The House - Du warst nie wirklich sicher - Simon Lelic - E-Book

The House - Du warst nie wirklich sicher E-Book

Simon Lelic

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Beschreibung

Alles begann an dem Tag, als Jack und ich den Zuschlag für das Haus erhielten. Es sollte unser Zuhause werden, unser sicherer Hafen, gelegen in einer ruhigen Londoner Nachbarschaft. Keiner von uns konnte ahnen, was danach geschehen würde. Da war zuerst dieser merkwürdige Geruch, dann Jack, der glaubte, nachts unten Schritte zu hören. Und dann das, was wir auf dem Dachboden fanden. Wir wollten es ignorieren, dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Bis die Leiche hinter unserem Haus entdeckt wurde ...

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Seitenzahl: 410

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

I

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Sydney

Jack

Sydney

II

Jack

Sydney

Sydney

Sydney

Jack

Jack

Sydney

Sydney

Jack

Sydney

Danksagung

Über den Autor

Simon Lelic ist ein britischer Thrillerautor, von dem bereits drei Romane international veröffentlicht wurden. Sein Debüt EINTOTER LEHRER gewann den Betty Trask Award und stand auf der Shortlist des John Creasey Debut Dagger. THE HOUSE ist sein vierter Roman und erschien im Herbst 2017 als Spitzentitel bei Penguin UK. Lelic lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Brighton.

Simon Lelic

THE HOUSE

DU WARST NIEWIRKLICH SICHER

Thriller

Aus dem Englischen vonFriederike Achilles

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Simon LelicTitel der englischen Originalausgabe: »The House«Originalverlag: First published 2017 in Great Britain by Penguin Books,Penguin Random House UK.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Sabine Biskup, KölnTitelillustration: © Design by Lisa Horton; © Amy Weiss/Arcangel

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5677-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Anja.

Vorwort

Als mir das Messer aus der Hand gleitet, ist mein erster Gedanke, dass es gar nicht so schwer zu benutzen war, wie ich angenommen hatte. Zuerst bin ich euphorisch – bis ich das Blut sehe. Es fließt schnell, entschlossen. Es bildet Flecken auf meinem Sweatshirt, auf meiner Hose, sogar auf dem Fußboden. In diesem Moment wird mein Hochgefühl zu Angst. Mir wird klar, dass es schiefgegangen ist. Diese Sache, die ich so sorgfältig geplant hatte – sie ist komplett, auf entsetzliche Weise schiefgegangen.

I

Jack

Gestern Abend war die Polizei wieder da. Ich habe sie vom Gästezimmerfenster aus beobachtet, wie sie draußen in der schmalen Gasse standen. Sie können mich nicht gesehen haben. Ich bin absolut sicher, dass sie mich nicht gesehen haben. Außerdem, und wenn schon? Ich habe ja nichts falsch gemacht. Und es ist völlig normal nachzuschauen, oder? Genauso wie Autofahrer vom Gas gehen, um einen Blick auf einen Unfall zu erhaschen. Wahrscheinlich hätte die Polizei es sogar verdächtig gefunden, wenn ich nicht geguckt hätte. Ich meine, ich konnte es zwar von meinem Blickwinkel aus nicht sehen, aber ich wette, unsere gesamte Nachbarschaft hat geglotzt. Alle bei gelöschtem Licht. Alle geschickt hinter ihren Vorhängen verborgen. Was mich hingegen beunruhigt hat, war das Gefühl, dass alle dort draußen auch mich verhohlen beobachten. Dass das Auftauchen der Polizei zu dieser Zeit bloß ein Exempel war. Eine Warnung.

Gott, das hier ist schwer. Schwerer, als ich erwartet hatte. Ich weiß noch nicht mal, wo ich anfangen soll. Ich bin anders als Syd. Ich weiß, was sie denkt, welche Schlüsse sie bereits gezogen hat, aber sie geht anders mit Dingen um als ich. Ich weiß nicht, wo wir geendet wären, wenn sie den Anfang gemacht hätte – und ich hätte sicher nicht gewusst, wie ich weitermachen soll.

Das einzig Logische wird wahrscheinlich sein, mit dem Tag zu beginnen, an dem wir zum ersten Mal das Haus sahen. Das war im April. Jetzt ist September, der vierzehnte. 3:17 Uhr morgens, um genau zu sein. Syd ist im Bett, aber ich könnte nicht schlafen, selbst wenn ich wollte. Ehrlich gesagt bezweifle ich auch, dass sie es tut. Ich glaube, Syd hat seit Wochen nicht richtig geschlafen. Was mich betrifft, habe ich eigentlich keine Probleme damit. Jeden Abend bin ich sicher, dass ich nicht einschlafen werde, aber es ist vermutlich die Erschöpfung, die mich dann überwältigt. Die Last der Sorgen. Doch heute, nachdem wir eine Entscheidung getroffen haben, wollte ich es einfach nur anpacken.

Wir haben viel vor uns und nur wenig Zeit.

Also, zurück zum Besichtigungstermin. Ich glaube, ich muss mit diesem Tag beginnen, obwohl er an sich nicht weiter ungewöhnlich war. Ich erinnere mich daran, wie voll es war; wie viele Leute sich durch die Haustür quetschten, als endlich geöffnet wurde. Die Leute hatten Schlange gestanden, aber es war keine geordnete Reihe, sondern ein chaotisches Gedrängel wie an der Bushaltestelle, wenn jeder der Erste sein will. Wir kamen vierzig Minuten zu früh, und trotzdem waren schon sechs andere Paare da.

Aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Nicht für eine Hausbesichtigung in London. Das Seltsame an der Sache war, dass nicht nur das Haus zum Verkauf stand. Wer auch immer es haben wollte, musste auch alles kaufen, was sich in dem Haus befand. Und als Syd und ich es endlich hineingeschafft hatten, sahen wir, dass es komplett mit Krempel vollgestopft war. So richtiger Plunder wie von der Müllkippe. Außerdem Bücher, Kleidung, Mäntel, Bilder an jedem Quadratzentimeter Wand, Kartons, die völlig ungeachtet ihrer Größe und Form gestapelt waren, und große und kleine Möbel in jeder Ecke. Es war wie eine wahr gewordene Version von Jenga, in der es um Leben und Tod ging.

Oh, und Vögel. Der Vorbesitzer stand ganz offensichtlich auf tote Dinge. Überall Tierpräparate – keine Ahnung, ob er die selbst ausgestopft hatte oder nur hortete. Unter der versprengten Schar war ein Habicht, eine Möwe, sogar eine Taube. Syd musste sie auch bemerkt haben. Ich erinnere mich daran, wie überrascht ich war, dass sie bei dem Anblick nicht auf dem Absatz kehrtmachte und direkt wieder rausrannte.

Der Makler behauptete, der Besitzer habe im Internet eine Frau kennengelernt, die wohl in Australien lebte. Er habe alles stehen und liegen gelassen, um abzuhauen und mit ihr zusammen zu sein. Einfach so. Er stand wohl kurz vor der Rente, hängte aber trotzdem seinen Job an den Nagel, ließ seine Freunde sitzen und überschrieb sein Haus – inklusive der toten Tiere und allem – dem Immobilienmakler, der alles als Komplettpaket verkaufen sollte. Das lieferte wahrscheinlich die perfekte Geschichte für das Verkaufsgespräch und erklärte auch den Zustand des Hauses, aber ich konnte es vom ersten Moment an nicht ganz glauben. Ich meine, welcher Mensch macht denn so was? Und – diese Erklärung wie aus dem Lehrbuch mal beiseitegelassen – warum?

