The Girl in Question - Tess Sharpe - E-Book

The Girl in Question E-Book

Tess Sharpe

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Beschreibung

Noch atemloser, noch cooler und mit noch mehr Twists: die heiß erwartete Fortsetzung des spannenden Psychothrillers The Girls I've Been (demnächst auch als Netflix-Film). Die Highschool ist geschafft, aber Noras Zukunft sieht düster aus: Ihr gewalttätiger Stiefvater Raymond wurde aus der Haft entlassen und hat sie jetzt im Visier. Darum ist Nora fest entschlossen, ihren (vielleicht letzten) Sommer zu genießen. Sie plant eine mehrtägige Rucksacktour durch ein einsames Waldgebiet, zusammen mit Iris und Wes. Zwar klinkt sich spontan Wes' Freundin mit ein, doch Amanda ist cool, also ist es keine große Sache – bis sie auf der Wanderung entführt wird. Besser gesagt, bis sie mit Nora verwechselt wird. Jetzt hat Raymond eine Geisel. Und Nora, Iris und Wes müssen ihr ganzes Können aufbieten, um es aus dem Wald zu schaffen. Mit Amanda. Und lebend ... Komplex, überraschend und zum Nägelkauen spannend - die smarte Story rund um die Ausnahme-Heldin Nora und ihre Crew ist ein absolutes Thriller-Highlight!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tess Sharpe

The Girl in Question

Aus dem Englischen von Beate Schäfer

Die Highschool ist geschafft, aber Noras Zukunft sieht düster aus: Ihr brutaler Stiefvater Raymond wurde aus der Haft entlassen und hat sie jetzt im Visier. Darum ist Nora fest entschlossen, ihren (vielleicht letzten) Sommer zu genießen. Sie plant eine mehrtägige Rucksacktour durch ein einsames Waldgebiet, zusammen mit Iris und Wes. Zwar klinkt sich spontan Wes’ Freundin mit ein, doch Amanda ist cool, also ist es keine große Sache – bis sie auf der Wanderung entführt wird. Besser gesagt, bis sie mit Nora verwechselt wird. Jetzt hat Raymond eine Geisel. Und Nora, Iris und Wes müssen ihr ganzes Können aufbieten, um es aus dem Wald zu schaffen. Mit Amanda. Und lebend …

Noch atemloser und mit noch mehr Twists: die spannende Fortsetzung des Ausnahme-Thrillers »The Girls I’ve Been«.

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Danksagung

Viten

Jim, dieses Buch ist für dich.

Dein Vertrauen in mich und meine Arbeit hat mein Leben schon oft verändert, aber 2023 hast du mir geholfen, mir den Weg zur Writers-Guild-Versicherung zu erschreiben und so meine Gesundheit wiederherzustellen.

Ich könnte ein ganzes Buch mit meiner Dankbarkeit füllen, aber um der Kürze willen sage ich einfach nur: Danke. Du hast mich gerettet.

Du bist der Beste.

Erster Teil

Das Mädchen in der Hütte

1

Siebter Tag. Die Hütte

Ich bin an den Stuhl gefesselt. Nicht die beste Position, um mich zu verteidigen. Meine Finger werden langsam taub. So geht das nicht. Ich zapple herum, versuche die Durchblutung wieder in Gang zu kriegen.

Die Hütte ist nicht unbedingt eine Bruchbude, aber doch ziemlich muffig und widerlich. In einer Ecke liegt eine tote Maus und nirgends gibt es ein offenes Fenster, von einer Klimaanlage ganz zu schweigen. Also habe ich meine Klamotten vollkommen durchgeschwitzt, seit mich ihr Handlanger hier festgesetzt hat.

Ihr geht es vor allem darum, mich mental schwitzen zu lassen. Aber Leute körperlich unter Stress zu setzen, ist eine bewährte Foltermethode. Sie schreckt vor nichts zurück, das weiß ich sicher.

Mein Blick huscht zu dem bestickten Halstuch auf dem Beistelltisch. Es ist mit Blut verschmiert. Ich atme tief durch und mache mir klar, warum ich hier bin.

Weil du zu impulsiv warst. Du hast nicht mal einen Plan gemacht. Du bist einfach losgestürmt!

Aber das heißt nicht, dass ich nicht jetzt noch einen Plan machen kann.

Ich bewege mich, versuche den Strick zum Nachgeben zu bringen. Die Stuhllehne wackelt und knarrt, wenn ich dagegendrücke. Ich drücke fester und die Verbindungsstrebe, an der ich festhänge, lockert sich noch mehr. Dieser Stuhl ist wirklich ein klappriges Ding.

Ich kann mich losmachen. Ich muss mich nur fokussieren.

Tiefe Atemzüge. Die Aufgabe in Einzelschritte zerlegen, so wie ich es gelernt habe.

Schritt 1: Werd den Stuhl los.

Die Tür scharrt über den Boden. Ich erstarre. Klack, klack, klack. High Heels statt Stiefel. Das ist mir schon aufgefallen, als sie mich von ihrem Handlanger in die Hütte hat bringen lassen. Anscheinend ist sie bereit, sich hier draußen die Füße zu brechen. Wie dumm von ihr.

Sie setzt sich in den Sessel mir gegenüber, der Armlehnen hat und viel stabiler wirkt. An den hätte sie mich fesseln lassen müssen.

Ihre Backe ist immer noch rot von dem Schlag, den ich ihr versetzt habe. In ihrem Schoß liegt eine Mappe. Papierkram achtzig Meilen weit durch den Wald zu schleppen, ist typisch für sie, also bin ich nicht überrascht. Eher angewidert.

»Ich bin froh zu sehen, dass du o–«

Das -kay bleibt ihr im Hals stecken, als sie den Kopf hebt und mich richtig anschaut. Sie sieht den Dreck und Schweiß vieler Tage. Das getrocknete Blut – teils von mir, teils nicht. Meinen Blick, der sagt: Ich bring dich um.

Wenn sie mir nicht gibt, was ich will, werde ich das vielleicht wirklich tun. Warum sonst hätte ich mich von ihr festsetzen lassen sollen?

Sie, das ist Agent Marjorie North vom FBI. An dieser Stelle könnte ich jetzt so einen Witz anbringen, wie inkompetent das FBI ist, aber nach allem, was passiert ist, wäre das zu billig.

»Ich versuche, schnell zu machen«, redet North nach einer Weile weiter. »Dann können wir dich hier wegschaffen und versorgen lassen.«

»Ich gehe nirgends hin.«

Sie blitzt mich ärgerlich an. Ein herablassender Blick. Sie weiß es natürlich besser, sie ist hier die Autorität. »Du musst medizinisch versorgt werden.«

Nur noch ein bisschen mehr Druck auf die Lehne. Ich spüre, wie sich die Strebe aus der Verankerung löst, in der sie feststeckt.

Meine Augen wandern wieder zurück zu dem Halstuch.

Schritt 2: Stell die Frage.

»Wo ist sie, Agent North?«

North hat immerhin Anstand genug, nicht so zu tun, als wüsste sie nicht, von wem ich rede.

»Du hast meine Fragen zu beantworten, nicht umgekehrt.«

»Aber so wird das nicht laufen.«

Sie hebt die Augenbrauen, sarkastisch wie nur was. »Du bist keine Minderjährige mehr. Dir ist ja wohl klar, was das heißt.«

»Dass ich auf eine FBI-Black-Site verschleppt werde? Oder gibts die bloß bei der CIA?«

Ich drücke noch mal fest gegen die Lehne. Die Strebe lockert sich noch mehr, dann noch ein kräftiger Stoß und ich habe es geschafft.

Ich bin frei! Na ja, halbwegs. Meine Hände sind immer noch hinter dem Rücken zusammengebunden, aber am Stuhl hänge ich nicht mehr fest.

Schritt 3: Weg mit den Fesseln.

Ich klemme die Beine zusammen und krümme mich wie vor Schmerzen – was nicht weiter schwer ist, denn meine wundgescheuerten Hände tun wirklich weh. Jedenfalls kann ich auf die Art verbergen, dass ich die Handgelenke in den Fesseln verdrehe. Nachdem die Strebe weg ist, sitzen sie lange nicht mehr so straff, wie sie sollten. Noch ein paar Drehungen und … ja, geschafft. Das reicht. Wenn die Zeit reif ist, kann ich mich aus den Fesseln befreien.

Gleich ist es so weit. Ich muss sie nur ein bisschen näher locken.

»Hey«, sagt sie, als ich mich vorbeuge und aufstöhne. »Hör auf damit.«

»Ich hab Schmerzen. Wie soll ich da mit irgendwas aufhören?«, fahre ich sie an.

»Ihr dummen Kids«, brummelt sie.

»Gings nicht eben noch darum, dass ich volljährig bin?« Ich zerre die Fessel von meinem rechten Handgelenk. Ich muss North nur dazu bringen, dass sie aufsteht und auf mich zugeht, das ist alles. Aber auf einmal erscheint mir das wie eine Riesenaufgabe.

Soll ich sie weiter nerven, damit sie näher kommt? Oder sie richtig in Rage versetzen? Keine Ahnung. Ich weiß einfach nicht, auf welche Art ich sie am besten erwische.

»Wenn auch nur einer von euch daran interessiert wäre, das Ganze hier zu überleben, wärt ihr zu uns gekommen.«

»Weil beim letzten Mal, als das FBI mitgemischt hat, alles so super gelaufen ist, was?«, erwidere ich schneidend.

