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Sie wollte im Rampenlicht stehen – jetzt bringt ihr Verschwinden sie in die Schlagzeilen
Es ist zwanzig Jahre her, dass Madison James in Hollywood Erfolg hatte. Jetzt ist sie verschwunden und eine TikTokerin hat ihre Handtasche in einem Park in Los Angeles gefunden. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer in einer Nation, die sich nach prominenten Tragödien sehnt, und das mysteriöse Verschwinden der Schauspielerin wird schnell zu einer nationalen Obsession. Die Detectives Sarah Delaney und Rob Moreno von der LAPD Missing Persons Unit übernehmen den Fall. Doch die Wahrheit ist ein rares Gut in Tinseltown; manche Leute schrecken vor nichts zurück, um das zu bekommen, was sie wollen, und Delaney und Moreno finden sich bald in Hollywoods dunkler Schattenseite wieder, wo es kaum Anhaltspunkte gibt. Als Enthüllungen aus der Vergangenheit auftauchen, wird klar, dass mehr dahintersteckt, als man auf den ersten Blick sieht.
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Es ist zwanzig Jahre her, dass Madison James in Hollywood Erfolg hatte. Jetzt ist sie verschwunden und eine TikTokerin hat ihre Handtasche in einem Park in Los Angeles gefunden. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer und das mysteriöse Verschwinden der Schauspielerin wird schnell zu einer nationalen Obsession. Die Detectives Sarah Delaney und Rob Moreno von der LAPD Missing Persons Unit übernehmen den Fall. Doch die Wahrheit ist ein rares Gut in Tinseltown; manche Leute schrecken vor nichts zurück, um das zu bekommen, was sie wollen, und Delaney und Moreno finden sich bald auf Hollywoods Schattenseite wieder, wo es kaum Anhaltspunkte gibt. Als Enthüllungen aus der Vergangenheit der Schauspielerin auftauchen, wird klar, dass mehr dahintersteckt, als man auf den ersten Blick sieht.
Zur Autorin
Lisa Gray ist die Amazon #1-, Washington-Post- und Wall-Street-Journal-Bestsellerautorin der Jessica-Shaw-Serie und des eigenständigen Thrillers The Dark Room. Sie stand auf der Longlist für den McIlvanney-Preis 2020. Als ehemalige Journalistin schreibt Lisa nun hauptberuflich Romane. Sie lebt in Glasgow.
Erfahren Sie mehr unter www.lisagraywriter.com und treten Sie mit Lisa auf den sozialen Medien in Kontakt @lisagraywriter
Lisa Gray
The Final Act
Thriller
Aus dem Englischen von Simone Schroth
HarperCollins
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Final Act bei Thomas & Mercer, Seattle.
© 2024 by Lisa Gray
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung von Ebru Sidar / Arcagnel
|New Africa / Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749909445
www.harpercollins.de
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.
Dieses Buch widme ich allen, die meine Bücher lesen – jedem und jeder Einzelnen.
Herbst 2001
Die Nacht vibrierte förmlich vor böser Energie.
Mord hing in der Luft.
Sie rannte in die Hütte und schlug die Tür fest hinter sich zu. Ihr Kleid war zerrissen, Kratzer bedeckten ihre Arme, und die Sohlen ihrer bloßen Füße bluteten.
Scharf sog sie die Luft ein, ihre Atemzüge kamen rasselnd. Mit der Handkante schlug sie den schweren eisernen Riegel in die Halterung, griff dann nach dem großen Schlüssel, der im Schloss steckte. Weil ihre Finger so stark zitterten, entglitt ihr der Schlüssel und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem verrottenden Holz.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
Das hätte auf gar keinen Fall passieren dürfen.
Ihr Herz klopfte wild, als sie sich nach dem Schlüssel bückte. Sie steckte ihn wieder ins Schloss, und es gelang ihr, die Hand gerade still genug zu halten, um ihn diesmal ganz herumdrehen zu können, bis sie das Klicken hörte.
Auf dem Nachttisch neben dem breiten Bett stand ein Telefon. Die Laken waren immer noch zerwühlt, es war nur wenige Stunden her, dass sie sich mit Jake darin vergnügt hatte.
Jetzt kämpfte sie um ihr Leben.
Sie rannte zum Telefon, riss den Hörer von der Gabel und hielt ihn sich ans Ohr, während sie hektisch die 911 wählte.
Aber da war nichts.
Nur Stille.
Immer wieder drückte sie die Gabel herunter, aber da gab es kein Freizeichen, keine Stimme am anderen Ende der Leitung, niemanden, der ihr versicherte, Hilfe sei unterwegs. Als sie am Kabel zog, entdeckte sie den Grund: Jemand hatte es so grob zerschnitten, dass einzelne Drähte heraushingen.
Verzweifelt sank sie zu Boden.
»Nein. Bitte, lieber Gott. Nein. Bitte, jemand muss mir helfen.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
Irgendwo draußen im Wald durchbrach ein Schrei die Stille der Nacht.
»Das ist nur ein Tier«, flüsterte sie. »Nur ein Tier.«
Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Der Schrei hatte wie der eines Menschen geklungen. Wie der einer Frau. Wie der von Ashley oder Brooke. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, über ihre Wangen liefen mascaraschwarze Tränen. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, während sie versuchte, sich nicht von der Panik überwältigen zu lassen.
Als sie zur Tür kroch, spürte sie die Holzsplitter des Bodens kaum, die sich in ihre Knie und Handteller bohrten. Sie lauschte, das Ohr an die Tür gepresst. Das Schreien war verstummt. Jetzt gab es da nur noch das elektrische Summen der Außenbeleuchtung und das Hämmern ihres eigenen Herzens.
Eine Minute verging.
Da, sie hörte etwas.
Ein Geräusch von draußen.
Schritte auf den Stufen zum Eingang. Langsam und bedächtig. Lauter wurden sie, kamen näher, immer näher. Direkt vor der Tür hörten sie auf. Unwillkürlich wimmerte sie und schlug sich sofort beide Hände vor den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken.
Der Türknauf bewegte sich.
Sie schloss die Augen und sprach ein stilles Gebet.
Eine Faust schlug mit Wucht auf die Tür ein, und das Geräusch jagte ihr einen Stromstoß durch die Wirbelsäule. Wieder und wieder die Faust. Sie konnte jeden Schlag als Vibration in ihrem Körper spüren. Angst hämmerte durch ihre Adern.
Dann … Nichts.
Stille.
Ganz kurz wagte sie zu hoffen, er würde wieder gehen und sie überleben.
Dann splitterte die Tür im Rahmen, als die Sohle eines Stiefels das altersschwache Holz traf.
»NEIN!«
Unbeholfen kroch sie rückwärts, bis sie an die Wand stieß. Sie konnte nur entsetzt zusehen, wie der Türrahmen ganz und gar nachgab und die Tür aufflog.
