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Anne hatte schon immer mit Traurigkeit zu kämpfen. Als ihre beiden Großmütter versterben, wird sie zusätzlich von Albträumen und Schlaflosigkeit geplagt. Ihr ist alles egal, außer ein Browsergame, mit dem sie sich die Nächte vertreibt. In der Schule wird sie gemobbt, ihre einst so guten Noten werden immer schlechter. Andreas, ein Mitspieler, ist der Einzige, den sie noch hat. Für seine Gunst ist sie bereit Dinge zu tun, die ihren Moral- und Wertevorstellungen widersprechen. Sie ist überzeugt, dass nur er sie am Leben erhält - und das nutzt der 27-Jährige schamlos aus. (Bitte die Triggerwarnungen und Content Notes im Buch beachten.)
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Dieses Buch widme ich allen, die Opfer des Groomings wurden, sowie jenen, die Gefahr laufen, es zu werden.
Content Notes und Triggerwarnungen
Grooming – Was ist das überhaupt?
Playlist zum Buch
Prolog
Kapitel 1 – Das Leben in Arvernus
Kapitel 2 – Alle Weiber spinnen
Kapitel 3 – Was zur Hölle
Kapitel 4 – Fragen über das Alter
Kapitel 5 – Die Sache mit den Freundinnen
Kapitel 6 – Klausurenstress und Eifersucht
Kapitel 7 – Müde, so müde …
Kapitel 8 – Der Gegenschlag
Kapitel 9 – Das Treffen
Kapitel 10 – Wie geht es weiter?
Kapitel 11 – Die Ex und die anderen
Kapitel 12 – Andere Gilde oder ab in den Frost?
Kapitel 13 – Abitur – ja oder nein?
Kapitel 14 – Vorbereitungen aufs Abitur
Kapitel 15 – Nein heißt nein!
Glossar
Brief an Betroffene: Sag »Nein!«
Danksagung
Autorenvita
In diesem Own-Voice-Roman werden Themen wie Selbstverletzungen, Suizidgedanken, Depressionen, Mobbing, Pädophilie, Grooming, sexueller Übergriff, (Cyber-)Sex und Missbrauch aufgegriffen. (Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.)
Hör bitte auf dein Bauchgefühl, ob du diese Themen verträgst oder eher nicht.
Zudem seien hier dreierlei Dinge angemerkt. Erstens, dass die Darstellung in diesem Buch auf den Erfahrungen einer Einzelperson beruhen. Nicht bei jedem wirkt sich zum Beispiel eine Depression so aus, wie es bei Anne der Fall ist.
Zweitens ist es wichtig, sich bei Suizidgedanken Hilfe zu suchen. Solltest du damit zu kämpfen haben, dann sei versichert, dass es keine Schande ist und nicht von Versagen zeugt, sich Hilfe zu holen, im Gegenteil. Dies kannst du tun, indem du dich in Deutschland zum Beispiel per Telefon an die 116123 (Telefonseelsorge) wendest.
Drittens hätte Anne sich dringend Hilfe suchen müssen, als sie an Andreas geriet. Du bist in einer ähnlichen Situation? Irgendwie fühlt es sich komisch an und du willst bestimmte Handlungen und Berührungen nicht? Es gibt viele Anlaufstellen, auch digital. In Deutschland kann man sich online zum Beispiel per www.hilfe-telefon-missbrauch.de melden, telefonisch per 0800-2255530 oder auch analog, in dem man sich an Fachstellen für sexualisierte Gewalt oder andere Beratungsstellen vor Ort wendet. Diese sind gut per Online-Recherche auffindbar.
Mit »Grooming« wird die gezielte Kontaktaufnahme seitens Erwachsener mit Minderjährigen bezeichnet, welche in der Absicht des Missbrauchs geschieht. Dabei erschleichen sich die Täter*innen – in der Regel sind es überwiegend männliche Täter – das Vertrauen der Person beziehungsweise in diesem Fall des Kindes und binden dieses emotional an sich.
Die sexuelle Belästigung kann im Internet zum Beispiel per Chat stattfinden, wo Fotos und Videos ausgetauscht werden und mit welchen die Minderjährigen unter Druck gesetzt werden. Auch kann durchaus ein Treffen in der Realität das Ziel sein, wo die Belästigung fortgeführt wird.
Zudem wird das Kind meistens isoliert, die Täter*innen erzwingen eine Form der Geheimhaltung und tasten sich schrittweise daran, Grenzen zu überschreiten. Die Opfer werden emotional abhängig.
Im Englischen bezieht sich dieser Begriff auf Voll- und Minderjährige, im Deutschen hingegen oft nur auf Letzteres.
Mittlerweile werden nicht nur die Chatrooms dafür genutzt, sondern auch Online Games, da man dort solche Anbahnungen am wenigsten erwarten würde.
Megaherz – Müde
Doro – We Are The Metalheads
ASP – Werben
Blutengel – Über den Horizont
Böhse Onkelz – Nekrophil
Black Heaven – Niemand
Amon Amarth – For Victory or Death
Farin Urlaub – Kein Zurück
Doro – Tausend Mal gelebt
Icon For Hire – Under The Knife
Megaherz – Schlag zurück
Agonoize – Bis das Blut gefriert
Wolfsheim – Kein Zurück
Massendefekt – Ich werde alt
9mm – Mein Leben
The Smiths – Asleep
Farin Urlaub – Unter Wasser
ASP – Finger Weg! Finger!
Wie beginne ich von etwas zu erzählen, das keinen Anfang hat? Etwas, das nur möglich war, da so vieles schon im Vorfeld, in den Jahren zuvor, schiefgelaufen war? Und wo höre ich auf? Wenn es doch noch bis heute andauert, noch heute schmerzt, noch heute die Folgen brennende Narben sind?
Sag mir, wo fängt es an,
sag mir, wo hört es auf,
hört es jemals auf?
Sag mir, wie kann so etwas geschehen,
sag mir, wie kann ich es überwinden,
kann ich es überwinden?
Sag mir, warum schauten sie weg,
sag mir, warum hörten sie nicht zu,
hört jemals jemand zu?
Sag mir, wieso es noch schmerzt,
sag mir, wieso es noch brennt,
hört das denn niemals auf?
Sag mir, weshalb ich es sein musste,
sag mir, weshalb musste es überhaupt wer sein,
kann ich es denn gar nicht verhindern?
Ich will es seit Jahren hinausschreien, muss es endlich loswerden. Es verbrennt mich innerlich. Tag für Tag.
