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Der Band erzählt die fantastische Geschichte eines kleinen Wanderzirkus von tierischen Protagonisten, die ihre Kunststücke für die Tiere der umliegenden Höfe zur Aufführung bringen. Beatrix Potter (1866–1943) verfasste dieses Buch, nachdem ihre Erfolge als Kinderbuchautorin es ihr ermöglicht hatten, sich ab 1905 als Farmerin und Schafzüchterin im nordenglischen Lake District niederzulassen. Von dieser arkadischen Landschaft leben die tierischen Geschichten des Fairy Caravan, weswegen sich ihr Reiz nicht nur Kindern und ihren Vorlesern vermittelt, sondern auch Kennern der Gegend. Ein Buch zum Vorlesen und dann zum Hinfahren ... Der lesefreundlich gestaltete erste Teil des Bandes, der auch die Originalillustrationen Potters enthält, wird ergänzt durch zahlreiche Anmerkungen, ein Pflanzen- und Ortsverzeichnis sowie ein ausführliches Nachwort des Übersetzers.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Beatrix Potter
The Fairy Caravan – Der wandernde Zirkus der sprechenden Tiere
Ins Deutsche übersetzt, annotiert und mit einem Nachwort versehen von Dietrich H. Fischer
ISBN (Print) 978-3-96317-397-4
ISBN (ePDF) 978-3-96317-964-8
ISBN (ePUB) 978-3-96317-965-5
Copyright © 2025 Büchner-Verlag eG, Bahnhofstraße 5, 35037 Marburg. Kontakt: [email protected]
Bildnachweis Cover und sämtliche Illustrationen in The Fairy Caravan: Beatrix Potter
Grundlage der Übersetzung: The Fairy Caravan by Beatrix Potter, Frederick Warne & Co. LTD. London and New York. Copyright 1929 by the Author, New Edition, July 1952, Reprinted, September 1952, Reprinted, Oktober 1952.
Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und das Data- und Textmining.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
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[Widmung des Übersetzers]
Für David, Nelly und Tim
Inhalt
Vorwort1. Kapitel: Tuppenny2. Kapitel: Der reisende Zirkus3. Kapitel: Wanderndes Feldlager4. Kapitel: Pony Billy im Tierasyl5. Kapitel: Der Laden der Fräulein Pussycat6. Kapitel: Kleine Maus7. Kapitel: Frühlingszeit im Ort der Vögel8. Kapitel: Der Zwergelefant9. Kapitel: Am Wilfin-Bach10. Kapitel: Die Schafe11. Kapitel: Habbitrot12. Kapitel: Über die Furt13. Kapitel: Die Obstwiese von Codlin Croft14. Kapitel: Demerara-Zucker15. Kapitel: Pony Billys Suche16. Kapitel: Die Wirkung von Giftpilz-Törtchen17. Kapitel: Feen-Schuhe für die Pferde18. Kapitel: Die Wälder im Mondlicht19. Kapitel: Mary Ellen20. Kapitel: IkyShepsters Schauspiel21. Kapitel: Der Retriever, der ein Tierarzt ist22. Kapitel: Der Cuckoo-Brow-Weg23. Kapitel: Die Fee in der EicheNachwort des Übersetzers1. Zur Entstehungsgeschichte von The Fairy Caravan2. Probleme und Gedanken bei der ÜbersetzungDer TitelDie AnnotationenDie Fülle der englischen NamenDie Wiedergabe der Tierlaute durch LautmalereiDie Kinderreime und die Lieder3. Zur Kritik und Würdigung des BuchesNotizen zu Beatrix Potters gereimten Einlagen1. Zu Reimen im Vorwort2. Zu Reimen in Kap. 9: Am Wilfin-Bach3. Zu Reimen in Kap. 14: Demerara-Zucker4. Zu Reimen im Kap. 17: Die Feen-Schuhe für die Pferde5. Zu Reimen in Kap. 20: IkyShepsters SchauspielOld Mother Hubbard and her DogThe House that Jack built6. Zu Reimen in Kap. 22: Der Cuckoo-Brow-WegMadam will you walk, madam will you talk …I saw a little bird, coming hop, hop, hop!AnmerkungenLiteraturEnglische Textbasis zu ›The Fairy Caravan‹Weitere Publikationen von Beatrix Potters WerkenBriefeBiografische Literatur mit explizitem Bezug zu ›The Fairy Caravan‹Weitere Literatur zu Beatrix PotterSonstigesAnhang 1: Alphabetisches Verzeichnis der meisten im Buch erwähnten Namen von Blütenpflanzen, Farnen und SträuchernVorbemerkungLiteratur zum PflanzenverzeichnisAnmerkungen zu Marta McDowells Tabelle in ›Beatrix Potter’s Gardening Life‹Anhang 2: Kommentiertes Verzeichnis der im Buch genannten sowie in den Zeichnungen gezeigten OrteEinführungA. Keswick und HawksheadB. Orte in den Erzählungen der Schafe (Kapitel 10)C. Zentrale Orte des Zirkus bei Near SawreyC1. Wilfin-BachC 2. Pringle-WaldC 3. Codlin-Croft-FarmC 4. In und um SawreyC 5. Cuckoo-Brow-WegD. Orte südlich von Near SawreyE. Weitere in den Zeichnungen gezeigte OrteF. Sonstige genannte OrteWo geht es weiter hin?Kartenmaterial[Widmung der Originalfassung]
Für Henry P.