Eine Furcht einflößende Gestalt stand auf der Schwelle. Mit seiner Masse schien der Mann allen Raum auszufüllen. Er trug einen schwarzen Pullover, schwarze Hosen und – das war am schlimmsten – eine schwarze Skimaske. In der Hand hatte er ein Messer. Langsam kam er auf sie zu, hob die Klinge, und sie schrie, obwohl sie wusste, dass es niemanden gab, der sie jetzt noch hätte retten können.
Sie würde auf dem Boden dieser dreckigen Hütte im Wald sterben …
»SCHNITT!«
Die Stimme des Regisseurs dröhnte aus der Dunkelheit der Technik, wo er zusammen mit dem Regieassistenten und dem Kameramann alles beobachtet hatte.
Dan Cassidy – alias »The Slasher« – zog sich die Skimaske vom Gesicht und warf die Messerattrappe aufs Bett.
»Perfekt«, flüsterte er. »Dein Schrei gerade ganz am Ende! Verdammt, ich hätte ja fast geglaubt, der ist echt.«
»Danke. Du warst auch super.«
Madison freute sich über das positive Feedback, doch eigentlich zählte nur die Bestätigung einer einzigen Person. Als sich Kent LaMarr langsam durch das Set, in dem sie heute drehten, in ihre Richtung bewegte und dann vor den beiden stehen blieb, wandte sie sich ihm zu. Der Regisseur nickte begeistert, und sie atmete erleichtert aus.
»Großartig, verflucht noch mal. Gleich beim ersten Take im Kasten.« LaMarr kniff ihr in die Schulter. »Super gemacht, Madison. Besonders die Improvisation mit dem Schlüssel. Passt perfekt.«
Mit einem Lächeln nahm sie das Kompliment an. Dass die Sache mit dem Schlüssel eigentlich nicht geplant gewesen und nur passiert war, weil ihre Hände tatsächlich so stark gezittert hatten, behielt sie für sich.
Survive the Night war ihr erster Kinofilm. Ihr erstes richtiges Engagement als Schauspielerin. Sie hatte riesiges Glück gehabt, die Rolle angeboten zu bekommen. Kaum dem Greyhoundbus aus Indiana entstiegen, hatte sich Madison einer Agentur angeschlossen. Den Kontakt verdankte sie Mr. Pepper, ihrem Schauspiellehrer an der Highschool, und seinen Beziehungen in der Filmindustrie. Ihre neue Managerin, Annie Kline, hatte ihr mehrere Probeaufnahmen für Werbeclips verschafft, und Madison war furchtbar aufgeregt gewesen.
Dann hatte sich die Schauspielerin Gabby McCarthy vor den Dreharbeiten zu einem neuen Horrorfilm das Bein gebrochen. Der Regisseur brauchte ganz schnell einen Ersatz – und zwar einen rothaarigen. Die anderen Hauptrollen hatte Kent LaMarr bereits mit einer blonden und einer brünetten Frau besetzt, und er wollte das ganze Spektrum abdecken. Annie hatte Madisons Namen ins Spiel gebracht, die war zu einem Vorsprechen gegangen und hatte die Rolle tatsächlich bekommen.
Ein richtiger Kinofilm! Die ganz große Leinwand!
Madisons Eltern waren nicht gerade begeistert gewesen, als sie verkündet hatte, nach Hollywood zu ziehen und Schauspielerin werden zu wollen. Aber sie hatten sich bereit erklärt, einen Teil des für ihr Studium gesparten Geldes dafür lockerzumachen, sodass sie sich ein altes Auto kaufen und ein Jahr lang ein Zimmer in einer WG in Los Angeles würde finanzieren können. Wenn sie innerhalb dieses Jahres den Durchbruch nicht schaffte, sollte sie nach Dutton zurückkehren und ans College gehen oder sich einen richtigen Job suchen.
Doch Madison brauchte kein Jahr Zeit. Sie hatte es schon nach einigen kurzen Monaten geschafft.
Sie würde ein Filmstar werden.
Madison spielte vielleicht eine Tote, doch sie hatte sich nie lebendiger gefühlt.
Als sie auf dem Nachhauseweg den Sunset Strip hinunterfuhr, schob sie eine Kassette in den Rekorder und hörte in voller Lautstärke »Bootylicious« von Destiny’s Child. Sie sang laut mit, trommelte auf dem Lenkrad den Takt und sog durch das offene Fenster die kühle Oktoberluft ein.
Eine Reklamewand für den neuen Film Donnie Darko zog an ihr vorbei. Dann eine weitere, diesmal für Mulholland Drive. Das schöne Gesicht von Naomi Watts erstrahlte über dem Strip, sechs Meter hoch.
Madison lächelte in sich hinein. Eines Tages, bald, würde sie selbst auf diesen Reklamewänden zu sehen sein.
Eines Tages würde die ganze Welt den Namen Madison James kennen.
SILVERSCREAMMAGAZINE – Mordskino
Rezension: Survive the Night
Seth Midnight, Oktober 2002
Regisseur Kent LaMarr outet sich mit diesem Streifen als großer Fan des klassischen Slasherfilms, den wir alle aus den Siebzigern und Achtzigern kennen und lieben. Mit Survive the Night will er ein nostalgisches Pastiche der Werke vergangener Zeiten liefern.
Leider führt er uns stattdessen nur über altbekannte Pfade, und diese Pfade sind von Klischees gesäumt.
Natürlich bekommen wir reichlich Blut und Eingeweide, Teile des Dialogs sind erfrischend geistreich, und manchmal springt man auch vor Schreck aus dem Kinosessel. Das Problem bei LaMarrs drittem Beitrag liegt einfach darin, dass er das Genre nicht mit neuen Elementen bereichert.
Was der Plot zu bieten hat: Um ihren Highschoolabschluss zu feiern, verbringen die drei Freundinnen Brooke (Ally Hagen), Kate (Madison James) und Ashley (Rachel Rayner) ein Wochenende in einer einsamen Hütte im Wald.
Cooler Plan, Teenagern mitten in der Wildnis ist ja auch noch nie was passiert, oder? Haben die drei nie heimlich alte Horrorfilme geschaut, wenn ihre Eltern schon im Bett lagen? Offensichtlich nicht.
Ashley, ein strebsamer Single, ist alles andere als begeistert, als sich den dreien die Freunde von Brooke und Kate anschließen. Schon sehr bald hat sie allerdings ganz andere Sorgen, als nur das fünfte Rad am Wagen zu sein: Ein Verrückter mit einem Messer macht Jagd auf die Gruppe.