Immer wieder denke ich an die, die mich in die Kreissäge schubsten, die mich links liegen ließen. Ich denke an das Monster, dem sie mich zum Fraß vorwarfen, und wie sie dann darüber lachten.
Dieses Lachen werde ich ein für alle Male stoppen. Ihr sollt die ungeschönte Wahrheit zu hören bekommen.
Und vor allem geht dies raus an dich, du Monster. Auf dass dir nie wieder jemand zum Opfer falle und alle gewarnt sein mögen.
In drei Tagen würde die Hölle wieder losgehen. Sonntag war der letzte Ferientag. Ich seufzte und streckte mich auf meinem Schreibtischstuhl. Dabei fiel mein Blick auf den Spiegel rechts von mir. Er bestätigte, was ich mir schon gedacht hatte: Dunkle Schatten unter braunen Augen ließen mein Gesicht wie einen Totenschädel aussehen. Meine roten Haare hatten schon glanzvollere Zeiten gesehen. Hmpf.
»Essen ist fertig.« Mama klopfte an die Tür. »Anne, sitzt du schon wieder vor dem PC?«
Noch bevor ich »Herein« sagen konnte, stand meine Mutter im Zimmer. Während sie wütend in die Küche stapfte, dort mit dem Geschirr klapperte und meine Antwort nicht abwartete, sah ich erschrocken auf die Uhr. 19 Uhr schon? Aber ich war heute noch gar nicht in Arvernus online gewesen.
Seufzend erhob ich mich und schlurfte ihr hinterher. Ständig diese fragenden und besorgten Blicke meiner Familie beim Abendessen zu ertragen, schlauchte.
»Wieso isst du denn nichts?«
»Wann triffst du dich endlich mal wieder mit deinen Freundinnen?«
»Lächle doch mal.«
Besonders meine Mutter war, was das anging, sehr penetrant. Mittlerweile fand sie Unterstützung bei meinem neun Jahre älteren Bruder Ben, während Papa wie immer schweigsam dem Essen beiwohnte.
Nach dem Abendessen zog ich mich schnellstmöglich in mein Zimmer zurück. Ich schaltete den Laptop wieder ein und rief das Browsergame Arvernus auf. Erst vor ein paar Wochen war ich über das Spiel gestolpert und seitdem war ich jeden Tag online.
Arvernus spielte in einem kleinen Dorf, wo man zu Spielbeginn von seinem Großvater eine Farm vermacht bekam. Aufgabe des Spielers war es, die Farm zum Laufen zu bringen und das heruntergekommene Haupthaus in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.
Um sein Haus auszubauen, konnte man zum einen im Dorf verschiedene Aufgaben, sogenannte Quests, annehmen. Die andere Möglichkeit war, sich die Ausbauten des Hauses zu kaufen. Dem widmete ich mich am liebsten.
Meine heutige Mission lautete: Gilde finden. Schließlich war das ein MMO, ein Massively Multiplayer Online Game, und zu mehreren würde das Spiel hoffentlich noch mehr Spaß bereiten.
Klar, ich hatte in der Schule zwei Freundinnen, aber ich war trotzdem allein. Selbst in großen Menschenmengen fühlte ich mich einsam und verloren. Unverstanden, mit allem alleingelassen.
In einer der Gilden würde ich vielleicht endlich das Gefühl finden, gebraucht zu werden.
[21:01] GabiDieBlume: Kurz weg.
GabiDieBlume war eine liebe Person in den Fünfzigern, Mama zweier Söhne und wie ich Mitglied bei der Gilde DGK, Den Großartigen Kriegern. Dank dieser Gruppe hatte ich stets Ansprechpartner ingame – im Spiel –, was für mich als Neuling nützlich war.
Gleich musste ich mir ein Haus zum Tanzen suchen.
[21:03] GabiDieBlume: wd
[21:03] AnneTheCat: wb
Wd hieß, dass die Person wieder da war. Zur Begrüßung schrieb man dann welcome back, also wb.
Einerseits fand ich diese ganzen Kurzformen lachhaft, lol, aber andererseits ersparte das einiges an Tipperei. Lol. Laughing out loud, lauthals loslachen, war so etwas. Alles, was mir das Tippen erleichterte, war gut. Ich starrte auf meine beiden Zeigefinger, mit denen ich langsam mit Gabi in unserem Einzelchat, dem EC, schrieb.
[21:06] AnneTheCat: Wo gehst du gleich tanzen?
[21:08] GabiDieBlume: Dachte bei Lucía.
Die Gemeinschaftsaktion Tanzen gab den Spielenden einen kleinen Geldbonus als Belohnung. Derzeit sparte ich darauf, das Obergeschoss meines Hauses auszubauen.
Ich sendete Lucía-Maria eine Freundschaftsanfrage, um auf ihre Freundschaftsliste zu kommen, und erwischte den letzten Platz. Sie hatte ihr Haus zu einem Tanzparadies umgebaut. Wenn alle um halb auf den Start-Knopf drückten, würden wir den Geldbonus bekommen.
Mir gefiel ihr Haus und der Chat war angenehm, fast schon familiär. Viele kannten sich und stets wurden Emoji-Herzen gepostet, was bei anderen Tanzhäusern, wie dem von Säbelzahn, verpönt war, wie ich leidlich hatte feststellen dürfen.
In unserem Gildenchat war nie viel los, daher freute ich mich stets auf die Tanzrunden. Dort gab es etwas zu lesen, ich konnte an meinem Tippen arbeiten und es glich stets einem größeren Treffen von Freunden und alten Bekannten. Ein wenig Gesellschaft tat gut.
Im Großen und Ganzen war ich froh, dass ich über dieses Browsergame gestolpert war, denn es bot eine nette Ablenkung.
Und die benötigte ich dringend.
Vor einigen Monaten waren meine beiden Omas gestorben. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Ich hatte noch mehr Albträume – etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte.
Schon im Alter von vier Jahren hatte ich damit gekämpft. Oft hatte ich geträumt, dass ich meine Eltern bei einem Feuer verlor oder gejagt wurde. An gute Träume erinnerte ich mich nicht.
Die schlechten Träume wurden ein Teil von mir. Doch dass ich träumte selbst zur Täterin zu werden, zu jagen und zu morden, war neu und machte mir Angst.
Sagte man nicht über Träume, dass sie dem Unbewussten entsprangen? Bedeutete das, dass ich ein Monster war?
