus hatten sie vielleicht aufgegeben, aber jemand musste sie doch aufgeweckt …

»Rrrrau?«

Ein geflügelter Kater kam über die blau gekachelte Bank auf sie zugeschritten. Er musste hinter dem Ofen gelegen haben. Die leuchtend smaragdgrünen Schwingen hatte er auf dem Rücken gefaltet. Sein Fell war grau, und er hatte bernsteingelbe Augen. Bei ihr blieb er stehen und betrachtete sie.

»Guten Tag«, brachte sie hervor. »Was bist du für ein Schöner!«

Mit dieser Begrüßung schien der Kater einverstanden zu sein. Ohne Umstände stieg er auf ihren Schoß, knetete mit den Vorderpfoten ihre Oberschenkel, drehte sich einmal um sich selbst und ließ sich dann nieder. Kurz plusterten sich seine smaragdgrünen Federn auf, als er die Schultermuskeln entspannte.

»Oh, ah … Mach es dir nur bequem!«, sagte Terlu, bezaubert von seiner unerwarteten Huld. Sanft kraulte sie ihn zwischen den Ohren. Die schreckliche lähmende Furcht wich. Langsam beruhigte sich ihr Herz, und sie konnte wieder freier atmen. Sie fühlte sich nicht mehr, als könnte sie jeden Augenblick in tausend Stücke zerspringen. Das Fell des Katers war wie Seide. Sie lächelte, als er den Kopf schräg legte, damit sie besser an Wange und Hals herankam. »Sehr erfreut! Ich dachte schon, ich wäre ganz allein hier …«

Er schnurrte.

Kapitel 3

»Wie heißt du denn?«, fragte Terlu den geflügelten Kater.

Wenig überraschend antwortete er ihr nicht. Sie hatte noch nie von einer geflügelten Katze gehört, die sprechen konnte. In einem Reisebericht hatte sie einmal von einer fernen Insel gelesen, auf der es eine sprechende Eidechsenart geben sollte. Der Autor, ein Forscher, hatte die Behauptung aufgestellt, diese Eidechsen seien Propheten. Da er aber außerdem ein ganzes Kapitel der Lobpreisung eines halluzinogenen Pilzes gewidmet hatte, wurden seine übrigen Thesen recht kritisch gesehen.

»Füttert dich jemand?«, fragte sie weiter. »Wie ein Streuner wirkst du nicht.«

Der Kater räkelte sich, damit sie ihn auch unter den Flügeln streicheln konnte. Ihrer Erfahrung nach waren verwilderte Katzen nicht besonders zutraulich. Aber vielleicht war er von Menschen aufgezogen und dann zurückgelassen worden? Das würde erklären, wieso er so ausgehungert nach Zuwendung war.

»Ich kann dich gut verstehen. Mir geht’s da ganz genau wie dir …«

Nur deshalb hatte sie den Zauber gewirkt, der ihr Leben zerstört hatte: Sie war einsam gewesen. Das war schon der ganze Grund. Der ganze jämmerliche Grund. Sie hatte bestimmte Erwartungen an die Arbeit in der Bibliothek gehabt: Sie würde Gelehrten und Zauberern helfen, obskure Wissensbrocken aufzuspüren, neugierigen Besuchern Fragen beantworten und mit wesensverwandten Kollegen über ihre liebsten Bücher diskutieren. Sie hatte sich explizit und ausschließlich für eine Position mit Publikumsverkehr beworben. Doch die Gesetzeslage war noch verschärft worden, und bis sie ihr Studium abgeschlossen hatte, durfte kaum noch jemand die Werke in der großen Bibliothek von Alyssium einsehen. Nur wenige handverlesene Zauberer bildeten die Ausnahme, und diesen Großmeistern wurde selbstverständlich kein Frischling wie Terlu zur Seite gestellt. Der überarbeitete Bibliothekar, der für den zweiten Stock verantwortlich war, hatte sich entschuldigt und sie dem Magazin zugeteilt. Dort hatte sie schon froh sein können, wenn sie einmal in der Woche wenigstens kurz einen anderen Menschen zu Gesicht bekam. Die Bibliothek, so viel stand fest, zog keine geselligen Wesen an.