Der sexy Brünetten Rachel Rayner – wir alle kennen ihren Vater, den Hollywoodveteranen und Oscargewinner Rodger Rayner – gelingt es nicht, die schüchterne jungfräuliche Ashley in den frühen Szenen überzeugend darzustellen. Im großen Finale jedoch, als sie sich als letzte Überlebende der Nacht (Voilà, Titelbezug erfolgreich eingebaut!) dem »Slasher« Dan Cassidy stellen muss, steigert sie sich. Allerdings dürfen wir wohl nicht damit rechnen, dass sie in naher Zukunft eine weitere Goldstatuette fürs Regal im Familienheim wird ergattern können.
Stattdessen sorgt James dafür, dass man ihre Darbietung in Hochspannung verfolgt und im Gedächtnis behält. Ursprünglich hatte sich Gabby McCarthy den Part gesichert, doch dann kam ein Skiunfall dazwischen, dessen ein oder anderes Detail gruseliger klingt als der Plot unseres Films.
James war eine Last-minute-Besetzung. Und damit ein Glücksfall für sich selbst und ein Geniestreich des Regisseurs LaMarr.
Mit ihren roten Haaren (eher vom Typ Rita Hayworth als Lindsay Lohan), ihrem Alabasterteint und ihren faszinierenden blauen Augen stiehlt sie in jeder ihrer Szenen allen anderen die Show. Und spielen kann diese junge Frau!
Survive the Night wird das Publikum also bald vergessen – Madison James hingegen ganz bestimmt nicht. Vertrauen Sie mir.
Achtung, Neve Campbell! Die Konkurrenz schläft nicht, sie hat die Nacht überlebt (Ha, noch ein Titelverweis!) und es auf die Krone der Scream Queen abgesehen.
2,5 Sterne
Sarah
September 2022
Der Handtaschenfund änderte alles.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich niemand allzu große Sorgen wegen der vermissten Frau gemacht – jedenfalls niemand im Besitz einer Polizeimarke. Anfänglich hatte es nichts gegeben, was im Hinblick auf das Verschwinden der Schauspielerin das Schrillen irgendwelcher Alarmglocken ausgelöst hätte. Keinen Grund, der einen hätte vermuten lassen, irgendjemand hätte ihr etwas angetan, sie wäre zu Schaden gekommen oder hätte sich selbst Schaden zugefügt. Sie war einfach ein paar Tage hintereinander nicht bei der Arbeit erschienen und hatte aufgehört, auf dem Handy Anrufe anzunehmen. Kein Grund zur Sorge. Nicht wirklich.
Doch dann war ihre Handtasche an einem Ort aufgetaucht, an dem sie nichts zu suchen hatte, und damit kam Bewegung in die Sache.
Detective Sarah Delaney hielt vor dem Eingang zum Brush Canyon Trail im Griffith Park. Bei Wanderern aus der Gegend und bei Touristen erfreute sich diese Route großer Beliebtheit, denn so konnte man über malerisches Terrain bis an das ikonische Hollywood Sign gelangen. Normalerweise hätte der Parkplatz um diese Tageszeit voll sein müssen, doch jetzt standen dort nur drei Fahrzeuge: ein kirschroter Dodge Charger, ein ozeanblauer Kia Soul und ein schwarz-weißer LAPD-Wagen. Die Polizei von Los Angeles war also bereits vor Ort. Sarah stellte sich neben den Einsatzwagen, steckte sich eine Flasche mit lauwarmem Wasser in die Schultertasche und stieg aus.
Ein Polizist in Uniform stand vor einem Gittertor am Eingang zur Trail Wache. Er richtete sich auf, positionierte die Füße weiter auseinander und verschränkte die Arme vor der Brust, wie ein Türsteher vor einem Nachtclub. Als sie sich ihm bis auf knapp zwei Meter genähert hatte, hob er die Hand in einer Geste, die sie zum Stehenbleiben veranlassen sollte, und Sarah konnte in den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille ihre eigene Irritation erkennen.
»Ich darf Sie da nicht reinlassen«, verkündete er. »Dieser Wanderweg ist bis auf Weiteres geschlossen. Es gab einen Vorfall.«
Die brennende Sonne hatte seiner Glatze das Aussehen eines rare gebratenen Steaks verliehen. Auf dem Metallschild an der rechten Brust stand sein Name: Meadows.
»Nehmen Sie bitte die Hand runter, Officer Meadows. Sie regeln doch hier nicht den Verkehr, und reinlassen werden Sie mich mit Sicherheit.«
Sarah wies auf die an ihrem Gürtel befestigte Marke, die sie eindeutig als Detective des LAPD auswies. Die war Officer Meadows ganz offensichtlich entgangen. »Detective Delaney von der … MPU, Abteilung für Vermisstenfälle.«
Damit hatte sie die Worte zum ersten Mal laut ausgesprochen, und sie fühlten sich in ihrem Mund seltsam an, als würde sie gerade ein neues Gericht probieren und wäre sich noch nicht sicher, wie es ihr schmeckte.
»Entschuldigung, Detective.« Echtes Bedauern konnte Sarah in seiner Stimme nicht erkennen, aber wenigstens nahm er die Hand runter. »Ich habe vorhin schon einige Hiker wegschicken müssen. Mein Partner, Officer Powell, sucht gerade das Gelände ab. Ein paar Hobbydetektive sind auch schon hier aufgeschlagen.« Als er das Wort »Hobbydetektive« aussprach, deutete er mit beiden Händen Anführungszeichen an. »Fünf Leute haben sich bereits nach der verschwundenen Schauspielerin erkundigt. Sie war wohl früher mal berühmt. Oder na ja, fast berühmt. Diese TikToker scheinen zu glauben, sie könnten den Fall lösen, und zwar besser als wir, die echten Ermittler.«
»Ach, tatsächlich?«, gab Sarah zurück. »Klingt doch gut, dann können wir anderen uns den Rest des Tages frei nehmen.«
Genau genommen war das hier ihr freier Tag. Sie sollte noch ein wenig Freizeit genießen, bevor sie ihre neue Stelle bei der MPU – der Missing Persons Unit – antrat und damit den Wechsel aus der Abteilung für Raubmorde vollzog. Auf der Dienststelle hatte sie heute Morgen ihre Sachen von einem Schreibtisch auf den anderen geräumt, von einer Etage in die andere.
Dann hatte sie sich ihrem neuen Partner vorstellen wollen und entdeckt, dass er gerade einen neuen Fall hereinbekommen hatte und deswegen unterwegs war. Am besten traf sie ihn wohl vor Ort, hatte sich Sarah überlegt, und war gleich losgefahren. Darum trug sie Freizeitkleidung, nämlich Jeans, ein T-Shirt und Turnschuhe, weshalb man sie jetzt für eine Hobbydetektivin hielt.
»Woher wissen diese Möchtegern-Ermittler überhaupt, wo sie hinkommen müssen?«, fragte sie Meadows.