Ich stand vom Laptop auf, um endlich ins Bett zu gehen und dort auf den Schlaf zu warten. Die Uhr zeigte schon zwei Stunden nach Mitternacht an, was mich jedoch kaum verwunderte, war der Schlaf doch in letzter Zeit recht spärlich gesät.
Dennoch war ich nicht müde.
Während meine Mutter beim Notar war, um Angelegenheiten für ihre verstorbene Mama zu regeln, saß ich am Laptop und starrte den Beitrag auf einer Chat-Plattform für Schüler an.
Der Beitrag entstammte einer Gruppe namens »Rothaarige sind Abschaum«. Da es eine offene Gruppe war, sah ich als Nicht-Mitglied die Beiträge trotzdem.
Eine Mitschülerin hatte dort ebenfalls etwas gepostet: »Ich finde es ekelhaft, dass die eine in meiner Stufe nicht rasiert ist, nicht einmal unter den Achseln.«
Ihre beste Freundin und meine Lieblingsmobberin Valentina Müller antwortete darauf: »Rote Haare sind allgemein ekelig.«
Mir wurde schlecht. Es war eine Sache, wenn sie mir direkt zusetzten, doch so etwas im Internet zu lesen, einen Post, der von tausenden gelikt wurde, war fast noch schlimmer.
Ein mir Unbekannter schrieb darunter: »Na ja, aber je rostiger das Dach, desto feuchter der Keller.«
Als mir das Essen hochkam, rannte ich ins Badezimmer. Zitternd beugte ich mich übers Klo.
Nachdem ich mir den Mund ausgespült hatte, suchte ich den Rasierer meiner Mutter und rasierte mir die Achseln. Da ich ungeübt war, schnitt ich mir prompt ins Fleisch und schrie auf.
Warum nur ließen sie sich auch in der Öffentlichkeit über mich aus? Reichte es ihnen nicht aus, mich in der Schule fertigzumachen? Hassten sie mich etwa so sehr?
Vorsichtig tupfte ich das Blut mit einem Tuch ab und setzte mich auf den Wannenrand. Sollte ich etwas gegen den Post unternehmen? Aber sie hatten meinen Namen nicht genannt, daher standen die Chancen, dass er gelöscht wurde, schlecht.
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und setzte mich wieder an den Laptop. Als ich das Browserfenster schließen wollte, stach mir in der Gruppe ein Foto ins Auge. Ein kalter Schauer rann mir den Rücken hinunter. Die schwarze Jeans, die schwarze Bluse über einem Spaghetti-Shirt, die langen roten Haare. Man konnte das Gesicht zwar nicht erkennen, aber das war eindeutig ich.
In den Kommentaren ließen sich ein paar andere aus meiner Stufe aus, die ich nur vom Sehen her kannte.
»So hässlich.«
»Bei so einem Aussehen würde ich mich umbringen.«
Heulend wechselte ich zu Arvernus.
Bis einschließlich Samstag war ich gemeinsam mit meinem Matheleistungskurs auf Abschlussfahrt in Madrid gewesen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich geflogen, was ich besser als befürchtet vertragen hatte. Aber schon am morgigen Tage würde ich meine Mitschüler wiedersehen und die Mobbinghölle würde weitergehen.
Nicht nur die fast vierzig Grad in der Innenstadt hatten mir die Energie geraubt, sondern auch die Abende mit den Mitschülern.
Zum einen war da der Abend, an dem ich ein Gespräch mitangehört hatte, dass offensichtlich nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war.
Lukas sagte zu einer Gruppe von Jungs: »Wer sich traut, die Anne zu vögeln, kriegt 300 Euro von mir.«
Die einzige Antwort darauf: »Die würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen.«
Besonders schmerzhaft war dabei, dass Lukas ein Mitschüler war, mit dem ich seit vielen Jahren stets in einer Klasse gewesen war und von dem ich gedacht hatte, dass er nicht so wie die anderen wäre. Bis dato hatten wir uns auch immer gut verstanden. Dachte ich jedenfalls.
An dem Abend hatte ich so viel Alkohol getrunken, dass ich betrunken ins Bett gefallen war.
Und zum anderen waren da noch die Abende, an denen ein älterer Junge aus meinem Leistungskurs aus einem Erotik-BDSM-Buch vorlas. Er war eine Autorität unter den Jungs und mehrfach sitzengeblieben. An diesen Abenden erzählte er davon, dass er seit fast drei Jahren mit einer fünf Jahre Jüngeren zusammen war. Stolz hatte er behauptet, dass er jeden Tag Sex mit Jessy hatte, seitdem sie vierzehn Jahre alt war. Ich war nicht die Einzige, die sich dabei verwirrt umschaute.
Erst vor Kurzem war ich ihr über den Weg gelaufen. Dabei hatte ich ein Gespräch zwischen ihr und ihren Freundinnen mit angehört, aus dem hervorging, dass sie dafür in ihrer Stufe gefeiert wurde.
Diese Info wollte mein Gehirn noch immer nicht verarbeiten. Dabei gab es Wichtigeres. Das Abitur stand erschreckend nah vor der Tür. Schon nächstes Jahr sollte ich es in den Händen halten.
Meine Noten sahen alles andere als toll aus. In der Vergangenheit hätte ich viermal überspringen dürfen, die erste, dritte, sechste und achte Klasse; Möglichkeiten, die ich nicht wahrgenommen hatte. Doch nun fiel mir das Lernen immer schwerer. Konzentration wurde für mich zum Fremdwort.
Seufzend packte ich den Schulranzen, bevor ich mich an mein Tagebuch setzte.
Lachen ertönte aus dem Voice, dem Gruppenanruf. Seit ich zur Gilde GLAM gewechselt war, war Arvernus lebendiger und interessanter für mich geworden. Mit der Gildenchefin bei der DGK hatte ich mich nicht mehr verstanden, als sie ankündigte, dass die Spielenden der Gilde einen bestimmten Prozentsatz an Gold zu überlassen hatten.
Mit Sandra88 aus der neuen Gilde hingegen kam ich bestens klar. Vor über einem halben Jahr hatte sie im Chat beim Tanzen erzählt, dass ihr Verlobter mit ihr Schluss gemacht hatte. Ich schrieb ihr daraufhin, dass ich gern für sie da wäre, auch wenn wir uns nicht kannten. Seitdem waren wir uns immer wieder über den Weg gelaufen und hatten uns angefreundet. Sandra war es auch, die mich gefragt hatte, ob ich nicht zu ihr in die Gilde wollte. Diese Chance ließ ich mir nicht entgehen. Schließlich war sie mit vielen interessanten Personen im Spiel befreundet. Mit Lucía und Säbelzahn zum Beispiel.
