The Goddamned - Melanie Hartl - E-Book

The Goddamned E-Book

Melanie Hartl

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Beschreibung

Luzi und Mila sind beste Freundinnen und leben in Kleinöd, dem für sie Größten aller Elendsorte, denn dieses Kaff ist noch langweiliger, als sein Name bereits sagt. Aber dann kommt Silvie neu an die Schule, und wirbelt wortwörtlich alles etwas durcheinander. Irgendwas stimmt nicht mit Blondie, dessen ist sich Luzi bewusst und versucht der Sache auf den Grund zu gehen. Zu allem Überfluss scheint sich auch Jo - Luzis große Liebe - sehr für die Neue zu interessieren, was Luzi von Eifersucht zerfressen zu dubiosen Handlungen antreibt. Mila hat währenddessen ganz andere Probleme. Sie hört plötzlich Stimmen und fühlt sich verfolgt. Auch Momo - Milas heimlicher Schwarm - verhält sich neuerdings merkwürdig und warnt, dass ihr Leben in höchster Gefahr schwebe. Als Mila dann auch noch angegriffen wird, steht ihre ganze, bisherige Welt Kopf: Es gibt eine geheime Organisation, welche das weltweite Klima in Form der vier aktiven Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft - die jeweils von nur einer Person verkörpert werden - im Gleichgewicht hält... Folge Luzi und Mila in eine spannende Geschichte mit mysteriösen Vorfällen und lass dich hineinziehen in einen Strudel aus Liebe, Leidenschaft und bittersüßen Herzschmerz.

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Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Für Mama

Danke für alles.

Melanie Hartl, Jahrgang 1990 lebt mit Ihrer Familie im Herzen der Oberpfalz. Nach ihrer erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung als Handstickerin, absolvierte sie eine Zweitlehre als Bauzeichnerin. Schon in ihrer Jugend entdeckte Melanie Hartl die Liebe zum Schreiben. Nach Jahrelanger harter Arbeit erscheint nun endlich ihr erster Roman Hurricane der vierteiligen Buchreihe The Goddamned.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

01 Silvie McFarlane

Abschied

02 Mila Hedenwald

Ein Neues Schuljahr beginnt

03 Luzia Schneider

Der erste Schultag

Das dunkle Geheimnis der Silvie McFarlane

04 Mila Hedenwald

Seltsame Stimmen

Eine Nacht- und Nebelaktion

05 Luzia Schneider

Ein kleines Fünkchen Hoffnung

06 Mila Hedenwald

Verwirrung hoch sechs

07 Luzia Schneider

Eine unerwartete Wendung

08 Mila Hedenwald

Date mit Folgen

09 Momo Aseema

Suche nach dem Angreifer

10 Luzia Schneider

Allein

In der Hölle

11 Mila Hedenwald

Das Erwachen

12 Luzia Schneider

Beste Freunde?

Neue Beste Freunde

Versöhnung

Unangenehme Einblicke

13 Pedro Moreira

Das Telefonat

14 Luzia Schneider

Maria’s Verschwinden

15 Maria Schneider

Luxus pur

16 Mila Hedenwald

Vor dem Aufbruch ins Ungewisse

17 Maria Schneider

Feuriges Rio de Janeiro

18 Momo Aseema

Die Copacabana von Rio de Janeiro

19 Pedro Moreira

Ein Fisch geht ins Netz

20 Momo Aseema

Plaza Silver Beach

Am Strand von Prainha

EPILOG

21 Maria Schneider

Das Element des Teufels

PROLOG

01 Silvie McFarlane

Abschied

Es ist nicht einfach alles zurückzulassen, obwohl man weiß, dass es einem guten Zweck dient. Ich reibe mir die letzten Überreste meiner schlaflosen Nacht aus den Augen und blicke zum Fenster. Ein kühler Luftzug lässt die weißen, seidenen Vorhänge gespenstisch wirken. Eine Zeit lang sehe ich dem Spiel zu.

Ein kleiner Lufthauch kann Leben retten, ein etwas größerer kann es zerstören. Das sagte meine Mutter eines Tages zu mir, als ich noch klein war. Damals verstand ich es noch nicht, und ich kann mich erinnern, dass ich mich sehr darüber ärgerte. Heute wünsche ich mir, ich würde es nicht verstehen müssen.

Die Sonne geht auf. Ich steige aus dem Bett und gehe zum Fenster. Wäre heute ein normaler Tag, würde ich noch einen Moment hier verweilen und in den weiten Garten unseres hübschen, kleinen Anwesens blicken.

Doch der heutige Tag wird der letzte sein auf Grünenbach, dann beginnt für mich ein neues Kapitel.

Möglichst leise öffne ich das Fenster und steige nur mit meinem dünnen Nachthemd bekleidet hinaus in die kühle Morgenluft. Es fröstelt mich, als meine nackten Füße das kalte, von Morgentau bedeckte Gras berühren. Ich reibe meine Oberarme, um die Gänsehaut zu vertreiben, die sich gerade bildet. Kein Wunder, es ist bereits September und die Nächte werden kühler. Langsam gehe ich weiter. Mein Blick schweift über unseren verwilderten Garten. Hier habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht. Siebzehn Jahre, um genau zu sein. Grünenbach ist mein Zuhause. Und das wird es auch immer bleiben.

Mein letzter Rundgang führt mich zum verwitterten Gartentor, welches unser Anwesen von satten Wiesen, Felder und grünen Wäldern abgrenzt. Knapp davor bleibe ich stehen und betrachte es nachdenklich. Als Kind kletterte ich oft darüber, um für eine Weile meinem deprimierenden Leben entfliehen zu können. Ich hätte auch einfach durchgehen können, aber wenn man sich unbeobachtet davonschleichen will, ist ein altes, quietschendes Eisentor eher hinderlich.

Also klettere ich auch jetzt unbemerkt über das Tor.

Auf der anderen Seite angekommen, muss ich kichern.

Das hat Spaß gemacht! Dann laufe ich über die vielen kleinen Wiesen und Felder und genieße die frische, leichte Morgenluft und den glitzernden Tau auf den schlafenden Blumen und Ähren. Ich spüre die Wärme der aufgehenden Sonne auf meiner fröstelnden Haut und drehe mich im Wind. Keine Windrose zieht unbemerkt an mir vorbei und jede noch so kleine Böe führt mich wie ein begnadeter Tänzer die Wiesen und Felder auf und ab. Ich laufe mit, so als wäre ich selbst der Wind, fühle mich leicht, wie ein Herbstblatt, das sich wild einen Weg durch die Lüfte bahnt. Mein Ziel ist die alte Eiche.

Mit einer letzten schwungvollen Pirouette komme ich zum Stehen. Nachdenklich betrachte ich nun meine alte Freundin. Sie war immer für mich da. Als ich klein war spielten wir oft zusammen. Ich war ein Baumbewohner und die Eiche war meine Wohnung. Wir hatten sehr viel Spaß zusammen.

Aber es gab auch andere Tage. Tage, an denen ich sehr traurig war. Ich lief zur Eiche und sie tröstete mich.

Eigentlich erledigen das sonst die Eltern oder Freunde. Meine Eltern sind geschieden und meine Mutter viel unterwegs. Freunde. Nun, die waren meist der Grund für die Traurigkeit, denn ich hatte nie welche.

Zum Abschied pflücke ich der Eiche einen bunten Blumenstrauß aus Margeriten und anderen Wiesenblumen, deren Namen ich leider nicht kenne, welchen ich anschließend in ihre Äste lege. Ein letztes Mal noch streife ich über die harte, rissige Rinde. Du wirst mir fehlen, alter Freund.

Wehmütig trotte ich zurück zum Haus. Diesmal nehme ich den etwas längeren Weg am Waldrand entlang.

Befangen bleibe ich an dem kleinen See stehen, in dem ich früher oft baden war. Wie schön die Wasseroberfläche glitzert. Stunden könnte ich hier einfach nur dastehen und hätte mich immer noch nicht sattgesehen. Ich beuge mich nach unten und grabe meine Hände in den kühlen Sand am Ufer des Sees. Es hat schon länger nicht mehr geregnet, deshalb ist der Sand trocken und rieselt durch meine Finger. Zurück bleibt nur noch ein kleines Häufchen, welches ich in einer Hand halte. Mit einer wirbelnden Handbewegung bringe ich die Luft zum Zirkulieren. Der Wirbel wird immer größer und stärker, bis er den trockenen Sand, der sich immer noch in meiner Handfläche befindet, in sich nach oben saugt.