Jedenfalls war es seltsam, und ich persönlich fand es ziemlich abschreckend. Vielleicht hätte es mich nicht so sehr gestört, wenn mir das Haus selbst gefallen hätte. Der Grundriss war okay, und es gab jede Menge Platz – Wohnzimmer, Küche, separates Esszimmer und ein, zwei, drei Schlafzimmer, den nicht ausgebauten Dachboden nicht mitgerechnet –, aber das ganze Gebäude … Es war unheimlich. Man kann es nicht anders beschreiben. Der Garten war völlig überwuchert, und die Fassade hatte Ähnlichkeit mit einer Hauterkrankung. Das Haus stand allein (»frei stehend«, lobhudelte die Ausschreibung), so, als wäre es ausgestoßen worden. Auf der einen Seite befanden sich mehrere Reihenhäuser, zusammengedrängt wie um Schutz zu suchen, auf der anderen Seite stand ein Wohnblock, der dem Haus die Rückseite zukehrte. Es sah irgendwie aus, als würde es geächtet werden. Und so fühlte es sich auch an.

Also, was ich mit alldem sagen will, ist wohl, dass ich diesen Ort nicht mochte. Der ganze Müll, das Haus an sich – es fühlte sich einfach falsch an. Das Problem war, dass Syd eindeutig hingerissen war. Ich hatte gewusst, dass es so kommen würde. Und sie genauso. Syd war diejenige gewesen, die das Haus im Internet entdeckt und darauf bestanden hatte, dass wir mindestens eine halbe Stunde vor dem Termin dort sein würden.

»Und?«, fragte sie, als wir endlich mit der Besichtigung durch waren. »Was denkst du?«

Wir standen im Wohnzimmer neben dem Kamin. Ich weiß noch, dass mich von der anderen Seite des Zimmers her ein älterer Typ anstarrte. Ich fiel ziemlich auf, weil ich nur Turnschuhe und T-Shirt anhatte, während all die anderen Männer meines Alters Hemden, gebügelte Jeans und polierte Budapester trugen. Die meisten scheffelten wahrscheinlich dicke Kohle in der Londoner City oder waren – wie der starrende Mann – Väter von schnöseligen Rich Kids. Und wahrscheinlich war das der zweite Grund dafür, dass ich Syds Begeisterung nicht teilen konnte. Wir hatten über zwei Jahre gebraucht, um uns genug Geld für eine Anzahlung abzuknapsen, während die meisten Paare, gegen die wir antraten, dieselbe Summe wahrscheinlich mit einem einzigen Bonus verdienten. Wie konnten wir beide auf diesem Spielfeld, mit Londoner Regeln, überhaupt erwarten mitzuhalten?

»Ich komme mir vor wie bei Die Tribute von Panem«, sagte ich gequält. Was ich meinte, war diese eine Szene im Film, bevor die Action losgeht – als die Teilnehmer nur rumschlendern und so tun, als wären sie Freunde (oder Verbündete oder was auch immer), während sie es in Wahrheit kaum erwarten können, einander die Schädel einzuschlagen.

Syd sah mich ausdruckslos an. Ich wusste mit Sicherheit, dass sie den Film im Kino gesehen hatte, aber ihr Gedächtnis ist hinsichtlich solcher Dinge nicht das beste. Als sie jünger war, hat sie sehr viel geraucht – und ich spreche nicht von Marlboro Lights. Sie hat jede Menge Drogen genommen. Ich will gar nicht sagen, dass ich nie das ein oder andere ausprobiert hätte, aber manche Menschen sind einfach anfälliger als andere. Syds Kindheit und Jugend waren schwierig – besser gesagt, grauenhaft. So schlimm, dass sie mir nie die ganze Geschichte erzählt hat. Und als sie später so ihre Probleme hatte, spielten die Drogen dabei eine Rolle, glaube ich. Sie sagt zwar, das taten sie nicht. Da sei der ganze Schaden schon angerichtet gewesen. Aber Gras, Koks, Pillen und all das – dieses Zeug hinterlässt definitiv seine Spuren.

»Es ist nur …«, versuchte ich zu erklären. »All diese Leute. Ich meine, mir war klar, dass auch andere Interesse haben würden, aber das hier hätte ich nie erwartet.«

Syd umfasste meine Taille. »Vergiss mal die anderen für einen Moment. Wie findest du das Haus?«

Ich zögerte eine halbe Sekunde zu lang. »Ich mag es«, sagte ich schließlich. »Doch, ja.«

»Aber?«

»Aber … nichts. Es ist nur … Es ist ein bisschen dunkel, sonst nichts.«

Ich glaube, Syd dachte, dass ich lediglich meine Rolle spielte, beim Hauskauf genauso wie im Leben. Sie verteilt ihre Begeisterung so großzügig wie Weingummis, während ich schlecht gelaunt neben ihr hertrotte, mit den Fingern an Hauswänden entlangfahre und gegen die Reifen parkender Autos trete. Ich weiß meistens gar nicht, was genau mich so missmutig macht (und was soll es schon bringen, gegen Reifen zu treten, außer dass einem dann die Zehen wehtun?), aber es ist ein Teil von mir, in den ich irgendwie reingewachsen bin. Irgendwo muss ich gelernt haben, dass Männer eben so sind. Wahrscheinlich von meinem Vater, der es fertigbrachte, den Spaß einer Achterbahnfahrt abzutöten. Dazu kommt, dass Syd definitiv einen Gegenpol braucht, wie ich es nenne. Das ist der Grund, warum wir so gut zusammenpassen. Sie sorgt dafür, dass ich nicht ständig auf meine Füße starre; ich sorge dafür, dass sie nicht in den Himmel davonschwebt.

»Das liegt nur am Wetter«, meinte sie. »Und an den vielen Leuten. Und hast du das ganze Zeug hier gesehen?«

In dem Moment rechnete ich fast damit, dass sie die Vögel erwähnen würde. Tat sie nicht.

»Und der Dachboden«, sagte ich. »Wenn es hier unten schon so aussieht, wie muss es erst da oben sein?«

Syd sah zur Decke. Ich folgte ihrem Blick und befürchtete plötzlich, dass das ganze Haus gleich zusammenbrechen würde.

»Also, wir müssten nur einen Lieferwagen oder so mieten. Ein paar Helfer. Ich glaube, wir könnten es uns trotzdem noch leisten.«

Sie lächelte und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr perfekt geformtes Ohr. Vor meinem Zimmerfenster in meinem Elternhaus hatte dieser Baum gestanden. Kirsche, Apfel, ich weiß nicht mehr, was für einer es war. Er hatte gelbe Blüten, aber es reiften nie irgendwelche Früchte daran. Doch das Laub hatte diesen tiefen, palisanderbraunen Ton, der aufleuchtete, wenn das Licht es traf. Syds Haar, das sie nie färbt, hat genau dieselbe Farbe.

»Jack? Ich werde dich nicht dazu überreden, irgendwo zu leben, wo es dir nicht gefällt. Wenn du es wirklich nicht magst, dann lass uns einfach gehen.«

Es waren keine Schuldgefühle. Syd meinte es aufrichtig so, wie sie es sagte. Vielleicht hätte ich also etwas sagen sollen. Vielleicht hätte ich alldem an Ort und Stelle ein Ende bereiten können.