»Ich benutze ja nen G-Punkt-Vibrator.« Lucías anzügliches Lachen erfüllte förmlich den Raum.
Sandra stimmte ihr zu: »Dann kriegt der endlich mal Beachtung.«
Davina lachte auf. »Was die Männer nicht hinkriegen, muss die Frau halt besorgen, nicht wahr, Mädels?«
Grölen und Gegacker. Ich schaute hilfesuchend an die Decke. Echt jetzt?
Seit Kurzem war Lucía in der Gilde, da sie aus ihrer vorherigen wegen Streitigkeiten geflüchtet war. Da vielen das Tippen zu anstrengend war, telefonierten wir meistens. Spätestens ab 21 Uhr war immer viel los. So auch heute Abend.
Davina und Jenny zählten auf, welches Spielzeug sie tagtäglich verwendeten.
Sandra unterbrach: »Ich glaube, wir haben unsere unschuldige Anne verstört, Leute. Sie schreibt schon lange nichts mehr.« Im Hintergrund hörte ich, wie die anderen versuchten sich einzukriegen.
Was sollte ich denn bitte schreiben? Dass ich solche Themen abstoßend fand? Dass das doch Privatsache war und niemanden zu interessieren hatte? Dass ich nicht hier war, um über Sexuelles zu reden, sondern Ablenkung von meinen selbstzerstörerischen Gedanken suchte?
Ich horchte kurz, ob meine Eltern in der Nähe meines Zimmers waren, und meldete mich dann zu Wort. »Nee, nee, ist schon alles gut. Bin noch da.«
Dabei war gar nichts gut. Schon lange nicht mehr. War überhaupt jemals etwas in Ordnung gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern und wischte mit einer Handbewegung die Gedanken beiseite.
Ich starrte auf den Bildschirm und dachte über die anderen im Call nach. Mit ihren frischen 25 Jahren sollte man meinen, dass Sandra fest im Leben stand, was jedoch nicht der Fall war. Sie half immer wieder ihren Eltern im Laden aus und war auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle.
Wolfgang kam dazu. Er war fast genauso alt wie Sandra und hieß WolfHunter im Spiel, wurde oft aber nur Wolf genannt.
Nachdem er begrüßt worden war, prustete Sandra los: »Na, Wolf, welchen Vibrator nutzt du so?«, woraufhin sich die Mädels nicht mehr einkriegten.
»Also ich komme ohne Hilfsmittel aus«, sagte er, als er sich wieder gefangen hatte.
Soweit ich wusste, hatte er vor einigen Jahren bei einem Unfall seinen linken Arm verloren und war aufgrund seiner Verletzungen seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen.
»Na, was geht«, tönte es. Andreas war ebenfalls dazugekommen. Seine Stimme ging runter wie Öl. Sein Bariton erfüllte meine Ohren. Berührte irgendetwas tief in mir drinnen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Normalerweise waren mir Stimmen gleichgültig. Aber bei ihm war es so, als würde die Sonne in der absoluten Dunkelheit aufgehen.
Andreas war der Gilde gemeinsam mit Lucía beigetreten und etwa zehn Jahre älter als ich.
»Wie war die Arbeit, Andreas?«, fragte ihn Lucía.
»Scheiße, wie immer.« Er lachte.
Wenn er lachte, durchströmte Wärme meinen Körper.
»20 Prozent auf Laune also? Oder wie ging der Werbespruch deines Arbeitgebers noch mal?« Davina lachte hämisch.
Die anderen stimmten ein, ich nicht.
Er arbeitete in Hannover in einem Elektronikfachhandel und wohnte nur zehn Gehminuten davon entfernt, soweit ich es mitbekommen hatte.
Ich atmete auf. Wenigstens ging es nun endlich nicht mehr um Masturbation. Zumindest dachte ich das, bis Andreas nachfragte, worüber wir uns eigentlich unterhielten. Sofort kochte die Stimmung wieder hoch und ich wusste, es würde ein langer Abend werden.
Schlaf, wie schön das jetzt wäre. Sich hinlegen, die Augen schließen und einfach einschlafen. Aber das ging nicht. Schon lange nicht mehr. Genauer gesagt seit dem Tod meiner beiden Großmütter. Beide waren vor knapp einem Jahr kurz hintereinander gestorben.
Ich rieb mir die Augen und gähnte herzhaft. Der Laptop brummte leise vor sich hin. Ich starrte die geöffnete Datei an. Eine eigene Wohnung nach dem Abitur wäre sehr teuer.
Die einzige Wohnung, die ich gefunden hatte, die ich mit dem durchschnittlich zu erwartenden Gehalt als Auszubildende würde bezahlen können, hatte leider keine Küche. Uff. Laut meinen Recherchen könnten das locker 2000 Euro werden, also nichts, was sich direkt vom ersten Gehalt bezahlen ließ.
Und dann kamen noch die schier endlos laufenden Kosten dazu. Strom, Handy und Internet waren dabei nur die Spitze des Eisbergs.
War es das wirklich wert? Eine neu gewonnene Freiheit, niemand mehr, der mir vorschrieb, wie ich das Zimmer aufzuräumen hatte, oder es mir unmöglich machte, noch spät abends am Laptop mit Freunden zu quatschen. Ich konnte meine eigenen vier Wände hier nicht mehr sehen und wollte mehr als nur die zwölf Quadratmeter Platz.
Nur wie sollte ich das Ganze finanzieren? Studieren wollte ich nicht, aber würde ein Ausbildungsgehalt allein ausreichen? Würden meine Eltern mich unterstützen? Davon ging ich zwar aus, wusste es jedoch nicht mit Bestimmtheit. Und welchen Beruf sollte ich ergreifen? Vor lauter Fragen bekam ich leichte Kopfschmerzen.
Seufzend schaute ich auf die Uhr. Es war schon kurz vor 17 Uhr. Schnell loggte ich mich in Arvernus ein und holte zeitgleich meine Aufgaben für den Matheleistungskurs aus dem Schulranzen. Da ich schon lange nicht mehr im Unterricht mitkam, konnte ich wenigstens ingame etwas erreichen.
Ich schaltete eins meiner neuen Lieblingslieder an: »Müde« von Megaherz. Treffender hätte ich meinen Gemütszustand nicht beschreiben können.