Atemberaubend. Im kleinen Maß. Ein größeres Exemplar wiederum tödlich. Einen Moment sehe ich dem Wirbeln zu, als meine Mutter mich ruft. Erst jetzt erwache ich aus meiner Trance. Es ist Zeit zu gehen.

Ich denke, wir sollten es heute wieder im kleinen Maß enden lassen. So puste ich den kleinen Orkan in meiner Hand fort. Er landet auf der Wasseroberfläche.

Gerade als ich mich zum Gehen wende, da sehe ich, dass sich ein kleiner Strudel aus der Windrose entwickelt, der langsam wieder verschwindet. Zurück bleiben viele kleine Wellen aus Wasser, die sich ihren Weg ans Ufer bahnen und meine Füße nass machen. Faszinierend, wie sich die Elemente doch so einfach verbinden lassen. Ein Lächeln entweicht mir. Dann laufe ich zurück zum Haus, zurück zur Realität, wo mein neuer Lebensabschnitt auf mich wartet. Vielleicht ist es gut so.

02 Mila Hedenwald

Ein Neues Schuljahr beginnt

Montagmorgen, sechs Uhr. Der Wecker klingelt. Oh nein. Schule! Nicht zu fassen, dass die Sommerferien schon wieder um sind. Eigentlich gehe ich gerne in die Schule. Aber der erste Tag nach sechs Wochen Narrenfreiheit ist doch immer wieder eine Überwindung.

Letztendlich hilft die ganze Jammerei nichts, denn irgendwann muss man schließlich doch aufstehen.

Bevor der Schulbus kommt, ist noch allerhand zu erledigen. Voller Tatendrang schwinge ich meine Beine aus dem Bett und klettere aus meiner Schlafkoje im Dachboden. Da unser bescheidenes Häuschen sehr klein ist, habe ich mein Zimmer in zwei Etagen unterteilt. In den oberen Teil – das Schlaflager –, gelangt man über eine schlichte Holzleiter. Hier oben befindet sich eigentlich nichts weiter, als ein großes Bett und ein schmaler Gang, sodass man nicht direkt aus dem Bett die halsbrecherische Leiter hinuntersteigen muss.

Für einen tollen Ausblick in den Wald sorgt ein rundes Fenster, oder wie ich es nenne: Luke. Die Luke ist sehr praktisch, denn man kann sie problemlos nach Belieben öffnen oder schließen, was man bei den anderen Fenstern im Haus nicht gerade behaupten kann, denn die sind so alt und verzogen, dass sie sich nur unter einem immensen Kraftakt öffnen lassen – wenn überhaupt.

Der untere Teil des Zimmers beinhaltet einen chaotisch eingeräumten Kleiderschrank und einen alten Schreibtisch – den bereits mein Großvater Hermi schon besaß – mit einem gut eingesessenen Polstersessel davor, auf dem eine kuschelige rosa Wolldecke liegt, da es bei uns immer ziemlich kalt ist.

Nachdem ich mich angezogen habe – blaue Jeans und ein dunkelgrünes Kapuzenshirt –, begutachte ich mein langweiliges Outfit noch einmal im Spiegel. Perfekt, um nicht aufzufallen. Ich schnappe mir die Bürste von der Kommode und binde mir nach der Chaosbewältigung meine langen, braunen Haare mit einem Haargummi zu einem praktischen Knoten. Mit einem zufriedenen Grinsen verabschiede ich mich von meinem Spiegelbild.

Als ich die Bürste zurück auf die Kommode lege, wandert mein Blick auf das gerahmte Foto meiner Eltern, welches ich kurzerhand an mich nehme. Beinahe sechs Jahre sind vergangen, seitdem ein schreckliches Feuer mir sie, und mein wohlbehütetes Zuhause entriss. Zum Glück hab ich Oma Elfie, die so gütig war, mich aufzunehmen und somit verhinderte, dass ich ins Waisenhaus musste. Als hätte sie meine Gedanken gehört, reißt sie mich mit einem Ruf nach mir aus meinen trüben Gedanken. Ich stelle das Foto zurück an seinen Platz, und gehe in die Küche, in der meine Omi schon wartet.

»Guten Morgen, Oma Elfi«, begrüße ich sie und drücke ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange.

»Guten Morgen Mila, ab heute weht wieder ein anderer Wind, die Schule fängt an.«

Nach einem ausgiebigen Frühstück – es geht doch nichts über Oma Elfie’s selbstgemachte Erdbeermarmelade und eine Tasse Brennnesseltee – verschwinde ich kurz im Badezimmer und beginne anschließend mit meiner täglichen, allmorgendlichen Arbeit, um meine liebe Omi zu entlasten. Ich schlüpfe in meine grünen Gummistiefel, die ihre beste Zeit schon hinter sich haben und ziehe mir meinen grauen Parka über, um meine Schulklamotten nicht zu verdrecken. Auf dem Weg zum Hühnerstall werde ich, wie jeden Morgen, laut bellend von Lucky begrüßt. Der riesige Labrador-Schäferhund-Mischling stürmt mir schwanzwedelnd und mit heraushängender Zunge entgegen.

Während er an mir hochspringt, bedeckt er mit seiner Schlamm-Hundesabber-Mischung auch wirklich den letzten sauberen Fleck an meinem Parka.

»Boah Lucky, geh runter von mir!«

Er muss sich kurz vorher in einer Pfütze gesuhlt haben…

»Ich dachte immer du wärst ein Hund! Anscheinend war ich mit dieser Vermutung auf dem Holzweg, du kleines Ferkel! Pfui!«

Ich wische mir den Sabber von der Jacke.

»Pfui!«, sage ich noch einmal mit Nachdruck. Beschämt zieht er den Kopf ein und verdeckt seine großen Hundeaugen mit der Pfote. Manchmal könnte ich schwören, dass er jedes Wort versteht. Jetzt tut er mir tatsächlich schon wieder leid, dieser tollpatschige Ferkelhund.

»Na komm, willst du ein Leckerlie? Schau mal, was ich hier für dich habe!«

Aus meiner Jackentasche zaubere ich einen kleinen Hundekuchen.

»Na schau! Jaaaa fein! Mein kleiner Schatz!«

Ich wuschle ihm noch einmal durch sein weiches Fell und setze dann meinen Weg zum Hühnerstall fort.

Kaum bin ich um die Ecke gebogen, fetzt er mir – den Hundekuchen bereits verschlungen – hinterher.

»Psst, Lucky! Leise! Oder willst du, dass die Hühner einen Herzinfarkt bekommen?«

Doch alles Reden hilft nichts, dieser Hund ist einfach nicht zu bändigen. Gleich nachdem ich die Tür öffne, stürmt er, wie ein Geisteskranker in die verschlafene Hühnerhorde und scheucht sie kreuz und quer durch den Stall. Wie jeden Morgen muss ich an dieser Stelle lachen, auch wenn es für die Hühner wahrscheinlich alles andere als lustig ist.

Schließlich erbarme ich mich doch und öffne die kleine morsche Holztür, damit es für die aufgescheuchten Hühner endlich ein Entkommen vor diesem wahnsinnigen Vierbeiner gibt.

»Lucky, das war das letzte Mal, ab morgen nehme ich dich nicht mehr mit!«

Winselnd macht er Platz, um zu beweisen, wie brav er ist und wie zu Unrecht bestraft er doch wird. Ich kann nur immer wieder staunen über diesen Hund. Eigentlich sollte man als Frauchen seinen Hund im Griff haben, bei uns ist es eher umgekehrt, denn schon werfe ich ihm ein weiteres Leckerlie vor die Nase. Ich brauche mich ehrlich gesagt gar nicht wundern. Statt ihn mal wirklich zu bestrafen, belohne ich ihn auch noch für seine Ungezogenheit!

»Ich weiß ja, dass du es nicht böse meinst, du kleiner Frechdachs.«

Als ich ihm hinter den Ohren kraule, hechelt er zufrieden.