Darauf kann sie nichts antworten, oder? Aber in ihren Augen flackert Wut auf.

Anscheinend ist das also meine Strategie: Ich werde dafür sorgen, dass sie so richtig angepisst ist, damit sie auf mich losgeht und ich weitermachen kann mit …

Schritt 4: Schnapp dir Agent North.

»Du hast keine Ahnung, was du da redest«, knurrt sie.

Oh, das ist definitiv die richtige Strategie. Sie hat mir mehr oder weniger ihr gebrochenes Herz auf dem Silbertablett serviert.

»Ich hab eindeutig mehr Ahnung als Sie«, erkläre ich. »Schließlich bin ich diejenige, die Zeit mit Lee verbracht hat.« Jetzt hole ich zum vernichtenden Schlag aus, so wie ich es gelernt habe. Ziel auf die Stelle, wo es am meisten wehtut. Dann reiß ihnen den Boden unter den Füßen weg. »Aber Sie nennen Lee ja anders, stimmts? Sie verwenden eins von den Pseudonymen.«

»Ich benutze ihren echten Namen.« Ihre Worte sind ein abwehrendes Fauchen, in dem sich alle möglichen widersprüchlichen Gefühle mischen. Und es funktioniert, wow, ich habe es geschafft! Sie springt auf. Sie kommt auf mich zu! Ich muss bereit sein. Das hier darf ich nicht verbocken.

Gewalt habe ich nie gemocht. Aber irgendwann musste ich feststellen, dass ich wirklich gut darin bin. In letzter Zeit habe ich viele Dinge entdeckt. Wenn ein Mädchen zu sehr unter Druck gerät, passiert das eben.

Und der Druck von letzter Woche war Wahnsinn.

Als sie dicht bei mir ist, stürze ich mich auf sie, einfach so. Kein Gedanke. Kein Zögern. Denn auch das habe ich gelernt: Wenn du wirklich wild bist, verlierst du jede Angst. Ungezähmt sein, im Dreck versinken, jede Ordnung hinter mir lassen, das fügt sich jetzt ganz geschmeidig, ganz ohne Mühe. Ich fürchte, es gefällt mir sogar.

Der Überraschungseffekt funktioniert – sie taumelt erschrocken zurück, und dann passiert der Moment meines Lebens: Sie stolpert über ihre albernen Absätze. Sie fällt nach hinten, und weil sie mit den Papieren in den Händen den Sturz nicht abfangen kann, knallt ihr Kopf voll auf den Holzboden. Atemlos und benommen, wie sie ist, kommt sie nicht schnell genug hoch. Ich habe bloß eine Sekunde für meine Entscheidung, aber ich treffe sie schnell. Den Strick, mit dem ich gefesselt war, halte ich in der Hand. Ich werfe mich auf sie, presse ihr die Knie in den Bauch, wo es richtig wehtut, dann schlinge ich ihr den Strick um den Hals und ziehe zu.

Und statt nach ihrer Waffe zu greifen, setzt sie ihre ganze Energie dafür ein, die Finger unter die Fessel zu kriegen. Ihr Gesicht läuft rot an, während ich mit aller Kraft an dem Strick ziehe. Meine Arme zittern, in meinem Kreuzbein pocht Schmerz. Als ich loslasse, ringt sie nach Luft, und bevor sie mich daran hindern kann, habe ich mir schon ihre Knarre und das Messer an ihrem Fußgelenk geschnappt.

North gehört inzwischen zu den Papiertigern. Sie managt ein Office, statt Jagd auf Verbrecher zu machen. Wobei das auch früher nicht ihr großes Ding war. Jedenfalls macht sie selbst keine Einsätze mehr, das ist der Punkt. Sie ist nicht mehr in Form.

North liegt auf dem Boden und würgt, das Gesicht hochrot und geschwollen, die Augen blutunterlaufen.

»Herrgott, bist du schnell!«, keucht sie.

»Das liegt an Lees Training«, spotte ich. »Sie kennen sie wirklich nicht gut, was?«

Sie will mich packen, aber stattdessen spuckt sie Blut. Sie muss sich auf die Zunge gebissen haben, als sie zu Boden gegangen ist. Da ist sie wieder, diese Wut. Der Kick, dass ich ihren wunden Punkt so präzise erwischt habe, berauscht mich.

Ich stecke die Waffe hinten in meine Jeans, dann fessele ich sie mit dem gleichen Strick, mit dem ich festgebunden war. Wobei meine Knoten nicht so schlampig sind wie die von ihrem Handlanger. Ich mache sie so, wie Wes es mir beigebracht hat.

»Wie kommen Sie bloß darauf, mit High Heels in den Wald zu gehen?«, frage ich sie. »Sogar ich weiß, wann ich mein Outfit an die Umstände und das Gelände anpassen muss.«

Ich drücke mein Knie in ihr Zwerchfell, um sie garantiert am Boden zu halten, während ich die Pistole wieder aus meiner Jeans ziehe. Die Bewegung wirkt geschmeidig, auch wenn sie sich nicht so anfühlt. Als mir Wes zum ersten Mal zeigen wollte, wie man mit so was schießt, musste ich kotzen. Beim zweiten Mal habe ich kaum eins der Ziele getroffen, aber das braucht North nicht zu wissen. Nach dem dritten Mal bin ich dann besser geworden.

In meinem Gesicht muss etwas sein, das ihr Angst einjagt. Vielleicht ist es aber auch mehr die Tatsache, dass der Lauf der Waffe jetzt direkt auf ihr Herz zeigt.

North keucht irgendwas. Unter dem Druck meines Knies ist nichts zu verstehen. Ich lasse ihr ein bisschen Luft.

Mein Name. Fast flehend.

Gut. Ich bin froh, dass North Angst hat. Sie hat allen Grund.

»Wo ist meine Freundin?«, wiederhole ich die Frage.

Aber North keucht bloß.

Schritt 5: Verschaff dir eine Antwort auf deine Frage.

»Ich frage nur noch dieses eine Mal«, sage ich und entsichere die Waffe. Mein Knie drückt jetzt noch tiefer in ihr Zwerchfell. Panik steigt in mir auf. Liege ich etwa falsch? Ist das Schlimmste passiert?

»Iris –«

Ich ignoriere, dass sie fast zu ersticken scheint, während sie meinen Namen herauspresst.

»Ich will eine Antwort«, verlange ich. »Was haben Sie mit Nora gemacht?«

2

Nora

Vor sechs JahrenCave Springs Motel, Kalifornien

»Bist du bereit?«

Ich nicke.

Ich höre das metallische Ratschen der Schere, bevor ich spüre, wie meine Haare fallen. Schnipp, schnipp, schnipp. Amelia – nein, Lee, erinnere ich mich, denn meine Schwester heißt jetzt Lee – schneidet sorgfältig. Schwaden von Blond landen auf meinen nackten Füßen und den angestoßenen Badezimmerfliesen.

Das Motel ist schäbig – es steckt in den Siebzigern fest, was die letzte Zeit war, in der es hier in der Gegend noch echte Touristen gab. Jetzt ist der Ort nur noch eine leere Hülle, die Leute ziehen weg, statt herzukommen. Die Wälder und Berge um uns herum sind so grün, so dicht mit Kiefern bestanden, dass die vereinzelten Eichen hier und da, die sich langsam gelb färben, auffallen wie Leuchttürme.

Ich fühle mich wie eine Eiche, wo ich doch eine Kiefer sein muss. So aussehen wie der Rest, kein Individuum mehr, nur weites, endloses Grün.

Es dauert weniger als zwanzig Minuten, bis es abgesäbelt ist, das hüftlange Haar, das meine Mutter immer so verzückt hat. Das wäre mein bestes Schönheitsattribut, meinte sie, während sie meine Haare in dem Stil frisierte, den sie für das jeweilige Mädchen ausgesucht hatte. Das fällt der Zielperson ins Auge, jedes Mal.

Ein goldener Lockvogel. So haben mich Raymonds Männer genannt, wenn sie dachten, dass ich sie nicht höre.

Aber ich habe gelernt, immer genau hinzuhören. Deshalb bin ich jetzt hier und sie sind noch in Florida, entweder im Knast oder auf der Flucht vorm FBI.

Ich bin freigekommen. Jetzt müssen wir nur dafür sorgen, dass sie mich niemals finden.

Ashley Keane ist tot.

Das neue Mädchen wird bleiben. Wenn ich nur alles richtig mache.

Ich schließe die Augen, atme tief ein. Lee werkelt herum, bereitet die Haarfarbe vor.

»Damit musst du immer ganz gewissenhaft sein«, erklärt sie mir, während sie die Handschuhe überstreift. Dann arbeitet sie die Farbe in meine kurzen Haare ein. »Bei den Augenbrauen auch. Es darf nie ein Ansatz zu sehen sein.«

»In Ordnung.«

»Wir machen regelmäßig einen Färbetag«, schlägt sie vor, mit so viel Leichtigkeit in der Stimme, dass es mehr nach Spaß klingt als nach Notwendigkeit. »Und gucken Filme zusammen. Magst du Schlamm-Masken?«

»Magst du Schlamm-Masken?«

Sie lacht, während sie noch mehr Farbe in meine Haare einreibt. »Okay, du hast recht.« Dann schaut sie auf einmal nachdenklich und ihre Hände werden still. »Was magst du?«

»Was soll ich denn mögen?«

Das ist die falsche Frage. Das weiß ich, noch bevor ich den Satz ganz ausgesprochen habe. Die gute Laune in ihrem Gesicht ist wie weggewischt.