Als ich wandert’ allein, und sprach auf mich ein, da sagte zu mir mein Ich –
Im Wechsel mancher Jahreszeit sind diese Geschichten mit mir gegangen und haben zu mir gesprochen. Sie waren nicht dafür gedacht, dass man sie druckt. Ich habe die Ausdrucksweisen unseres alten nordenglischen Dialektes darin belassen. Ich schicke sie ab auf das Drängen hin von Freunden jenseits des Meeres.
Beatrix Potter.
Im Land des Grünen Ingwers1 gibt es eine Stadt mit Namen Marmalade2. Ihre Einwohner bestehen einzig und allein aus Meerschweinchen. Es gibt sie in allen möglichen Farben, aber in zwei Sorten: Die gewöhnlichen oder Hausmeerschweinchen sind in der Überzahl. Sie haben kurze Haare, sie laufen piepsend und geschäftig umher. Die Meerschweinchen der anderen Sorte heißen abessinische Meerschweinchen3. Sie haben langes Haar und Tasthaare und sie gehen aufrecht auf ihren Zehen. Die gewöhnlichen Meerschweinchen bewundern und beneiden die Tasthaare der abessinischen. Sie würden alles dafür geben, wenn sie ihr eignes kurzes Haar lang wachsen lassen könnten. So gab es Aufregung und ein Gepiepse unter den kurzhaarigen Meerschweinchen, als die Herren Ratte4 und Ratscher5, Haar-Spezialisten, Hunderte von Prospekten per Post verschickten, in denen ihr neues Elixier beschrieben wurde.
Die abessinischen Meerschweinchen, die ja kein Haarwuchsmittel brauchten, waren nicht erfreut über diese Art Werbung, sie fanden das Getue darum lästig.
In der Nacht zwischen dem 31. März und dem 1. April kamen die Herren Ratte und Ratscher in Marmalade an. Sie bepflasterten die Mauern der Stadt mit ihren Plakaten und stellten auf dem Marktplatz eine Bude auf. Am nächsten Morgen wurden dort Mengen von elegant verschlossenen Flaschen feilgeboten. Die beiden Ratten standen vor ihrer Bude und verteilten Handzettel, in denen die wunderbaren Wirkungen ihres neuartigen Heilmittels beschrieben waren. »Kommt und kauft! Kommt und kauft! Kommt und kauft! Kauft und probiert es aus auf einem Türknauf! Wir garantieren, dass es Zwiebeln reichlich wachsen lässt«, so riefen die Herren Ratte und Ratscher. Gruppen von kurzhaarigen Meerschweinchen umschwärmten den Verkaufsstand.
Die abessinischen Meerschweinchen rümpften die Nasen und gingen auf ihren Zehenspitzen vorbei. Sie merkten an, dass Herr Ratte etwas kahlköpfig sei. Die kurzhaarigen Meerschweinchen drängten sich weiterhin um den Stand, piepsend und Fragen stellend, aber sie zögerten, etwas zu kaufen. Der Preis einer sehr kleinen Flasche, die nur zwei Fingerhut voll enthielt, war zehn Pfefferkörner.