Terlu konnte vieles gut: Sie hatte in all ihren Seminaren geglänzt und bewiesen, dass sie eine akribische und effiziente Rechercheurin war. Als sie ihre Professoren um Referenzen gebeten hatte, hatten die sie einmütig für eine Position in der Bibliothek empfohlen. Sie beherrschte neun lebende Sprachen und konnte sechs tote lesen, einschließlich der komplizierten und nuancenreichen ersten Sprache. Darüber hinaus sprach sie fließend etliche Dialekte der Seefahrer-Clans, die ihr Leben auf dem offenen Meer verbrachten. Sie konnte eine ganz hervorragende Blaubeertorte backen (dank eines Kochbuchs, das sie in der Bibliothek gefunden hatte), eine Gitarre mit acht Saiten spielen (zumindest ein paar Akkorde) und eine einigermaßen treffende Skizze von allem anfertigen, was sie vor Augen hatte.

Eines konnte sie jedoch gar nicht gut: alleine sein.

Sie erzählte gern und hörte ebenso gern zu, aber sich selbst beim Erzählen zuzuhören, daran hatte sie nicht das geringste Interesse. Betrat sie ein Geschäft, ging sie nicht einfach mit einem Stück Butter und sechs Eiern wieder – sie kannte außerdem die Lebensgeschichten der anderen Kunden sowie der Angestellten bis hin zu der ihrer Cousins und Cousinen zweiten Grades. Doch was nützte eine solche Begabung in einem stillen, leeren Bibliotheksmagazin oder in einem verlassenen Gewächshaus?

Ich bin nicht allein! Der Kater ist schließlich auch noch da.

»Wie wär’s, wollen wir uns ein bisschen umschauen?«, fragte sie ihn. »Vielleicht finden wir jemanden. Oder zumindest was zu essen.«

Ihre Kleider waren schon fast trocken, und sie fror nicht mehr. Nun merkte sie plötzlich, dass sie hungrig war. Tatsächlich war »hungrig« gar kein Ausdruck! Ihr Magen ballte sich zusammen, als wollte er auf die anderen Organe einschlagen. Sie nahm den Kater auf den Arm und stand auf.

Prompt entwand er sich ihr, das Gefieder gesträubt, und sprang ihr auf die Schulter. Erschrocken machte sie einen Buckel. Was tat er da? Konnte er sich da oben halten? Offenbar! Er machte es sich sogar bequem: Im Nu lag er wie ein Fellkragen um ihren Nacken. Die Vorderbeine hingen über ihre linke Schulter herab, die Hinterbeine über die rechte.

Sie lachte und richtete sich wieder auf. Wie warm und weich er war! »Sind Katzen nicht eigentlich unnahbar?« Was für ein Glück, dass ihn solche Binsenweisheiten nicht zu kümmern schienen.

Er gähnte ihr ins Ohr.

»Was meinst du, wo geht’s lang?« Verschiedene Wege führten fort von dem weißen Schneckenhausofen mit der warmen blauen Bank und verschwanden in der dichten Vegetation. Über den dort war sie gekommen; er führte zu der Tür zurück. Am Ende jedes anderen Wegs mochte Hilfe warten und – hoffentlich – eine Erklärung. Vielleicht gehörte das Gewächshaus ja zu einem Anwesen. Oder sogar zu einem Dorf! Wenn sie der Sache nicht nachging, würde sie es vermutlich nie erfahren. Herumsitzen und Däumchen drehen wollte sie nicht. Schon im Wald war niemand aufgetaucht, um nach ihr zu sehen, und da wäre sie beinahe erfroren! »Sollen wir den linken probieren?«

Der Kater schlug ihr mit dem Schwanz ins Gesicht, und sie nahm das als Ja.

Der Kiespfad schlängelte sich zwischen großen buschartigen Pflanzen mit breiten Laubblättern hindurch. Hier und da waren sie mit orangeroten und blauen Blüten besetzt, die Vogelschwingen glichen. Hohe Gewächse mit dicken Stängeln überschatteten sie. Wieder machte der Pfad eine Biegung und endete dann überraschend in einer Sackgasse. Dort beschrieb er einen Kreis um einen großen Vogelbauer, dessen Tür weit offen stand. Der Käfig war nicht nur verschnörkelt, sondern noch dazu mit Juwelen besetzt. Ein Pfau hätte darin Platz gehabt. »Hast du den ehemaligen Bewohner etwa verdrückt?«, fragte sie den Kater.