Ihre Hände lassen ab von meinen halb gefärbten Haaren, und bevor sie wieder sprechen kann, muss sie erst mal tief durchatmen.

»Ich bin nicht böse auf dich«, erklärt sie. »Ich bin –«

»Böse auf Mom.«

Sie nickt.

»Ich lese gern«, sage ich versuchshalber.

»Wirklich?« Lee stürzt sich darauf wie auf einen Rettungsring, und es ist ja wirklich einer. Sie und ich, wir sind Schwestern, aber was soll das überhaupt heißen, wenn wir nur in ein paar wenigen geschützten Momenten etwas voneinander mitbekommen haben? Außer dem viel zu riskanten Plan, durch den ich freigekommen bin, verbindet uns ja kaum mehr als gleiche Angewohnheiten und Augen.

»Meistens Biografien.«

»Ich lese viel Science-Fiction.«

»Aliens und so?«

»Nicht nur Aliens«, sagte sie. »Ich leih dir mal ein paar von meinen Lieblingsbüchern.« Ihre Hände machen weiter mit meinen Haaren. »Und du sagst mir, welche Bücher dir am besten gefallen haben?«

»Klar«, antworte ich und versuche zu verbergen, wie seltsam sich das anfühlt. Mit jemandem etwas zu teilen, das nicht zu einer Betrugsmasche gehört.

Sie ist jetzt fertig mit den Haaren und streicht meine Augenbrauen ein, nachdem sie die Haut drum herum mit Vaseline eingecremt hat, damit sie sich nicht verfärbt. Damit es nicht auffällt. Damit es natürlich wirkt.

Ihre Bewegungen sind routiniert. Sie macht das hier – na ja, wie oft wohl? Mindestens alle zwei Wochen? Vielleicht öfter. Ein Ritual der Tarnung, eine Erinnerung daran, dass Freiheit leicht verloren geht.

Das hat Mom immer gesagt. Wahrheit ist eine Waffe. Vertrauen ist ein Speer. Freiheit … ist auch nur etwas, das man wieder verliert, Baby.

Noch so ein Täuschungsmanöver. Du kannst etwas ja nur dann verlieren, wenn du es erst mal gehabt hast. Also habe ich sie mir genommen, die Freiheit, wie eine Diebin, die ich nun mal bin. Wir werden sehen, ob ich sie wieder verliere.

Lee wickelt Plastikfolie um meine Haare und bringt mich für die Wartezeit in den Schlafraum. Ich setze mich auf die kratzige Polyester-Tagesdecke und starre meine Hände an. Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, Gesprächspausen mit Geplapper zu füllen und mit tastenden Fragen, die wie eine bedeutungslose Unterhaltung klingen sollten. Aber mit ihr soll ich das alles nicht tun.

Mit ihr soll ich echt sein. Aber ich weiß nicht, wie das geht. Noch nicht.

Also betrachte ich meine Finger und frage mich, was wohl mit seinen passiert ist. Ob sie ihm die wieder angenäht haben? Er wird außer sich sein, dass ich ihn verletzt habe.

»Er bringt mich um.«

Ihre Antwort kommt genauso schnell, wie meine Angst hochgeschossen ist. »Raymond wird dich nicht finden.«

»Aber wenn doch?«

»Dann laufen wir weg.«

»Aber wenn uns seine Männer erwischen?«

Sie sieht mich nicht an. Sie spricht es nicht aus.

Also frage ich.

»Hat Mom mit dir jemanden umgebracht, eine von den Zielpersonen?«

Lees Gesicht schießt zu mir herum, ihre Augen sind weit aufgerissen. Da ist keine Maske, sie versteckt nichts. Entsetzt platzt sie heraus: »Wen hat sie mit dir getötet?«

Jetzt bin ich diejenige, die schweigt. Bin ich zu weit gegangen?

»Ging es darum in Washington? Ist das der Grund, warum du angerufen und gleich wieder aufgelegt hast?«

Ich nicke. Und dann schiebe ich etwas nach, das sich anfühlt, als wollte ich mich verteidigen; und vielleicht will ich das ja auch, ein bisschen zumindest. »Er hat es verdient.«

»Ist es der, der –« Mehr sagt sie nicht. Das braucht sie auch nicht. Stattdessen steht sie auf, läuft in engen, aufgeregten Kreisen zwischen Tür und Bett hin und her und reibt mit den Fingern an ihrem Daumen.

»Ich bring sie um«, haucht sie, als würde sie hoffen, dass ich es nicht höre. Ich muss es auch gar nicht hören, ich spüre es, es erfüllt den Raum um uns. Ein Verlangen, das ich wiedererkenne, das mir vertraut ist: die eigene Mutter töten zu wollen.

»Du bist keine Mörderin«, sage ich. Diese Wahrheit brennt tief in meiner Kehle. In mir steckt mehr von einer Mörderin und ich habe immer noch Geheimnisse vor ihr. Wie den USB-Stick, den ich Raymond gestohlen und nicht mit dem Rest des Beweismaterials dem FBI ausgehändigt habe.

»Oh, verdammt, Mädel«, sagt sie. »Du hältst dich nicht zurück, was?« Sie reibt sich das Gesicht, schiebt die Handfläche darüber, wie um sich zu verstecken. Als sie mich anschaut, brennen Versprechen in ihrem Blick – die Art von Versprechen, die ich nicht wirklich verstehe, weil es darin um Loyalität und Liebe geht, also um Dinge, von denen ich wenig weiß.

»Wenn uns irgendwer findet, laufen wir weg«, sagt sie. »Und wenn uns doch einer erwischt … wenn jemand versucht, dir wehzutun oder dich von mir wegzuholen, dann werde ich ihn töten.«

»Ich will das aber nicht für dich.« Die Worte genügen nicht. Das ist so ein gewaltiges Gefühl – diese Panik bei der Vorstellung, sie könnte tun, was ich damals in dieser Nacht tun musste. Als ich Mom geholfen habe, die weiche Erde aufzugraben, ihre Wut wie ein schweres Gewicht zwischen uns.

Vielleicht bin ich Gift.

Dass ich gefährlich bin, weiß ich.

Aber muss ich immer gleich tödlich sein?

Ihr Telefon brummt. Der Alarm für meine Haare. Sie betrachtet es, als wüsste sie nicht, wozu das gut sein soll, dann schüttelt sie alles von sich ab.

Sie wäscht mir im Waschbecken die Farbe aus, warmes Wasser und ihre noch wärmeren Hände in dem, was noch übrig ist von meinen Haaren. Sie reicht mir ein Handtuch und gibt mir meine neuen Kleider, dann geht sie fertig packen. Ich rubbele mir das Wasser aus den Haaren, bevor ich die schwarze Baggy-Jeans überstreife, deren Beine ich hochkrempeln muss, um nicht darüber zu stolpern, dann kommen das blaue T-Shirt und das schwarz-weiße Flanellhemd. Ich schwimme in diesen Klamotten, und irgendwie fühlt sich das gut an. Ich schalte den Fön an, um meine Haare fertig zu trocknen. Jetzt wo sie so kurz sind, geht das viel schneller.

Die ganze Zeit über kehre ich dem Spiegel den Rücken zu. Aber irgendwann gibt es keine Ausrede mehr, es ist keine einzige feuchte Strähne mehr übrig. Also drehe ich mich um und sehe sie zum ersten Mal.

Ich starre meine dunklen Haare an, die mir fransig und stumpf geschnitten um die Ohren schwingen, mein Nacken ist frei und mein Kopf so viel leichter, jetzt wo die Last der langen Haare von mir genommen ist. Mit meinen großen Augen unter den jetzt dunklen Brauen sehe ich wie eine kaputte Porzellanpuppe aus, der jemand mit Schere und Stift zu Leibe gerückt ist, und einen Augenblick lang bestaune ich den Unterschied.

Wer bist du?

»Alles gepackt. Wir sollten los«, sagt Lee von der Tür her.

Aber ich starre weiter das Mädchen im Spiegel an. Lee hat mir tagelang den erfundenen Lebenslauf eingebläut, den sie sich für mich ausgedacht hat, passend zu dem Leben, das sie selbst sich in Clear Creek erschaffen hat. Aber damit das alles real wird, muss noch eine Sache passieren.

Ohne sie kann ich niemand Neues werden.

Meine Schwester stellt sich hinter mich, einen Moment lang schweben ihre Hände über meinen Schultern, als hätte sie Angst, mich zu berühren, oder vielleicht auch, als könnte sie das nicht ertragen. »Hast du dich entschieden?«

Ich nicke. Sie hat mich selbst meine Haare, meine Kleidung und auch meinen Namen aussuchen lassen. Das hat Mom nie getan. Diese Tatsache sollte mir nicht so wahnsinnig viel bedeuten, das ist mir klar.

Aber das tut sie.

Ich sage ihr den Namen. Jetzt lassen sich ihre Hände auf meinen Schultern nieder.