Wir gingen. Aber letztendlich machten wir ein Angebot, nur spaßeshalber. Und auch, ich gebe es zu, weil Syd völlig hin und weg war und ich wollte, dass sie glücklich ist. Außerdem, was konnte schon passieren? Ich war nicht gerade begeistert von dem Haus, aber ich fand es auch nicht schrecklich – und wir konnten es uns sowieso nicht leisten. Die Hypothek, auf die wir uns geeinigt hatten, reichte noch nicht mal für den ursprünglich angesetzten Preis, und das war nur der Einstiegspreis für die Auktion. Auf keinen Fall würden wir den Zuschlag bekommen, nicht bei so vielen Interessenten. Nicht bei all diesen Leuten mit Geld …

Ich fühlte mich sicher, denn wir hatten eigentlich keine Chance.

Sydney

Mein Gott. Ich wusste, dass das eine schlechte Idee ist. Ich wusste es, verflucht! Zuerst mal: Das hier ist keine Horrorgeschichte, okay? Das muss verdammt noch mal klar sein. Das Haus stand allein, als wäre es ausgestoßen worden … Für wen hältst du dich, Jack – Stephen King? Ein unheimliches Haus mit unheimlicher Einrichtung und ein glückliches (oder besser glücksuchendes) Paar, das selig lächelnd einzieht: Alle Bestandteile vorhanden. Wenn das hier wirklich ein Roman von Stephen King wäre, würden sich spätestens im dritten Kapitel Katzen in Zombies verwandeln.

Aber ich betone noch mal: Dies ist keine Horrorgeschichte. Es ist … Ich weiß nicht, was es ist. Das ist der Grund, warum ich es aufschreibe. Das ist der Grund, warum wir es gemeinsam tun, stimmt’s, Jack? Ist das nicht das, was wir entschieden haben?

Ich weiß, was er vorhat. Er will, dass Sie denken, dass wir es einfach mit der Angst zu tun bekommen haben – dass wir uns das alles nur eingebildet haben. Oder jedenfalls ich. (Die Drogen, Jack? Im Ernst?!) Aber die Hinweise. Die Warnungen, oder wie auch immer man es nennen will. Ich habe sie hier bei mir, in meiner Schreibtischschublade. Und dieses Ding hier vor mir auf dem Tisch. Das mich anschaut. Anstarrt. Ich werde es nicht tun, aber wenn ich wollte, könnte ich meine Hand ausstrecken und es berühren. Es ist echt. Wie das Blut – das war genauso echt. Erinnerst du dich an das Blut, Jack? Ich wünschte, das hätten wir beide uns nur eingebildet.

Er verdrängt das alles. So sieht’s aus. Er versucht so zu tun, als würde das alles nicht wirklich passieren. Ein Teil seines Problems ist, dass er es nicht ertragen kann, wenn andere schlecht von ihm denken. Er kriegt schon Schweißausbrüche, wenn ihn im Zug jemand anranzt, weil er die Füße auf den Sitz gelegt hat. Also, das alles … Das, wonach es aussieht … Er kann einfach nicht damit umgehen. Nicht, dass ich damit umgehen könnte. Aber wenigstens akzeptiere ich, dass es passiert. Denn es ist wie eine Horrorgeschichte – das gebe ich zu. Ich habe Dinge aus dem Augenwinkel gesehen und mir eingebildet, von denen ich wusste, dass sie nicht da waren. Aber das ist nur … Es ist ein Teil des Ganzen. Du siehst das, Jack, oder? Verdammt, das siehst du doch!

Ich bin gerade so wütend, dass ich glaube, es ist sinnlos, noch weiterzumachen. Ich meine, falls es meine Idee gewesen sein sollte, das Haus zu kaufen, dann war es definitiv Jacks Idee, das hier aufzuschreiben. Ich habe mich von ihm breittreten lassen, aber nur, weil es besser ist, als gar nichts zu tun. Jedenfalls dachte ich das. Doch jetzt? Jetzt bin ich da nicht mehr so sicher.

Oh, und nur zur Info, Jack: Natürlich färbe ich meine verfickten Haare.

Und Weingummi. Weingummi.

Ich brauche eine Zigarette. Ich brauche eine Zigarette, dabei rauche ich nicht mal!

So, ich habe eine kleine Runde gedreht.

Beinahe hätte ich »um den Block« geschrieben, aber in Wahrheit bin ich nur zum Kiosk gegangen und habe mir eine Zehnerpackung Marlboros geholt. Die Roten. Ich habe direkt dort an der Straßenecke gleich zwei hintereinander durchgezogen. Ein Schuss Nikotin mit Abgasen. Es geht nichts über ein bisschen frische Luft, um die Nerven zu beruhigen, oder?

Normalerweise fluche ich nicht so viel, ehrlich. Ich fluche, und zwar mehr als die meisten Leute in meinem Alter (wahrscheinlich mehr als die meisten Seemänner), aber nicht … Wie oft? Ich muss nachzählen. Zwei »verdammt«, ein »verflucht« und ein »verfickt« auf etwas mehr als einer Seite. Es ist einfach nur … Ich bin nervös. Um ehrlich zu sein: Ich bin kurz vorm Durchdrehen. Sie werden schon bald verstehen, warum.

Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich vielleicht überreagiere. Auf das, was Jack geschrieben hat, nicht auf das, was mit uns passiert. Gemessen an diesen Umständen bin ich verdammt noch mal die Ruhe in Person. (Okay, das war’s, ich verspreche es. Keine Kraftausdrücke mehr für den Rest dieses Eintrags. Atme, Sydney. Sei ganz Yoga.)

Meine erste Reaktion war: Das hier ist doch keine Lebensbeichte. Wie kannst du es wagen, so von oben herab über meine Vergangenheit zu reden? Wie kannst du es wagen, so saumäßig wertend zu sein? (Ist saumäßig ein Schimpfwort? Ich werde mich an folgende Regel halten: Was ich schon mal in East Enders gehört habe, zählt nicht.) Genau wie mit den Drogen. Manche Menschen sind einfach anfälliger als andere. Was Jack eigentlich sagen will, ist: Wie konntest du so dumm sein, Syd? Nach allem, was dir zugestoßen ist, wie konntest du da nur zulassen, in diese Falle zu tappen? Aber Jack begreift nicht – und ich bin nicht sicher, ob er es jemals begriffen hat –, wie verzweifelt ich mich danach gesehnt habe, etwas anderes zu fühlen. Wie sehr ich mich nach einem Ausweg gesehnt habe. Irgendeinem Ausweg. Wenn man in einem Verlies gefangen ist, wird selbst das schwächste Flimmern im Dunkel zu einer Verheißung von Tageslicht. Und wenn sich herausstellt, dass es das nicht ist, wenn es sich in Wahrheit als eine brennende Treppe herausstellt … Tja, dann nutzt man dennoch die Gelegenheit.

Verstehst du es jetzt, Jack? Dieses Gefühl, dass jeder Ausstieg gut genug ist? In Anbetracht der letzten Ereignisse hätte ich gedacht, dass du zumindest eine Ahnung davon bekommen hast. Dass du nach alldem –

Ich fange schon wieder an, mich aufzuregen.

Atme, Sydney, erinnerst du dich? Achte auf deine Atmung! Und überhaupt, was rede ich da, nach alldem? Als ob es schon vorbei wäre. Als ob das, was hier passiert, nicht erst der Scheißanfang wäre.

Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass meine erste Reaktion vielleicht daneben war. Vielleicht ist das hier tatsächlich eine Beichte. Die Möglichkeit, all das zu sagen, was wir immer dachten, aber aus Höflichkeit oder Verklemmtheit oder warum auch immer nie gewagt haben, laut auszusprechen. Als ich die zweite Kippe geraucht habe, dachte ich, das hier könnte einer dieser Räume sein. So wie das Sprechzimmer eines Psychiaters, Sie wissen schon: Alles bleibt in diesem Raum. Ein Ort, an dem man endlich ehrlich sein kann, sich aber gleichzeitig absolut sicher fühlt.

Ein sicherer Ort. Ein Hafen – genau das, was ein Zuhause sein sollte. Ich muss zugeben, ich finde, das klingt schön.

Ich habe auch darüber nachgedacht, worauf wir uns geeinigt haben. Wir haben gesagt, dass wir nicht einfach nur beschreiben, was passiert ist, sondern auch, was wir dachten und fühlten. Wegen der Authentizität, das war das Wort, das Jack wählte. (Was er nicht sagte: damit die Chance besteht, dass derjenige, der das hier lesen wird – wer auch immer das sein soll –, uns auch wirklich glaubt.) Also, vielleicht war all das, was Jack geschrieben hat, exakt das, worauf wir uns geeinigt hatten. Außerdem ist es ja nicht so, dass mich seine Worte wirklich überraschen würden. Ich weiß, dass er mich hysterisch findet, und ich weiß, dass er manchmal denkt, ich sei nicht ganz dicht. Nur, wenn man all das dann so niedergeschrieben sieht. Es ist so … so … Ich meine, nur, weil ich weiß, dass mein Freund jeden Morgen kacken geht, heißt das doch nicht, dass ich ihn auf der Toilette sitzen sehen will.

Oh mein Gott, wo kam das denn jetzt her?!

Was ich sagen will, ist, dass ich nicht mehr so wütend bin. Oder vielleicht bin ich es doch. Aber wahrscheinlich habe ich mich über das alles auch vorher schon aufgeregt. Und nicht nur über diese Dinge, sondern viele andere. Ich hatte genug Therapien in meinem Leben, um einzusehen, dass meine Psyche eine verf …, eine komplette Baustelle ist. Meine Reaktion war reines Dampfablassen. Und wissen Sie was? Ich fühle mich wirklich besser. Ich war nie eine große Schreiberin; ich habe noch nicht mal jemals ein Tagebuch geführt. (Hätte ich es bloß getan! Ich hätte in der Zeit, als sich diese Schicksalsberichte so massenhaft verkauften, ein Vermögen machen können.) Aber ich erkenne so langsam den Reiz darin. Eine meiner Therapeutinnen (fragen Sie mich nicht, welche – ich hatte in all den Jahren so viele, dass sie für mich zu einem einzigen strickjackenförmigen Klecks geworden sind) schlug mir das mit dem Tagebuch sogar mal vor. Meine Gedanken festzuhalten könnte helfen, meinte sie. Ich tat es verächtlich ab und behauptete, dass ich es ausprobieren würde, ließ es aber bleiben. Vielleicht hätte ich den Rat doch annehmen sollen.

Gott, mir tut die Hand weh.

Ich höre jetzt auf, ich schweife sowieso nur ab. Und nicht nur meine Hand wird langsam müde. Jack wird nicht gerade erfreut sein über das, was ich geschrieben habe. Wir sind keinen Schritt weiter als zu Beginn. Aber wenigstens sind wir auch nicht rückwärtsgegangen. Oder, Jack? Und ich bin jetzt überzeugt. Das hier hilft wirklich.

Nur nicht so, wie du es dir vorgestellt hattest.

Jack

Ich hab’s ja gesagt, oder? Direkt am Anfang. Ich gehe anders mit Dingen um als du. Und ich dachte, der ganze Sinn des Aufschreibens liegt darin, dass wir versuchen wollen, es zu verstehen. Ich weiß, dass du Angst hast, Syd. Und ich weiß, du bist aufgebracht. Aber es ist auch möglich, dass nichts von alldem so ist, wie du denkst.

Und was soll das heißen, wir waren glücksuchend? Wir waren glücklich. Wir sind es. Okay, im Moment vielleicht nicht wirklich, aber ich weiß, dass wir es wieder sein können. Wir müssen einfach … Wir müssen das hier hinter uns bringen. Und das ist der wahre Grund, warum wir es aufschreiben. Nicht um uns gegenseitig fertigzumachen oder dem anderen in den Rücken zu fallen. Wie wir in der letzten Zeit miteinander umgegangen sind – ich dachte, wir wollten das alles hinter uns lassen. Und zwar gemeinsam, du und ich. Zusammen.

Sydney

Wow. Knapp und cool. Es fühlt sich an, als wäre ich mit einer Benachrichtigung des Schulleiters nach Hause geschickt worden. Sydney hat ihre Hausaufgaben nicht erledigt. Ihr Verhalten hat negativen Einfluss auf die Entwicklung der anderen. Tatsächlich bin ich ziemlich sicher, dass ich so eine Benachrichtigung irgendwo habe. Na ja, wahrscheinlich eher meine Mutter. Sie hat sie alle aufbewahrt. In einem kleinen (okay, nicht ganz so kleinen) grünen Schuhkarton, zusammen mit meinen genauso unrühmlichen Zeugnissen. Sie immer wieder durchzusehen war ihre Art der Selbstkasteiung. Nachdem die anderen Spuren, die ich davongetragen hatte, endlich verschwunden waren, erinnerten die Zeugnisse sie wohl daran, dass all meine Narben nach wie vor existierten.

Aber ich hatte es verdient. Damals und heute. Denn Jack hat recht. Bei all dem, was passiert ist, habe ich die Tatsache aus dem Blick verloren, dass er nicht schuld daran ist. Auch nicht an dem Haus, zum Beispiel. Es stimmt, was er sagt: Er wollte es nie haben. Nicht so sehr, wie ich es wollte. Ich war vom ersten Moment an in das Haus verliebt. Trotz des ganzen Mülls, ungeachtet seines Innenlebens, und mal ganz davon abgesehen, dass wir es uns überhaupt nicht leisten konnten. Ich dachte einfach … Ich weiß nicht. Oder vielleicht weiß ich es, aber mir ist bewusst, wie kitschig es klingt. Aber hier geht’s um Ehrlichkeit, oder? Die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Also, ganz ehrlich – was ich dachte, als ich das Haus betreten habe, war, dass Jack und ich zusammen dort leben könnten, bis wir alt wären. Ein Haus für die Ewigkeit, sagen sie immer in diesen Wohn-Shows, und dann will ich jedes Mal am liebsten kotzen. Aber das hat mich nicht davon abgehalten, genau dasselbe zu denken.

Das alles macht es viel mehr zu meiner Schuld, glaube ich. Das Haus und alles, was danach passierte, es ist auf meinem Mist gewachsen. Also noch etwas, wofür ich mich entschuldigen sollte: Dass ich uns beide da reingeritten habe.

Aber nun zur Geschichte. Hör auf dich zu bemitleiden, Syd, und erzähl endlich die Geschichte.

Also gut, der Geruch. Soll ich mit dem Geruch anfangen? Oder greife ich damit schon zu weit vor?