Aber da hörte sie es über sich flattern. Auf einem Dachsparren hockte ein Vogel. Terlu staunte nicht schlecht: Ihm wuchsen Blumen aus dem Gefieder! Rosen schmückten die langen, schleppenartigen Schwanzfedern, eine Fliederblüte spross ihm aus dem Kopf, und Glockenblumen bedeckten seine Schwingen.

»Wer brächte es über sich, ein solches Wundertier zu essen? Da müssen wir wohl weitersuchen.«

Der Blumenvogel tirilierte, als sänge er eine Sopranarie. Mit seinem Lied wehte ein zarter Duft wie von einer frisch aufgeblühten Blume heran.

»Bezaubernd«, hauchte Terlu.

Der geflügelte Kater peitschte ihre Wange mit dem Schwanz, als wäre er empört, dass sie einem anderen Wesen ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie lachte und kraulte ihn unterm Kinn.

Dann ging sie zum Schneckenhausofen zurück und nahm den nächsten Pfad. Er wand sich länger durch das dichte Grün, aber schließlich gelangte sie an eine Glastür, die in filigranes Schmiedeeisen eingefasst war. »Siehst du? Ich wusste doch, dass wir irgendwo ankommen würden!«

Sie trat hindurch – und fand sich in einem weiteren Gewächshaus wieder, das ebenso groß war.

Hier drinnen war die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass sich Kondenswasser an den Scheiben gebildet hatte. Schweiß sammelte sich in ihren Armbeugen. Jetzt war sie dankbar, dass ihr Blusenkleid so dünn war. Die Hitze war drückend, und das Atmen fiel ihr schwer.

Unter der Glaskuppel dieses Gewächshauses hing eine leuchtende Kugel, die aussah, als bestünde sie aus geschmolzenem Gold. Eine nachgemachte Sonne! Terlu glaubte, jeden bekannten Gelbton darin zu erkennen, eine Palette von zarter Zitrone bis hin zu dunklem Bernstein. Libellen mit schimmernden, diamantenen Leibern und goldenen Flügeln umschwirrten die Kugel. Paarweise und in Trios tanzten sie einen stummen Reigen.

Die Pflanzen unter der falschen Sonne rochen wie Kohlsuppe, die schon zu lange vor sich hin köchelte. Terlu krauste die Nase, und der Kater nieste. Er setzte sich auf und kitzelte sie dabei mit seinen Federn im Nacken.

»Du hast recht: Es stinkt.«

Die Blumen waren allerdings ganz und gar außergewöhnlich: Da gab es riesenhafte scharlachrote Trompeten, Kaskaden herzförmiger gelber Blümchen und dunkelviolette Blüten mit Dornen so lang wie Terlus Arm. Die meisten wuchsen in Beeten, aber manche fluteten auch aus großen Töpfen. Zwischen ihnen flitzten die funkelnden Libellen umher, denen die feuchte Hitze nichts auszumachen schien. Wie schön sie waren!

Den Ärmel vor die Nase gedrückt, eilte Terlu durch das sumpfige Gewächshaus. Moos und Schlingpflanzen wucherten überall, und ringsum hörte sie Wasser tropfen. Der Kies schwamm; immer wieder musste sie über Pfützen springen. Aber der Weg war gerade, und bald erreichte sie mit dem Kater die Tür auf der anderen Seite, flankiert von zwei der orangeroten Trompetenblumen. Terlu riss die Tür auf und stürzte hindurch.

Das angrenzende Gewächshaus stand voller Farne. Es duftete wie ein Sommerwald und war viel kühler. Hier hing keine kleine Sonne in der Kuppel; dafür waren an den Dachsparren Ventilatoren angebracht. Ein leichter Wind ging. Auch die Farben waren gedämpfter und wirkten beruhigend. Wohin Terlu auch blickte, war sattes, dunkles Grün. »Viel besser!«, seufzte sie. Der geflügelte Kater schien ihrer Meinung zu sein: Er drapierte sich wieder über ihre Schultern.