»Nora.« Sie lächelt mich an, unsere Blicke begegnen sich im Spiegel. Sie drückt meine Schultern. »Du heißt Nora.«

»Nora«, wiederhole ich, starre das Mädchen im Spiegel an und lasse mich von dem Klang tragen. »Nora O’Malley.«

Ich schließe die Augen. Meine Schultern neigen sich, auch meine Hüften verschieben sich, denn Nora lehnt sich nach rechts. Sie bevorzugt ihre starke Seite und sieht Leuten direkt in die Augen, und sie lächelt nur dann, wenn etwas wirklich witzig ist. Ich atme ein und aus, lasse mich in sie hineingleiten.

Als ich die Augen wieder öffne, ist sie da und erwidert meinen Blick.

Nora.

Sie sieht skeptisch aus.

Und ziemlich mitgenommen.

Aber sie fühlt sich frei.

3

Iris

Siebter Tag. Die Hütte

Ich drücke Agent North immer noch mit dem Knie auf den Holzboden, aber wenn ich nicht bald aufstehe, lässt mich mein Körper im Stich und ich verliere meinen Vorteil. Die Anstrengung lässt meinen Rücken schmerzhaft pochen, denn vor lauter Stress blute ich schon seit Tagen immer wieder. Von Noras Notfall-Tampons sind nur noch zwei übrig.

Ich hasse das so sehr. Die ganze Tour habe ich um meine Periode herum geplant, so wie ich das immer tun muss. Ich hasse auch, wie viel anstrengender es deswegen ist, North am Boden zu halten. Wenn mein Oberschenkel anfängt zu zittern, merkt sie das und ich bin am Arsch. Ich muss uns beide in die Senkrechte bringen.

»Iris, ich weiß nicht, wo Nora ist«, beharrt Agent North.

»Sie lügen. Sie haben doch ihr Halstuch.« Ich reiße den Kopf herum zu dem blutverschmierten lila Tuch auf dem Tischchen. »Das hatte sie um ihre Hand. Ich habe es selbst drumgewickelt. Das kann sich nicht einfach von selbst gelöst haben, also erzählen Sie mir nicht, Sie hätten es irgendwo gefunden.«

»Mein Kollege hat es gefunden«, insistiert North. »Warum sollte ich ausgerechnet jetzt lügen?« Sie starrt mich an, mit vortretenden Augen.

Ich will ihr nicht glauben. Das will ich auf keinen Fall.

»Wahrscheinlich hat sie sich im Wald verirrt«, sagt North. »Wenn du mich aufstehen lässt, kann ich helfen –«

»Ihre Akten über uns müssen absolut beschissen sein«, gebe ich zurück, teils auch, um mich von dem Gedanken abzulenken, zu dem mein Kopf driften will. Liege ich womöglich falsch? »Die anderen sind hier aufgewachsen. Sie wissen, wie man sich in diesen Wäldern orientiert.«

»War ja klar, dass sie Kids findet, die genauso verrückt sind wie sie«, murmelt North.

»Wir sind nicht verrückt«, schnauze ich mit einer Heftigkeit, die mir fast selbst wehtut.

Sie lacht. Ich spüre die Vibration an meinem Knie. »Du bist empfindlich«, sagt sie. »Wenn du Leute drankriegen willst, musst du dich besser im Griff haben. Dir steht alles ins Gesicht geschrieben.«

»Ich bin keine Trickbetrügerin, und Noras aktive Zeit ist vorbei.«

»Ach, Kleine.« Die Herablassung in ihrer Stimme macht mich fertig. »Glaubst du das im Ernst?«

»Ich kenne sie wirklich«, sage ich. »Sie glauben nur, Sie würden sie kennen.«

»Bist du sicher, dass es nicht umgekehrt ist? So sicher, dass du dein Leben drauf verwetten würdest?«

Ich drücke mich von ihr hoch, behalte die Waffe aber fest im Griff. Mit einer Bewegung des Laufs bringe ich sie zum Aufstehen; die Hoffnung, die kurz in ihrem Gesicht aufgeblitzt ist, findet also schnell ein Ende. North ist nicht besonders groß. Jetzt, wo sie ihre High Heels los ist, sehen wir uns direkt ins Gesicht.

»Iris, willst du das wirklich durchziehen?« Sie hebt die Stimme. Verzögerungstaktik. Sie hofft, dass einer von ihren Handlangern rechtzeitig zurückkommt. Ich bin mir nicht zu gut dafür, sie als menschlichen Schutzschild einzusetzen. »Ich bin FBI-Agentin. Das ist Kidnapping.«

»Davon hats in letzter Zeit ziemlich viel gegeben.«

»Du hast eine Zukunft«, quatscht sie weiter, als ob das für mich irgendwas ändern würde. »Du willst nicht sterben. So bist du nicht.«

Ich ignoriere ihr Gerede, während ich sie quer durch die Hütte zum Hinterausgang schubse. Diese Tür führt nicht auf die Lichtung, sondern mitten ins Dickicht des Waldes.

Aber sie kapiert den Hinweis nicht, sondern macht einfach weiter. »Du bist eine Einserschülerin. Du hast eine Mutter, die alles für dich tut. Und dein Vater vermisst dich, da bin ich –«

Ich schnaube. »Ihre Akten sind wirklich abgrundtief scheiße. Los, rein in die Stiefel da.«

»Was?«

»Schnappen Sie sich die Stiefel bei der Tür und ziehen Sie sie an. Ich hab keine Lust, Sie im Wald die ganze Zeit über Ihre Füße jammern zu hören.«

»Iris …« Sie will es wie eine Warnung klingen lassen, aber es ist ein Flehen.

Ich schüttele den Kopf. »Tun Sie, was ich sage.«

Widerstrebend schiebt sie ihre Füße in die Stiefel.

»Und jetzt die Schnürsenkel, aber richtig zuknoten. Nicht dass Sie stolpern.« Nachdem sie fertig ist, öffne ich die Tür, damit sie als Erste durchgehen kann, und bleibe dicht hinter ihr, während wir uns die Treppen runter und auf den Wald zubewegen.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

»So ein Mädchen bist du nicht, Iris«, sagt sie, den Blick fest auf die Bäume gerichtet. Sie klingt selbstsicher, als ob sie wirklich glaubt, was sie sagt. Das entlockt mir fast gegen meinen Willen eine Frage, ich bin einfach zu neugierig.

»Was für ein Mädchen bin ich denn Ihrer Meinung nach?«

»Du bist eine gute Schülerin und hältst dich offenbar an Regeln. Du gehst nicht mal bei Rot über die Straße.«

Ich runzele die Stirn, denn das wirkt seltsam konkret. Hat sie uns beobachtet? Ich warte, die Waffe auf ihren Rücken gerichtet, will mehr hören über diese Version von mir.

»Du hast Ziele, du bist ehrgeizig. Darum ging es doch bei dieser Tour, oder? Um dein Praktikum im Feuerwachturm?«

Ein verrücktes Grinsen breitet sich in meinem Gesicht aus, denn – wie zur Hölle ist das möglich? – das Praktikum habe ich vollkommen vergessen.

»Lassen wir diese alberne Theorie mal stehen, die Sie sich da zusammengereimt haben, North. Das ist halt so Ihr Ding.«

Sie riskiert einen kurzen Blick über die Schulter zurück zu mir. »Wenn ich falschliege, warum erklärst du’s mir dann nicht einfach?«

»Das wäre nicht klug. Und ich bin klug.«

»So ein Mädchen bist du nicht«, wiederholt sie. »Du hast schon viel zu viel auf dich genommen.«

Dieser Satz erwischt mich; ich bleibe stehen, aber ohne die Waffe zu senken. »Was soll das heißen?«

Sie lacht. Ein raues, wissendes Lachen, das mir in den Magen fährt, denn für den Bruchteil einer Sekunde wirkt es absolut überzeugend. Aber dann redet sie weiter und besiegelt ihr Schicksal. »Sie ist gefährlich. Natalie Deveraux ist eine Mörderin.«

Der Name lässt mich frustriert aufstöhnen. »Sie heißt Nora. Bringen Sie sich auf Stand, North.«

»Vielleicht solltest besser du dich auf Stand bringen, Iris. Ich weiß Bescheid. Ich habe alle internen Berichte zu dem Banküberfall gelesen. Alle Aussagen und Statements.«

Die Bank? Will sie ernsthaft über die Bank reden? »Und?«

»Ich weiß, dass nicht du diese chemische Bombe gebastelt hast, die den ersten Bankräuber abserviert hat. Und du warst garantiert auch nicht diejenige, die den in der Scheune in Brand gesetzt hat. Deine Freundin hat dich überredet, die Schuld auf dich zu nehmen, damit sie nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.«

Ein heißer Ruck durchfährt mich. Was ist nur los mit dieser Frau, dass sie dermaßen danebenliegt? Jedes Mal, wenn ihr die Wahrheit serviert wird, schiebt sie sie weg und bastelt sich ihre eigene Storyline.

Zu Norths Unglück bin ich nämlich doch die Art von Mädchen, die einem Bankräuber mit einer Bombe aus Putzmitteln das Gesicht wegbrennt, und für den anderen haben mein Petticoat und ein Feuerzeug gelangt. Ich musste Nora nicht decken, denn ich habe alles allein gemacht. Es war meine eigene Idee. In Chemie bin ich schon immer gut gewesen.