»So, nun ist aber genug! Wegen dir komme ich sonst auch noch zu spät zur Schule.«

Woher soll der Hund auch wissen, dass die Ferien um sind…

Ich raffe mich auf, schnappe mir die Mistgabel und mache in beiden Ställen etwas sauber. Anschließend streue ich das Ganze dann mit Stroh ein und schaufle noch etwas Getreide in die Futterschalen der Tiere.

Frisches Wasser muss ich auch noch holen! Das vergesse ich beinahe jedes Mal. Zu guter Letzt sammle ich noch die Eier ein, die brav in den Legenestern liegen und lege sie in einen Korb, der im Hühnerstall rumsteht.

»So! Das wäre geschafft! Komm Lucky, wir gehen zu Oma Elfie. Na komm, wo bleibst du denn?«

»Oh, schon fertig mit der Arbeit? So schnell wie der Wind! Was sagen die Hühner?«

Wie üblich antworte ich ihr auf diese eher seltsame Frage:

»Denen geht’s gut, sie gackern. Sieh mal Omi, achtzehn Stück haben die Hühner heute gelegt.«

Ich überreiche ihr den Korb mit den Eiern, woraufhin sie sich sogleich eine Bürste schnappt, und sich dran macht, den Schmutz zu entfernen. Da wir leider nicht sehr viel Geld zur Verfügung haben, müssen wir uns mit dem Verkauf von Eiern und Gänsen etwas über Wasser halten. Außerdem backt Oma Elfie sehr viel und sehr lecker, worauf wir auf die Idee gekommen sind, Gebäck für besondere Anlässe anzubieten. Es läuft eigentlich ganz gut, wir können uns nicht beschweren.

Während ich in den Ställen war, hat mir Oma Elfie ein super tolles Mittagessen für die Schule zubereitet, welches ich sogleich in meiner chaotischen Schultasche verstaue – es ist mehr so ein Rucksack, der aussieht wie der eines Fallschirmspringers aus dem zweiten Weltkrieg.

»Oh Dankeschön Omi! Was wäre, wenn ich dich nicht hätte!«

Daraufhin drücke ich ihr noch ein Küsschen auf die Wange.

»Du hast mich, ich hab dich und wir haben uns!«, das war schon immer der Satz, den sie sagte, wenn ich mich bei ihr bedankte. Und es stimmt, wir haben uns!

Wie auf Kommando bellt Lucky, so als würde er uns zustimmen.

»Ja du gehörst auch zu uns«, stimmt Oma Elfie lachend dem Hund zu.

Plötzlich schrecken wir alle drei hoch, da jemand kräftig auf die Hupe drückt. Wir stürmen nach draußen.

Also eigentlich stürmen nur Lucky und ich, bei Oma Elfie ist es eher so ein gemächliches Schlürfen. Mehr macht die künstliche Hüfte leider nicht mehr mit.

»‘Nen wunderschönen guten Morgen die Damen!«

Es ist der alte, charmante Horst Forster, der uns jeden Montag eine Fuhr Getreide, Heu und Stroh bringt.

Seit unser Schuppen zusammengebrochen ist – leider bevor wir ihn reparieren konnten –, haben wir leider keine Möglichkeit mehr größere Mengen trocken zu lagern. Aus diesem Grund bekommen wir die Ware für die Tiere jeden Montag frisch vom Forsterhof geliefert für einen Freundschaftspreis und etwas Selbstgebackenes. Ich vermute ja, dass sich der Freundschaftspreis aus einer Schwärmerei für Oma Elfie ergeben hat und, dass der alte Horst Forster – dieser schlaue Fuchs, – das Reparieren unseres Schuppens – ich will nicht sagen mit Absicht, aber – gekonnt lange hinausgezögert hat, mit dem Hintergedanken, jeden Montag nach seiner Angebeteten zu sehen. Als Vorwand. Wie gesagt, ein schlauer Fuchs, dieser Horst For…

Weiter komme ich mit meinen Philosophien über das Techtelmechtel zwischen Oma Elfie und Horst Forster nicht, denn das Lächeln eines jungen Mannes lässt mein Gehirn einfrieren und mein Herz flattern. Die jüngere, nicht ganz so gesprächige, – aber dafür muskulösere – Version des alten Horst Forster steigt soeben den Traktor hinunter und winkt mir schüchtern zu. Während die beiden älteren Herrschaften über das Wetter und die Gelenkbeschwerden plaudern und Oma Elfie, wie jedes Mal, wenn sich die beiden sehen, mit Komplimenten überhäuft wird, kümmern sich die Jüngeren – er und ich. Gemeinsam! Ist das nicht der absolute Mega-Wahnsinn? – um die Verladung der Ware.

»Guten Morgen Mila«, begrüßt mich meine heimliche große Liebe, wie jeden Montag und lächelt mich freundlich an. Seine großen braunen Mandelaugen rauben mir den Verstand. Ich kann dem Blick nie standhalten und weiche immer aus, bevor ich murmle:

»Morgen Momo.«

Um die peinliche Situation zu überspielen, fange ich dann meist einfach an, die Strohbüschel vom Anhänger zu hieven, um sie in den Stall zu tragen. Doch heute geschieht noch etwas seltsameres, denn im selben Moment hat Momo anscheinend die gleiche tolle Idee. Unsere Hände berühren sich für einen Moment.

»Oh, äh ich…«, stammle ich. (UNSERE HÄNDE BERÜHREN SICH!), »... ähm, tja …«

Oh Gott, wie peinlich mein Gestotter doch ist. Er fängt sich als erster:

»Richtig, du die Heu- und Strohbüschel und ich die Getreidesäcke und die Kartoffeln.«

»Genauso machen wir’s! Wie immer eben ...«

Ich fuchtle noch etwas überschwänglich doof mit den Händen in der Gegend rum und dann gehe ich unbeholfen und tollpatschig meiner Arbeit nach, so als wäre nichts gewesen. Zu allem Überfluss bemerke ich jetzt auch noch, dass ich die hässliche, verdreckte, mit Hundesabber befleckte Stalljacke trage. Ich verfluche mich insgeheim so lange, bis alles verladen ist. Jedes Mal, wenn wir uns auf dem Weg vom Anhänger zum Stall begegnen, lächelt er mich amüsiert an. Da seine Haut dunkelbraun ist, kommen seine weißen Zähne noch mehr zur Geltung. Ich schaue meist schüchtern weg, da ich nicht weiß, wie ich mich sonst verhalten soll… Wenn ich mir sicher bin, dass er es gerade nicht bemerkt, beobachte ich ihn gerne bei der Arbeit.

Wahnsinn. Ich muss immer wieder über seine riesigen Muskeln und die Kraft staunen, die er aufbringt, um die schweren Lasten zu schleppen. Er balanciert die zentnerschweren Getreidesäcke mit einer Leichtigkeit über der Schulter, als wären sie mit Federn gefüllt.

Endlich ist alles verstaut. Wir bedanken uns bei den beiden Männern und Oma Elfie überreicht ihnen einen Korb mit frischen Krapfen, die sie in aller Herrgottsfrühe extra gebacken hat und das Geld für die Ware.

»Jetzt aber schnell Mila, sonst verpasst du den Schulbus!«, ermahnt sie mich und ich laufe schnell ins Haus, um mir die Schultasche zu schnappen und die Dreckjacke gegen meine Lederjacke zu tauschen. Außerdem landen die grünen Gummistiefel in der Ecke. Stattdessen schlüpfe ich in bequeme Sneakers. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich den Weg zur Haltestelle laufen muss, um den Bus nicht zu verpassen.

»Momo sei so gut und bring Mila rasch mit dem Traktor zum Schulbus, sie schafft es sonst nicht rechtzeitig und kommt am ersten Schultag nach den Ferien gleich zu spät.«

Momo nickt, schnappt sich ohne mich zu fragen einfach meinen Fallschirmspringerrucksack und hastet bereits zum Traktor, um ihn sogleich zu starten. Inzwischen fährt Oma Elfie fort:

»Horst, ich wollte dich fragen, ob du in der Zwischenzeit vielleicht die Spuren eines Tiers untersuchen kannst. Wir haben gestern ein totes Reh an der Futterlichtung gefunden. Ich denke nicht, dass es ein Wolf ist.«

»Sehr gern Madam. Mit Vergnügen. Wenn Sie so freundlich wären, mir den Tatort zu zeigen?«

Die beiden Oldies schlendern vergnügt kichernd in Richtung Waldlichtung, die sich nicht weit entfernt von unserem Haus befindet.