Der zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Sie haben ja wohl nichts über die Handtasche auf TikTok eingestellt, oder?«
Meadows wirkte beleidigt. »Natürlich nicht. Ich bin nicht mal bei TikTok. Dieses ganze provokante Gewackel mit dem Hintern und das alberne Lip-synching ist doch was für Kinder. Nein, im Gegenteil, ich habe die Arschlöcher mit ihren Handykameras von hier verscheucht.«
»Hat Ihr Partner vielleicht etwas gepostet?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Der kapiert ja noch nicht mal, wie Facebook funktioniert.« Mit dem Daumen deutete Meadows auf den Eingang zum Trail hinter sich. »Ein paar Meilen da lang, dann treffen Sie auf unser Ermittlerteam. Aber wahrscheinlich ist es keine schlechte Idee, wenn Sie sich beeilen. Das Parkpersonal macht mir schon die ganze Zeit Stress, weil man den Trail so schnell wie möglich wieder öffnen will.«
Mit einem Nicken machte sich Sarah auf den Weg über den breiten staubigen Pfad. Dabei genoss sie die naturbelassene Schönheit der Landschaft mit ihren Bäumen und Wildblumen. Sie war den Trail schon einige Male gegangen, aber immer am frühen Morgen, bei kühleren Temperaturen und in Begleitung von anderen. Dass sie die ganzen Eindrücke jetzt allein genießen konnte, war irgendwie etwas Besonderes, wenn auch ein bisschen unheimlich.
Nach ungefähr einer Meile auf ansteigender Strecke fühlte sich das Ganze schon nicht mehr so besonders an.
Die Sonne brannte auf sie herunter, und ihre Beinmuskeln schmerzten. Langsam wünschte sie sich, sie hätte mit ihrer Büroumzugsaktion bis Montag gewartet. Die Kartons mit den Akten, den Kaffeebechern, den Topfpflanzen, den Schreibutensilien und dem ganzen anderen Kram, der sich über die Jahre angesammelt hatte, hätten ruhig noch übers Wochenende stehen bleiben können (das einzige gerahmte Foto auf ihrem Schreibtisch hatte sie schon vor Monaten entsorgt). Sie spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterrann, und sie schüttete die Hälfte ihres Wassers in sich hinein, band ihr langes dunkles Haar dann zu einem niedrigen Pferdeschwanz zusammen.
An einer Gabelung beschloss Sarah, sich nach links zu wenden, und folgte dem Mulholland Trail, bis sie auf eine kleine Gruppe von Leuten stieß.
Über ihnen waren das Hollywood Sign und der Radioturm zu erkennen, und sie schickte einen stummen Dank gen Himmel, weil sie nicht bis zum Gipfel des Mount Lee würde gehen müssen, also nicht bis an den Fuß der legendären Buchstaben.
Im Unterholz suchte ein Polizist in Uniform herum, rot im Gesicht und verschwitzt, wahrscheinlich Meadows’ Partner Powell. Ein dunkelhaariger Mann in einem grauen Sommeranzug schaute ihm dabei zu. Eine junge blonde Frau in Jeansshorts, einem engen Tanktop und leuchtend weißen Turnschuhen stand am Wegesrand und wischte hektisch auf ihrem Handy herum. Eines der Rätsel ist wohl schon gelöst, sagte sich Sarah.
Der Typ im Anzug kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er hielt Plastiktüten für Beweisstücke in der einen Hand, streckte ihr die andere mit einer ungeschickten Bewegung entgegen. Sein Händedruck war fest und kühl, und Sarah wurde sich ihrer eigenen verschwitzten Hand nur zu sehr bewusst.
»Detective Rob Moreno«, stellte er sich vor. »Sie müssen Detective Sarah Delaney sein. Der Boss hat gesagt, Sie würden hier rauskommen.« Er grinste und zeigte dabei seine beeindruckend makellosen Zähne. Offensichtlich hatte er einen fähigen Dentisten. »Sie haben’s wohl sehr eilig mit der neuen Stelle, was? Eigentlich sollten Sie doch erst nächste Woche anfangen, oder?«
Sarah versuchte, das Alter ihres neuen Partners zu schätzen. Um die dreißig, vielleicht sogar jünger.
»Gut.« Sie deutete auf die Plastiktüten. »Was haben wir?«
»In den Büschen wurde eine blaue Lederhandtasche gefunden«, berichtete Moreno. »Die gehört einer Frau namens Madison James, der Name steht jedenfalls auf dem Führerschein, den wir darin gefunden haben. Die Chefin des Restaurants, in dem sie arbeitet, hat sie gestern als vermisst gemeldet.«
Sarah nickte. Sie hatte es noch im Büro gelesen. Madison James, die nicht nur Kellnerin, sondern auch Schauspielerin war, hatte ihre Montagsschicht mit jemandem getauscht, um zu einem wichtigen Vorsprechen gehen zu können. Zu der übernommenen Schicht am selben Abend war sie dann nicht aufgetaucht, und zu ihrer regulären Schicht am nächsten Morgen auch nicht. Bisher war es ihrer Chefin nicht gelungen, sie zu Hause oder auf dem Handy zu erreichen. Anscheinend war Madison sehr zuverlässig, und es passte überhaupt nicht zu ihr, einfach so zu verschwinden. Zuletzt hatte man sie am Montagmorgen gesehen, auf dem Weg zu dem Vorsprechen. In einem blauen Blumenkleid, mit einer blauen Lederhandtasche und goldenen Riemchensandalen. Heute war Mittwoch.
»Der Papierkram ist beim National Crime Information Center gelandet«, berichtete Moreno weiter. »Aber na ja, wir wissen ja, wie viele Vermisstenmeldungen da jeden Monat eingehen und dass die meisten Leute innerhalb von ein, zwei Tagen wiederauftauchen. Man hat die Frau nicht als gefährdete Erwachsene eingeschätzt, und es gab auch keinen Anlass dafür, ein Verbrechen zu vermuten. Dann wurde aber aus irgendwelchen Gründen ihre Tasche im Griffith Park entdeckt, und darum sind wir jetzt hier.«
»Finderin war die blonde Frau da drüben, nehme ich an?«
»Genau«, bestätigte Moreno. »Chloe Reid, einundzwanzig Jahre alt. Wohnt mit ihrer Familie im Valley. Arbeitet im Jack in the Box am Van Nuys Boulevard. Keine bekannte Verbindung zu der Vermissten.«
»Haben Sie sonst noch was gefunden?«
Moreno schüttelte den Kopf. »Officer Powell hat sich in der Umgebung umgeschaut. Nix, nada, zumindest bisher. Keine Leiche, keine Kleidung, kein Blut. Nichts außer der Tasche, was einen vermuten lässt, dass hier irgendetwas Schlimmes passiert ist. Allerdings erstreckt sich der Park über sechzehn Quadratkilometer Naturgebiet. Das können wir unmöglich ganz durchsuchen. Kameras gibt es hier oben auch keine. Nur Canyons und Dickicht und Dreck.«
»Vielleicht lohnt es sich, die sozialen Medien nach Bildern der letzten Tage zu durchforsten. Wir befinden uns ja direkt unter dem Hollywood Sign, die Stelle ist also gut gewählt. Ziemlich vage, ich weiß, und es wird auch ein ordentliches Stück Arbeit, aber irgendeines dieser Fotos könnte uns einen nützlichen Hinweis liefern.«
Moreno nickte. »Den Versuch ist es wert. Ich kümmere mich darum.«
Sie gingen zu Chloe Reid hinüber, die nur widerwillig ihr Handy in der Gesäßtasche ihrer Shorts verschwinden ließ. Moreno klemmte sich die Plastiktüten unter den Arm und holte Notizblock und Stift heraus. Sarah stellte sich vor, ließ sich dann von der Frau berichten, wie diese die Handtasche gefunden hatte.