Sie folgte einem Weg aus Schieferplatten in den unterschiedlichsten Grau- und Blauschattierungen. Wie in den anderen beiden Häusern verzweigte er sich bald, und die einzelnen Pfade verschwanden rasch außer Sicht, verschluckt von der dichten Vegetation. Nie hätte Terlu gedacht, dass es auf der Welt so viele Arten von Farnkräutern gab! Sie sah gefiederte Wedel, breite, zungenförmige Blätter, hier und da zwischen den Grüntönen ein wenig gedämpftes Rot, außerdem gelb gefleckte Exemplare und … Gute Güte, es war wirklich überwältigend!

Wieder rief sie, nur für alle Fälle: »Hallo? Ist hier irgendwer?«

Sie erwartete keine Antwort und bekam auch keine.

Die Stille lastete schwer auf ihr, und sie musste nach Atem ringen. Reg dich nicht auf, redete sie sich zu. Du wirst schon Menschen finden. Sie streichelte den Kater. Zumindest um ihn zu füttern, musste ja ab und an jemand vorbeikommen.

Sie blieb auf dem breitesten Weg, in der Hoffnung, er werde sie zum nächsten Ausgang führen. Die Ventilatoren summten schwach und übertönten das Flüstern des Schnees auf der Kuppel. Tatsächlich stand sie bald wieder vor einer gläsernen Tür, die wie die anderen auch von kunstfertig geschmiedetem schwarzem Eisen umrahmt war. »Wie viele Gewächshäuser gibt es hier denn noch?«, fragte sie. Sie war stolz, dass ihre Stimme kaum noch zitterte, wenn sie auch zu leise war, um das gewaltige Farnhaus zu füllen. Sie sprach lauter. »Und sind es nun mehrere Gewächshäuser? Oder ist das alles ein Gewächshaus mit vielen Zimmern? Und wenn das so ist … Heißen die dann Gewächszimmer? Nein, das hört sich falsch an. Es sind Gewächshäuser innerhalb eines größeren Gewächshauses. Vielleicht ein Gewächshauskomplex.« Sie hatte sich eingehend mit Linguistik beschäftigt, aber kein Text, den sie je gelesen hatte, hatte diese spezielle Frage behandelt. Sprachen waren voller Ungereimtheiten und Kuriositäten. Auch aus diesem Grund liebte sie das Fach.

Das nächste Gewächshaus war viel kleiner und niedriger. Links und rechts zogen sich an den Glaswänden Holzregale entlang, in denen Terrakottatöpfe standen. Die Temperatur war hier genau richtig. Sie erinnerte Terlu an die ersten Frühlingstage in Alyssium, wenn die Leute ihre Blumenkästen aus dem Winterschlaf weckten und ihre frisch gewaschenen Laken auf die Balkone hängten. Der geflügelte Kater schnurrte. Die meisten Töpfe waren leer, aber hier und da brach ein Spross aus der Erde wie eine kleine Faust, siegreich in die Luft gereckt. Neben einem solchen Topf lag eine Pflanzenschaufel.

Terlu blieb stehen und starrte sie an. Ihre Knie wurden weich. Sie musste lächeln. »Es ist jemand hier!«

Ein Gärtner.

Er hatte die Töpfe bepflanzt, mit Samen, Blumenzwiebeln oder wer weiß was. Die Gewächse hier waren nicht vernachlässigt oder gar überwuchert. Sie waren wohlbehütet.

»Hallo? Hallo!« Sie lief durch den breiten Gang zwischen den Regalen ins nächste Gewächshaus – und blieb überrascht stehen. Noch nie hatte sie so etwas Entzückendes gesehen.

Überall wuchsen Rosen!

Wohin sie auch schaute, kletterten sie aus ihren Töpfen, über Bögen, an Rankgittern und den Fensterwänden selbst empor bis in die gläserne Kuppel. Alle erdenklichen Farbtöne waren versammelt: weiß, champagner, himmelblau, violett, mauve, pink, rosa, gelb, apricot, orange, hellrot, dunkelrot und ein Rot so tief, dass es beinahe wie Schwarz aussah. Und dieser Duft … Berauschend! Terlu atmete ihn gierig ein, und beinahe war ihr, als triebe sie bei Sonnenuntergang auf Wolken dahin …

Der Kater nieste.