Zusätzlich zu diesem hohen Preis erschien es auf unangenehme Weise zweifelhaft, woraus denn der Flascheninhalt gemacht sei. Die abessinischen Meerschweinchen verbreiteten böswillige Berichte, dass er aus Nacktschnecken hergestellt sei. Herr Ratscher widersprach energisch solchen Verleumdungen und versicherte, dass er aus dem reinsten arabischen Mondschein destilliert sei. »Und Arabien liegt nahe bei Abessinien«, sagte Herr Ratscher mit einer Handbewegung, die auf ein besonders langhaariges abessinisches Meerschweinchen zeigte. »Kommt und kauft eine Probeflasche, nur zu! Hört euch die Dankesschreiben von unseren Kunden an!«, sagte Herr Ratte und las dann eine Reihe von Briefen laut vor. Dagegen widersprach er nicht ausdrücklich einem Gerücht, das die Runde machte, über einen berühmt-berüchtigten Adligen, der eine große Flasche des Heilmittels gekauft habe, weil die erste seiner acht Ehefrauen ihn dazu überredet hatte. Dieser Adlige – so ging die Geschichte – habe das Haarwuchsmittel mit bemerkenswertem Ergebnis benutzt: Ihm sei ein großartiger Bart gewachsen. Allerdings war der Bart blau. Dies mag in Arabien nach der Mode sein, aber die kurzhaarigen Meerschweinchen hatten Zweifel. Die Herren Ratte und Ratscher riefen sich heiser. »Kommt, kauft eine Probeflasche zum halben Preis und probiert sie aus als Dressing für den Salat! Die Gurken werden von selbst wachsen, während ihr das Haaröl und den Essig vermischt! Kauft eine Probeflasche, nur zu!«, so riefen die Herren Ratte und Ratscher. Die kurzhaarigen Meerschweinchen beschlossen, eine der kleinsten Flaschen zu kaufen, und die sollte an Tuppenny ausprobiert werden.
Tuppenny6 war ein kurzhaariges Meerschweinchen, das etwas vernachlässigt aussah. Er litt unter Zahnschmerzen und Frostbeulen und hatte niemals viele Haare besessen, nicht mal von den kürzesten. Sein Haar war dünn und ungleichmäßig gewachsen. Es ist unklar, ob dies ein Ergebnis der Frostbeulen oder einer mangelhaften Heilbehandlung war. Auf Tuppenny war die Wahl gefallen, aus welchem Grund auch immer. Offensichtlich war er ein geeignetes Versuchskaninchen.
»Sein Aussehen kann kaum schlechter werden, vorausgesetzt, dass er sich nicht blau färbt«, sagte sein Freund Henry P. »Lasst uns ein Fläschchen kaufen und es anwenden wie angegeben!«
So kauften Henry P. und neun andere Meerschweinchen eine Flasche und rannten als piepsende Gruppe zu Tuppennys Haus. Unterwegs überholten sie Tuppenny, der auf dem Heimweg war. Sie erklärten ihm, dass sie ihm aus Mitgefühl eine Flasche Mondschein gekauft hätten, um sein Zahnweh und seine Frostbeulen zu heilen, und dass sie ihn einreiben würden, während Frau Tuppenny außer Haus wäre.
Tuppenny war zu bedrückt, um darauf zu antworten, er ließ sich wegführen. Henry P. und die neun anderen Meerschweinchen gossen die ganze Flasche über Tuppenny aus und legten ihn ins Bett. Sie trugen Handschuhe, als sie das Mittel benutzten. Tuppenny war es ganz recht, dass er ins Bett kam, er fühlte sich schwach und fröstelte.
Bald kam Frau Tuppenny herein; sie beschwerte sich wegen der Bettlaken. Henry P. und die anderen Meerschweinchen gingen fort. Nach dem Tee gegen halb sechs kamen sie zurück. Frau Tuppenny sagte, dass nichts geschehen sei.