»Komm schon Mädchen, sonst verpasst du den Schulbus«, höre ich Momo belustigt rufen. Ich glaube ich spinne! Nennt der mich doch glatt Mädchen. Wie alt ist dieser Typ denn eigentlich? Dreißig?

»Na komm schon oder hast du’s dir anders überlegt?«

Er klopft mit der flachen Hand ein paarmal auf die unbequem aussehende Sitzbank neben ihm. Unsicher klettere ich auf den Traktor und nehme Platz.

»Willkommen an Bord, Miss Mila«, sagt er charmant.

Ich glaube ich werde gerade rot wie eine Tomate. Die Erkenntnis darüber ist nicht gerade hilfreich, denn jetzt werde ich noch röter. Na super. Gott sei Dank legt er endlich den bescheuerten Gang ein und wir können los.

»Besser als Laufen oder?«, fragt er nach einer Weile des Schweigens.

»Mhm, auf jeden Fall!«, antworte ich kurz angebunden.

Natürlich ist es besser als Laufen.

»Wenn du willst, kann ich dich jeden Montag zur Haltestelle fahren, es ist ja schon ein weiter Weg zu Fuß, ich meine …, wenn du willst?«

Natürlich will ich! Wahnsinn! In meinen Gedanken fahren wir bereits mit dem Traktor über Blümchenwiesen und uns flattern kleine Kolibris um die Köpfe … und dann küssen wir uns …

»Äh… ja! Ich meine, das wäre sehr nett von dir, aber hast du nicht immer sehr viel Arbeit als Bauer?«

Ich beiße mir auf die Lippe. Bauer? Das kann man doch so nicht sagen, oder? Unsicher wage ich einen Blick zu Momo. Der grinst nur lässig.

»Als Bauer hat man sehr viel Arbeit, das stimmt«, meint er, ohne sich gekränkt zu fühlen. Er sagt es nur so heraus, als wäre ich ein kleines Kind. Offenbar verhalte ich mich ihm gegenüber auch so. Ich bin doch wirklich furchtbar dämlich …

Er grinst immer noch. Ich liebe es …

»Ich denke nur, …«, rüttelt er mich aus meiner Schwärmerei, »… dass die beiden älteren Herrschaften es sicher begrüßen würden, wenn wir ihnen – gezwungenermaßen sozusagen – mehr Zeit für Zweisamkeit schenken würden. Wenn du weißt, was ich meine ...«

Schade. Ich hätte gehofft, dass er sagen würde Zeit für UNS. Das wird wohl nie passieren. Ein kleiner Teil in meinem Inneren zerbricht gerade. Aber Momo’s Vorschlag wäre sicher eine gute Idee. Ich beobachte das Hin und Her von meiner Oma und Momo’s Opa schon seit Jahren und bedauere es sehr, dass die Turteltauben immer noch kein Paar geworden sind. Anscheinend geht es Momo in der Hinsicht genauso.

Außerdem werde ich nach dem Abi studieren wollen und Oma Elfie wäre dann ganz allein.

»Mhm… ja, klingt nach einem vernünftigen Plan.«

Sein Grinsen wird noch breiter.

»Also dann, abgemacht. Montag bin ich Ihr Chauffeur, Madam. Wenn Sie dafür sorgen würden, am Montag bei der Arbeit etwas zu trödeln, damit ich Sie chauffieren kann, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«

»Abgemacht!«, antworte ich lachend und schüttle den Kopf. Unglaublich dieser Typ …

Leider will mir kein passendes Gesprächsthema mehr einfallen und so verlaufen die übrigen zwei Minuten auf holpriger Fahrt eher schweigsam.

»So, da wären wir.«

Momo schnappt sich meinen Rucksack, springt den Traktor hinunter und streckt mir anschließend seine helfende Hand entgegen. Ein echter Gentleman.

Dankbar nehme ich sie an und steige unbeholfen vom Gefährt.

»Also dann … Dankeschön nochmal.«

»Keine Ursache, Mädchen.«

Mit einem Satz landet er wieder auf dem Traktorsitz, fährt los und winkt mir noch einmal zum Abschied.

Ganz verdattert wegen der abrupten Verabschiedung, stehe ich jetzt an der Haltestelle und sehe ihm nach.

Gerade noch kann ich mich zurückhalten, ihm hinterherzulaufen und ihn aufzuhalten, als ich den Rucksack in meiner Hand erblicke.

»Puh, das hätte mir gerade noch gefehlt, den zu vergessen!«

Wahnsinn. Ich hab sowas wie ein Date! Als er außer Sichtweite ist, springe ich, wie von einer Tarantel gestochen im Kreis. Hoffentlich hat das keiner gesehen, denn in diesem Moment fährt der Schulbus um die Ecke.

03 Luzia Schneider

Der erste Schultag

Kleinöd ist so ziemlich das langweiligste Kaff auf Erden – mit Ausnahme von Winkling, da ist noch weniger los. Und da stehe ich jetzt. An der zweiten Haltestelle in Kleinöd, der Schulbusroute zum Wassily-Kandinsky-Gymnasium Großöd, was ziemlich bescheuert ist, denn wenn ich an der Fünften – in Winkling – stehen würde, könnte ich jetzt noch im Bett liegen und gemütlich vor mich hinschlummern. Ich unterdrücke ein Gähnen. Dafür müsste ich zwar in Winkling wohnen, aber das wäre es wert.

Mit Kleinöd und Winkling ist es so, wie mit der Pest und der Cholera. Da ist es auch schon egal, mit was es einem trifft. Aber im Gegensatz zu Winkling, hat Kleinöd wenigstens einen Badesee, eine Dorfdisco und ein eigenes Dorffest, auf welchem dann alle Bewohner Kleinöds zahlreich vertreten sind … Wie gesagt, Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Diesmal lasse ich meinem Gähnen freien Lauf.

Endlich kommt der knattrige Schulbus. Ich lasse der jüngeren Generation den Vortritt, um mir das Gerangel um die hinterste Sitzreihe zu ersparen. Ist ja sowieso egal, wo man sitzt. Endlich drinnen angelangt, fällt mir wieder auf, wie dreckig und unhygienisch so ein Bus eigentlich ist.

Zuerst muss ich über einen am Boden klebenden Kaugummi steigen. Dafür hole ich weit aus – für alle Fälle. Da ich als Letzte eingestiegen bin, muss ich mich beeilen einen freien Platz zu erwischen, da ich vermeiden will, mich an den bakterienverseuchten Haltestangen festhalten zu müssen, wenn der Bus losfährt. Einmal wollte ich es so sehr vermeiden, dass ich wie ein Mehlsack einfach umfiel und bäuchlings auf dem Boden lag. Kam natürlich super bei meinen Mitmenschen an, und ich war für mehrere Monate das Gespött der Nation.

Ich verwerfe den niederschmetternden Gedanken an diese Demütigung, setze mich auf einen freien Fensterplatz und lasse meinen über alles geliebten, schwarzen Rucksack mit den Buttons und Aufnähern der coolsten Rockbands ever neben mich auf dem zerschlissenen Sitz plumpsen. Der Busfahrer setzt den Blinker und startet in Richtung dritte Station. Puh, nochmal Schwein gehabt. Erster Tag bakterienfrei, zumindest bis heute Nachmittag, wenn es mit derselben Müllgondel wieder heimwärts geht.

Heute ist der dreizehnte September. Erster Schultag.

Der LETZTE erste Schultag – Gott sei Dank! –, denn das ist mein letztes Jahr am Großöder Gymnasium.

Dann beginnt für mich ein neues, spannendes Leben, voll Freiheit und Action! Davon konnte ich die letzten Jahre in diesem stinkenden Kaff nur träumen! Mein Ziel ist es seit ich denken kann, aus Kleinöd zu verschwinden. Etliche Versuche, meine Eltern von hier wegzubewegen, schlugen leider fehl. Da beide aus der Stadt kommen, genießen sie die stinkende Landluft und die langweilige Ruhe. Ich habe das alles hier so satt! Jeden Tag der gleiche Trott und immer dieselben faden Gesichter. Noch ein Jahr und ich kann endlich weg von hier. Dann studiere ich in München Kunstgeschichte und lasse dieses langweilige Kaff hinter mir!