Diese Kerle wollten meiner Freundin wehtun. Duane Collins – auch bekannt als Erzfeind Nummer 9 auf meiner aktuellen Liste – hat sie zu entführen versucht. Ich habe dafür gesorgt, dass er das nicht mehr tun konnte, so wie es jedes vernünftige Mädchen tun würde, wenn sie nur ausreichend brennbare Unterröcke und das Element der Überraschung auf ihrer Seite hat.

Aber Duane ist kein Problem mehr. Er sitzt im Knast und der Bankraub ist längst vorbei. Den haben wir überlebt; ob wir das hier überleben werden, steht noch dahin. Und jetzt bin ich hier. Am Waldrand.

Am Rand der kalten, harten Wahrheit, die Agent North nicht hören will.

Aber jetzt muss sie endlich anfangen, mir zuzuhören.

»Agent North, tun Sie eine Sache für mich?«

Sie nickt gespannt.

»Ich möchte, dass Sie gut darüber nachdenken. Über sie nachdenken. Über das Mädchen, das Nora Ihrer Einschätzung nach ist. Wenn ich keine Zielperson und keine Ablenkung bin, wenn ich wirklich jemand bin, den sie liebt … dann möchte ich, dass Sie sich fragen: In was für eine Art von Mädchen würde sich jemand wie Nora wohl verlieben?«

Ich warte, sehe sie taumeln und mit sich ringen, und schließlich kann ich an ihrem Gesicht ablesen, dass sie begreift. Mit dem Begreifen kommt der Schrecken.

»Du bist nicht –«, fängt sie an, aber mein Lächeln unterbricht sie abrupt.

»Ich bin alles, was Sie denken. Wahrscheinlich mehr. Ich habe nämlich eine sehr aufreibende Woche gehabt, die mir ziemlich zugesetzt hat. Was also ist, wenn Sie wirklich die Wahrheit sagen? Wenn Ihre Handlanger Nora nicht irgendwo versteckt halten? Dann werden Sie herausfinden, dass ich bereit bin, noch viel weiter zu gehen, als nur ein paar Typen in Brand zu setzen.«

»Ich habe sie nicht, Iris.« Vor lauter Panik bricht ihre Stimme.

In den Büschen und Bäumen vor uns raschelt es. Inzwischen weiß ich genau, wie es sich anhört, wenn Wes näher kommt, nach diesen Tagen des Lauschens und Versteckens, nach all den Stunden, in denen ich auf seinen Ruf gewartet habe, das Herz in den Händen, die Angst in der Kehle. Schritte auf dem Waldboden, gefolgt von Pfoten. Turbo ist bei ihm. Gut. Dann habe ich alles, was ich brauche.

»Ich hoffe, Sie lügen«, sage ich. »Wenn Sie Nora nämlich nicht haben, sind Sie der beste Köder, um sie zurückzukriegen.«

4

Erzfeinde von Iris

(Nach Priorität gelistet)Siebter Tag

11. Mein Vater(erledigt)

10. Der Vater von Wes(von Nora erpresst)

9. Duane Collins(in Brand gesetzt, aktuell im Gefängnis)

8. Abigail Deveraux (noch zu klären)

7. Norths Handlanger #1 (vorübergehend festgesetzt)

6. Gefolgsmann #2 (verletzt, Aufenthaltsort unbekannt)

5. Gefolgsmann mit der Knarzstimme (verletzt, Aufenthaltsort unbekannt)

4. Norths Handlanger #2 (Wes fragen)

3. Caleb (Aufenthaltsort unbekannt)

2. Agent North (aktuell von mir gefangen genommen)

1. Raymond Keane (die einzige andere Person, die Nora haben könnte)

Zweiter Teil

Das Mädchen in Not

5

Nora

Zwei Tage vor der Tour

Es fängt an mit diesem verdammten Vogel im Garten.

Eigentlich doch nicht. Eher mit dem Hund, oder? Jedenfalls bringt mich Turbos Gebell aus dem Wohnzimmer dazu, durchs Fenster nach dem Vogel zu schauen.

Wenn man es ganz genau nehmen will, könnte man sagen, es hat im letzten Jahr angefangen, bei dem Banküberfall mit Geiselnahme, der dem Felsbrocken von PTBS, mit dem wir drei uns sowieso schon rumgeschlagen haben, noch ordentlich eins draufgesetzt hat.

Wenn es noch genauer sein soll, wirklich genau, hat es wohl auf dem Tennisplatz in Florida angefangen, an dem Tag, an dem Raymond Keane auf mich und meine Mutter zugekommen ist, oder vielleicht auch in der Nacht ein paar Jahre später, in der ich meinem ach so geliebten Stiefvater die Finger abgeschnitten habe, um an seinen Safe zu kommen und im Geschacher mit dem FBI meine Freiheit zu sichern.

Aber es geht noch genauer: Im Grunde fängt es an dem Tag an, an dem ich geboren wurde, mit einer Trickbetrügerin als Mutter, die mir alles beigebracht hat, was sie konnte, und die mich, als ich älter wurde, als Partnerin in ihre Betrügereien hineingezogen hat, nur um dann alles hinzuschmeißen und einen noch viel schlimmeren Verbrecher zu heiraten, was mich dazu gezwungen hat, zum Polizeispitzel zu werden, um mich zu retten – und das alles, obwohl ich da noch nicht mal ein Teenager war.

Langweilig war mein Leben nie. Aber es kam mir doch irgendwie übertrieben vor, als ich ein paar Wochen nach dem Schulabschluss aus dem Fenster schaute und da dieser riesige schwarze Vogel auf dem Zaun hockte, wie ein ganz besonders mieser Todesbote speziell für mich.

»Krähe!«

Beinahe lasse ich meine Schale mit den Schoko-Pops fallen. Ich habe nicht mal gehört, wie Wes in die Küche gekommen ist.

»Iris! Eine Krähe!«

»Was?« Sie steckt den Kopf zur Tür rein und schaut in die Richtung, in die er zeigt. »Ja! Ich hol die Krähenpfeife. Wo hast du sie hingelegt?«

»Keine Ahnung.«

»Ich hab gleich gesagt, dass wir ein Lanyard dafür brauchen!«

Während die beiden rumrennen und die Krähenpfeife suchen, esse ich weiter. Als sie das Ding endlich gefunden haben, stürzen sie nach draußen und krächzen immer im Wechsel die Krähe damit an.

Lee stolpert in die Küche, die Haare vom Schlafen zerzaust und mit dunklen Ringen unter den Augen. »Kaffee?«

Ich deute mit dem Kinn Richtung Kaffeemaschine, den Mund voller Schoko-Pops.

Sie schenkt sich eine Tasse ein und kippt sie runter. Erst nachdem sie sich noch mal Kaffee eingeschenkt hat, runzelt sie die Stirn und schaut aus dem Fenster. »Krähe?«, fragt sie, nachdem sie Wes und Iris eine Weile dabei zugeschaut hat, wie sie im Garten herumtigern.

»Krähe«, bestätige ich.

»Haben die beiden eigentlich mal verlauten lassen, warum sie unbedingt eine Art Rabenvogelarmee in unseren Garten locken wollen?«

»Ich glaub, alles ging mit den Rotkehlchen los, die sie gefüttert haben, und dann hat sich das Ganze irgendwie verselbstständigt. In Corning in der Vogelauffangstation hat Wes rausgefunden, wie gern er mit Vögeln arbeitet.« Ich zucke mit den Achseln. »Und das ist dabei herausgekommen.«

»Ach, Nora«, seufzt Lee.

»Hey! Ich bin nicht der General dieser Armee. Ich kann nichts dafür.«

»Du müsstest mal die Liste sehen, die Wes mir gemacht hat für die Zeit, wenn ihr weg seid.«

Ich zucke zusammen. Wes hat für die Futterspender ein ausgeklügeltes System entwickelt. Wahrscheinlich hat er es Lee haarklein dargelegt, damit sie es genauso macht.

»Tut mir leid.« Ich drehe mich zu ihr, während ich das sage, aber als ich sie lächeln sehe, merke ich, dass meine Entschuldigung eigentlich überflüssig ist. Lee sieht aus dem Fenster und beobachtet die beiden dabei, wie sie mit der Krähenpfeife den Vogel rufen, der verzückt zu ihnen herüberschaut.

»Schon in Ordnung«, sagt sie. »Aber ich kaufe noch eine Vogeltränke, wenn ihr weg seid. Die Vögel sollen nicht immer an den Pool, das Chlorwasser ist garantiert nicht gut für sie. Zu warm ist es auch.«

»Oh Himmel«, sage ich, als es mir klar wird. »Du bist ja genauso verliebt in die Vögel!«

»Die kleinen braun-weißen, die haben ganz eigene Persönlichkeiten«, murmelt Lee in ihren Kaffee.

»Softie.«

Wie um zu beweisen, dass ich recht habe, kommt Turbo ins Zimmer getrottet und steuert direkt auf Lee zu.

»Seid ihr wirklich sicher, dass ihr sie mitnehmen wollt?«, fragt Lee und tätschelt Turbo den breiten, kantigen Kopf. Turbo lässt genüsslich die Zunge raushängen, ihre dunklen Augenbrauen tanzen.