Die kurzhaarigen Meerschweinchen machten einen Spaziergang und schauten wieder herein um sechs. Frau Tuppenny wurde ausfällig und sagte, es habe sich nichts verändert. Gegen halb sieben erkundigten sie sich erneut. Sie sagte, Tuppenny sei es sehr heiß. Als sie das nächste Mal kamen, sagte sie, der Patient habe Fieber und fühle sich, als wenn ihm ein Schwanz wachse. Sie schlug ihnen die Tür vor der Nase zu und sagte, sie würde sie nun für niemanden mehr öffnen.
Henry P. und die anderen Meerschweinchen waren beunruhigt. Sie begaben sich zum Marktplatz, wo die Herren Ratte und Ratscher noch bei Lampenlicht versuchten, Flaschen zu verkaufen, und sie fragten ängstlich, ob es irgendein Risiko gebe, dass einem ein Schwanz wachse. Herr Ratscher brach in rüdes Gelächter aus und Herr Ratte sagte: »Keine Art von Schwanz außer Zöpfen auf dem Kopf!«
Während der Nacht packten die Herren Ratte und Ratscher ihre Bude zusammen und entfernten sich aus der Stadt Marmalade.
Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch versammelte sich eine Menge von Meerschweinchen an der Stufe vor Tuppennys Haustür. Immer mehr trafen ein, bis Frau Tuppenny herauskam mit einem Schrubber und einem Eimer voll Wasser. Auf Nachfragen aus respektvoller Entfernung sagte sie, Tuppenny habe eine unruhige Nacht gehabt. Sie wollte weiter nichts sagen, außer dass er seine Nachtmütze nicht mehr anbehalten könne. Mehr ließ sich nicht in Erfahrung bringen, bis glücklicherweise Frau Tuppenny entdeckte, dass sie nichts fürs Frühstück hatte. Sie ging aus, um eine Karotte zu kaufen.
Henry P. und eine Schar weiterer Meerschweinchen schwärmten ins Haus, sobald sie um die Straßenecke gebogen war. Sie fanden Tuppenny außerhalb des Bettes auf einem Stuhl sitzend und verängstigt dreinschauend. Wenigstens schien es so, dass es Tuppenny war, schaute er doch ganz anders aus. Sein Haar reichte über seine Ohren und die Nase. Und das war nicht alles, denn, während sie zu ihm sprachen, wuchs sein Haar hinunter bis auf seinen leeren Teller. Es wuchs beängstigend. Es war recht hübsches Haar in passender Farbe, aber Tuppenny sagte, er fühle sich unwohl, überall wund, als ob sein Haar von hinten nach vorn gekämmt werde, stachelig und heiß wie Nadeln und Reißzwecken und ganz und gar unbehaglich.
Und das war verständlich: Sein Haar – es wuchs und wuchs und wuchs, schneller und schneller und keiner wusste, wie das zu stoppen sei! Die Herren Ratte und Ratscher waren fort und hatten keine Adresse hinterlassen. Selbst wenn sie ein Gegenmittel besitzen mochten, gab es keinen Weg, an es heranzukommen. Den ganzen Tag über und an den folgenden Tagen hielt der Haarwuchs an. Frau Tuppenny schnitt es und schnitt es, stopfte Nadelkissen, Kopfkissenbezüge und Kopfkissen damit aus, aber so schnell, wie sie es beschnitt, wuchs es nach. Wenn Tuppenny ausging, stolperte er darüber und die ungezogenen kleinen Meerschweinchen liefen ihm nach und riefen »Alter Schnauzbart!«. Sein Leben wurde eine Last.
Dann fing Frau Tuppenny an, das Haar auszureißen. Die Wirkung der Essenz begann, allmählich nachzulassen – hätte sie sich doch nur etwas in Geduld geübt; aber sie war des Schneidens müde, also verlegte sie sich aufs Ausreißen. Sie zog so schmerzhaft und dreist, dass Tuppenny es nicht mehr aushielt. Er beschloss, wegzulaufen – weg vom Haarausreißen und von den Frostbeulen und den langhaarigen und kurzhaarigen Meerschweinchen, fort und weg, so weit weg, dass er nie mehr zurückkehren würde.
So kam es, dass Tuppenny sein Haus in der Stadt Marmalade verließ und allein in die Welt hinauswanderte.