Leider auch meine beste Freundin Mila. Sie kann es sich bestimmt nicht leisten, zu studieren und wenn doch, würde sie es wahrscheinlich niemals übers Herz bringen, Oma Elfie hier so ganz allein zurückzulassen.

Wie immer, fahren wir an der dritten Haltestelle in Kleinöd vorbei, da hier nie jemand steht. Die Haltestelle Nummer drei gehört zu der abgelegenen Villa, die seit Jahren nicht bewohnt ist. Angeblich soll es darin spuken. Völliger Unsinn … ich weiß das, weil es eben keine Geister gibt. Punkt.

Nach ein paar Minuten Fahrt auf der Hauptstraße Richtung Winkling, legen wir bei Haltestelle vier einen kurzen Stopp ein. Mila steigt zu. Als Einzige, da sie und ihre Oma auf einer winzigen Einöde am Waldrand leben.

»Hey Mila, hier bin ich!«, begrüße ich meine Freundin und winke ihr zu, damit sie sich neben mich setzen kann.

»Hey Luzi!«

Sie strahlt heute wie ein Honigkuchenpferd. Oft ist ihre gute Laune auch wirklich zum Davonlaufen.

»Na? Was sagen die Hühner?«

Manchmal necke ich sie am Morgen mit Oma Elfies komischen Fragen. Doch heute überhört sie das einfach. Ihr unerträgliches Grinsen bringt mich noch zur Weißglut.

»Oh mein Gott, oh mein Gott, was ist passiert?«, frage ich sie überschwänglich. Auch den sarkastischen, schlecht gelaunten Unterton überhört sie. Ich glaube, das ist ein gewisser Selbstschutz, den sie sich über die Jahre angewöhnt hat, um unnötigen Streit zu vermeiden. Vor allem am Morgen. Meine Morgenmuffellaune ist wirklich zum Fürchten. Aber wer könnte es mir schon verübeln. Hallo? Erster Schultag? Das allein genügt schon, um den Tag zu verfluchen, noch bevor er richtig begonnen hat. Offensichtlich trifft das nicht auf alle zu …

»Du glaubst nicht, was passiert ist!«, platzt es aus Mila heraus.

»Die Schule ist abgebrannt?«

Völliger Quatsch, sonst würde ich ja schließlich noch zu Hause im Bett liegen und nicht mit diesem muffigen Schulbus durch die Gegend gondeln. Mila überspult den flachen Witz und schüttelt stattdessen überschwänglich den Kopf. Es muss wirklich etwas Weltveränderndes passiert sein. Gleich platzt sie! Noch bevor ich nachfragen kann, sprudelt es auch schon aus ihr heraus:

»Ich habe ein Date mit Momo Aseema!«

Beim Namen Momo Aseema bekommt ihre Stimme einen melodischen Klang. Jetzt bin ich tatsächlich baff.

»Wie bitte? Sag das nochmal!«

»Ich habe ein Date mit Momo Aseema!«

Jetzt kreischen wir uns Beide an, wie immer, wenn etwas ausgesprochen wahnsinnig Cooles passiert.

»Wie hast du denn das angestellt?«

Sie schneidet mir das Wort ab.

»Ab heute jeden Montag«, meint sie eingebildet, »Er hat mich mit dem Traktor zur Haltestelle gefahren.

Und wir haben beschlossen, das jetzt jeden Montag zu tun.«

Ungläubig starre ich sie an, dann kann ich nicht mehr und pruste los:

»Ist das dein Ernst?«

Ich lache aus vollem Leib. Mila dagegen blickt verständnislos drein. Dabei muss ich noch mehr lachen.

»Jetzt hör sofort auf zu lachen!«

Entrüstet über mein Gelächter, pufft sie mich ein paar Mal grob in die Seite.

»Schon gut, ich hör ja schon auf! Du hast also eine, nennen wir es Fahrgemeinschaft mit Momo Aseema.

Mhm, klingt cool.«

Ungläubig sehe ich meine beste Freundin an.

»Date!«, verbessert sie hochnäsig.

»Sorry, aber für mich klingt das eher nach einem geschickt eingefädelten Verkupplungsversuch von Omi und Opi. Würde auch langsam Zeit werden, dass die beiden ein Paar werden. Wenn du mich fragst, hat der Typ – Momo meine ich – außer Kühe, Traktoren und Felder nicht sehr viel im Kopf. Außerdem, wie alt ist der eigentlich? Dreißig?«

»Na und?«, wirft sie trotzig – aber nicht sehr überzeugend – ein.

»Ja ich mein ja nur … Du bist achtzehn, Herrgott nochmal! Such dir endlich jemand anderes für deine Zukunftspläne!«

»Ja genau. Du musst gerade reden.«

Jetzt äfft sie mich nach:

»Ich warte seit Jahren auf meinen Angebeteten, aber er hat nichts Besseres zu tun, als sich mit sämtlichen Tussis herumzutreiben … Aber ich nehme es ihm nicht übel, denn wer will sich schon mit einer hässlichen, moppeligen Rothaarigen blicken lassen …«

Das sitzt. Meine Kinnlade klappt nach unten. Darauf kann ich nichts weiter erwidern, als beleidigt in die andere Richtung zu schauen.

»Und im Übrigen …«, sagt sie mit Nachdruck, »Du.

Bist. NICHT. Moppelig!«

Aber ich war es mal und das genügt schon. Eine Erinnerung von früher flackert kurz auf, in der ich als dickes Kind durch die Schule geschubst wurde.

Wieder hält der Bus an. Haltestelle Nummer fünf – Winkling. Jim steigt ein und lässt sich lässig in die Sitzreihe hinter uns fallen.

»Morgen Mädels, wie geht’s, wie steht‘s? Wie waren die Ferien?«

Und theatralisch fügt er hinzu:

»Was sagen die Hühner?«

Als er keine Antwort bekommt, weicht er übertrieben verängstigt zurück.

»Hilfe! Nein, bitte verschont mich, ich bin zu jung zum Sterben! Mal ehrlich Mädels, mit diesen Blicken könntet ihr Morde begehen! Was ist euch denn über die Leber gelaufen?«

Als er immer noch nichts weiter erntet, als Blicke zum Töten, kramt er seinen typischen Jim-Charme hervor, bei dem selbst die mieseste Laune die Flucht ergreift.

»Mon Chéri, du bist su schöön für solsche Sorgenfaltän!«, ruft er mit französischem Dialekt und fummelt an Milas Stirn rum. Anscheinend will er die Falten darauf glätten. Mila weicht irritiert zurück.

»Und Sie, Mademoiselle Schneidär, säen aus wie eine alte Jungfär, so bieder und prüde und grau. Bringän Sie mehr Farbe und Schwung in Ihr Läbän! Genießän Sie den Wind in Ihren Aaren …«

Jetzt wuschelt er mir die roten Locken durcheinander.

Mila bricht schlagartig bei meinem Anblick in schallendes Gelächter aus. Ich muss auch wirklich zu dämlich aussehen. Ich lehne mich über meinen Sitz und verwuschle auch Jims Frisur. Dann kapituliere ich schließlich und stimme ins Lachen meiner Freunde mit ein.

»Na, wie waren eure Ferien?«, startet er noch einmal einen Anlauf, während er sich seine schulterlangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz bindet. Ich vermute, die Retro-Frisur ist eine Art Auflehnung gegen seine spießige Familie.

»Jim, was willst du hören? Langweilig? So wie immer?

Ach du meine Güte! Wie war’s in Australien?«

Das hab‘ ich doch glatt vergessen! Mila und ich sehen uns fast jeden Tag, so auch in den Ferien. Da meine Eltern es vorziehen, nicht in den Urlaub zu fahren, – Zitat: „Wir haben es so schön ruhig hier, weshalb sollten wir Urlaub machen? Dieser ganze Trubel, Schätzchen! Nein danke…“ – und Mila und ihre Oma nicht das Geld haben, um wegzufahren, haben wir uns nach den Ferien eigentlich nichts zu sagen. Jim dagegen war in Australien. Was würde ich darum geben, einmal nach Australien zu kommen!