Turbo hat nur noch ein Auge; das andere war zu schlimm infiziert, als sie gerettet wurde. Es musste entfernt werden, doch inzwischen ist alles verheilt. Iris sagt, das fehlende Auge würde sie schelmisch wirken lassen. Ich finde eher, sie sieht damit wie ein Pirat aus, aber jedes Mal, wenn ich das laut ausspreche, erklärt mir Wes, ich dürfte seinem Hund auf gar keinen Fall eine Augenklappe verpassen. Als ob ich jemals auf eine derart geschmacklose Idee käme. Iris ist diejenige, die Turbo Blumenkränze aufsetzt und süße Fotos von ihr macht. Ich habe ihr nur Hundehalstücher genäht, aus meinen alten Flanellhemden.

»Wes will sie dabeihaben. Die beiden machen schon seit Monaten immer wieder lange Wanderungen zusammen. Außerdem kann uns Turbo rechtzeitig vor großen Tieren warnen.«

»Euer Bärenspray nehmt ihr mit, ja?«

»Wes hat welches für jede von uns.«

»Mhm.« Sie gießt sich noch mal Kaffee ein. Wenn sie so weitermacht, muss ich eine zweite Kanne kochen.

Zu behaupten, sie wäre nicht sonderlich begeistert gewesen über unseren Plan, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber sie kann nichts dagegen tun, und ich weiß, wie sehr das an ihr nagt. Das ist in letzter Zeit ein Ding für sie. Der Verlust von Kontrolle. Besonders bei der Sache mit dem College.

Lee will unbedingt, dass ich studiere. Dabei habe ich mich nicht mal irgendwo beworben. Es ist nicht so, dass ich gelogen hätte – ich habe immer klar ausgesprochen, dass mir nichts daran liegt. Ich habe ihr auch gesagt, was ich stattdessen will: meine Lizenz als Privatdetektivin machen und mit ihr zusammenarbeiten. Aber das macht ihr nur noch mehr Sorgen.

Keine Ahnung, was sie erwartet hat. Solange ich sie kenne, habe ich wie sie sein wollen. Soll ich auf einmal damit aufhören und stattdessen auf irgendein College gehen? In einem Seminarraum sitzen und anderen Leuten dabei zuhören, wie sie über das Leben reden, wo ich selbst ein halbes Dutzend verschiedene Leben gelebt habe, noch bevor ich ins Teenageralter gekommen bin? Außerdem habe ich Schule sowieso nie gemocht. Ich bin hingegangen, weil normale Mädchen das eben tun. Und Nora sollte normal sein. Aber jetzt ist Nora keine Rolle mehr. Sie ist … ich. Wie kann sich Lee da wünschen, dass ich meine vielleicht letzten Lebensjahre damit zubringe, wieder nur so zu tun als ob?

Aber wenn ich das laut ausspreche, streiten wir wieder. Das haben wir schon die ganze Zeit gemacht, seit Raymond das Revisionsverfahren gewonnen hat.

Ich verstehe ja, warum ihr Instinkt ist, vor ihm wegzulaufen. Sie ist Mom weggelaufen, und nur wieder zurückgekommen, um mir beim Weglaufen zu helfen. Das Weglaufen hat sie gerettet, und mich auch. Weglaufen hat gut funktioniert für uns, und jetzt ist Raymond draußen, in Freiheit, wegen irgendwelcher Formfehler, die ich nicht verstehe.

Es war keine Überraschung, als das passiert ist. Aber das, was danach passiert ist, schon. Denn nachdem er aus der Haft entlassen worden war, passierte … einfach nichts.

Keiner hat mich geschnappt. Keiner ist gekommen, um sich den USB-Stick zu holen, den ich vor vielen Jahren aus Raymonds Safe geklaut habe: den Stick mit seinen Erpressungsdateien, der nie beim FBI gelandet ist. Ich habe mein Druckmittel nur als Schutzschild eingesetzt, aber mir war klar, dass er eine Drohung darin sehen würde, was es ja letztlich doch auch war. Ich kenne Raymond Keane nicht nur, ich habe ihn überlebt. Das ist ein Unterschied. Keines von beidem hätte ich je tun sollen, aber es kam noch schlimmer: Ich war klüger als er, ich habe ihn ausgetrickst.

Darum warte ich seit jetzt schon vier Monaten so ziemlich jeden Tag darauf, dass es mich erwischt. Das könnte sehr stressig sein, aber ich mache etwas, das Margaret, meine Therapeutin, kompartmentalisieren nennt, denn was soll ich sonst tun?

Ich schaue quer durch die Küche auf Lee. Sie sieht immer noch Iris und Wes zu. Mein Blick wandert über ihr vertrautes Profil, aber bald muss ich mich wieder auf mein Frühstück konzentrieren, denn es tut weh, sie länger zu betrachten. All die Fragen auszuhalten, die sich dabei in meinem Kopf auftürmen.

Und die Schuldgefühle, die sich immer tiefer in mich hineinschrauben.

Raymond weiß, wo wir sind. Er weiß, wie ich aussehe. Er weiß, welche Menschen mir etwas bedeuten. Dafür hat Duane Collins gesorgt.

Was mich zu den Entscheidungen bringt. Es sind die gleichen Entscheidungen wie immer. Washington. Der Strand. Die Bank. Aller guten Dinge sind drei, heißt es immer, und dass das dritte Mal Glück bringt. Das vierte Mal ist wahrscheinlich eher ein Fluch oder so.

Jedenfalls stecke ich wieder tief drin. Wegrennen. Verstecken. Kämpfen. Wohl das Nützlichste, was sie einem in der Schule beibringen – ziemlich beschissen, ich weiß.

Ich rede mir die ganze Zeit ein, dass ich wählen kann zwischen diesen drei Möglichkeiten. Aber habe ich wirklich die Wahl, wenn ich bis jetzt jedes Mal kämpfen musste, bevor ich an Wegrennen oder Verstecken auch nur denken konnte?

Wir könnten natürlich schon weglaufen. Auf der Stelle. Heute. Morgen. Seit Lee mich hierhergebracht hat, damit ich Nora sein kann, gibt es ausgeklügelte Pläne dafür. Wir könnten uns ein neues Versteck suchen. Uns in neue Identitäten hüllen.

Wenn ich behaupten würde, ich könnte dem Fluchtimpuls nur schwer widerstehen, würde das jeder glauben. Aber es wäre gelogen. Und lügen tue ich im Moment sowieso schon genug.

Wes und Iris kommen wieder rein und quatschen über geeignete Lanyards, während ich meine Schoko-Pops aufesse und auch für die beiden etwas zum Frühstücken hinstelle. Turbo kriegt sich gar nicht mehr ein vor lauter Begeisterung, dass Wes wieder da ist, obwohl die beiden höchstens zehn Minuten getrennt waren. Wes beugt sich runter, nimmt ihren großen Kopf zwischen die Hände und reibt ihr die Backen, während Turbo sich windet vor Wonne – und natürlich ist Wes bald voller Hundehaare.

»Hat die Krähe Hallo gesagt?«, frage ich Iris.

»Wir sind fast so weit«, antwortet Iris, während sie ihren Tellerrock mit Trompe-l’Œil-Schleifen und -Bändern sorgsam um sich ausbreitet, bevor sie sich setzt, damit er ja nicht zerknittert.

»Hey, danke, dass du Amanda gestern geholfen hast mit ihrer Reifenpanne«, sagt Wes und löst sich endlich von Turbo.

»Ja, klar. Hast du das Zelt gekriegt, das du haben wolltest?«, frage ich.

Er nickt.

»Super. Bis morgen müsste ich auch fertig sein mit Packen.«

»Ich bin morgen Abend bei meiner Mom«, erinnert mich Iris. »Sie ist total traurig, dass ich so lange weg sein werde.«

»Dann können sie und ich uns ja zusammentun in unserem Elend«, sage ich.

Iris lacht. »Sie muss es länger aushalten als du! Im Feuerwachturm bin ich ja nur zwei Wochen.«

»Was meinst du, Wes?«, frage ich. »Schaffen wir’s, sie nach zwei Wochen wieder da wegzuholen?«

»Das bezweifle ich.«

Sie streckt uns die Zunge raus. »Ich kann nicht ewig im Wald bleiben, schon allein wegen der Endo-OP. Die verpasse ich auf keinen Fall. Im September muss ich in L.A. sein, das ist klar.«

Jedes Mal, wenn sie die OP erwähnt, erfasst mich Panik, dabei ist das wirklich eine gute Aussicht. Der beste Weg, um ihre Schmerzen zu lindern. Aber wenn deine Freundin unters Messer kommt, setzt dir das eben zu, egal wie großartig die Chirurgen und wie ausgeklügelt die Medizinroboter sein mögen. Iris hat eine ganze Broschüre, in der es nur um den Roboter geht.

»Was habt ihr heute vor?«, fragt Lee.

»Ich mach was mit Amanda«, sagt Wes.

»Iris und ich, wir gehen schwimmen. An den See.«

Iris schaut stirnrunzelnd von ihrer Schale auf. »Tun wir das?«

Ich trete ihr unter dem Tisch leicht ans Bein. »Das haben wir doch gestern besprochen, weißt du nicht mehr?«

Sie nimmt einen Löffel Frühstücksflocken. »Stimmt! Sorry, ich muss noch mal heim, mir den Badeanzug schnappen. Den hab ich ganz vergessen.«

»Macht nichts.« Ich lächle Lee an. »Ich kann heute Abend kochen. Bis dahin sind wir zurück.«

»Klingt gut«, sagt Lee. »Soll ich Turbo zur Arbeit mitnehmen? Ich bin heute im Büro.«

»Du wirst sie vermissen«, neckt Wes. »Also nimm sie heute ruhig mit.«

»Na dann mal los, mein Mädchen.« Sie stößt einen schrillen Pfiff aus und Turbo schlittert mit wedelndem Schwanz auf sie zu. »Bis später, ihr drei«, sagt Lee.