In späteren Jahren hatte Tuppenny keine klare Erinnerung mehr an die Abenteuer, die er in der Zeit seines Weglaufens erlebt hatte. Es war wie ein schlecht zusammengewürfelter Traum, der sich in Morgensonne verwandelt und dann vergessen ist. Eine lange, lange Reise: laut, holpernd, schreckenerregend; er war zu verängstigt und hilflos, um irgendetwas von dem zu verstehen, das sich ereignete, bevor die Reise zu Ende war. Das Erste, woran er sich erinnerte, war ein Feldweg, ein steiler gewundener Weg, der stetig aufwärts führte. Tuppenny rannte und rannte, durch die Pfützen platschend mit seinen kleinen nackten Füßen. Der Wind blies ihm kalt entgegen. Er wickelte seine Hände in sein dichtes Haar und freute sich über die Wärme, die es seinen Ohren und seiner Nase spendete. Das Haar hatte aufgehört zu wachsen und seine Frostbeulen waren verschwunden. Tuppenny fühlte sich wie ein neues Meerschweinchen. Zum ersten Mal roch er die Bergluft. Was kümmerte es, ob der Wind kühl war, der von den Bergen blies. Der Weg führte zu einem weiten Anger mit kleinen Hügeln und Mulden und Gruppen von Büschen. Bald würden die kurz geschorenen Grasflächen fröhlich sein voller Wildblumen, selbst im April war es schon lieblich. Tuppenny fühlte sich, als könne er meilenweit laufen, doch es wurde bald Nacht. Die Sonne war dabei, frostig-orange unterzugehen hinter purpurnen Wolken – waren es Wolken oder waren es Berge? Er sah sich nach einem Unterschlupf um und erblickte Rauch, der hinter einigen Büschen des Sadebaumes aufstieg.
Tuppenny ging vorsichtig weiter und entdeckte ein seltsames Feldlager. Da standen zwei abgeschirrte Fuhrwerke; ein struppiges Pony graste nahebei. Eines der Fuhrwerke war ein zweirädriger Esels- oder Pferdekarren mit Plane oder Verdeck aus Segeltuch, das über metallene Rundbögen gezogen war. Das andere Fuhrwerk war ein vierrädriger Wohnwagen. Er war gelb gestrichen, mit roten Hervorhebungen. An den Seiten standen diese Worte in Großbuchstaben – »ALEXANDER-UND-WILLIAM-ZIRKUS«. Auf einem anderen Brett war gedruckt – »Der Zwergelefant! Das gelehrte Schwein! Der Siebenschläfer7 aus Salisbury! Lebende Iltisse und Wiesel!«
Der Wohnwagen hatte Fenster mit Musselin-Vorhängen wie bei einem Haus. Es gab eine Außentreppe zur rückseitigen Tür und ein Ofenrohr auf dem Dach. Eine Zeltplane, die an Lichtmasten befestigt war, schützte das Lager vor dem Wind. Der Rauch, den Tuppenny gesehen hatte, kam nicht aus dem Schornstein: Da gab es auf dem Boden inmitten des Lagers ein munteres Feuer brennender Knüppel.
Mehrere Tiere saßen daneben oder beschäftigten sich mit Kochen. Eines von ihnen war ein weißer West Highland Terrier8. Als er Tuppenny erblickte, begann er zu bellen. Das Pony hörte auf zu grasen und schaute umher. Ein Vogel, der im Gras auf und ab gelaufen war, flog auf das Dach des Wohnwagens.
Der kleine Hund kam bellend heran. Tuppenny drehte sich um und floh. Er hörte ein Kläffen und Grunzen9 und trippelnde Füße hinter sich. Er trat auf sein Haar und stürzte als ein piepsender Haufen.