Dank Lucía waren wir heute zum Tanzen bei Geister-Marie. Dabei kam es irgendwie dazu, dass wir mit dem Rebellen-Voice, der aus Mitgliedern verschiedenster Gilden bestand, einfach alles, was Marie sagte, ins Lächerliche zogen.
[01:00] Geister-Marie: Mein Haus, meine Regel, so einfach ist das.
[01:01] AnneTheCat: Deine Regel? Also so private Details bezüglich Frauenprobleme möchte ich gar nicht wissen, Marie.
Kurz herrschte Stille im Voice.
»Mensch, unsere Anne ist ja doch nicht auf den Mund gefallen!«, kam es von Lucía.
Ich verzog das Gesicht, hielt aber den Mund. Noch immer war ich davon eingeschüchtert, dass Lucía in unserer Gilde war.
»Dabei ist sie doch immer so still und sagt nie was.«
Sandra korrigierte: »Liegt ja daran, dass sie ihre Eltern nicht wecken will.«
Am liebsten hätte ich Sandra zurechtgewiesen, dass ich sehr wohl für mich selbst reden konnte, aber ich ließ es bleiben.
[01:02] AnneTheCat: Dein Haus, deine Regeln, meine Sprüche?
[01:02] Geister-Marie: Ich hab keine Lust, dass meine Stammtänzer gehen, weil ihr ihnen auf den Keks geht!
[01:02] Geister-Marie: Anne fliegt.
»Jetzt haste aber was angestellt, Anne.« Andreas lachte. Entgeistert starrte ich den Chat an. Konnte Marie keinen Spaß ab? Oder war ich wirklich einen Schritt zu weit gegangen?
Sandra und Lucía verkündeten: »Das ist unsere Anne! Yay! Gut gemacht!«
Ich grinste und lief vor Freude rot an. Zum Glück war die Webcam aus.
[01:03] AnneTheCat: Aber … aber …
[01:03] Geister-Marie: Ist nun Ruhe, Anne?
[01:04] AnneTheCat: Ja, immer ;)
[01:05] Lucía-Maria: Aber ich darf nichts?
Kurz zuvor hatte Marie Lucía für ihren Spruch ebenfalls zurechtgewiesen und als Konsequenz bereits von der Freundesliste genommen.
[01:06] WolfHunter: Na toll, nun weint meine Prinzessin!
»Prinzessin? Seit wann bin ich denn deine Prinzessin?«, Lucía prustete vor Lachen.
»Schon immer.«
Ich hörte sein anzügliches Lächeln in der Stimme und ich verdrehte die Augen. Ging das Geflirte zwischen den beiden schon wieder los? Manchmal fragte ich mich, was da eigentlich zwischen den beiden lief, wollte es aber gleichzeitig auch nicht wissen.
»Tja, so ist sie nun einmal, unsere gute liebe Marie«, erwiderte Lucía. »Sie hat erst letztens wen geblockt, weil er ihre Einrichtung nur hübsch und nicht wunderschön gefunden hat.«
Das klang tatsächlich nach Marie. Ihre Arroganz und Zickigkeit hatten ihr im ganzen Spiel einen gewissen Ruf eingebracht.
[01:09] Lucía-Maria: Wolf, komm zu mir ins Bett.
[01:09] WolfHunter: :-*
:-* bedeutete, dass er sie küsste. Ich starrte den Chat an.
»Bitte lass die nicht gleich wieder alle von Vibratoren reden. Bitte, bitte«, murmelte ich und schickte ein Stoßgebet gen Himmel.
»Rrr«, machte Wolf.
Die Mädels, vor allem Lucía, lachten und kicherten los, während ich nur genervt lauschte.
Jenny japste. »Aufhören, Kinners, ich kann nicht mehr. Ich habe schon Seitenstechen vom ganzen Lachen.«
»Marie tickt jedenfalls gleich aus.« Lucías hämisches Grinsen war überdeutlich zu hören. Beide, Marie und sie, nahmen das Tanzen im Spiel sehr ernst und sahen in der anderen eine Konkurrentin.
Währenddessen nutzten wir im Chat alle möglichen Formen von Herz-Emojis, etwas, das Marie bekannterweise nicht mochte.
[01:11] Amore: Leute, sorry, vielleicht versteh ich es nur nicht, aber Marie bat darum, nicht zu spammen und Herzchen zu machen.
»Das ist der geilste Abend seit Langem«, ließ Wolfgang verlauten.
»Am besten war aber Annes Kommentar«, warf Andreas ein. Ich wurde schon wieder rot. Warum nur hatten seine Worte eine solche Wirkung auf mich?
Ein »Das war doch nichts« brachte ich trotzdem zustande, während ich im Chat Geister-Marie nach dem Grund fürs Kicken fragte.
[01:13] Davina: Anne, die Große :-*
»Doch, siehst du?«
Er klang stolz – oder bildete ich mir das ein? Bestimmt war es dem Moment geschuldet, dass er so reagierte. Trotzdem gefiel mir die Vorstellung mehr, als ich zugeben wollte.
[01:14] Geister-Marie: Irgendwann falle ich auch mal bei euren Tanzhäusern ein und nerve da rum.
[01:14] Lucía-Maria: Ja, gerne.
[01:14] Sandra88: Wir warten jeden Tag auf dich, Marie. [01:15] Davina: Wurde dir das Herz gebrochen, oder warum magst du die Herzen nicht?
»Davina!«, schrie Jenny und brach in schallendes Gelächter aus. »Du spitzbübische Nudel!«
»Spitzbübische Nudel?«
»Ach, lass mich, ich bin durch.«
»Merkt man gar nicht«, wendete Andreas leicht genervt ein.
Währenddessen schnappte ich mir meinen Ranzen und schaute schon mal durch, was ich für morgen umpacken musste.
[01:21] Geister-Marie: So. Bist gekickt, Lucía, Wiedersehen.
[01:21] AnneTheCat: Ui, Marie möchte Lucía wiedersehen.
Andreas daraufhin: »Ich glaube, Anne hat Feuer gefangen. Die geht ja heute richtig ab.«
Wieder errötete ich. Hatte ich da gerade ein Grinsen gehört? Und warum fühlte es sich so gut an, wenn Andreas mir Beachtung schenkte? Das konnten nie und nimmer Schmetterlinge in meinem Bauch sein, oder etwa doch? [01:22] Geister-Marie: Anne, du auch noch mal einen Kick?
»Wie sie langsam verzweifelt.« Davina kicherte vor sich hin. »Der Tag war so scheiße, aber die paar Minuten hier machen das alles wett.«
Dem konnte ich mich gedanklich anschließen. Ich nahm die Kopfhörer herunter, um zu hören, ob meine Eltern auch wirklich schliefen, und hörte sie beide friedlich schnarchen. Glück gehabt.