»Nun sei nicht so«, tadelte sie sanft. »Es ist doch wirklich schön hier!«

Er schwang sich in die Lüfte und flog zu den rosenumrankten Dachsparren auf. Sofort fehlte ihr seine Wärme, und sie wünschte sich sehnlich, er käme zurück. Er aber segelte mit weit aufgespannten smaragdgrünen Schwingen durch das Gewächshaus. Sie folgte ihm, den Kopf zurückgelegt, und war dabei so darauf bedacht, den Kater im Auge zu behalten, dass sie den Mann beinahe übersehen hätte.

Neben einem Rosenbusch mit zartrosa Knospen hockte er und schnitt tote Triebe zurück. Er kehrte ihr den Rücken zu. Neben ihm standen ein Korb voll dürrer Zweiglein und eine offene Tasche mit Gartengeräten darin: verschiedene Scheren, eine Pflanzenschaufel und noch einiges mehr.

»Oh!«, rief Terlu. »Hallo, hallo!«

Vor Schreck ließ er die Rosenschere fallen, die klappernd auf dem Schiefer landete. Er schnellte hoch und fuhr zu ihr herum.

Terlu dachte nicht lange nach, ob es angebracht war oder ihm überhaupt recht sein würde. Sie warf sich ihm an die Brust, schlang die Arme um ihn und drückte ihn ganz fest, die Wange an seinem Hemd. So lange hatte sie keinen Körperkontakt mehr gehabt! Sie klammerte sich an ihn und hatte erst jetzt wirklich das Gefühl, heil und lebendig zu sein. »Ich bin wach, und du bist kein Traum!«

Dann wurde ihr bewusst, dass sie gerade einen Fremden umarmte – und möglicherweise gegen seinen Willen! Bestürzt ließ sie ihn los und machte einen Satz zurück. Der Eindruck der Verbundenheit schwand. »Ach je, Entschuldigung! Das hätte ich nicht tun sollen … Es tut mir schrecklich leid. Es wird nicht wieder vorkommen!«

Er wirkte so benommen, als hätte sie einen Eimer kaltes Wasser über ihm ausgeleert.

Gut sah er aus! Es klebte ein wenig Erde an seiner goldenen Wange, die sie nur allzu gern abgewischt hätte … Aber sie widerstand der Versuchung. Er starrte sie ohnehin schon verwirrt und alarmiert an, und sie wollte ihn nicht in die Flucht schlagen.

Natürlich wusste sie, was er sah: eine dralle kleine Frau, pastellfarben und auf harmlose Weise hübsch – ein bisschen wie ein niedliches Tier. Ein Kaninchen, dachte sie und dann, mit einem stummen Seufzer: Nein, ein Backenhörnchen. Es war nicht zu leugnen. Schuld daran waren ihre vollen Wangen. Dazu die großen violetten Augen. Und als wäre das noch nicht genug, hatte sie Locken, braun wie das Fell eines Backenhörnchens, die ihr fröhlich ums Gesicht sprangen. Sie wirkte ganz entschieden nicht wie eine Frau, die uneingeladen bei jemandem hereinplatzte oder sich sonst wie unerwartet benahm. Deshalb waren die Leute auch immer besonders erschüttert, wenn sie aus der Rolle fiel.

»Es tut mir ehrlich leid«, sagte sie noch einmal. »Ich war nur … Ich hatte Angst, die Gewächshäuser seien verlassen, vielleicht die ganze Gegend oder sogar die Insel! Und ich könnte ewig suchen und würde trotzdem nie jemanden finden. Was hätte ich dann anfangen sollen? Wenn ich hier ganz alleine gewesen wäre, meine ich … Mal abgesehen von dem Kater. Der sehr nett ist! Und ausgesprochen flauschig …« Herrje, wie sie plapperte! Schnell schloss sie den Mund und bemühte sich, ihn freundlich anzulächeln.

»Wer bist du denn?«, fragte er.