Eine kalte Nase und eine warme Zunge untersuchten Tuppenny und drehten ihn um. Er starrte mit Schrecken auf einen kleinen Hund und ein kleines schwarzes Schwein, die ihn rundum beschnüffelten. »Was? Was? Was? Was ist das bloß für eine Sorte Tier, Sandy?« »Niemals etwas Ähnliches gesehen. Es scheint ganz aus Haaren zu sein! Wie nennst du dich, struppige Perücke?« »B-b-bitte Herr, ich bin keine struppige Perücke, ein struppiges Schwein, äh bitte, Herr, ich bin ein Meerschweinchen.« »Was, was? Ein Schwein? Wo ist dein Schwanz?«, sagte das kleine schwarze Schwein. »Bitte Herr, kein Schwanz, hatte ich nie – kein Meerschweinchen – kein Schwanz – Meerschweinchen haben keine Schwänze«, piepste Tuppenny in großer Angst. »Was? Was? Keine Schwänze? Ich hatte einen Onkel ohne Schwanz, aber die Ursache war ein Unfall.10 Trag ihn zum Feuer, Sandy, er ist kalt und nass.« Sandy hob Tuppenny behutsam hoch am Schlafittchen. Er hielt seinen eignen Kopf hoch und ringelte seinen Schwanz über dem Rücken, um nicht auf Tuppennys Haar zu treten. Paddy Pig11 flitzte voraus. »Was! Was! Wir haben ein neues langhaariges Tier gefunden! Leg mehr Holz aufs Feuer, Jenny Frettchen! Setz ihn ab neben der Siebenschläferin, Sandy, lass ihn sich seine Füße wärmen!«
Die als Jenny Frettchen12 Angesprochene war eine ältliche Person, ungefähr dreißig Zentimeter groß, wenn sie aufrecht stand. Sie trug eine Haube, ein braunes Stoffkleid und stets einen schmalen gehäkelten Überwurf. Sie füllte die Teekanne aus einem Kessel vom Feuer und reichte Tuppenny einen Becher heißen Melissentee und einen Bratapfel. Er fühlte sich sehr getröstet durch die Wärme des Feuers und durch die Freundlichkeit aller. Auf Befragen sagte er, sein Name sei »Tuppenny«, aber er schien vergessen zu haben, wo er herkam. Er erinnerte sich nur vage daran, dass er Kummer mit seinem Haar gehabt hatte.
Die Zirkusgesellschaft bewunderte das Haar außerordentlich. »Es ist wirklich fa-bel-haf-tig«, sagte die Siebenschläferin13, während sie ihre kleine rosa Hand ausstreckte und eine feuchte schmutzige Locke berührte. »Nimmst du Haarklammern?« »Ich fürchte, es tut mir leid, ich habe keine«, piepste Tuppenny, sich entschuldigend. »Lass uns für Haarklammern sorgen – Haar – Klammern«, sagte die Siebenschläferin, in Tiefschlaf fallend. »Ich will gehen und morgen welche holen, wenn du mir deine Geldbörse leihst«, sagte IkyShepster14, der Star, der im Begriff war, ein Loch in die Grasnarbe zu hacken, um etwas zu verstecken. »Du wirst nichts dergleichen machen. Bring mir meinen Teelöffel zurück, bitte«, sagte Jenny Frettchen. Der Star zwitscherte und lachte und flog auf das Dach des Wohnwagens, wo er zur Nacht sein Quartier hatte.