Vielleicht, denn ich könnte wirklich nicht sagen, wann wir ihn das erste Mal bemerkten. Ich erinnere mich genau an den Moment, als wir zum ersten Mal darüber gesprochen haben, aber ich weiß nicht sicher, ob er schon immer da gewesen ist. Verstehen Sie, es war so vieles merkwürdig an diesem Haus. Das war auch einer der Gründe, warum ich es so wundervoll fand. Es trug so großen Reichtum in sich, eine solche Vielfalt, was seine Geschichte und Atmosphäre betraf und, ja, auch seine Düfte. Da war ein rauchiges Aroma, das sich über den Mief der Abflussrohre legte, der wiederum über dem Geruch von Büchern schwebte, und darüber hing ein Duft, der von irgendwas Blumigem stammen musste. Vielleicht war es der Jasmin im zugewucherten Garten. Und wie gesagt, wir sind ja nicht gerade in einen leeren Kasten gezogen. Kennen Sie diesen Geruch, den eine Bibliothek verströmt? Oder ein Museum, in dem sich jede Menge Kuriositäten, aber keine Menschen befinden? Ein altes Gebäude, nicht eins von diesen hypermodernen Teilen. Genauso roch es. Wie ein florierender Markt voller Erinnerungen, auf dem sich die guten Gerüche mit den schlechten vermischen. Süßes mit Schweiß, Abwasser mit Salbei. Alles erschien … miteinander verbunden. Wie bei einem Ökosystem. Ich will nur deutlich machen, dass ich wirklich nicht sagen kann, wann ich diesen einen Geruch zwischen all den anderen wahrgenommen habe. Als ich zum ersten Mal bemerkt habe, dass von irgendwoher im Haus ein …

Warten Sie.

Wissen Sie was? Mir fällt gerade ein, was Jack noch gesagt hat – dass wir zusammen glücklich waren. Und ich glaube, ich sollte besser damit beginnen. Es ist nämlich wichtig. Wer auch immer das hier liest, soll verstehen, dass wir wirklich glücklich waren, bevor alles angefangen hat.

Letztlich haben wir ja genau das bekommen, was wir wollten. Entgegen allen Erwartungen. Laut Evan, dem Makler, wünschte der Hausbesitzer sich, dass ein Paar einzieht. Eine potentielle Familie. (Nur mal so am Rande: Eine Mutter? Ich? HAHAHAHAHA!) Jedenfalls haben wir es so – oder deshalb – bekommen. »Glück gehabt, würde ich sagen«, meinte Evan. Es wirkte, als könnte er es selbst nicht ganz glauben (und als würde er diesen ganzen Auftrag bitter bereuen, was sehr wahrscheinlich ist). Der Besitzer – ein gewisser Patrick Barnard Winters – wollte die gesamte Liste aller Bieter sehen, und als er durch war, entschied er sich einzig aufgrund des Klangs unserer Namen für uns. Mr Jack Walsh und Ms Sydney Baker. Ich persönlich kann mir kaum einen uninteressanteren Namen vorstellen als Sydney Baker – das ist ein Grund, weshalb ich ihn gewählt habe.

Aber vielleicht hatte der Mann ja einen Lieblingsonkel namens Jack. Oder der Geburtsname seiner Mutter war Baker. Wer weiß? Was auch immer es war, es muss ihn so sehr überzeugt haben, dass er freiwillig auf zwanzigtausend Mäuse verzichtet hat. Minimum, sagte Jack. Er meinte, einige dieser Fatzkes aus der City hätten wahrscheinlich noch viel mehr geboten.

Und ich glaube, deshalb war Jack letztendlich einverstanden – weil ihm klar war, was für ein Schnäppchen wir machen würden. Und Jack würde mir sicher nicht widersprechen, wenn ich sage: Er liebt es, Schnäppchen zu machen. Da ist er ganz sein Vater. Roy Walsh, der massenhaft Spülmaschinen-Tabs hortete, bevor er sich überhaupt dazu überwinden konnte, eine Spülmaschine zu kaufen – nur, weil er sie im Co-op irgendwann im Sonderangebot entdeckt hatte. Und der einmal – in meiner Gegenwart – um ein Eis gefeilscht hat.

Also, ja, wir waren in Hochstimmung. In London ein Haus zu suchen ist, als würde man ausbluten. Ganz langsam zuerst, beinahe unbemerkt, aber jede Enttäuschung ist eine weitere Schnittwunde. Irgendwann kapiert man, dass die Begeisterung in Wahrheit nur ein Schwindelgefühl ist, und nach einiger Zeit fühlt sich alles einfach nur noch kalt und taub an. Ich habe den Überblick darüber verloren, wie viele Häuser wir im Laufe der Zeit besichtigt haben, aber für zwölf haben wir ein Angebot gemacht. Und wurden überboten.

Jep. Zwölf.

Und schon von denen war noch nicht mal die Hälfte wirklich schön. Zu Beginn unserer Suche hatten wir eine Liste mit unseren Bedingungen, ein ganzes DIN-A4-Blatt. Wunschzettel nennen es die Makler. Nichts Außergewöhnliches. Nichts Unzumutbares, so dachten wir. Irgendwas Charmantes, ein kleiner Garten, das Übliche eben. Nach drei Monaten Suche hatten wir die Liste halbiert. Nach sechs Monaten haben wir sie auf ein einziges Wort reduziert.

London.

Wobei wir wahrscheinlich auch zu Croydon nicht Nein gesagt hätten.

Ich bin guter Dinge geblieben. Jedes Mal, wenn wir ein Haus besichtigten, war ich wieder aufgeregt und stellte mir vor, dass es diesmal das Eine sein könnte. Zum Teil, weil ich einfach so bin. Durch mein »Training«. (Oder meine Konditionierung? Wie zur Hölle auch immer man fünfzehn Jahre Therapie nennen will. Psychologische Kriegsführung vielleicht.) Zum weitaus größeren Teil lag es daran, dass ich Jack nicht zeigen wollte, wie sehr mich das Ganze allmählich runterzog. Ich wusste, dass er dann vorschlagen würde, alles noch mal zu überdenken. Noch mal abzuwarten. Mit anderen Worten: aufzugeben. Und das ist etwas, was ich niemals tue. Nicht wegen meines Trainings. So bin ich einfach.

Sie müssen wissen, wir hatten immer von einem gemeinsamen Haus geträumt.

Ach Quatsch, streichen Sie das. Man träumt vom Fliegen. Von einem Lottogewinn. Einen Ort zu haben, an dem man lebt, ein Zuhause, das nur einem selbst und niemandem sonst gehört – das ist kein Traum. Man hat ein Recht darauf. Nicht nur wir, aber wir hatten es weiß Gott mehr verdient als irgendjemand sonst. Jack meint, ich hatte eine harte Kindheit, aber seine war auch nicht gerade ein Zuckerschlecken. Und wir haben gespart, geknausert, gebettelt, gepumpt – alles, was von einem erwartet wird, und noch mehr. Für uns war dieser ganze Kampf, nur um etwas zu finden, das überhaupt ein Angebot wert war – und dann jedes Mal wieder abgewatscht zu werden –, wie Folter. Das klingt vielleicht etwas pathetisch, aber ich will einfach nur deutlich machen, was für eine Befreiung es war, als wir dieses Haus bekamen.