Ich hätte ihn wirklich nicht einfach umarmen sollen. Das war nicht in Ordnung. Sollte sie sich noch einmal entschuldigen? Am liebsten hätte sie ihn wieder angefasst, um sich zu vergewissern, dass sie nicht fantasierte. »Ich heiße Terlu Perna. Ich bin Bibliothekarin vierten Ranges im zweiten …« Ehemalige Bibliothekarin vierten Ranges …

»Wo kommst du her?«

Sie deutete den Pfad hinunter. »Von draußen. Ich hatte großes Glück, dass ich eine Tür gefunden habe! Es ist nämlich furchtbar kalt, und darauf war ich ganz schlecht vorbereitet …«

Unversehens hellte sich seine Miene auf. »Ach, du bist es! Dann hat es geklappt!«

Verwirrt sah sie ihn an. Du bist es? Terlu hatte ihn noch nie zuvor gesehen! Sie hatte keine Ahnung, wer er war oder woher er sie kennen sollte. »Wie bitte?«

Er strahlte sie an, und sie konnte es kaum begreifen. Wann hatte das letzte Mal jemand so auf sie reagiert? Vor und während ihrer Gerichtsverhandlung hatte es Anklagen gehagelt, und die anwesenden Zauberer waren ihr nicht gerade mit Wohlwollen begegnet. Von der Galerie im Gerichtssaal hatten sie finster auf sie herabgeblickt. Doch dieser Zauberer schien sich ehrlich zu freuen, sie zu sehen! Und er gefiel ihr wirklich – umso mehr, je länger sie ihn anschaute. Er hatte rabenschwarzes Haar, durchzogen von goldenen Strähnen, die mit dem Goldton seiner Haut harmonierten. Seine Augen waren so grün wie die Schwingen des Katers. Offenbar hatte er sich vor ein paar Tagen das letzte Mal rasiert, und sein goldgefleckter Beinahe-Bart sah streichelweich aus.

»Kennen wir uns?«, fragte sie.

Er lächelte noch immer. »Du bist die Statue!« Er deutete auf sie. Seine Fingernägel waren kurz geschnitten und hatten einen Erdrand. Einen Zauberer mit Dreck unter den Nägeln hatte sie bisher noch nicht gesehen. Aber wenn er sie zurückverwandelt hatte, musste er einer sein … Oder war er das gar nicht gewesen? Aber sonst war sie keiner Menschenseele begegnet!

»Du bist tatsächlich aufgewacht«, sagte er.

»Ja.« Hätte sie das nicht sollen? Vielleicht war ein Fehler passiert, und deshalb war sie allein in Schnee und Kälte zu sich gekommen.

Er bestaunte sie. »Ich dachte nicht, dass es wirklich klappen würde.«

Sie spürte, wie ihr das Blut in die lavendelblauen Wangen schoss. Wenn das passierte, färbten sie sich immer magentarot … Nur daran zu denken, verschlimmerte die Sache. Ihr ganzes Gesicht schien zu glühen. Noch nie zuvor hatte jemand sie auf diese Weise angeschaut – als wäre sie ein wahrgewordener Wunsch. Seine Augen erinnerten sie an das unergründliche Meer.

»Also hast du den Bann von mir genommen? Ich danke dir von ganzem Herzen! Wirklich, ich … Ich bin dir sehr verbunden.« Nur durch eins ließe sich ihre Dankbarkeit noch steigern: indem er ihr einen Happen zu essen anbot. Oder sogar ein richtiges Mahl. Ein großes, mit einem halben Laib Brot dazu! Wäre es unhöflich, ihn darum zu bitten? Immerhin hatte er sie gerade erst wieder zum Leben erweckt … Sie war sich im Unklaren, wie man sich in einer solchen Situation zu verhalten hatte. Bekanntlich konnten Zauberer in Fragen der Etikette recht kleinlich sein. »Ich dachte, es sei für immer. Dass ich je wieder ein Mensch sein würde, habe ich nicht zu hoffen gewagt. Atmen zu können, riechen, sprechen! Du hast ja keine Ahnung, wie wundervoll es ist, nach so langer Zeit tief Luft zu schöpfen!« Sie unterbrach sich, ehe sie noch richtig loslegte und eine Lobeshymne auf ihre Nase, ihre Lunge und ihr Herz sang. Allein schon ihre Haut zurückzuhaben, war unbeschreiblich.