Die Sonne war untergegangen. Das rote Licht des Feuers tanzte und flackerte im Rund des Feldlagers. Das Pony döste neben dem Wohnwagen, seinen langen Schweif träge hin und her schwingend. Sandy lag ausgestreckt vor dem Feuer, hechelnd wegen der Hitze. Er beobachtete Tuppenny mit seinen hellen braunen Augen durch seine zotteligen weißen Augenbrauen hindurch. »Tuppenny, wo wirst du hingehen?« »Ich habe es vergessen.« Was hast du vor, was willst du tun?« »Ich weiß es nicht.« »Lass ihn in der Eselskarre mitfahren«, sagte Pony Billy; das waren die ersten Worte, die er gesprochen hatte. »Tuppenny, willst du mit uns kommen? Du sollst deinen Anteil Spaß haben und Pfefferkörner und Kandiszucker. Komm mit uns und schließ dich dem Zirkus an, Tuppenny!«, riefen all die kleinen Tiere. »Ich glaube, das würde ich gern, ja bitte, danke euch«, piepste Tuppenny schüchtern. »So ist’s recht, so ist’s recht! Was! Was!«, sagte das kleine schwarze Schwein. »Ein Glück, dass du uns heute gefunden hast; morgen werden wir über alle Berge und weit weg sein.«
»Wach auf, wach auf! Xarifa Siebenschläferin! Mach dich in deine Schlafkiste. Und du Tuppenny sollst dich in diesem Deckelkorb schlafen legen. Gute Nacht!«
Tuppenny schlief sofort ein und schlief viele Stunden. Er erwachte im Dunkeln und stieß sich den Kopf am Deckel des Korbes. Die Pferdekarre ruckte und rumpelte. »Erschrick dich nicht!«, sagte eine freundliche dünne Stimme aus einem benachbarten Nistkasten, »wir wechseln nur unser Lager. Schlaf wieder – schlaf –!«, sagte die Siebenschläferin. Tuppenny hörte auf zu piepsen. Kurz darauf gab es einen noch heftigeren Ruck. Tuppenny quiekte laut. Die Karre hielt an und das schwarze Schwein zog den Segeltuchvorhang des Verdecks zurück. »Was? Was? Was? Quieken! Piepsen? Um drei Uhr morgens? Du wirst die Siebenschläferin aufwecken!« »Bitte – bitte, Herr Paddy Pig, ich träumte, ich war auf einem Schiff.« »Was? Was? Ein Schiff? Seekrank, seekrank? Ich bin es nur, der den Karren zieht. Schlaf gleich wieder ein, kleiner Meerschweinmann!« Gehorsam kuschelte sich Tuppenny in sein Heubett.
Als er wieder aufwachte, war helles Tageslicht und ein strahlender, windiger Morgen. Die Wohnwagengesellschaft lagerte gemütlich auf ebener Rasenfläche bei einem alten Steinbruch. Es gab einen Halbkreis von hohen, grauen Felsen, darüber Besenginsterbüsche, die sich im rauschenden Ostwind rasch hin und her bewegten. Weiße Wolken jagten darüber hin und Jenny Frettchens Feuer rauchte und spuckte, obwohl es unten im Steinbruch relativ ruhig war. Am Fuß der Felswand hatten die Großen Leute15 viele Jahre lang Abfall hingekippt, alte Töpfe und Pfannen, Konservendosen, Marmeladenbehälter und zerbrochene Flaschen. Jenny Frettchen hatte einen Feuerplatz mit Steinen gebaut. Sie war dabei, in einer alten Bratpfanne und einigen Sardinendosen zu kochen; vielmehr probierte sie aus, welche Dosen wasserdicht waren, um so eventuell einen Vorrat an Küchenutensilien zum Mitnehmen zu finden. Paddy Pig rührte das Porridge fürs Frühstück. Pony Billy graste an der Böschung des Steinbruchs im hohen Gras. Sandy war nirgends zu sehen.
»Wach auf! Wach auf! Xarifa!«, pfiff der Star. »Wach auf, neues langhaariges Tier! Meine Güte! Was für ein Haarwuschel, er ist voller Grassamen!« »Was, was! Du aufdringlicher Vogel! Sein Haar ist schön! Das wird eine Menge Leute anlocken, wenn er herausgeputzt ist«, sagte Paddy Pig, während er heftig rührte.