»Ich bin den Trail gewandert und kurz stehen geblieben, um einen Schluck Wasser zu trinken«, erzählte Chloe. »Da habe ich etwas im Dickicht glitzern sehen. Ich war neugierig, also bin ich hin, und da habe ich hinter ein paar Büschen eine Handtasche entdeckt. Das Glitzern kam vom Sonnenlicht, das sich im Metall an der Tasche gespiegelt hat.«
»War noch irgendwer in der Nähe der Tasche?«, erkundigte sich Sarah.
»Nicht wirklich. Jedenfalls niemand, dem die Tasche hätte gehören können, nur ein paar Typen mit Rucksäcken. Darum habe ich die Tasche aufgehoben und reingeschaut. Ich dachte, wenn da irgendein Ausweis drin ist, könnte ich die Besitzerin in den sozialen Medien finden und ihr eine private Nachricht schicken, die Tasche zurückgeben. Wenn ich meine Handtasche verloren hätte, würde ich ausflippen. Es ist immer so ein Theater, die ganzen Kreditkarten zu blockieren und neu zu bestellen. Dann habe ich nach dem Namen auf dem Führerschein gesucht und einen Facebook-Post gefunden. In dem stand, dass sie Schauspielerin ist und vermisst wird. Darum habe ich die Polizei angerufen.«
Sarah seufzte. »Sie haben die Tasche und den Inhalt also angefasst?«
»Hey, ich habe nichts geklaut.« Chloe ging in Verteidigungshaltung. »Schauen Sie doch im Portemonnaie nach. Da sind noch fünfzig Dollar drin. Und ihre ganzen Kreditkarten.«
»Ist ja schon gut, aber wir werden Ihre Fingerabdrücke nehmen müssen, damit wir die bei der Untersuchung von anderen unterscheiden können. Schließlich haben Sie alles angefasst.«
Die junge Frau zuckte die Schultern, sie war offensichtlich irritiert. »Klar, kein Problem.«
»Haben Sie auch irgendwo in den sozialen Medien einen Post darüber eingestellt, dass Sie die Tasche gefunden haben – und wem sie gehört?«
Chloes Miene erhellte sich, und ihre braunen Augen leuchteten.
»Ja, ich habe ein TikTok-Video gemacht, und das trendet voll. Gerade eben hatte es schon fast 4000 Views und würde über 200-mal geteilt. Bessere Zahlen hatte ich bislang nur mit dem Video, als ich meinen Nachbarn reingelegt habe. Wer hätte gedacht, dass sich so viele Leute für eine Schauspielerin interessieren, die vor so langer Zeit mal Erfolg hatte und damals nicht mal besonders berühmt war?«
Sarah starrte die andere Frau durchdringend an. »Am Eingang zum Trail sind schon Leute aufgetaucht, die ihre eigenen Videos und Fotos machen wollen. Weil sie Ihren Post gesehen haben. Nicht gerade strategisch wertvoll, Chloe.«
»Aber vielleicht hilft ja mein Video dabei, diese Frau zu finden. 4000 Views bisher – damit erreicht man viel mehr Leute als mit einem Poster an irgendeinem Baum.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche, tippte ein paarmal darauf und hielt es Sarah aggressiv vors Gesicht. »Sehen Sie? Noch mehr Klicks. Fast 5000.«
Es stimmte, die Zahlen auf dem Display stiegen immer weiter. Von einem viralen Post konnte nicht die Rede sein, aber Sarah musste widerwillig zugeben, dass Chloe Reid gar nicht so unrecht hatte. Irgendjemand auf TikTok wusste vielleicht etwas, das ihnen bei der Suche nach Madison James würde helfen können.
»Kennen Sie die Vermisste?«, wollte sie wissen. »Haben Sie irgendeine Idee, wo sie sich jetzt aufhalten könnte oder warum sich ihre Handtasche im Park befand?«
Sarah hatte nicht vergessen, dass Moreno diese Fragen bereits gestellt hatte, aber es konnte nicht schaden, sie noch einmal durchzugehen.
Chloe schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kenne sie nicht. Bin ihr noch nie begegnet. Bis heute hatte ich nicht mal von ihr gehört. Aber ich werde später ganz bestimmt ihre IMDb-Seite checken. Vielleicht kann ich ja ein paar ihrer Filme streamen. Aber wahrscheinlich gibt’s die nur auf DVD. Oder sogar nur auf Video. Ich meine, wenn das Geburtsdatum in ihrem Führerschein stimmt, ist sie ja schon ziemlich alt.«
Sarah zog eine Augenbraue hoch. Ziemlich alt? Madison James war neununddreißig (laut ihrer Wikipedia-Seite sogar erst einunddreißig) und damit zwei Jahre jünger als Sarah.
Chloe schaute auf ihre Smartwatch. »Kann ich jetzt gehen? Ich muss nach Hause und mich umziehen, meine Schicht fängt in einer Stunde an. Und so langsam bekomme ich Sonnenbrand auf den Schultern.«
»Wir melden uns dann wegen der Fingerabdrücke«, kündigte Sarah an.
Chloe verschwand über den staubigen Pfad, mit hüpfendem Pferdeschwanz, das Smartphone vor sich.
»Was glauben Sie?«, wandte sich Sarah an Moreno. »War das ein reiner Zufallsfund?«
Er zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich schon.«
»Zeigen Sie mir die genaue Stelle.«
Moreno deutete auf einige Büsche, weit genug vom Pfad entfernt, um einen vermuten zu lassen, die Tasche wäre nicht zufällig dort gelandet. Außer Madison James hatte sich nach Einbruch der Dunkelheit hier oben mit irgendjemandem im Gebüsch vergnügt. Das schien nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich, schließlich war sie eine erwachsene Frau und kein Highschool-Girl auf der Suche nach dem Kick.