Er ging einmal um sie herum, als wollte er nachsehen, ob irgendetwas an ihr noch aus Holz war.

»Ähm …« Terlu schluckte schwer. Wie viel Zeit war vergangen? Welches Datum hatten sie? Das musste sie herausfinden, aber sie brachte die Frage nicht über die Lippen. Sie ahnte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde. »Wieso hast du mich erlöst?«, erkundigte sie sich stattdessen.

»Weil du eine Zauberin bist.«

»Ich doch nicht. Du bist ein Zauberer!«

Sein Lächeln verblasste. »Bin ich nicht.«

»Aber du hast mich zurückverwandelt! Nur ein Zauberer hätte das gekonnt.« Dem gemeinen Volk war die Ausübung von Magie strengstens untersagt. Das hatte ihre harte Strafe zweifelsfrei bewiesen! Den Kaiser kümmerte weder, was der Übeltäter bezweckt, noch, was er erreicht hatte. Zaubern durfte nur, wer eigens dazu ausgebildet war.

»Man hat mir den Spruch zukommen lassen, zusammen mit der Statue. Dir, meine ich! Du warst doch die Statue? Oder willst du mich etwa reinlegen?« Seine Miene hatte sich verdüstert. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und die Brauen zusammengezogen. Doch seine grünen Augen waren trotz ihres stechenden Blicks schön. Streng rief sie sich zur Ordnung. Er beschuldigte sie gerade der Betrügerei!

Wie sie das hätte anstellen sollen, war ihr schleierhaft. Aber es war auch einerlei! Es gab so viel, was sie wissen wollte. »Ja, ich war die Statue! Aber wer hat mich hergeschickt? Wer bist du, und wo sind wir? Nicht in Alyssium – ich wüsste es, wenn es in der Hauptstadt lauter riesige Gewächshäuser gäbe! Wie heißt diese Insel, und warum bin ich hier?« Jetzt sah er sie nicht mehr an, als wäre sie ihm Sonne und Mond zugleich. Sie war ein bisschen enttäuscht. Tatsächlich glich er einem wilden Bären, wenn er so grimmig dreinschaute. Einem hübschen goldenen Bären, der gar nicht zufrieden war. Sie räusperte sich. »Wenn ich fragen darf.«

»Du müsstest eigentlich wirklich Zauberin sein«, sagte der Gärtner.

»Es tut mir leid, aber das bin ich nicht.«

»Was bist du dann?«

»Bibliothekarin.«

»Oh.«

Sie starrten einander an. Gewöhnlich kann ich so was doch besser, dachte Terlu. Sie hatte es ganz falsch angepackt. Wäre ich ihm doch nicht gleich um den Hals gefallen! Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie würde noch einmal von vorn anfangen, sich richtig vorstellen und dann höflich eine Frage nach der anderen stellen …

Der schöne, wilde Gärtner hob knurrend den Korb und die Tasche mit den Gartengeräten auf. »Ganz gleich, wer du bist und wieso es dich hierher verschlagen hat, du hast viel durchgemacht. Ruh dich erst mal aus und iss was.«

Das klang ziemlich gut. Und es stimmte, sie hatte viel durchgemacht, aber …

»Mein Cottage steht ganz in der Nähe. Da kannst du bleiben, bis du, ähm … wieder aufbrichst.« Als wäre damit alles gesagt, wandte er sich ab und ging davon.

»Augenblick mal«, protestierte Terlu. »Wo willst du denn hin?« Aufbrechen soll ich? Wohin denn aufbrechen? Wollte er sie sich selbst überlassen?