[01:28] Samira: Es fehlen noch: PhiloSoffen, Spaghetti-Monsta, Eleonora, raven91.
»Sittest du nicht Eleonora?«, fragte Lucía Andreas. Eleonora war seine Ex-Freundin. Soweit mir bekannt war, verstanden sich die beiden immer noch so gut, dass sie einander als Sitter in Arvernus eingetragen hatten. Je nach Einstellung konnte dieser das Profil übernehmen und für einen mitspielen, um zum Beispiel dessen Abwesenheit zu überbrücken.
»Joa, aber meinste, dass ich dort noch tanzen geh? Ich geh mit Eleonora woanders tanzen.«
Mittlerweile wurde der Countdown fürs Tanzen gegeben.
»Was machst du da eigentlich, Anne?«, fragte Andreas, da mein Character durch die Tanzräume in Richtung Ausgang lief.
»Ich bin ja gekickt und will nur raus aus diesem hässlichen Haus.«
»Ohh, arme Maus.«
Spätestens jetzt war ich knallrot im Gesicht und in meinem Bauch tobten Schmetterlinge. Auch das noch.
»Tja, von wegen klein, süß und unschuldig, nicht wahr?«, sagte Andreas und ich konnte sein süffisantes Lächeln vor mir sehen.
Während die anderen lachten und sich weiter über Marie ausließen, nickte ich ein. Zum ersten Mal seit Langem war ich einigermaßen zufrieden mit mir.
Schon zum sechsten Mal an diesem Abend würfelten Andreas und ich. Im Hintergrund lief »We Are The Metalheads« von Doro.
Schon seit zwei Wochen spielten wir täglich die Minispiele miteinander. Bei einem der Würfelspiele hatte ich bisher in 95 Prozent der Fälle gewonnen, obwohl mir so etwas im echten Leben gar nicht lag.
»Du bescheißt doch«, regte sich Andreas auf.
Leise lachend dementierte ich diesen Vorwurf.
»So, nun mal Ende, ich will noch ein paar Punkte runterspielen.«
Im Spiel konnte man auch gegen andere kämpfen, was mir jedoch keine Freude bereitete. Lieber verfolgte ich die Quests rund um das Familiengeheimnis der Spielfigur.
Andreas und ich verabschiedeten uns kurz.
[21:36] Andreas85: :-*
[21:36] AnneTheCat: :-*
Seit Freitag schickte er mir immer wieder diesen Kuss-Smiley und verwirrte mich völlig damit. Andererseits, was sollte das schon Großartiges bedeuten? Warum etwas herbei beschwören, wo gar nichts war?
Klar, er nannte mich »meine Königin« oder auch »meine Cheaterkönigin«. Aber es ging uns beiden doch nur darum, dass wir das Gezicke der Mädels oder, wie er sie nannte, »Weiber«, aus der Gilde nicht abkonnten. Selbst ich, mit meinen siebzehn Jahren, hatte mich mehr im Griff, wenn ich die Periode bekam, und das sollte laut meiner Mama etwas heißen.
Und ja, wir beide mochten die gleiche Musik: Metal. Musik verbindet. Aber das war auch schon alles. Dank ihm hörte ich nun Doro, seine Lieblingssängerin. Und als Metalheads hält man nun einmal zusammen. Da war doch nichts dabei. Oder?
Ich liebte unsere Gespräche über Musik. Er war der erste Mensch, den ich kannte, der meinen Musikgeschmack teilte und mich nicht dafür verurteilte.
Meine Eltern hielten nichts von Metal, genauso wenig meine zwei engsten Freundinnen in der Schule. Letztere hörten eher Pop.
Allgemein hatten wir drei kaum noch Gesprächsthemen. Besonders Paula konnte mich manchmal zur Weißglut treiben, da sie wie ein Honigkuchenpferd durchs Leben lief und stets nur das Gute sah. Wie sie das durchhielt, war mir ein Rätsel, bei allem, was in der Welt so passierte.
Unsere Gildenchefin Noelia war fast doppelt so alt wie ich und »best friends« mit Sandra. Wobei ich mich teils fragte, wer da in Wahrheit die Ältere war, so wie sich Noelia stets von ihrer rechten Hand bequatschen und beeinflussen ließ.
Mit einem Laptop beide Chats der Gilde in Arvernus und Discord im Auge zu behalten, war manchmal echt anstrengend. Zum Glück wurde der Gildenchat in Arvernus nur selten benutzt.
Eigentlich brütete ich an diesem Abend über den Englischhausaufgaben, aber einer Eingebung folgend schaute ich auf und las den Chat in Discord mit.
[21:57] Melissa: Sandra? Hat das mit der Menstruationstasse geklappt?
[21:58] Sandra88: So etwas gehört ja wohl nicht in den Gildenchat!
Ich roch den Stress förmlich, als Melissa ihre Frage sofort löschte.
[21:59] Sandra88: Und dann löscht man es einfach wieder? Na, herzlich willkommen im Kindergarten. Steh doch wenigstens zu deinem Fehler!
Wie ich es vorausgesagt hatte. Auweia. Mir erschloss sich zwar nicht, wieso die Tasse jetzt etwas Privateres war als der Vibrator, aber Sandra war da etwas eigen.
[22:00] Melissa: Was denn jetzt? Ich hab es gelöscht, weil es dir zu privat war, und jetzt ist das auch falsch? Gibs doch zu, dass du nach Gründen suchst, mich anzumotzen!
Das war leider nicht das erste Mal in den letzten zwei Wochen, dass sie sich wegen Nichtigkeiten in den Haaren lagen.
[22:02] Davina: Ach Mann, ist doch immer dasselbe … und es ist jetzt keine Drohung, aber irgendwann hab ich von diesen Launen die Schnauze voll.
[22:05] Melissa: Sandra, hast du mal einen Moment, bitte? Wir müssen endlich reden.
[22:05] Sandra88: Nö
Ich schaltete mich ein, um die Situation zu entschärfen. [22:06] AnneTheCat: Aber wenn sie gerade keine Zeit hat? RL und so?
Mit RL meinte ich das Real Life, also das echte Leben außerhalb des Spiels.
[22:07] Melissa: Anne, sie kann auch für sich selbst schreiben!
»Sorry, dass ich existiere«, murmelte ich vor mich hin. Ich zog unwillkürlich den Kopf ein wenig ein.