Stellen Sie sich vor … Stellen Sie sich vor, Sie wären Raucher. Vielleicht sind Sie das ja auch wirklich. Also stellen Sie sich vor, Sie müssten einen Zwölf-Stunden-Flug antreten, der Verspätung hat. Und als der Flieger endlich sein Ziel erreicht, muss er noch drei Stunden in der Warteschleife kreisen. Und dann kommen noch das ewige Fahren übers Rollfeld und die Passkontrolle und die Gepäckausgabe und der Zoll, und dann, wenn Sie endlich einen Ort gefunden haben, an dem Sie fürs Rauchen nicht verhaftet werden, geht Ihr Feuerzeug nicht. Und dann bietet Ihnen irgendjemand ein Streichholz an.

Genauso war es.

Wir hatten in der Diele Sex. Quasi in dem Moment, in dem wir das Haus betraten. Und die ganze Zeit starrte mich diese Scheißeule an. »Verdammte Eulen«, sagte Jack, als ich ihn darauf aufmerksam machte. »Verfluchte Perverslinge, allesamt!« Er hätte nichts Besseres sagen können, denn anstatt durchzudrehen, fing ich an zu lachen. Am Ende musste Jack mich ins Schlafzimmer schleifen. Ich musste so lachen, dass ich nicht mal mehr gehen konnte.

Ja, wir waren glücklich. Nie wieder zu zweit in einem Einzelbett schlafen. Nie wieder Mitbewohner (in meinem Fall drei, alle auf ihre Weise genauso kaputt und abgefuckt wie ich). Keine Samstage mehr, die man mit dem Reparieren von Rissen oder Beseitigen von Schimmel verschwendete. Wir könnten (und würden, versprachen wir einander) Freunde einladen, wann immer uns danach war. Wir würden mit dem Abwasch so lange warten, wie wir wollten, und großzügig das heiße Wasser verschwenden. Wir würden singen, tanzen, fernglotzen und gemeinsam Frühstück machen – alles nackt. Einfach weil wir es könnten. Wir würden unser gemeinsames Leben leben, anstatt ein weiteres Jahr rumzusitzen und darauf zu warten, dass es anfing.

Also, ich nehme es zurück, Jack. Dass wir glücksuchend waren. Das tut mir leid, wirklich. Ich nehme es zurück.

Jack

Es ist diese Warterei. Das ist es, was mich so fertigmacht, viel mehr, als ich gedacht hätte. Genau wie damals, als ich den Bluttest gemacht habe, nachdem ich auf unserem Jungs-Trip nach Kavos mit diesem Mädchen am Strand geendet bin. Was übrigens passierte, lange bevor ich Syd kennenlernte, und was ich nie wiederholt habe. Oder die Eigentumsübertragung. Darauf zu warten, bis das Haus endlich überschrieben wurde. Das war auch unglaublich aufreibend, obwohl wir im Grunde überhaupt nichts machen mussten. Gerade deshalb wahrscheinlich.

Aber das war alles nichts verglichen mit der aktuellen Situation. Nichts von alldem war so wie das hier. Das jetzt ist schlimmer, viel schlimmer – wohl vor allem deshalb, weil ich immer noch nicht weiß, worauf genau ich warte.

Syd hat recht. Das Haus war ein Schnäppchen. Okay, es war nicht gerade mein Traumhaus oder so (nur fürs Protokoll, das wäre ein Cottage an der Nordküste von Devon mit Blick aufs Meer, einem Wald in der Nähe und höchstens eine Stunde vom nächsten Starbucks entfernt), doch der Preis, für den wir es bekamen, machte vieles wieder wett. Wir brauchten keine drei Schlafzimmer, aber so ist es ja mit den meisten Dingen. Niemand braucht ein iPhone. Oder ein Cabrio. Oder einen Dualit-Toaster. Aber manche Dinge will man eben einfach gerne haben, auch wenn man ziemlich ins Schleudern käme, wenn man sich für ihren Besitz rechtfertigen müsste.

Drei Zimmer. Ich könnte ein Arbeitszimmer haben. Oder einen Hobbyraum? Einen halben zumindest. Syd könnte ihre Yogamatte auf der anderen Seite ausrollen. Und das übrige Zimmer … Keiner von uns hatte eine Familie, von der Besuch zu erwarten wäre (außer von meinen Eltern vielleicht, irgendwann mal, falls sie es schaffen sollten, ihre Vorbehalte gegenüber Syd für eine Nacht zu vergessen). Aber wir könnten dort Freunde unterbringen, und wer weiß, eines Tages, wenn Syd auf den Gedanken kommen sollte … Na ja, es war schön, mehrere Optionen zu haben, das will ich nur sagen. Besonders nach diesem Leben, das wir bisher geführt hatten. Syd und ich haben uns auf einer Konferenz über psychiatrische Gesundheitsfürsorge kennengelernt, die ihre Firma veranstaltete. Ich war vom Stadtrat von Lambeth als Delegierter dorthin geschickt worden, ihr fiel meine Jobbezeichnung auf, und sie machte irgendeine Bemerkung wegen meines Alters (das ist jetzt vier Jahre her, damals war ich also vierundzwanzig, genauso wie Syd) – darüber, wie anspruchsvoll mein Beruf als Sozialarbeiter sein müsse. Ich meinte bloß, nein, es sei wirklich keine so große Sache, während ich gleichzeitig versuchte durchblicken zu lassen, dass es das natürlich doch war. Aber es sei ja bestimmt auch ziemlich kompliziert, solche Events zu veranstalten, und …

Ich erspare Ihnen die Details.

Die Sache ist die: Seit wir uns kennen, waren elf U-Bahn-Stationen die kürzeste Entfernung zwischen unseren Wohnungen. Wir hatten schon mal übers Zusammenziehen gesprochen, aber uns war klar, dass wir dann noch länger für ein eigenes Haus sparen müssten, also beschlossen wir, es so durchzustehen. Ein Jahr maximal, dachten wir. Aus diesem einen wurden fast drei Jahre. Als wir also das Haus bekamen, die Schlüssel … Es war genauso, wie Syd es beschrieben hat. Die Vorfreude. Die Erleichterung. Diese beschissene Schleiereule. Vielleicht habe ich das Haus nie so sehr geliebt wie Syd, aber ich liebte definitiv die Tatsache, dass es uns gehörte.

Wie auch immer, wir zogen ein. Wir konnten immer noch nicht ganz fassen, wie das passieren konnte, aber als die Verträge erst mal unterschrieben waren, war es uns auch vollkommen egal. Und ich änderte meine Meinung, zumindest vorübergehend. Das Haus erschien mir nicht mehr ganz so unheimlich, sondern eher charaktervoll. Weniger düster, sondern atmosphärisch. Dennoch, es war seltsam. Der ganze Kram, meine ich; all dieses Zeug, das der Vorbesitzer hinterlassen hatte. Schon bevor da dieser Geruch war und das, wohin er uns führte, fühlte es sich für mich an wie … Ich weiß es nicht. Oder eigentlich weiß ich es, aber ich bin mir nicht sicher, wie viel von dem, was ich schreibe, wirklich stimmt. Ob sich meine Erinnerung verändert hat. Ob sie durch den Schatten der Dinge, die seitdem passiert sind, verdunkelt wurde.

Aber ja, ich glaube, dass ich es selbst damals gespürt habe. Dieses neue Leben, worauf Syd und ich uns so freuten – es fühlte sich definitiv so an, als hätten wir es gestohlen.

Der Geruch.