Jim erzählt uns alles ganz ausführlich. Da seine Eltern beruflich sehr beschäftigt sind – Jim ist der Meinung, sie wären Workaholics, hatte er leider auch nie richtig die Möglichkeit, irgendwo Urlaub zu machen. Und die sechs Wochen in Australien kann man – so wie es sich anhört, und so wie ich es befürchtet habe, weshalb ich auch nicht mitgefahren bin – nicht als Urlaub bezeichnen. Das Ganze war mehr so eine Schnupperveranstaltung für ein Work-and-Travel-Jahr. Man lebt dort in so speziellen Wohngemeinschaften, in denen man sich die Miete teilen kann. Des Weiteren muss man sich Arbeit suchen, um den Teil der abgemachten Miete überhaupt bezahlen zu können. In den Ferien arbeiten? Nein danke, dann bleib ich lieber hier.

»Aber Jim, solltest du dich nicht lieber um dein Jura-Studium bemühen, statt ein ganzes Jahr nur herumzujobben?«, fragt Mila erstaunt.

»Mein VATER will, dass ich nach dem Abi Jura studiere, ja. Aber kümmert sich eigentlich mal jemand drum, was ICH will?«

Mila und ich tauschen vielsagende Blicke aus.

»Ich pfeif‘ drauf! Wenn das Jahr hier rum ist, geh‘ ich nach Australien!«

»Hey Kloppmich du Vollidiot!«, ertönt es vom hinteren Teil des Busses.

»Du kannst doch gar nicht pfeifen!«

Wie meistens überhört Jim das Gestichel von Farit Aydin, was auch wirklich besser so ist, denn es würde wieder in einer riesigen Schlägerei enden.

»Die fünften und dreizehnten Klassen bitte in die Aula, die restlichen Klassen in die ausgeschriebenen Klassenräume!«, werden wir vom Hausmeister begrüßt, als wir die Schule betreten.

»Bevor ich nochmal in der Fünften beginnen müsste, würde ich mir lieber eine Kugel durch den Kopf jagen.«

Jim und Mila stimmen mir nickend zu.

»Ja, aber das Schlimme ist, die hier …«, Mila deutet auf eine Gruppe eingeschüchterter Fünftklässler, welche in der Aula rumstehen, »… haben noch etliche Wochen Narrenfreiheit zwischen den ganzen Strapazen.

Wir dagegen müssen demnächst unser Leben lang arbeiten!«

»Milaaa!«, rufen Jim und ich gemeinsam.

»Das sagt diejenige, die die ganzen Ferien in der Gärtnerei geschuftet hat!«

»Ja… was bleibt mir anderes übrig?«, verteidigt sich Mila. Wie könnte sie sich sonst ihr Studium finanzieren, geschweige denn, den Führerschein machen oder ein Auto kaufen?

In der Aula angekommen, lassen wir uns auf einer Bank nieder und schauen in die Runde. Dabei fällt mir auf, dass Jo Riemann heute fehlt. Seltsam. Er ist seinem Vater gegenüber zwar sehr rebellisch, aber wenn ich einen Vater hätte, der Lehrer wäre, würde der es sicher nicht dulden, dass sein Sohn den ersten Schultag verschläft. Vielleicht haben sie ja beide verschlafen, denke ich und verdrücke mir ein Glucksen.

»Guten Morgen Luzi, Mila«, murmelt Herr Riemann im selben Moment gedankenverloren in sein Notizheft, ohne auch nur aufzusehen und schreitet schnellen Schrittes an uns vorbei, Richtung Fünftklässler.

»Herr Riemann?«, rufen Pepsi-Carola Baumgartner und Angelina Prinz zuckersüß im Chor. Herr Riemann bleibt stehen und blickt zu den bbeiden hinüber.

»Ist Jo krank?«

»Kommt später!«, ist alles was die aufgetakelten Tussis zur Antwort bekommen.

»Er hat bestimmt verschlafen …«, höre ich die beiden dummen Gänse noch kichern. Das bezweifle ich …

Nachdem alle versammelt sind – außer diejenigen, die tatsächlich verschlafen haben natürlich, – beginnt Frau Schnatterbeck die Anwesenheitsliste durchzugehen.

»Altmann Susanne, …«

»Wo kann er nur stecken?«, flüstere ich meiner besten Freundin zu. Sie zuckt mit den Schultern.

»Verschlafen?«, meint Mila ironisch.

»Aydin Farit …«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Sein Dad würde das nie und nimmer dulden. Ich werde es schon rauskriegen …«

»Hedenwald Mila?«

»Hier bin ich, Frau Schnatterbeck!«

Mila wedelt mit der Hand, um sich bemerkbar zu machen.

»Ach da versteckst du dich … Huber Jessica? ...«

»Was versuchst du denn andauernd über ihn rauszukriegen, er ist eben nicht da! Schlag ihn dir endlich aus dem Kopf, Luzi. Reicht es dir denn nicht, zu sehen, wie ungerecht er zu Jim ist? Egal, wie gut ihr mal befreundet wart, er ist nicht mehr derselbe Junge, den du in Erinnerung hast. Er hat sich verändert – und das nicht gerade im positiven Sinn.«

»Kloppmich Joachim«, ertönt es von Frau Schnatterbeck. Leises Gekicher macht sich in der Aula breit, wie immer, wenn Jim’s Nachname fällt.

»Hier!«, gibt Jim kleinlaut und immer wieder von Neuem blamiert, von sich.

»So. Das hätten wir! Nachdem die meisten von euch anwesend sind, ist es nun an der Zeit, das Jahresprogramm zu verlesen. Wie ihr wisst, ist das heuer euer letztes Jahr …«

Frau Schnatterbeck unterdrückt ein Schluchzen und wischt sich eine kleine Träne aus ihrem Auge unter der Brille. Dann fährt sie mit fester Stimme fort:

»Wie ihr wisst, ist das euer letztes Jahr auf dem Wassily-Kandinsky-Gymnasium in Großöd. Anschließend werdet ihr in die weite Welt entlassen. Natürlich werden wir jeden einzelnen von euch so gut es geht unterstützen und euch mit allen Mitteln, über die wir verfügen helfen, sich in der Arbeitswelt gut zurechtzufin…« Frau Schnatterbeck stoppt mitten im Satz und nimmt die Brille von ihrer Nase.

»Ja wen haben wir denn hier? Eine neue Schülerin?

Entschuldige Mäuschen, du stehst gar nicht auf meiner Liste! Wie ist dein Name?«

»Silvie McFarlane. Ich wohne seit gestern hier, das heißt in Kleinöd.«

Alle drehen sich zu der Neuen um, die schüchtern in der Ecke steht, haltsuchend an ihren Büchern, welche sie lose vor der Brust verschränkt hält.

»Na wenn das so ist, werde ich mir deinen Namen gleich notieren. Herzlich Willkommen bei uns im Wassily-Kandinsky-Gymnasium Großöd. Ich bin Frau Schnatterbeck, die Rektorin.«

Sie schreitet zu der Neuen und schüttelt ihr mit einem warmherzigen Lächeln die Hand.

»Wenn du irgendwelche Fragen hast, wir beantworten dir alles, was du wissen willst, damit du dich schnell hier zurechtfinden kannst.«

»Ähm ja, eine Frage hätte ich da schon …«

Schüchtern zupft sich die Neue am orangefarbenen Ärmel rum. Der Rest ihres dünnen Pullover-Kleides ist grün. Darunter trägt sie eine enganliegende, blaue Jeans mit aufgeschlitzten Knien, welche ihre schlanke Figur nur noch mehr betont. Die platinblonden, hüftlangen Haare trägt sie offen, wobei sie die vorderen Strähnen nach hinten geflochten hat. Die kürzeren Haare am Haaransatz stehen in sämtlichen Richtungen wie Antennen ab. Sie hat insgesamt ein sehr merkwürdiges Erscheinungsbild.