[22:08] Davina: Sandra, könntest du dich wenigstens mit Melissa aussprechen, damit wir alle unsere Ruhe haben? [22:09] Melissa: Lass stecken, Sandra lacht sich eh scheckig …
[22:11] Davina: Genau deswegen!
[22:12] Davina: Dasselbe Problem hatte ich schon vor ein paar Wochen, hab die Schnauze echt gestrichen voll!
Stimmt, da war ja was gewesen. Davina war zu uns gekommen, da einige Streitigkeiten ihre alte Gilde zerpflückt hatten. Streit schien eine der Hauptursachen zu sein, warum Leute die Gilde wechselten.
[22:13] *** Davina hat die Konversation verlassen. ***
Wer in Discord die Konversation verließ, galt als Ex-Gildenmitglied. Der Chat der anderen lief normal weiter. Na dann, wenn es den anderen egal war, sollte es mich auch nicht weiter kümmern.
Ich zuckte mit den Schultern und überlegte, ob ich alle Hausaufgaben für morgen fertig hatte. Je nach Fach konnte ich mir weiteres Versagen nicht erlauben.
[22:19] *** Sandra88 hat Melissa aus diesem Chat entfernt. ***
Was war denn jetzt passiert? Wieso musste Melissa denn gehen? Hatte ich etwas verpasst?
[22:22] Andreas85: Was ist hier los?
[22:23] Sandra88: Frag bloß nicht!
Was sehnte ich mich nach der Zeit zurück, als das Spiel nur ein Spiel war. Ohne Drama, ohne RL-Bezug. Ein Zufluchtsort vor der grausamen Wirklichkeit des Lebens.
Andreas und ich setzten uns in den Voice und er machte Musik an.
»Würfeln wie immer?«, fragte er.
Dankbar und lächelnd nahm ich an.
Bald war es ein Jahr her, dass erst Oma Gerda und ein paar Tage später Oma Lisbeth gestorben waren.
Oma Gerda, die ich stets Omama nannte, hatte im gleichen Mietshaus wie wir gewohnt. Manchmal verfluchte ich sie, da sie nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen war, obwohl sie das mit dem Krebs geahnt hatte.
Heute dachte ich aber besonders oft an Lisbeth, die Mutter meines Vaters. Sie hatte in einem Nachbarort gewohnt. Auch wenn sie nicht meine Lieblingsoma war, war sie eine knuffige ältere Dame gewesen.
Oft hatte ich meinen Papa begleitet, wenn sie ihren Sohn mal wieder zu sich gerufen hatte. Sie hatte es immerzu geschafft, das Radio oder den Fernseher zu verstellen.
Während der Reparatur hatte ich mich in der Wohnung allein umsehen dürfen, Pfannkuchen bekommen und in ihrer Kiste für Schmuck stöbern dürfen.
Am Ende des Besuchs hatte sie mir immer heimlich Geld zugesteckt und mich lange gedrückt.
Die Besuche hatten jedoch in den letzten Jahren abgenommen. Meistens hatte ich genau dann für Klausuren lernen müssen.
So war es auch an ihrem letzten Tag gewesen. Monatelang hatten meine Eltern, mein Bruder Ben und meine Tante – ihre Tochter – eine neue Wohnung für sie renoviert. Diese lag zwei Häuser von meiner Tante entfernt. Schließlich war Oma Lisbeth schon 89 Jahre alt und kam im Haushalt nicht mehr allein zurecht.
In der Nacht von Sonntag auf Montag, ihrer ersten Nacht in der neuen Wohnung, war sie gestürzt. Da sie allein nicht mehr hochkam, robbte sie zum Telefonschränkchen, erreichte es jedoch nicht.
Meine Tante hatte arbeiten müssen, weswegen eine liebe Nachbarin am nächsten Morgen nach Lisbeth geschaut hatte und sie bewusstlos auffand.
Sofort ging es ins Krankenhaus, aber da hatte sie schon im Koma gelegen.
Am Nachmittag wollten Ben und Papa sie auf der Intensivstation besuchen und luden mich dazu ein. Wegen der Deutschklausur am nächsten Tag lehnte ich ab, denn ich ging davon aus, dass sie wieder aufwachen würde. Nachdem kurz zuvor schon Oma Gerda verstorben war, hätte ich es besser wissen müssen.
Sie wachte nicht wieder auf. Fünf Minuten bevor ich am Dienstagmorgen das Haus verlassen musste, rief das Krankenhaus an und teilte mit, dass sie verstorben war.
Auch morgen stand wieder eine Klausur an. Mir war so schlecht, dass ich darüber nachdachte, mir weh zu tun, und sei es nur, um einen anderen Impuls zu bekommen.
Der Vorteil an geraden Kalenderwochen war, dass ich donnerstags schon gegen kurz nach 13 Uhr daheim war und Zeit für meine Hausaufgaben hatte.
Allerdings bedeutete das auch, dass Katharina und ich keine freie Doppelstunde gemeinsam verbringen würden, was mir heute besonders fehlte.
Kathy und ich kannten uns seit der Mittelstufe. Sie war ein sehr zurückhaltender Mensch, den gefühlt nichts aus der Ruhe brachte. Dafür bewunderte ich sie. Paula und sie waren schon seit der fünften Klasse befreundet und beste Freundinnen.
Während Kathy sehr ruhig und in sich gekehrt war, war Paula genau das Gegenteil. Fröhlich lachend und immer gut gelaunt ging sie durch die Welt. Damit konnte sie mir schon einmal auf die Nerven gehen. Mit ihr hatte ich den Englischgrundkurs. Seit der siebten Klasse hatten wir gemeinsam Philosophie gehabt und uns darüber angefreundet. So hatte ich dann auch Kathy kennengelernt.
Wir hatten schon viel gemeinsam durchgestanden, denn genau wie ich waren die beiden ein beliebtes Ziel für Mobbingattacken. Ebenso wie ich passten sie in keine vorgefertigte Kategorie und waren für viele zu eigen.
In unseren gemeinsamen Freistunden holten Kathy und ich uns etwas zu essen und schwiegen. Das war eigentlich das Beste daran. Wir konnten miteinander schweigen, ohne dass es komisch wurde. Das ging nur mit wenigen Menschen.
Heute hätte ich gern eine Runde geschwiegen. Einfach nur dasitzen, ohne Rede- und Lächelzwang.
Auch wenn ich seit 13 Uhr schon frei hatte, brütete ich in der Schule über den Mathehausaufgaben, denn ich wollte trotz allem Kathy sehen.