In Sarahs Bauch nistete sich ein ungutes Gefühl ein. Sie hoffte, ein Dieb oder ein Junkie hätte die Tasche geklaut und weggeworfen, was aber keine Erklärung für das zurückgelassene Bargeld und die Kreditkarten lieferte.
Oder dafür, wo sich Madison James seit Montagmorgen aufhielt.
Sarah und Moreno überließen Powell der weiteren Suche und kehrten an den Eingang zum Trail zurück, wo Meadows noch immer verstimmte Touristen abwies. Chloe Reids Kia Soul stand nicht mehr auf dem Parkplatz. Moreno breitete seine Sammlung von Plastiktüten auf der Motorhaube des Dodge Cruisers aus, sodass Sarah deren Inhalt begutachten konnte. Es war eine Erleichterung, aus der brennenden Sonne herauszukommen und sich in den kühlen Schatten einiger Bäume zurückziehen zu können.
Die transparenten Plastiktüten enthielten ein Portemonnaie, eine Zehndollarnote und zwei Zwanziger, eine Bankkarte von Chase, eine Amex-Kreditkarte, eine Tube Lippenstift, einen Schlüsselbund, einen Autoschlüssel für einen Ford Mustang und einen Führerschein. Kein Handy.
Sarah nahm sich die Tüte mit dem Führerschein und schaute ihn sich genauer an. Die meisten Leute sahen auf ihren Fotos aus wie Verbrecher. Madison James nicht. Mit ihren rotbraunen welligen Haaren, den eisblauen Augen und der blassen Haut war sie auch mit fast vierzig noch außergewöhnlich schön.
Sarah erinnerte sich dunkel, vor Jahren einen ihrer Filme im Kino gesehen zu haben. Ein Horrorstreifen war es gewesen, mit sehr viel Blut und Eingeweiden und vielen Leichen, aber an den Titel oder irgendwelche Einzelheiten zum Plot konnte sie sich nicht erinnern.
Sie zog sich aus dem Büro mitgebrachte Latexhandschuhe über und bedeutete Moreno, er solle ihr die braune Papiertüte mit der Handtasche reichen. Nachdem sie die Innenfächer überprüft und festgestellt hatte, dass diese leer waren, drehte sie die Tasche um und entdeckte eine kleine Futteraltasche auf der Rückseite. Sie steckte einen behandschuhten Finger in die enge Öffnung und ertastete etwas, was darin feststeckte. Es handelte sich um ein pedantisch zusammengefaltetes Quadrat aus gelbem Papier. Als Sarah es vorsichtig herausgeholt und geöffnet hatte, schaute sie auf kleine ordentliche Buchstaben in blauer Kugelschreiberschrift. Die Nachricht lautete:
FMHTL12CASH??
Die beiden Fragezeichen und das Wort »CASH« waren so energisch zweimal unterstrichen worden, dass der Stift durch das Papier gedrungen war.
Sarah hielt Moreno den Zettel hin.
Stirnrunzelnd las er ihn. »Was bedeutet das?«
»Genau das müssen wir herausfinden, Partner.«
Sarah
September 2022
Madison James wohnte in einem bubblegumrosa Apartmentblock in der Studio City, in der Nähe des Hollywood Freeway. Das Gebäude befand sich zwischen ähnlichen, ebenso bescheidenen Gebäuden in Zitronengelb und Pistaziengrün in einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße.
Die Detectives legten die zwanzigminütige Anfahrt in getrennten Wagen zurück, den ganzen Weg über klebte Morenos Charger Sarah förmlich an der hinteren Stoßstange. Kein gutes Gefühl. Sie war froh, dem unangenehmen Small Talk zu entgehen, der sich ergab, wenn man sich mit einer fremden Person auf engem Raum zusammengepfercht fand. Oder, schlimmer als der Small Talk, den Fragen, von denen sie wusste, dass Moreno sie unbedingt würde stellen wollen:
Warum gibt man einen Job bei einer Eliteeinheit auf, um in der Vermisstenabteilung zu arbeiten?
Sind Sie freiwillig gegangen oder hat man Sie dazu gedrängt?
Haben Sie einen Fall verbockt oder irgendjemanden in der Führungsetage gegen sich aufgebracht?
Wollen Sie wirklich mit einem Detective am Anfang seiner Karriere zusammenarbeiten, der wie ein Zwölfjähriger aussieht? Ist das in Ihren Augen der ideale neue Partner?
Gut, die letzten beiden Fragen würde er vielleicht nicht unbedingt stellen.
Doch Sarah war für diese Unterhaltung noch nicht bereit. Hoffentlich würde sie mit der Zeit ein gutes Verhältnis zu Moreno aufbauen, vielleicht sogar eine Freundschaft, aber für dieses gemütliche Kennenlernen war es noch viel zu früh.
Sie trafen sich vor dem Eingang des Gebäudes, das von einem Sicherheitssystem geschützt wurde. Moreno drückte lange genug auf die Klingel, um alle zu nerven, die sich möglicherweise drinnen befanden. Sarah hielt den Atem an, weil sie hoffte, ein Knacken und die blecherne Stimme einer verärgerten Frau zu hören, doch da war nur Stille. Sie atmete aus, enttäuscht, aber nicht überrascht.
Moreno holte die Tüte mit den Schlüsseln hervor, und Sarah zwängte ihre Hände in ein weiteres Paar Handschuhe, suchte dann den Schlüssel für die Haustür heraus.
Die Eingangshalle war geräumig und hell, mit weiß gestrichenen Wänden und gefliestem Boden. Dem Ventilator an der Holzdecke gelang es gerade so, die Hitze des voranschreitenden Nachmittags in Schach zu halten.
Zwei Türen weiter links ging es zum Raum mit den Waschmaschinen und zur hauseigenen Garage, zumindest stand es so auf den Hinweisschildern. Rechts befand sich ein Postraum mit einer Wand von Briefkästen und einigen darauf abgelegten dicken Umschlägen und Paketen. Geradeaus hatte man durch eine Tür einen Blick auf einen Innenhof und einen kleinen Pool für die Anwohner. Eine Brünette mit aufgetürmter Frisur und einem langen Hauskleid – vermutlich eine dieser Anwohnerinnen – saß dort auf einem Liegestuhl und rauchte, das Gesicht der Sonne zugewandt.
»Ich versuche es in der Garage«, verkündete Moreno. »Mal sehen, ob Madisons Mustang dort steht.«
Sarah nickte. Draußen auf der Straße hatten sie keine Autos dieser Marke entdecken können, weder schwarze noch andere.