»Ich, ähm … Ich muss erst mal nachdenken.« Er legte noch einen Zahn zu. »Es ist so … Ich muss los. Auf mich wartet Arbeit.«

Terlu wirkte ungeheuer harmlos, das wusste sie genau. Sie musste der am wenigsten bedrohliche Mensch im ganzen Mondsichel-Inselreich sein. Trotzdem hätte man glauben können, der Gärtner liefe vor ihr davon. Aber das kann nicht sein. Nein, er wollte sich bestimmt bloß nicht mit ihr befassen! Sie war keine Zauberin, und daher hatte er kein Interesse an ihr. Wieder war sie an einem Ort gestrandet, wo sie nicht gebraucht wurde. Sie gehörte nicht hierher. Es war dasselbe wie auf ihrer Heimatinsel, dasselbe wie in der Bibliothek. Nur noch schlimmer, weil sie nicht einmal wusste, wie sie in diese Lage geraten war.

»Bitte warte doch!«, rief sie ihm nach. »Ich verstehe immer noch nicht, was eigentlich passiert ist! Was mache ich hier? Wer hat mich hergebracht? Und wo bin ich überhaupt? Ich begreife das alles nicht …«

»Ich auch nicht!«, rief er zurück. Dann bog er um eine Kurve. Sie blieb allein zurück und starrte hilflos die Rosen an.

Kapitel 4

Der Kater maunzte von oben und riss Terlu aus ihrer Erstarrung. Sie eilte dem Gärtner nach. »So warte doch!« Hinter der Kurve gabelte sich der Schieferweg: Fünf Pfade schlängelten sich davon, jeder überhangen von einem Baldachin aus Rosenzweigen.

Hatte der Gärtner sie einfach stehenlassen? Wer tat denn so was?

Er hatte gesagt, dass sie sich in seinem Cottage ausruhen konnte. Das war auch wirklich nett von ihm. Bloß wusste sie nicht, wie sie dorthin kommen sollte! Geschweige denn, wer er eigentlich war.

»Bitte komm zurück! Ich weiß ja nicht mal, wie du heißt!« Willkürlich wählte sie einen Pfad, musste aber bald erkennen, dass es der falsche war: zu viele dornige Ranken überwucherten ihn. Den konnte der Gärtner nicht genommen haben. Sie wirbelte herum und rannte zurück zur Kreuzung. »Du kannst doch arbeiten, während wir reden! Oder ich packe mit an … Ich weiß, wie man sich nützlich macht! Meine Eltern würden dir jetzt die Geschichte erzählen, wie ich mit drei Jahren die Hühner vor dem Sturm gerettet hab. Die erzählen sie ständig … Das war so: Ich wollte helfen, aber niemand hatte mir eine Aufgabe gegeben. Also habe ich die Hühner ins Haus geholt. Eins nach dem anderen habe ich reingeschleppt, obwohl die alle furchtbar gezappelt haben … Meine Eltern sagen, sie werden den Anblick nie vergessen: die wild entschlossene Dreijährige mit dem zeternden Geflügel in den Armen. Hör mal! Du kannst doch nicht jemanden wieder zum Leben erwecken und dann weglaufen!«

Aber ebendas hatte er getan. Geflüchtet war er, als wäre er ein Verbrecher und sie eine kaiserliche Ermittlerin. Sie nahm den nächsten Pfad, der vor einer üppig überrankten Laube endete. Eine Flut weißer Rosen ergoss sich über dunkelgrüne Blätter. Der Anblick war atemberaubend schön, half ihr aber nicht weiter.

Er hat mich abgehängt. Sie war den Tränen nah. Das sah ihr gar nicht ähnlich: Unter normalen Umständen setzte sie eher ein Lächeln auf und stürmte weiter voran. Aber normal war schon lange nichts mehr gewesen, und nun quälten sie Hunger, dumpfe Schmerzen und eine bleierne Müdigkeit. Wäre sie doch in der Bibliothek! Auch wenn die noch so still und leer war … Sie könnte sich mit einer Tasse heißer Schokolade an einen der großen Kamine setzen. Ihre Augen brannten. »Nimm dich mal ein bisschen zusammen, Terlu«, sagte sie laut. »Jetzt weißt du wenigstens, dass du hier nicht alleine bist!«

Allerdings war das kein großer Trost. Bisher hatte sie nur diesen Gärtner getroffen, und der hatte gar nicht schnell genug vor ihr davonlaufen können.

Die Stille kam ihr laut vor. Sie musste an die Abstellkammer denken und umklammerte ihre Oberarme, erleichtert, warme Haut unter den Fingern zu spüren und kein poliertes Holz.