Da wir kein Geld mehr hatten, konnten wir uns keine Entrümpelungsfirma leisten, und davon abgesehen dachten wir auch, dass es Spaß machen könnte. Sie wissen schon, all die alten Sachen des Vorbesitzers zu durchwühlen. Das Ganze war Syds Vorschlag. Ich hätte das gesamte Zeug in riesige Müllsäcke gestopft und es zum Charity-Shop oder zur Müllkippe gebracht, aber Syd überzeugte mich, indem sie aufzählte, was wir alles entdecken könnten. Vielleicht würden wir Möbel finden, die wir nutzen konnten, oder interessante Bücher oder einen Stapel von Briefen, die mir Inspiration für meinen Roman liefern würden, den ich schon ewig schreiben wollte, für den mir aber die zündende Idee fehlte. Alle möglichen Schätze eben.

(Ich weiß, ich weiß: Absurd, oder? Vor allem, wenn man bedenkt, was wir dann wirklich fanden.)

Wir entledigten uns dieser Vögel. Beziehungsweise tat ich das, bevor Syd überhaupt darüber diskutieren konnte. (Es geht ganz schnell, sagte ich. Alles, was ich tun muss, ist, ein Fenster zu öffnen. Aber Syd konnte ich damit nur ein genervtes Stöhnen entlocken.) Auch die Küche räumten wir aus und das Hauptschlafzimmer. Was aber den Rest anging, da hatten wir keine Eile. Es war ja nicht so, als hätten wir dringend Platz gebraucht. Wir besaßen nur mein altes Sofa und die Matratze, die an dem Morgen geliefert wurde, als wir die Schlüssel bekamen. Am fünften oder sechsten Tag vielleicht saßen wir also auf dem Teppich im zweiten Schlafzimmer und schauten einen Berg alter Schallplatten durch, die wir entdeckt hatten. Es gab auch einen Plattenspieler (so einen richtigen Plattenspieler, keine Ironie), und immer, wenn wir eine LP fanden, deren Gestaltung wir mochten, legten wir sie auf. Der Vorbesitzer hatte eine beachtliche Sammlung von Film-Soundtracks angelegt. Nichts Jüngeres als Der Pate und keine Tracks mit Texten, aber neben den üblichen Komponisten (Maurice Jarre, Ennio Morricone, Bernard Herrmann) gab es einige wirklich schwer zu kriegende Klassiker. Eine original Max Steiner zum Beispiel. Oder eine von Miklos Rozsa. Wie ich schon sagte: Schätze.

Syd suchte alle Musicals raus. My Fair Lady, Oklahoma!, Grease. Sogar Meine Lieder – meine Träume, mein Gott. Wir bildeten uns gegenseitig fort. Keiner von uns wollte wirklich etwas lernen, aber wir hatten trotzdem Riesenspaß.

Bis Syd an einer der Plattenhüllen schnüffelte.

»Syd?«

Sie betrachtete die Hülle von Wer die Nachtigall stört, als wäre sie etwas Ekelhaftes zu essen.

»Riechst du das?« Sie schnupperte wieder an dem Cover, dann in die Luft.

Ich roch es. Ich hatte es schon eine ganze Weile gerochen. Es war sicher Feuchtigkeit oder so. Verschimmelte Turnschuhe irgendwo auf dem Boden eines Schranks, die wir nur noch nicht entdeckt hatten.

»Es ist nicht die Plattenhülle, Syd. Gregory Peck ist viel zu sehr Gentleman, als dass er in Anwesenheit einer Lady einen solchen Geruch fabrizieren würde.«

Syd grinste, verdrehte die Augen und schlug mir das Plattencover gegen die Schulter.

»Es riecht nach …« Sie schnüffelte noch einmal. »Was ist das bloß? Kommt es von hier drin?«

Sie erhob sich aus dem Schneidersitz. Syd trägt niemals einen Rock, nur Hosenanzüge oder Jeans. Sie zeigt nicht gerne Haut, vor allem nicht ihre Arme. Sie schämt sich für ihren Kleidungsstil, von dem sie glaubt, dass er sein müsse, und nennt sich »Mannweib«. Aber die Wahrheit ist, dass sie sich darum gar keine Gedanken machen muss. Was auch immer sie trägt, in welcher Situation auch immer, sie bewegt sich mit der Grazie einer Audrey Hepburn.

Ich schloss mich ihrer Suche nach dem Geruch an, ein bisschen genervt, weil es meine Platte war, die gerade lief und von der wir nun abgelenkt wurden.

Wir endeten auf dem Flur, schnüffelnd und schnaubend wie zwei hypernervöse Polizeihunde. Alles, was mir noch einfällt, wenn ich zurückdenke, ist, dass sich der Geruch im Laufe des Tages wegen des Wetters verschlimmert hatte. Es war fast den ganzen Monat über kühl und feucht gewesen – fast das ganze Jahr über. Endlich, an diesem schönen Tag im Mai, lag zum ersten Mal eine Ahnung des bevorstehenden Sommers in der Luft.

»Hier draußen ist es definitiv stärker«, sagte Syd. Ein durchs Flurfenster einfallender Lichtstrahl schnitt wie eine Scherbe mitten durch ihre in Falten gelegte Stirn.

Der Gestank schien dort, wo wir standen, tatsächlich am heftigsten zu sein. Das Seltsame war nur, dass es nichts gab, was ihn hätte verursachen können. Auf dem schmalen Flur war gerade mal genug Platz für die Bilder an der Wand (hauptsächlich schwarz-weiße Familienfotos, unterbrochen von ein paar von den unvermeidlichen Vögeln). Die nächstgelegene Tür war die zu unserem Pop-up-Musikzimmer, durch die wir eben gekommen waren.

»Kommt es vielleicht von den Rohren?«, fragte Syd. »Irgendeine Erdleitung oder so was?«

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht hundertprozentig, was eine Erdleitung überhaupt war, aber wenn ich mich nicht täuschte, schien der Geruch nicht von so etwas zu stammen. Es roch mehr wie … vergammelndes Obst. Oder wie die Mülleimer im Hinterhof eines Restaurants.

Ich schaute nach oben.

Syd folgte meinem Blick.

»Der Dachboden?«

Ich zuckte mit den Schultern. Die Luke lag direkt über unseren Köpfen. Wir waren bisher noch nicht auf dem Dachboden gewesen, doch überzeugt, dass er komplett mit Müll vollgestopft sein würde. Wir wollten zuerst die anderen Räume des Hauses entrümpeln, außerdem – was mich persönlich angeht –, ich bin nicht gerade der größte Freund von Spinnen.

»Soll ich die Leiter holen?«, fragte ich. Es war nicht wirklich eine Frage. Eher eine Verzögerungstaktik.

»Ich gehe hoch«, sagte Syd, die meine Angst zu spüren schien. Wenn sie eine Spinne entdeckt, macht sie witzige Schnalzlaute und trägt sie dann in ihrer Hand zum nächsten Fenster.

»Nein«, gab ich zurück, »sei nicht albern.« Da sprach mal wieder mein Vater aus mir, er schien mich als Medium zu nutzen – obwohl er noch nicht mal tot war. Probleme mit Abflussrohren? Aufgaben, für die eine Leiter benötigt wurde? Das war Männersache.

Ich war im Nachhinein froh, dass ich es gesagt hatte. Und sehr froh, dass ich als Erster die Leiter hochgeklettert war. Denn nachdem ich erst mal kapiert hatte, wie man die Taschenlampe einschaltete, und dann sah, was da oben war … Wenigstens hatte ich so die Möglichkeit, Syd zu warnen.