»Frag nur Kind! Frag alles, was du wissen willst!«, ermutigt Frau Schnatterbeck die Neue. Beschwingt durch die quirlige Rektorin, fragt Silvie munter drauf los:

»Bieten Sie hier an der Schule auch Ballettunterricht an? In der Broschüre, die ich erhalten habe, bekam ich leider keine Auskunft darüber.«

Auf eine so ungewöhnliche Frage war die Rektorin wohl nicht vorbereitet:

»Äh… was?«

»Zum Einschlafen dieses Geschnatter von Frau Schnatterbeck. Wenn das so weiter geht, fallen mir die Augen zu …«

Ich nicke meiner gähnenden Freundin neben mir zu.

Die Fünftklässler haben’s gut. Die Neulinge sind bereits mit Herrn Riemann unterwegs mit einem Rundgang durch die Schule und über das Schulgelände. Wie gerne würde ich jetzt tauschen, auch wenn ich diese Schule bereits in- und auswendig kenne.

»Nun kommen wir zu erfreulicheren Themen: Die Abschlussfahrt, welche nach den Prüfungen und der Abschlussball, welcher ebenfalls nach den Prüfungen stattfinden wird.«, fährt die Rektorin gut gelaunt fort.

Lautes Getöse bricht aus.

»Endlich ist Besserung in Sicht!«, flüstert Jim und klatscht offensichtlich etwas zu wild in die Hände, da er sie nun schmerzlindernd ausschüttelt – womöglich zur Kühlung … so genau weiß man das nicht … Wir nicken zustimmend und freuen uns ebenfalls auf den uns bevorstehenden Redeschwall von Frau Schnatterbeck:

»Zur Abschlussfahrt: …«

Nur mit Mühe kann die aufgewühlte Menge beruhigt werden. Heute ein Megafon mitzunehmen, wäre definitiv eine gute Idee gewesen.

»Zur Abschlussfahrt: Bitte werft Vorschläge betreffend des Reisezieles in diese blaue Box! Bitte bedenkt, es sollte ein Ziel sein, das für jeden hier erschwinglich ist.«

Lautstark beraten sich die Schüler der dreizehnten Jahrgangsstufe über alle möglichen Reiseziele.

»Ich bitte um Ruhe! Zum Abschlussball, welcher ebenfalls nach den Prüfungen stattfindet: Hierbei möchte ich auf eine tadellose Garderobe hinweisen. Wer glaubt, er könne in Jeans erscheinen, der kann sich auf etwas gefasst machen! So. Das wäre geklärt.«

Mit hochrotem Kopf teilt die quirlige Rektorin die Stundenpläne für das letzte Schuljahr aus und verschwindet dann ganz außer Atem aus der Aula.

Endlich ist Mittagspause. Jim, Mila und ich schlendern in die Schulcafeteria. Auch hier keine Spur von Jo.

Mila und ich beißen in unsere belegten Brote, die wir von zu Hause mitgebracht haben. Wir essen eigentlich nur in der Schule, wenn es entweder Pommes oder Pizza gibt. Das restliche Essen – wie heute: Hackbraten – ist wirklich alles andere als lecker, was sich aus dem angewiderten Gesicht von Jim erahnen lässt.

Meistens hole ich mir nach dem Essen eine Nachspeise, welche ich mit Mila teile. Heute gibt’s Erdbeerjoghurt. Während wir essen und in unsere Stundenpläne vertieft sind – Jim eher in seinen Hackbraten –, sitzen wir im Schulhof und genießen das spätsommerliche, warme Wetter, als ich plötzlich einen Schatten vor uns wahrnehme.

Ich sehe auf und entdecke, dass die Neue vor Mila steht. Sie hat sich zu ihr runtergebeugt, wobei sich ihr rundes, komplett mit Sommersprossen bedecktes Gesicht nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht von Mila befindet. Dort verharrt sie. Mila merkt anscheinend nichts, denn sie löffelt genüsslich den Erdbeerjoghurt, während sie ihren Stundenplan studiert. Sollte ich Mila vielleicht mal darauf aufmerksam machen?

Doch im selben Moment bemerkt sie es anscheinend und blickt auf.

»Wuahhh! ...Was zum Teufel? ...«, weicht sie erschrocken zurück und fällt fast rücklings von der Bank.

»Hallo!«, strahlt die Neue, ohne sich auch nur im Ansatz zu bewegen. Immer noch in gebückter Haltung fährt sie fort:

»Ich bin Silvie!«

»Ja… ich weiß …«, stammelt Mila.

»Entschuldige, falls ich dir zu Nahe trete, ich bin nur so fasziniert von deinem Tier. Trägst du es immer auf dem Kopf mit dir rum? Begleitet es dich überall hin, wo du hingehst?«

Ich verstehe nur Bahnhof. Mila anscheinend auch:

»Häh?«, ist alles was sie antworten kann. Die Neue deutet auf Milas Kopf und da sehe ich es: Ein Schmetterling – ein wunderschöner Zitronenfalter – hat es sich auf Milas Haaren gemütlich gemacht.

Am Nachmittag ist nicht mehr viel Spannendes geboten: Zwei Stunden Bio, eine Stunde Chemie … das war’s dann erstmal für Montag.

In der sengenden Nachmittagshitze warten wir schließlich auf der vollbesetzten Schulbushaltestelle auf den Bus, der uns nach Hause bringt. Da endlich!

Laut brummend fährt er um die Ecke und lässt uns einsteigen. Wie immer ist er völlig überfüllt und die Schwüle im Inneren des Busses ist unerträglich. Gegen meinen Willen, muss ich mich wohl oder übel an die bakterienverseuchten Haltestangen klammern. Jim findet ein Fenster, das sich öffnen lässt, damit wenigstens etwas frische Luft hereinkann und beugt sich über die Sitze, um dorthin zu gelangen.

»Hey Kloppmich!«, ertönt es schon wieder von hinten.

Wie zu erwarten ist es Farit Aydin.

»Heb deine Achseln nicht so, hier stinkt‘s eh schon wie die Pest!«

Jim wird bei einer derartigen Hitze und bei dem ganzen Gedränge immer etwas aggressiv und brüllt deshalb hasserfüllt nach hinten:

»Das ist dein Atem, der so stinkt, du Penner!«

Ich werfe einen Blick nach hinten, um die Reaktion von Farit zu sehen. Wie erwartet fletscht er die Zähne und durchbohrt Jim mit einem tötenden Blick. Doch dann kann ich dem Streit der beiden nicht mehr folgen. Mein Blick fällt auf Jo, der versucht, sich in den Bus zu quetschen, gefolgt von BLONDIE? Mila bemerkt meinen entsetzten Blick und schaut ebenfalls nach hinten.

»Krass … die beiden kennen sich anscheinend …«

»Anscheinend!«

Ich tue es Farit gleich und fletsche ebenfalls die Zähne, während meine erste und einzig große Liebe die durchgedrehte, engelsgleiche, blonde Neue durch das Gedränge manövriert. Er führt sie durch den Bus, als wäre sie ein rohes Ei. Pure Eifersucht überkommt mich. Plötzlich fällt Mila in meine Richtung. Gerade noch kann ich sie auffangen, ohne selbst mit umzufallen. Mit meiner ersten Vermutung, der Busfahrer musste eine Vollbremsung hinlegen, liege ich falsch.

Eine Schlägerei zwischen Jim und Farit ist der Grund.

Pepsi-Carola und Angelina feuern Farit währenddessen lautstark an. Der nun sehr verärgerte Busfahrer hält an und droht:

»Aufhören oder aussteigen!«

Jetzt wird auch Jo endlich aufmerksam und brüllt – vermutlich um die Lage zu entschärfen – nach vorn:

»Farit, komm her, ich stell‘ dir jemanden vor!«, und deutet mit zwei Fingern auf Silvie. Doch die blickt mitleidig zu Jim, der sich gerade wieder hochrappelt und sich mit dem Handrücken über die blutige Lippe wischt.

»Musste das denn sein?«

Mila holt ein Papiertaschentuch aus ihrem Fallschirmspringerrucksack und gibt es Jim.

»Manchmal …«, schnauft er außer Atem und wirft einen kurzen, unauffälligen Blick nach hinten zur Neuen.