»Wenn ich solches Haar hätte, könnte ich Dornröschen spielen!«, sagte die Siebenschläferin. Sie saß auf den Stufen zum Wohnwagen, wusch schnell Gesicht und Hände und säuberte ihr seidig glänzendes, maronenfarbiges Fell. Sie hatte schwarze, perlenartige Augen, sehr lange Tasthaare und einen langen, pelzigen Schwanz mit einer weißen Spitze; sie war eine äußerst possierliche Person, aber schlafsüchtig. »Madam, du schläfst und du bist schön!«, sagte Paddy Pig, wandte sich um und verbeugte sich tief mit dem hölzernen Rührstock in der Hand. Die kleine, alte Siebenschläferin lachte, bis sie wie Götterspeise wackelte. »Lass es gut sein, Tuppenny, ich werde es für dich bürsten. Wo ist Sandy?« »Fort, um eine Geigensaite zu kaufen, fort, um feine Kleider für Tuppenny zu kaufen«, pfiff der Star. »Ich will hoffen, er erinnert sich an die Haarklammern. Hast du einen Taschenkamm, Tuppenny?« »Ich habe keine Tasche, keinen Kamm, keinen Kamm, Taschenkamm hab ich vergessen.« »Du scheinst die meisten Dinge vergessen zu haben, Tuppenny«, sagte Pony Billy. »Du kannst dir meinen Striegel ausborgen, wenn er nicht zu groß ist.« »Ich fürchte, er wird ihn kratzen, Pony William, aber wir sind dir zu Dank verpflichtet. Komm Tuppenny, hol dir einen Porridge-Napf und setz dich neben mich!«, sagte Xarifa. Tuppenny war ziemlich schweigsam während des Frühstücks. Er schaute unentwegt zu den großen Druckbuchstaben auf dem Wohnwagen. Er zeigte auf sie mit seinem hölzernen Löffel. »Xarifa«, flüsterte er, »ist er voller Iltisse?«. Paddy Pig rollte sich auf dem Boden vor Lachen. »Wo ist der Zwergelefant?« »Das ist ein Geheimnis«, sagte Jenny Frettchen. »Hier, IkyShepster, hilf mir aufräumen. Xarifa wird den ganzen Morgen beschäftigt sein, die Verfilzungen auszukämmen.«
So also begann sie mit dem Kämmen von Tuppennys Haar, was dann zur täglichen Aufgabe wurde. Zuerst waren da ein Ziehen, ein Zupfen, ein Quieken, einige hoffnungslose Verfilzungen mussten mit Xarifas kleiner Schere herausgeschnitten werden. Aber nachdem das Haar einmal durchgekämmt war, konnte es leicht in Ordnung gehalten werden. Das Bürsten wurde ein Vergnügen für die beiden kleinen Friseure: Tuppenny kämmte vorne und Xarifa hinten. Immer wenn das Kämmen zum Stillstand kam, schaute Tuppenny über seine Schulter und entdeckte, dass Xarifa eingeschlafen war.
Sie erzählte ihm Geschichten, um sich wachzuhalten, und sie beantwortete seine vielen Fragen. »Wer spielt die Fiedel, Xarifa?« »Paddy Pig. Sandy spielt Dudelsack und beide können Stepptanz. Paddy Pig tanzt Jigs und SandyReels16 und alle von uns tanzen Kontertänze. Nein, nein, ich bin nicht zu alt und dick!«, sagte Xarifa lachend. »Ich kann ›Hunsdon House‹17 tanzen und ich kann ein Menuett tanzen mit Belinda Waldmaus18. Vielleicht tanzen wir heute Abend, aber es ist nicht viel Platz im Steinbruch. Wir werden bald wieder weiterziehen.« »Ziehen wir immer nachts weiter, Xarifa? Oh! Oh! Das tut weh!« »Tuppenny, ich muss das abschneiden, gib mir meine Schere. Wenn wir auf den Chausseen reisen, bewegen wir uns gewöhnlich nachts fort; sehr wenige von den Großen Leuten sind dann unterwegs.«
»Würden sie uns jagen, Xarifa?« »Nein, ganz bestimmt nicht! Sie können uns nicht sehen, solange wir Farnsamen in unseren Taschen haben.« »Ich habe keine Tasche.« »Es ist leicht, eine kleine Packung Farnsamen in dein Haar zu flechten, wie bei Pony Billy. Er trägt eines in seiner Mähne in einer Haarflechte, die wir Hexen-Steigbügel19 nennen. Einmal erlebte er allerdings ein Abenteuer, als er seinen Farnsamen verlor.« »Ich habe ihn nicht verloren. Er wurde mutwillig gestohlen«, sagte Pony William schnaubend; er graste in ihrer Nähe. »Auf jeden Fall war er nicht unsichtbar; er hatte keinen Farnsamen, so konnten ihn die Großen Leute sehen. Nun sitz still, Tuppenny, ich bin gleich damit fertig, dein Haar zu kämmen, und du sollst die Geschichte zu hören bekommen! Allerdings musst du verstehen, dass ich nicht gesehen habe, wie es geschah. Ich reise nicht mit dem Zirkus, wenn Winterwetter ist. Dann mache ich mich auf, um bei den Eichenleuten20 zu leben.« »Wer sind die, Xarifa?« »Nicht alles auf einmal! Halt deinen Kopf still und hör zu!«