»Komm nicht hoch!«, rief ich. »Syd? Ich mein’s ernst. Komm nicht hoch!«

Sydney

Ich werde nicht vom Dachboden sprechen. Ich will von Elsie Payne erzählen.

Ich kann mich daran erinnern, wie ich befürchtete, dass sie davonfliegen würde. Ihr Haar peitschte hinter ihr her wie Drachenschnüre, der Wind jagte Kräuselungen über ihren Regenmantel. Das schöne Wetter, das fast den ganzen Sommer über geherrscht hatte, hatte sich ein paar Tage freigenommen, und für diese Zeit fühlte es sich in jenem Monat so an, als wären wir direkt im Herbst gelandet. In ihrem grünen Mackintosh-Regenmantel und mit ihrem blonden Haar glich Elsie einem Blatt mit vergilbtem, zerfasertem Stiel, das zu früh vom Baum getrennt worden war und auf der Suche nach einem sicheren Landeplatz durch den Sturm taumelte.

Ich folgte ihr zum Laden an der Ecke. Ich mochte es, dass wir einen Eckladen hatten, der kein Londis oder Tesco war. Mr Hirani, der Besitzer, scherte sich nicht allzu sehr um Malerarbeiten, und was auch immer jemals auf seinem Firmenschild gestanden haben mochte, war jetzt nur noch als Schatten erkennbar. Drinnen aber gab es alles, was man brauchte. Cornflakes, Kreuzkümmel, Katzenfutter – sogar Champagner, wenn auch, das muss ich zugeben, zum absoluten Wucherpreis. In der Nachbarschaft wurde der Laden einfach nur der Laden genannt. Im Gegensatz dazu gab es die Läden – das war die uniformierte Parade der Outlets im Londoner Süden, fünfzehn Minuten Fußweg entfernt von der Hauptstraße in unserem Viertel.

Ich hatte Elsie nie zuvor bemerkt. Nicht, dass ich das unbedingt hätte tun müssen, denn wir wohnten erst ein paar Wochen in dem Haus. Aber nach dem Umzug hatte ich mir zwei Wochen Urlaub genommen; das war etwa so viel, wie ich mir in den bisherigen zwei Jahren in meinem Job insgesamt freigenommen hatte. In dieser Zeit hatte ich oft auf der Fensterbank in unserer neuen Diele gesessen oder war durch die Straßen der Umgebung gestreift, sodass mir bald viele Gesichter aus der Nachbarschaft – zumindest vom Sehen – vertraut waren.

Natürlich war da Mr Hirani, der so zuverlässig hinter dem Tresen seines Ladens stand, dass ich langsam den Verdacht hatte, er habe einen Katheter gelegt bekommen. Da waren die Pinke Frau (ihre Kleider, nicht die Frau selbst; ihre Haut hatte diesen dunklen Toffeebraun-Ton) und der Russen-Mob-Mann (der sich als Kevin aus Essex entpuppte, aber exakt wie ein russischer Gangster rüberkam, bis er den Mund aufmachte), genauso wie Gitarren-Cowboy (Gitarrenkoffer, Cowboyhut) und Telly Savalas (leider nur ein Doppelgänger). Oh, und die JAMIE!-Familie, die anscheinend ausschließlich durch das Brüllen eines Wortes – genau, JAMIE! – kommunizierte. Das Auto ausladen, sich für die Schule fertig machen: Es gab kein Unterfangen, das die Familie in der Öffentlichkeit austrug, das nicht vom kreuzfeuerartigen Einsatz dieses einen Wortes abzuhängen schien.

Es gab auch noch andere, deren Gewohnheiten und Routinen ich irgendwann kennenlernte. Aber nicht Elsie, nicht bis zu jenem Morgen.

Aufgrund ihrer Größe schätzte ich sie auf zehn oder elf, allerdings sollte sich herausstellen, dass sie in echt dreizehn war. Und auch wenn sie niemals stolperte oder auch nur strauchelte, schien ihr Blick permanent in den Wolken zu hängen; so, als nutzte sie sie zum Navigieren oder stellte sich vor, Teil ihrer Welt zu sein. Als ich sie dieses erste Mal sah, suchte ich für ein paar Augenblicke nach dem Etwas, das sie anstarrte – ein Flugzeug, dachte ich, oder ein kreisender Vogel –, bis ich begriff, dass da oben gar nichts war. Jedenfalls nichts, was ich ausmachen konnte.

Bei Mr Hiranis Laden hatte ich sie fast eingeholt. Als sie die Tür aufstieß, klingelte das kleine Glöckchen, und dann noch einmal, als ich ihr hineinfolgte. Ein kleines Zucken ihrer Schultern verriet ihre Überraschung darüber, dass jemand so dicht hinter ihr war, aber sie drehte sich nicht um. Sie ging nur etwas schneller zum Tresen.

»Elsie«, sagte Mr Hirani.

Ich hatte schon festgestellt, dass er kein Mann war, der gerne lächelte oder, genau genommen, überhaupt irgendeine Regung zeigte – aber da lag ein Lächeln für Elsie in seiner Raucherstimme. (Das war noch so was über Mr Hirani. Seiner Stimme nach rauchte er sechzig Kippen am Tag, aber ich habe ihn nie draußen mit einer Zigarette gesehen. Ich habe nie mitbekommen, dass er seinen Stuhl verlassen hätte. Vielleicht verrichtete er alles, was er verrichten musste, nach Ladenschluss. Einen Happen essen, ein paar Bensons ketterauchen, dann Pipi machen – ausgiebig und sehnsüchtig erwartet.)

Und da ich schon von Zigaretten spreche: Es waren zwei Päckchen Benson & Hedges, die Mr Hirani Elsie ungefragt über den Tresen zuschob. Sie öffnete ihre Hand über seiner und ließ einen zerknüllten Geldschein hineinfallen. Bevor er ihn auch nur auffaltete, um den Betrag zu sehen, gab er ihr schon das Wechselgeld. Sie zählte es sorgfältig nach – zweimal –, auf eine Art, die jeder Ladenbesitzer, der etwas auf sich hielt, bei einem erwachsenen Kunden als Beleidigung aufgefasst hätte. Mr Hirani zuckte nicht mal mit der Wimper. Im Gegenteil, er schien gemeinsam mit ihr zu zählen und nachzurechnen.

Ich fing seinen Blick auf. Wahrscheinlich erkannte er, dass ich das, was ich gesehen hatte, bedenklich fand. Ich meine, ich bin nicht gerade eine Verfechterin von Regulierungen. Das Recht zu sterben, das Recht, high zu sein, ich würde für beides demonstrieren gehen. Und was mich betrifft, ich habe mit neun geraucht, und meine erste Linie Koks war das Geschenk einer sogenannten Freundin zu meinem fünfzehnten Geburtstag. Das heißt aber nicht, dass ich so was gut finde. Was Kinder angeht (wozu ich jeden unter sechzehn zählen würde, auch wenn ich weiß, dass das extrem optimistisch ist), so glaube ich, dass ein bevormundender Staat mehr als nur ein Mittel zum Zweck ist. Er ist lebensnotwendig, heilig. Im gleichen Maße, wie die Unschuld eines Kindes korrumpierbar ist. Alles, was das Leben von Kindern sicherer macht: Dafür würde ich mehr tun, als nur zu demonstrieren. Ich würde dafür sterben.