Zum Glück klappte das auch. Während wir die Ruhe genossen, stieß irgendwann Paula dazu. »Na, wie gehts, wie stehts?« Sie strahlte uns an.
Ich murmelte etwas wie »Geht so«, in der Hoffnung, dass sie sich nur still zu uns setzen würde. Da hatte ich die Rechnung ohne Paula gemacht.
»Also, ich komme gerade von der Fahrschule und die Stunde war der Hammer.« Sie erzählte ausführlich davon, dem heutigen Unterricht, was sie später essen würde, und fragte abwechselnd Kathy und mich nach unserer Meinung.
Nachdem ich mir zehn Minuten lang Paulas Gerede angetan hatte und sie mich selbst auf mein stetiges Schulterzucken hin nicht in Ruhe gelassen hatte, packte ich meine Sachen und fuhr nach Hause.
Daheim versank ich so tief in den Hausaufgaben, dass ich die Zeit aus den Augen verlor. Bald würde es schon Abendessen geben. Ich öffnete Arvernus und ließ im Hintergrund meine Playlist laufen.
Im Rebellenchat war schon einiges los. Diesen gildenübergreifenden Chat hatte Sandra gegründet. Dort trafen sich unter anderem Berat und Selina, die sogar eine eigene Gilde leitete.
[18:53] berat0609: Wer will noch eine Runde gegen mich kämpfen?
[18:54] Selina89: Ich, mein Schatz.
Soweit mir bekannt war, lebten die beiden bei Andreas in der Nähe und waren seit zwei Jahren ein Paar.
Überhaupt gab es viele Pärchen im Spiel. Auch Andreas war schließlich mit einer Mitspielerin, Eleonora, zusammen gewesen, die im RL gelernte Krankenpflegerin war.
Wie immer in letzter Zeit schrieb mich nach dem Abendessen Andreas an. Wir verstanden uns gut, auch wenn er bereits 27 Jahre alt war und ich erst 17.
[19:59] Andreas85: Hey, Bock auf noch ne Runde?
[20:01] AnneTheCat: gerne
Auch mit ihm konnte ich schweigen. Erst gestern hatten wir drei Stunden telefoniert, ohne wirklich zu reden. Er hatte Musik bei sich angemacht. Währenddessen hatten wir uns dann ingame um die Würfel gekloppt. Mit ihm schien alles machbar und unbeschwert.
Schon kurz nachdem er zu uns in die Gilde gekommen war, hatte der Kontakt angefangen. Wir waren für einen Moment allein im Gildenvoice gewesen und er hatte mich gefragt, ob die Mädels immer so zickig seien.
»Na ja, Sandra hat ihre Tage. Da ist sie oft ungenießbar. Und bei den anderen merkt man, wenn die Uni oder die Arbeit sehr stressig waren«, erklärte ich.
Er schnaubte. »Mich haben die Kunden heute auch auf die Palme getrieben, aber das ist doch lange kein Grund, es an euch auszulassen.«
Dem war nichts hinzuzufügen.
»Was machst du grade?«, hatte er mich gefragt, als Lucía-Maria und Sandra weiterhin fortblieben.
»Ich vertreibe mir mit Würfeln die Zeit. Und hör Musik.« Während ich seine Würfelanfrage annahm, hakte er nach, was ich denn so hörte, und seitdem hatte es keinen Abend mehr ohne ihn gegeben.
[21:05] Andreas85: Was machst du?
Mathe hatte ich für heute aufgegeben und mich lieber anderen Fächern gewidmet, bei denen es mehr Aussicht auf Erfolg gab.
[21:07] AnneTheCat: Hausaufgaben. Ich versuche es zumindest.
[21:08] Andreas85: Wenn ich zu sehr ablenke, sag Bescheid.
[21:10] AnneTheCat: Ne, passt schon.
In mir breitete sich wieder einmal ein warmes Gefühl aus. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass Andreas mir guttat und dass wir einander schon immer kennen würden. Als wäre es das Normalste der Welt, rief er mich eine halbe Stunde später zum Musikhören an und ich klinkte mich aus der Unterhaltung im Rebellenvoice aus, der ich zuvor noch beigetreten war.
»Na, meine Cheater-Königin, Bock auf ein paar geile Sounds?«, begrüßte er mich.
»Mit dir doch immer«, rutschte es mir heraus und ich spürte, dass ich rot wie eine Tomate wurde. Ein Glück, dass er das nicht sehen konnte. Sein Lachen erfüllte mich mit Glückshormonen und ich war ihm dankbar dafür, dass er nicht weiter darauf einging.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug und schwupps, war es 2 Uhr morgens. Schon wieder. Und wieder waren wir allein im Voice. Für sich genommen war die Situation schon verrückt. Schließlich war er ein wildfremder Mann aus dem Internet, mit dem ich bis spät in die Nacht abhing. Und das würde ich in echt natürlich nie tun. Aber übers Internet war das nun einmal etwas anderes. Zumindest meiner Meinung nach.
Meine Eltern sahen das anders. Und meinen Freundinnen erzählte ich auch nichts vom Game und den Mitspielern. Zum einen, da sie nicht so viel wie ich im Internet unterwegs waren und mit Games nichts anfangen konnten. Zum anderen würden sie mich nur warnen, getreu dem Motto: »Vertraue keinem. Pass bloß auf. Du weißt doch gar nichts über die anderen oder ihn.«
Dabei kannte ich die anderen gut, besonders Andreas. Kein anderer Mensch hatte es je geschafft, dass ich mich ihm auf Anhieb so verbunden gefühlt hatte. Außerdem fiel mir nicht ein, inwiefern er eine Gefahr für mich darstellen könnte.
Heute war wieder ein Tag für die Tonne. In Spanisch hatte mich die Lehrerin zwangsweise drangenommen und ich hatte einen Text vorlesen müssen. Meine Aussprache war wirklich nicht die beste und im Text waren lauter neue Wörter, was nicht gerade hilfreich war.
In der Fünf-Minuten-Pause der Spanisch-Doppelstunde zog ich mich auf das Klo zurück. Dabei bekam ich ein Gespräch zwischen drei Mitschülerinnen mit, die sich direkt vor meine Kabine stellten.
»Hast du Annes«, sie spuckte meinen Namen förmlich aus, »Aussprache gehört?«
»Ja, selbst ein Affe hätte den Text locker besser vortragen können.«
»Und wie sie heute wieder rumläuft, wie auf einer Beerdigung.«