»Tschüss.«

Wes winkt den beiden mit vollem Mund hinterher, als sich die Eingangstür hinter ihnen schließt.

»Meinst du, sie hat was gemerkt?«, fragt Wes leise.

»Ist sie denn weg?« Iris wirft einen Blick über die Schulter.

Ich lege meinen Finger auf die Lippen.

Wir warten.

Als ich aufstehe und zum Fenster gehe, sehe ich die Rücklichter von Lees Truck die Straße hinunter verschwinden.

»Jetzt können wir loslegen.«

6

Nora

Zwei Tage vor der Tour

»Schneller!«, verlangt Iris, während sie einen ordentlichen Knoten macht und in einer solchen Geschwindigkeit den nächsten bindet, dass meine Augen kaum hinterherkommen.

»Ich mach schon so schnell, wie ich kann! Sind nicht alle so flink wie du.«

Sie wirft einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass wir allein im Wohnzimmer sind, bevor sie hinterherschiebt: »Du bist doch diejenige, die schon als Kind alle Taschenspielertricks beherrscht hat!«

»Das ist keine Qualifikation zum Luftballonbinden!« Ich winde mir den Gummi um die Finger und knote ihn mühsam zu, während Iris die Luftballons so schnell wegarbeitet, wie die Vögel draußen ihre Talgknödel niedermachen. »Wir hätten Folienballons nehmen sollen.«

»Gib her.« Sie nimmt mir den Luftballon aus der Hand. »Hilf lieber Wes, das Essen rauszutragen. Die Leute kommen jeden Moment.«

»Lass das, Wes!«, höre ich Amanda lachen, noch bevor ich die Küche betrete. Ihr Blick sucht meinen. »Er will immer noch mehr Ananassaft in die Bowle kippen«, erklärt sie und scheucht ihn weg. »Seid ihr fertig mit den Ballons?«

»Iris hat mich weggeschickt. Ich soll lieber mit dem Essen helfen.«

»Dann behalt du die Bowle im Blick, und ich geh rüber und helfe ihr«, erklärt Amanda. Sie verdreht die Augen wegen Wes, stößt ihn im Vorbeigehen aber mit der Hüfte an. Jetzt muss ich mir alle Mühe geben, nicht die Augen zu verdrehen über die Art, wie er ihren Hintern anglotzt. Iris und ich haben einen Amanda-Erlass verabschiedet, und an den haben wir uns gefälligst zu halten.

Wenn wir das nicht tun, müsste sich Wes entscheiden zwischen seiner Freundin und der traumagestählten Bindung an seine beiden allerbesten Buddys … wobei eine von denen seine Ex-Freundin ist.

Tja, mein Leben war noch nie einfach.

»Ich bin mit allem fertig«, erklärt Wes. »Die Essenssachen sind bereit.«

Es gibt eine wirklich eindrucksvolle Palette von dem, was Lee am liebsten isst. Sie hat nämlich nicht ein bestimmtes Lieblingsgericht, sondern liebt eine ganze Gruppe von Leckereien: Ihre Leidenschaft sind Charcuterie Boards. Iris und Wes haben sicher ein Dutzend unterschiedliche Wurst- und Schinkenplatten hergerichtet. Dazu gibt es frisches Brot und Honigbutter und diese ganz spezielle Balsamico-Creme – wenn du von dem Zeug mal gekostet hast, möchtest du es dir am liebsten einfach so in den Mund kippen.

»Sieht fantastisch aus«, sage ich, als ich die überwältigende Auswahl der verschiedensten Schinken-, Speck- und Salamisorten betrachte. »Perfekt dekoriert.«

»Vielleicht geh ich ins Catering«, scherzt er.

»Du sollst aufs College. Hast du endlich was zu dem Einspruch gegen den FAFSA-Bescheid gehört?«

Er zuckt mit den Achseln, in einer aufgesetzten Lässigkeit, die mir sofort in den Magen fährt. Der Studienkredit ist offenbar ein richtig beschissenes Thema. »Ich habe letzte Woche Post gekriegt. Der Einspruch ist abgelehnt. Wenn mein Dad also nicht angibt, wie viel –«

»Okay, dann lass mich dein Studium finanzieren«, werfe ich ein.

»Wie genau willst du denn meine gesamte College-Ausbildung bezahlen?«

Ich antworte nicht.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort. Eine, die ziemlich viele Fragen aufwirft. Besonders in Kombination mit der ›anonymen Spende‹, die das Tierheim vor ein paar Monaten gekriegt hat.« Er reißt die Augen auf, sarkastisch wie nur was.

»Damit hatte ich nichts zu tun.«

»Aha.« Er beugt sich zu mir und senkt die Stimme. »Wenn du mich unbedingt anlügen willst, dann streng dich gefälligst mehr an.« Als ich eine Grimasse ziehe, rümpft er die Nase.

Wir bringen die Platten ins Wohnzimmer, wo Iris und Amanda mit den Luftballons fertig sind. Ganze Bündel von Blau und Grün schweben in den Zimmerecken, und das HAPPY-BIRTHDAY-Banner am Fenster ist selbst gemacht. Mit dem Glitzerkleber von Iris haben Wes und ich das ziemlich gut hingekriegt.

»Sieht alles toll aus«, erklärt Wes den Mädchen.

»Und euer Banner ist auch super geworden«, sagt Amanda zu Wes und mir.

»Wir haben uns Mühe gegeben.«

»Sorry, dass ich bei den Ballons so versagt habe«, sage ich zu Iris und halte ihr ein Glas Bowle hin, in der Hoffnung, dass sie mich dann begnadigt.

»Schon okay.« Sie nimmt das Glas. »Amanda ist noch schneller als ich.«

»Meine Schwester hatte letztes Jahr eine Wasserbomben-Phase«, erklärt Amanda. »Ständig ist sie wie aus dem Nichts aufgetaucht und hat so ein Ding abgefeuert. Da musste man immer wachsam und bewaffnet sein.«

»Das ist total süß«, sagt Iris, während sie die Hände an den Hals hebt und an ihrem Medaillon herumfummelt.

»Ist das das Medaillon, das dir Nora geschenkt hat, als sie dich zum Prom eingeladen hat? Das ist echt besonders.« Amanda beugt sich vor und Iris hält es ihr strahlend hin, damit sie es sich näher anschauen kann.

»Ist es wirklich, oder?«, fragt Iris.

»Ich liebe es!« Amanda wirft Wes einen schelmischen Blick zu. »Vielleicht lässt du dich von Nora beraten, wenn’s um Schmuck geht?«

»Hey!« Kurz tut er so, als ob er ernsthaft sauer wäre, dann lacht er.

»Nora, du hast wirklich ein gutes Auge«, sagt Amanda. »Erst diese Diamantnadel auf dem Flohmarkt, bei der alle dachten, das wäre nur Modeschmuck, und dann das hier.«

»Hab ich rein zufällig in einem Antiquitätenladen entdeckt«, nuschele ich und werde rot, als sich Iris vorbeugt und mir erst einen Kuss auf die Backe drückt und dann kichernd versucht, den verschmierten Lippenstift wegzuwischen.

Es klopft an der Tür, was mich davor bewahrt, erklären zu müssen, warum ich ein derart gutes Auge für Schmuck habe.

»Die Gäste kommen!« Iris klatscht in die Hände. »Sind wir mit allem so weit?«

»Glaub schon«, sagt Wes.

»Operation Das-ist-keine-Überraschungsparty startet«, verkünde ich und gehe zur Tür, um den ersten Schwung Geburtstagsgäste reinzulassen.

Es ist bezeichnend für meine Schwester und ihr Talent, Freundschaften zu knüpfen, dass so viele Leute kommen. Ich könnte behaupten, das läge an der Art, wie wir aufgewachsen sind – andere zu verstehen und dafür zu sorgen, dass sie uns mögen, hat quasi zu unserem Training gehört – , aber ich selbst habe mich seit der ersten Sekunde in Freiheit vor anderen zurückgezogen, abgesehen von ein paar wenigen Menschen, die ich wirklich mochte. Lee ist anders. Sie hat sich hier eine Community aufgebaut. Sie ist ein Teil von etwas. Dass ich auch ein bisschen mit dazugehöre, verdanke ich Lee, die das Zentrum ist.

In den nächsten vierzig Minuten strömen immer mehr Leute herein. Iris kümmert sich darum, dass alle was zu trinken haben, und Wes glänzt mit dem Schliff, den er als Sohn eines Politikers mitbekommen hat; sein Auftreten in Gesellschaft wirkt immer souverän. Amanda hat als Schulsprecherin tatsächlich Politik gemacht, darum ist sie sogar noch besser bei solchen Gelegenheiten. Die beiden sind wie eine Provinzversion von JFK und Jackie – wobei Wes Jackies Rolle hat – , und das mitzukriegen ist echt niedlich, vor allem weil er Amanda immer wieder mit genau dem weichen Blick bedenkt, den er sonst nur für Tiere übrig hat. Weil die drei in Sachen Geselligkeit ganze Arbeit leisten, kann ich mich im Hintergrund halten. Die erste Runde Essen ist auch aufgetragen, also stehe ich am Fenster und halte Ausschau nach Lee.