»… Manchmal muss so etwas sein, ja!«

Ein breites, zufriedenes Grinsen schleicht sich auf Jim’s Gesicht. Ich könnte ihm dafür gleich nochmal eine reinhauen. Männer. Wie bescheuert kann man eigentlich sein? Und Jo! Wie immer hat er mich nicht mal eines Blickes gewürdigt. Was für ein bescheuerter Tag …

Endlich steigt gut ein Drittel an der Haltestelle in Winkling aus. Inklusive Jim und Farit. Als Jim an der Reihe ist auszusteigen, wird er von Farit gepackt und wieder nach hinten geschubst, sodass er zu Boden fällt und fast die Haltestelle verpasst, was zu großem Gelächter im Schulbus führt. Sogar die Fünftklässler lachen.

»Ein bisschen mehr Respekt vor dem Alter, ihr Knirpse!«, blafft Mila einen pummeligen Fünftklässler an, worauf dieser sofort vor Angst verstummt. Ich kann gerade noch ein Kichern unterdrücken. Jim ruft und fuchtelt wild um sich. Endlich wird der Busfahrer aufmerksam und bremst den Bus noch einmal ab. Farit beobachtet Jim‘s Schmach mit einem fiesen Lächeln auf den Lippen, während er sich auf seinen Heimweg macht. Wie aus dem Nichts kommt plötzlich ein kräftiger Windstoß. Dieser wirft die vollbepackte Mülltonne am Straßenrand um, direkt vor Farit‘s Füße. Abgelenkt über Jim‘s Misere achtet er nicht darauf und fällt schnurstracks drüber. Der komplette Bus bricht in schallendes Gelächter aus, als Farit versucht, sich mit hochrotem Kopf hochzurappeln. Doch er rechnet nicht mit einem weiteren Windstoß und der ganze Müll fliegt ihm ins Gesicht. Es hat den Anschein, als würde sich um Farit eine riesige Windrose aus Müll bilden. Wütend schlägt er um sich und endlich verschwindet der gespenstische Wind. Währenddessen steigt Jim in aller Seelenruhe aus. Das Lächeln, welches er der Neuen dabei noch zuwirft, entgeht mir nicht. Der Busfahrer legt den Gang ein und die Fahrt geht weiter. Kurz darauf verabschiede ich mich auch von Mila und lasse mich anschließend erschöpft in einen freien Sitzplatz fallen.

Jo Riemann und die Neue gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich bin eifersüchtig. Kann das nicht endlich aufhören? So oft habe ich versucht, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Doch es hilft nichts. Er war es schon immer und er wird es immer bleiben. Sollte es wirklich so mit uns enden? Wieso konnte es nicht einfach so sein wie früher? Damals waren wir unzertrennlich, die allerbesten Freunde. Sieben Jahre ist es jetzt her, seit der schrecklichen Tragödie, die alles veränderte.

Es war ein heißer Tag, so einer wie heute. Jo und ich gingen baden im Lindensee – was wir öfters machten, da der See praktisch vor Jo’s Haustür liegt. Vom Steg aus sprangen wir ins Wasser und blieben so lang wie möglich unten. Der andere zählte vom Ufer aus die Sekunden. Beinahe jedes Mal gewann Jo. Ich kann mich noch erinnern, wie ich ihn bewundernd und etwas neidisch fragte:

»Wie machst du das?«

Er wollte es mir zeigen und wir tauchten beide unter.

Ich hielt mich an einer Schlingpflanze fest, da ich auf keinen Fall wieder nach oben treiben wollte. Doch Jo war verschwunden. Stattdessen sah ich ein riesiges Tier auf mich zukommen, mit riesigen Zähnen! Panisch schlug ich um mich und verhedderte mich dabei gewaltig in der Schlingpflanze. Jo musste mich rausgezogen haben, denn das erste an was ich mich erinnern konnte, waren seine strahlend hellblauen Augen, in die ich blickte, als ich wieder erwachte, bevor ich noch einmal das Bewusstsein verlor. Nach dem Vorfall wurde natürlich der ganze See nach meinem besagten Ungeheuer durchforstet. Das einzige Riesentier, das gefunden wurde, war ein zweimetersechs langer Waller. Bis heute bin ich mir sicher, keinen Waller gesehen zu haben. ES war etwas anderes.

Seit dem Tag jedenfalls benahm sich Jo seltsam. Er meldete sich nicht mehr. Er rief nicht zurück, wenn ich versuchte ihn anzurufen. Wenn wir uns in der Schule begegneten, sah er auf den Boden. Mittlerweile ignoriert er mich komplett. All die Jahre habe ich verbracht mich zu fragen, weshalb! Natürlich stellte ich ihn des Öfteren zur Rede, doch ich bekam keine Antwort, außer einem traurigem: „Es ist besser so, wenn wir nicht mehr befreundet sind, Luzi …“

Oder ein noch traurigeres: „Lass mich einfach in Ruhe, Luzi …“

Vielleicht sah er einfach keinen Sinn mehr, mit mir die Freizeit zu verbringen, da ich seitdem nicht mehr schwamm. Keine zehn Pferde würden mich nochmal in einen See, ins Meer oder sonst einen Tümpel, der tiefer ist wie eine Ellenbogenlänge, bewegen. Das wäre die einzige logische Erklärung, auf die ich nach all der jahrelangen Überlegung gekommen bin, denn wenn Jo eines liebte, war es das Wasser. Damals wollte er noch unbedingt Meeresbiologie studieren – ob er dem Ziel immer noch nachhing? Oder aber, er hat bis zum heutigen Tag ein schlechtes Gewissen, da ich beinahe ertrunken wäre. Aber das wäre kompletter Unsinn, da er es doch war, der mich gerettet hat. Und jetzt rettet er dieses Blondchen, damit sie nicht von anderen angerempelt wird.

Der Bus hält an, was ziemlich ungewohnt ist. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt mich darin. Wir befinden uns an der Haltestelle der verlassenen Villa.

»Tschau Silvie, bis später!«, ruft Jo ihr hinterher, als sie den Bus verlässt. Sie winkt ihm zum Abschied mit einem strahlenden Lächeln. Ihre hüftlangen, von Natur aus platinblonden Haare, glänzen in der spätnachmittäglichen Sonne. Sie sieht aus, wie eine wunderschöne, makellose Elfe. Mein Hass wird immer größer…

Das dunkle Geheimnis

der Silvie McFarlane

Total verschwitzt, schlecht gelaunt und todmüde, komme ich endlich zu Hause an.

»Na Schätzchen? Wie war dein Tag?«, begrüßt mich meine Mam. Dem Geruch nach gibt es heute Pfannkuchen.

»Der Pfannkuchen ist das einzig Positive an diesem Tag.«

Naja außer vielleicht noch die Sache, wo Farit der Müll um die Birne flog… aber selbst das kann mich irgendwie nicht aufheitern.

Zum Glück löchert mich Mam nach dieser Antwort nicht mit Fragen. Sie würde dadurch nur noch miesere Laune bezwecken. Meine liebe Mami kennt mich eben zu gut. Nach dem Essen der leckeren Pfannkuchen geht es mir etwas besser. Vollgegessen lehne ich mich zurück. Mein Blick schweift durch die Küche, über das Esszimmer und das angrenzende Wohnzimmer. Ein seltsam glänzender Stoff, der über der Couch liegt, lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Was ist das da für ein Stoff über der Couch, Mam?«, frage ich sie.

»Sieh es dir ruhig an Schätzchen. Maria fand ihn wie zu erwarten grässlich…«

Jetzt bin ich neugierig. Was Maria sonst als grässlich bezeichnet, finde ich meist wunderschön. Na dann mal sehen.

»Wow! Der Oberburner!«

Ich halte ein wunderschönes Ballkleid in meinen Händen. Der Überrock besteht aus silberblauem Brokat.

Der Unterrock, den man deutlich darunter sehen kann, hat die Farbe hellblau, besetzt mit tausenden von silbernen Steinchen. Der weit ausladende Rock lässt auf ein Rokokokleid schließen. Die Korsage ist weit ausgeschnitten und mit Rüschen abgerundet. Außerdem wird es vorne und hinten geschnürt und ist schulterfrei. Es ist schlicht und ergreifend einfach nur der Hammer!

»Es ist atemberaubend, findest du nicht?«

Meine Mutter holt mich wieder in die Realität zurück.

»Woher hast du es?«