Sie fand den Briefkasten für Apartment 305, und ein handbeschrifteter Aufkleber bestätigte ihr, dass er »M. James« gehörte. Als es Sarah mit dem kleinsten Schlüssel am Bund versuchte, öffnete sich der Kasten. Viel war nicht darin, aber es gab einen kleinen Stapel ungeöffneter Post und einige Werbebroschüren für Restaurants mit Abholung in der Nähe. Einer der Umschläge trug einen roten Stempel, »Mahnung« – offenbar von der Immobiliengesellschaft, der dieses Haus gehörte.
Moreno kam aus der Garage zurück, seine Absätze klickten laut über die Bodenfliesen. Sarah fragte sich, wie er es in derart ungeeignetem Schuhwerk über den Trail im Griffith Park geschafft hatte.
»Ihr Wagen ist nirgends zu sehen«, berichtete er.
Sarah hielt den Umschlag der Immobiliengesellschaft hoch.
»Interessant«, kommentierte Moreno.
»Nicht gut«, gab Sarah zurück.
Ihrer Erfahrung nach griffen Menschen mit Geldsorgen häufig zu verzweifelten Mitteln, was große Schwierigkeiten nach sich zog.
Sie stiegen die Stufen in den dritten Stock hinauf. Dort befand sich Madisons Wohnung am Ende einer Galerie, von der aus man auf den Innenhof blickte. Die hochtoupierte Brünette hatte ihre Zigarette fertig geraucht und war offensichtlich eingeschlafen. Moreno klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür. Sie warteten ab. Keine Antwort. Wieder klopfte er, diesmal lauter. Immer noch nichts.
»Ms. James?«, rief er. »Hier ist das LAPD. Bitte machen Sie auf.« Er presste ein Ohr an die Tür, lauschte, schaute dann mit einem Kopfschütteln zu Sarah. »Nachbarn?«
»Yep.«
Eine freundliche Nachbarin wusste vielleicht, ob Madison vorgehabt hatte, ein paar Tage Urlaub zu nehmen, und wenn diese Nachbarin auch noch neugierig war, hatte sie möglicherweise bemerkt, ob ungewöhnliche Leute gekommen oder wieder gegangen waren, ob jemand Unbekanntes an der Wohnung erschienen war.
Sarah drückte nebenan auf den Klingelknopf, rechnete mit dem üblichen Ding-Dong, hörte jedoch stattdessen eine ihr gut bekannte Melodie. Die stammte aus einer Fernsehsendung, doch sie brauchte einen Moment, um sie zuordnen zu können.
»Cheers«, verkündete sie.
»Hä?«, lautete Morenos Antwort.
»Die Klingel. Das ist die Melodie von Cheers.«
Er schaute sie nur verständnislos an.
»Das kennen Sie doch aber, oder? Alle kennen Cheers. Die Sendung war in den Achtzigern superbekannt. Sie spielt in einer netten Bar, mit Kirstie Alley und Ted Danson. Klingelt da gar nichts bei Ihnen? Sorry, blöder Witz.«
Moreno grinste. »Ich bin erst 1995 geboren.«
Sarah verdrehte die Augen. »Auch egal. Jedenfalls ist niemand zu Hause.«
An der nächsten Tür hatten sie auch kein Glück. Sie kehrten zu Madison James’ Apartment zurück, und Sarah versuchte den Türknauf zu drehen. Die Tür war verschlossen.
Norah James hatte den Beamten erlaubt, die Wohnung ihrer Tochter und ihr Auto zu durchsuchen – falls sie es denn fanden. Die MPU hatte sie angerufen, um sie über den Handtaschenfund zu informieren. Die Frau lebte immer noch in Madisons Geburtsstaat Indiana, hatte ihre Tochter monatelang nicht gesehen und vor Tagen zuletzt mit ihr gesprochen.
Drinnen fiel Sarah als Allererstes der Geruch auf. Zum Glück weder der metallische nach Blut noch der widerwärtige nach Verwesung. Sie befasste sich seit über einem Jahrzehnt mit Tötungsdelikten und kannte deren Geruch nur allzu gut, doch hier nahm sie ihn nicht wahr. Nur trockene Hitze und abgestandene Luft, das Ergebnis des heißen Wetters und geschlossener Fenster.
Die beiden betraten das Apartment und standen direkt in einem Wohnzimmer mit einer winzigen Küche. Die Einrichtung war modern und minimalistisch, mit poliertem Parkettboden und cremefarbenen Wänden. Den meisten Platz nahmen ein Ecksofa mit Lederbezug und ein Couchtisch mit Glasplatte ein, außerdem gab es ein glänzend weißes Regal, das Sarah sofort erkannte, denn sie hätte es sich bei IKEA beinahe selbst gekauft. An der einen Wand hing ein Flachbildfernseher, an der anderen eine Dreiergruppe aus billigen Landschaftsgemälden.
Ordentlich war es hier. Richtig ordentlich. Die Kissen auf dem Sofa waren aufgeschüttelt und mit einem gekonnten Karateschlag in Form gebracht worden. Die Fernbedienungen lagen sorgfältig aufgereiht auf dem Tisch. Kein ungespültes Geschirr, keine halb leeren Kaffeetassen auf dem Tresen, kein übler Geruch aus einem übervollen Abfalleimer.
Sarah musste an das Chaos denken, das sie selbst heute Morgen zu Hause hinterlassen hatte, und verspürte ein kurzes Gefühl der Scham. Zugegeben, sie hatte die Dinge schleifen lassen, weil es niemanden mehr gab, der sich beschwerte, wenn sie die Spülmaschine nicht einräumte, die Toilette nur selten putzte oder ihr Bett nicht machte.
»Eine Ordnungsfanatikerin«, kommentierte Moreno. »Ich wünschte nur, mein Mitbewohner wäre auch so.«
Bei genauem Hinsehen stellte Sarah fest, dass eine dünne Staubschicht sämtliche Oberflächen bedeckte. Die gelben Nelken in einer Glasvase auf dem Seitenregal wurden langsam welk, das Wasser hatte sich trübe verfärbt. Ein Kalender der Serie »Wort des Tages« daneben zeigte immer noch das Wort für Montag an. Ein Synonym für »verwirrt« war es gewesen. Das erschien Sarah passend.
Mit drei weiteren Schritten stand sie in der Küche, wo sie noch ein Kalender willkommen hieß, diesmal einer mit lustigen Katzenfotos. Er klebte an der Seite des Kühlschranks. Der aktuelle Monat wurde angezeigt, und der Montag war mit schwarzem Textmarker umkringelt, aber es gab keine weiteren Notizen oder Details, an denen sich die Bedeutung dieser Kennzeichnung hätte ablesen lassen. Keines der anderen Septemberdaten war markiert worden. Sarah ging die vorherigen acht Monate durch. Auf der Rückseite befand sich ein »70 %-reduziert«-Aufkleber. Der Kalender war also einige Zeit nach Jahresbeginn erworben worden, als Sonderangebot.