»Alles klar?« Iris kommt zu mir und drückt mir ein Glas in die Hand.

»Ja«, sage ich. »Ich schau bloß nach Lee.«

»Es läuft gut«, sagt Wes, nachdem er und Amanda ihre Runde beendet haben.

»Denk ich auch. Nur muss Lee langsam mal aufkreuzen.« Ich spähe mit langem Hals aus dem Fenster, aber von ihr ist nichts zu sehen.

»Hey, Amanda und ich, wir haben geredet«, sagt Wes.

»Über was denn?«, fragt Iris.

»Die Trekkingtour.«

»Also, ich will wirklich nicht, dass ihr denkt, ihr müsst mich mitnehmen«, erklärt Amanda. »Aber Wes und ich haben darüber gesprochen, wie schön es wäre, wenn ich mit dabei sein könnte. Natürlich nur wenn das für euch beide in Ordnung ist«, fügt sie hastig hinzu. »Ich weiß, dass das dein Geschenk zum Schulabschluss war, Nora. Wenn ihr lieber zu dritt sein wollt, versteh ich das total.«

»Oh mein Gott, nein, auf keinen Fall, du musst mitkommen. Das wird supergut«, sagt Iris. »Stimmts, Nora?«

Sie dreht sich zu mir, damit Amanda und Wes ihre Lippenbewegungen nicht sehen können, und formt tonlos das Wort Erlass, als ob ich extra eine Erinnerung bräuchte.

»Unbedingt«, sage ich, denn Iris hat recht: Wir haben nun mal unsere Regeln und Wes schaut mich so hoffnungsvoll an. Ich kann nicht von ihm erwarten, dass er für immer als der überzählige Dritte durchs Leben geistert, oder? »Die beiden haben eh viel zu viele gefriergetrocknete Mahlzeiten vorbereitet, das reicht locker für zehn Leute.«

»Wenn wir unterwegs sind, wirst du noch froh und dankbar sein für unseren Einsatz, das garantier ich dir«, sagt Iris pikiert.

»Mein Chili ist super geworden«, pflichtet Wes ihr bei. »Dann ist das also cool für euch?«

»Mehr Leute, mehr Spaß«, erkläre ich. »Außerdem sind wir dann eine Person mehr, um Turbos Futter zu tragen.«

Amanda lacht. »Ich hab nichts dagegen, den Packesel für Turbo zu spielen«, sagt sie, und in dem Moment sehe ich, dass Lees Truck die Auffahrt hochkommt.

»Oh! Da ist Lee. Sagt allen Bescheid. Bin gleich wieder da.«

Ich warte vor dem Haus auf Lee, und nachdem sie geparkt hat und mich sieht, lächelt sie. Als ich auf sie zugehe, öffnet sie die Wagentür und Turbo springt als Erstes heraus.

»Hallo, Süße.« Ich gehe in die Knie, damit sie an meinem Gesicht schnüffeln kann. »Hattest du Spaß beim Detektiv-Spielen?«

»Wo kommen die vielen Autos her?«, fragt Lee. Sie schiebt sich die Sonnenbrille auf den Kopf und kommt auf mich zu.

Ich richte mich auf, was Turbo gar nicht gefällt, darum lässt sie sich quer über meine Füße fallen.

»Okay, zwei Dinge: Das war die Idee von Wes. Und es ist keine Überraschungsparty, weil ich dir jetzt Bescheid sage. Jedenfalls wird garantiert keiner Überraschung! brüllen, wenn du reinkommst. Dafür habe ich gesorgt.«

Lee schaut zum Haus und sieht dann wieder mich an, mit hochgezogener Augenbraue.

»Die Idee ist von Wes«, wiederhole ich, was ihn quasi den Wölfen zum Fraß vorwirft, aber es stimmt eben auch. Es war wirklich seine Idee. »Er fand es so schade, dass wir nächste Woche alle weg sind, wenn du Geburtstag hast«, fahre ich fort. »Du weißt doch, wie viel ihm solche Sachen bedeuten. Iris auch. Sie hat sich gleich Hals über Kopf ins Vorbereiten gestürzt.«

Lee schürzt die Lippen. »Ich muss also nicht die Überraschte spielen?«

»Musst du nicht«, versichere ich ihr.

Sie atmet schnaubend aus, doch dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. »Okay. Los, Turbo. Stürzen wir uns rein.«

Arm in Arm marschieren wir ins Getümmel, Turbo dicht hinter uns. Niemand ruft Überraschung!. Als Lee dann in die Menge von Leuten eintaucht, denen sie geholfen hat und die sie lieben, lasse ich sie ziehen.

Das ist schwerer, als ich dachte.

7

Der Amanda-Erlass

(verabschiedet von Nora und Iris, als Wes und Amanda anfangen zu daten)

1. Kein Sich-Einmischen in die Beziehung zwischen Wes und Amanda (Schnüffeln verboten, Nora!)

2. Amanda mit einladen, wenn wir zusammen was unternehmen (sie soll das Gefühl haben, willkommen zu sein)

3. Nichts tun, wodurch Amanda sich ausgeschlossen fühlen könnte (keine Insiderwitze, kein Rumreiten auf alten Zeiten, kein abgedrehtes Verhalten)

4. Nichts tun, was Amanda argwöhnisch machen könnte (Absolut nichts, denn . . .)

5. Amanda darf die Wahrheit niemals erfahren.

8

Nora

Zwei Tage vor der Tour

Als die Letzten die Party verlassen, ist es spät. Wes und ich räumen allein auf, Iris und Amanda sind schon gegangen. Lee will uns helfen, aber wir scheuchen sie weg.

»Ich kümmer mich um den Rest«, erklärt Wes, nachdem wir die Spülmaschine vollgeladen haben und immer noch überall Zeug rumsteht, das abgewaschen werden muss.

»Wir hätten Papierteller nehmen sollen«, ächze ich.

»Nicht umweltfreundlich. Geh schlafen, ich komm allein klar.«

»Okay, danke.« Schläfrig klopfe ich ihm den Rücken. »Vielen Dank. Das hat ihr wirklich gefallen.«

»Meinst du?«

»Ich weiß es. Sie wird uns vermissen.«

»Ganz furchtbar vermissen«, stimmt er zu und greift nach Spülmittel und Spülschwamm. »Noch ein Tag.«

»Noch ein Tag«, wiederhole ich, dann gehe ich in mein Zimmer.

Duschen fällt aus, denn er verbraucht beim Spülen das ganze heiße Wasser, also ziehe ich mir gleich den Schlafanzug an, lege mich hin und kuschle mich unter die Flanellbettdecke, die ich auch im Sommer nehme, weil sie so schön weich ist.

Ich schreibe gerade etwas in mein Notizbuch, als es leise an der Tür klopft und Lee hereinkommt.

»Hey. Also wegen heute Abend … Danke«, sagt sie. »Das war sehr lieb.«

»So ist Wes eben.«

Sie verdreht die Augen. »Das hat er doch nicht allein gemacht, Nora.«

Ich ziehe die Knie an, dadurch kippt mir das Notizbuch auf den Bauch. »Na ja, kann sein.«

»Also vielen Dank. Das war wirklich ein toller Geburtstag.«

»Freut mich.«

Ich streiche über das Notizbuch. Eine Frage schwirrt mir im Kopf herum. Das tut sie schon seit dem Vorschlag von Wes, vor unserem Aufbruch noch eine Geburtstagsparty für Lee zu schmeißen.

»Kann ich dich was fragen?«

Sie kommt näher, setzt sich auf meine Bettkante. »Natürlich.«

»Wann hast du wirklich Geburtstag?«

»Im Januar«, sagt sie nach kurzem Zögern.

Ich nicke, versuche diese Tatsache zu verdauen. Wird das jemals aufhören, dass wir immer neue Dinge übereinander erfahren? Vielleicht nicht. Aber vielleicht gehört auch das einfach zum Schwesternsein. Gemeinsam zu wachsen, die dabei aufgesammelten Weisheiten auszutauschen und Seite an Seite zusammenzuschrumpfen, wenn das Alter kommt.

»Weißt du, wann mein Geburtstag ist? Mein echter?«

Es fällt ihr schwer, meinem Blick standzuhalten, das merke ich, aber sie weicht mir nicht aus, nicht mal kurz, auch wenn sie diese Frage ziemlich übel erwischt.

Ich finde es schrecklich, dass ich sie nach all diesen Jahren noch überraschen kann.

Dass Abby sie immer noch überraschen kann.

»Ich hab mich das eben gefragt«, mache ich weiter. »Ist ja nicht so furchtbar wichtig … Nur … ich hab immer bloß die Geburtstage der anderen Mädchen gefeiert. Sie … meinen echten hat sie mir nie gesagt.«

In Lees Gesicht steht stiller Zorn.

Ich habe so viele Dinge abgelegt, geheime und reale. Die Namen, die mir meine Mutter gegeben hat. Die Wesenszüge, die ich darzustellen hatte. Meine Haarfarbe. Da sollte dieses eine Detail doch nicht so wichtig sein.

Aber den Tag nicht zu kennen, an dem du zur Welt gekommen bist … das ist irgendwie anders. Zu wissen, dass Abby es weiß. Ich hasse die Vorstellung, dass sie etwas von mir für sich behält.