»Seltsam«, sagte sie.
Moreno gesellte sich in der engen Küche zu ihr, kam ihr so nahe, dass sie sogar sein Deo riechen konnte. »Eine Katze auf Rollschuhen und mit Sonnenbrille? Ja, in der Tat seltsam.«
»Doch nicht das Foto. Das ist übrigens einfach nur Photoshop. Ich rede von dem Kalender an sich. Nur ein einziges Datum ist markiert.«
»Vielleicht bezieht sich der Kalender auf ihre Schauspielerei? Vielleicht streicht sie nur die Tage an, an denen sie zum Vorsprechen muss oder zum Recall, und der September ist einfach ein ruhiger Monat?«
»Dann schauen Sie sich mal die übrigen Monate an.«
»Okay«, sagte Moreno einen Moment später. »Sieht eher nach einem ruhigen Jahr aus. Jedenfalls bisher.«
Als Nächstes durchsuchten sie das Schlafzimmer. Das große Bett war sorgfältig gemacht und leer. Keine Frau mit geschwollenen Augen unter den Laken, mit verschmiertem Make-up und zerknäulten, seit Tagen getragenen Sachen, die wissen wollte, warum das LAPD in ihrer Wohnung herumschnüffelte.
Aber immerhin auch keine tote Frau. Manchmal musste man für alles dankbar sein.
Zwei Kleider lagen auf dem Bett, als hätte Madison bei ihrem letzten Aufenthalt hier zu entscheiden versucht, was sie anziehen sollte. Wenn das am Montagmorgen geschehen war, hatte sie sich für ein blaues Kleid mit Blumenmuster, eine blaue Lederhandtasche und goldene Riemchensandalen entschieden und war dann zu ihrem Vorsprechen aufgebrochen.
Auf dem Nachttisch lag die Taschenbuchausgabe eines Romans neben einer Leselampe. Sarah blätterte das Buch durch, schüttelte es ein wenig, doch zwischen den Seiten steckten weder Zettel noch Geldscheine.
Moreno zog sich Handschuhe über und öffnete den Schrank. Sarahs Herzschlag beschleunigte sich. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie in einem Schrank eine Leiche fand, aber hier gab es nichts Schlimmeres als Turnschuhe, andere Schuhe und ein paar Fitnessgewichte. Zwei orange T-Shirts mit Madisons Namen und dem des Restaurants, in dem sie arbeitete, hingen zwischen den Kleidern, Hosen und Blusen auf der Stange.
Moreno ging zum Bett, ließ sich auf Händen und Knien auf dem Boden nieder und schaute darunter. Sarah wandte sich einem Frisiertisch am Fenster zu. Dort entdeckte sie einen gelben Notizblock samt Kugelschreiber, die höchstwahrscheinlich dafür verwendet worden waren, die Notiz aus der Handtasche zu verfassen.
Ein Foto in einem verzierten Silberrahmen zeigte eine jüngere Madison mit einem älteren Paar. Sie ähnelte beiden auf unterschiedliche Art und Weise: Das rotbraune Haar war das der Frau, die eisblauen Augen waren die des Mannes. Aus dem Bericht wusste Sarah, dass der Vater nicht mehr lebte und sich die Mutter in einem Pflegeheim befand. Dort kam sie ganz ohne Zweifel um vor Sorge um ihre Tochter, war jedoch zu gebrechlich, um nach Los Angeles zu reisen. Geschwister hatte Madison nicht.
Ansonsten befand sich auf dem Frisiertisch nur eine alte Schmuckschatulle, mit rosa und blauen Schmetterlingen verziert. Der Deckel stand ein wenig offen, und man konnte Modeschmuck erkennen, hauptsächlich billigen. Oben auf den Armreifen, Ohrringen und grob gefertigten Ketten lag eine durchsichtige Plastiktüte, eine Art Gefrierbeutel. Sarah hielt die Tüte in das Licht, das durch das Fenster ins Zimmer strömte, und erkannte einen kleinen Goldanhänger in Rosenform mit einem winzigen Diamanten in der Mitte. Der Verschluss war noch zu, die Kette jedoch gerissen.
»Auch seltsam«, überlegte Sarah laut.
Moreno erhob sich vom Boden, klopfte sich die Knie seiner Anzughose ab und trat zu ihr an den Frisiertisch. Sie zeigte ihm die Tüte mit der Kette. »Ist wohl gerissen«, kommentierte er. »Was finden Sie denn daran so seltsam?«
»Da besitzt jemand ein solches Schmuckstück und bewahrt es in einem Plastikbeutel auf?«
»Sieht aus wie ein echter Diamant. Vielleicht soll er so vor Beschädigung geschützt werden?«
»Die meisten Leute legen Diamanten auf Samt oder benutzen entsprechende Beutel, nicht solche für Tiefkühlessen. Das ergibt doch keinen Sinn.«
Das kleine Badezimmer war der letzte Raum, den sie noch kontrollieren mussten. Wie die restliche Wohnung war es sauber, und nichts Überflüssiges stand herum. Der ganz zurückgezogene Duschvorhang gab den Blick auf eine leere Wanne frei. Die war knochentrocken, das Waschbecken ebenso. Sarah schaute ins Spiegelschränkchen darunter und entdeckte eine offene Schachtel Tampons, allerdings weder die Pille noch Kondome. Sie hob den Toilettensitz an – keine verräterischen getrockneten Urinspritzer. Wenn Madison James einen Freund hatte, hatten sie ihre Schäferstündchen offensichtlich anderswo abgehalten.
Moreno packte Zahn- und Haarbürste der Vermissten ein, für den Fall, dass sie irgendwann einen DNA-Abgleich würden vornehmen müssen. Sarah hoffte, dass es dazu nicht kam.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, stand eine Frau in der geöffneten Tür, in der Hand eine Pistole.
Madison
Frühling 2002
Madison schob sich durch die Drehtür aus altmodischem poliertem Messing und Holz, und ihre Augen weiteten sich.
»Oh, wow«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Das ist ja der Wahnsinn.«
Die Hotellobby schien einem Film zu entstammen. Antike Gemälde, sicher ein Vermögen wert, hingen an von einer luxuriösen Tapete bedeckten Wänden. Madisons Absätze versanken in einem dicken Teppich. In einem Dutzend Kristallkronleuchtern brach sich das Licht. Ein riesiges betörend duftendes Blumenarrangement beherrschte die Mitte des Raumes.
Madison konnte sich sehr gut vorstellen, in einem Hotel wie diesem eine teure Produktion zu drehen, vielleicht würde sie die Rolle der Daisy Buchanan in The Great Gatsby spielen. Dann wäre sie mit zahllosen Ketten aus Perlen und Pailletten geschmückt, würde ein Champagnerglas in der Hand halten und ein geheimes Rendezvous mit dem Helden erleben.
