The Last Goddess, Band 2: A Kiss Stronger Than Death (Nordische-Mythologie-Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Bianca Iosivoni) - Bianca Iosivoni - E-Book

The Last Goddess, Band 2: A Kiss Stronger Than Death (Nordische-Mythologie-Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Bianca Iosivoni) E-Book

Bianca Iosivoni

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Welt steht am Abgrund. Alles, was Blair wichtig ist, und alle Menschen, die sie liebt, sind in Gefahr. Denn die uralte Prophezeiung hat sich erfüllt: Ragnarök ist angebrochen – und es ist ganz allein Blairs Schuld. Verzweifelt versucht sie, ihren Fehler wiedergutzumachen. Als der Fenrirwolf und die Midgardschlange auftauchen, weiß Blair nicht, ob sie das Ende der Welt überhaupt noch verhindern kann. Und ob Ryan dabei an ihrer Seite stehen – oder gegen sie kämpfen wird. *** Ein Zitat aus THE LAST GODDESS, Band 2 *** Bevor ich darüber nachdenken konnte, packte ich Ryan am Mantel, zog ihn zu mir herunter und presste meine Lippen auf seine. Im ersten Moment schien er völlig überrumpelt zu sein, doch dann schlang er den Arm um mich und drückte mich fest an sich, während um uns herum die Welt unterging. Das Kribbeln in meinem Magen war zurück und mein Herzschlag verdoppelte sich. Doch ganz egal, wie sehr ich diesen Moment genießen, wie sehr ich ihn hinauszögern wollte – ich konnte nicht. Das hier war kein Kuss, es war ein Abschied. »Wehe, du stirbst einfach«, raunte ich schwer atmend und suchte seinen Blick. »Wir sind noch nicht fertig miteinander.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem seltenen Lächeln. Ein letzter fester Blick in meine Augen, dann ließ er mich abrupt los und wandte sich ab.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 343

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Originalausgabe

Als Ravensburger E-Book erschienen 2021

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

© 2021 Ravensburger Verlag GmbH

Text © 2021 Bianca Iosivoni

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg.

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München, unter Verwendung von Fotos von © igorstevanovic, © Abstractor und © Ron Dale (alle: Shutterstock)

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten

Printed in Germany

ISBN 978-3-473-51085-6

www.ravensburger.de

Für die Powerfrauen in meinem Leben, die Valkyren und die Heldinnen. Ich liebe und bewundere euch. Danke für alles!

PLAYLIST

Sam Tinnesz, Zayde Wølf – Man or a Monster

Ruelle – Take It All

2WEI – Survivor

Hidden Citizens, Adam Christopher – Everywhere (Epic Trailer Version)

Claire Guerreso – Ashes

Bear McCreary – Valkyries

Boy Epic – Scars

Kat Graham – Power

Ruelle – Until We Go Down

Audiomachine – Breath And Life

Varien, Cassandra Kay – Valkyrie II: Lacuna

Within Temptation – Deceiver Of Fools

Epic Score – Fight For What You Believe

Audiomachine – We Are Gods

Klergy – The End

Skillet – Back From The Dead

Two Steps From Hell & Thomas Bergersen – Rise Above

Blind Guardian – Valkyries

SVRCINA – Battlefield

Colossal Trailer Music – The Awakening

Varien, Laura Brehm – Valkyrie III: Atonement

Colossal Trailer Music – Ray Of Light

KAPITEL 1

BLAIR

IRGENDWO IN VALHALLA

Das Ende der Welt hatte begonnen – und ich war diejenige, die es herbeigeführt hatte. Ich war diejenige, die Ryan – und damit das Chaos – nach Valhalla gebracht hatte, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn zu verlieren. Cyrus musste damit gerechnet haben. Er wusste, wie wichtig Ryan mir war – und das hatte er gnadenlos ausgenutzt. Er hatte das Leben seines eigenen Sohnes aufs Spiel gesetzt, um sein Ziel zu erreichen. Und jetzt hatte er gewonnen.

Ein Beben erschütterte den Boden, hallte in meinen Gliedmaßen nach und zwang mich in die Knie. Auch Ryan geriet ins Straucheln. Direkt vor unseren Augen wuchs Zevs Wolfsgestalt weiter an, immer weiter, bis er so riesig wurde, dass er sogar einen Teil des Himmels verdeckte. Schwarzes, struppiges Fell. Rot glühende Augen. Heißer Atem. Speichel floss ihm aus dem Maul und ein tiefes Knurren löste sich aus seiner Kehle, als er uns anstarrte.

Mein Herz hämmerte so panisch, dass ich das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren wahrnehmen konnte. Zum ersten Mal begriff ich, warum selbst die Götter Angst vor dem Fenrirwolf gehabt hatten. Warum sie darauf bestanden hatten, dass die einzige Möglichkeit, sich vor ihm zu schützen, darin bestand, ihn in Ketten zu legen. Nur waren diese Ketten nie aus Eisen und Metall gewesen, wie ich und vermutlich auch alle anderen geglaubt hatten. Die Götter hatten sich etwas viel Perfideres überlegt und den mächtigen Wolf an Valhalla und an die Valkyren gebunden. Dieser Ort war seine Fessel gewesen, da er ihn nie verlassen konnte, es sei denn an der Seite einer Valkyre. Oder am Tag von Ragnarök.

Ich schnappte nach Luft, denn plötzlich ergab alles einen Sinn. Wie er nachts ganz allein durch das Bestattungsinstitut North geschlichen war. Wie er mir geholfen hatte. Kein Wunder, dass es ihm kurz nach meiner Ankunft in Vancouver so wichtig gewesen war, mich zu begleiten. Wahrscheinlich war es das erste Mal gewesen, dass er das Gebäude verlassen konnte. Aber er war auch die ganze Zeit an meiner Seite geblieben, nicht nur auf dem Friedhof, sondern auch dann, als es gefährlich wurde. Ganz besonders, als ich mich dem Diener des Chaos gegenüber fand und sich meine Kräfte zum allerersten Mal gezeigt hatten.

»Zev …«, stieß ich hervor und wich langsam vor ihm zurück. Erde und kleine Steine bohrten sich in meine Handflächen. »Das willst du nicht wirklich. Wir sind Freunde, weißt du nicht mehr?«

Ein gefährliches Knurren war die einzige Antwort. Ein Knurren so laut wie ein Donnerschlag. Ich zuckte zusammen und zog instinktiv den Kopf ein.

»Er ist nicht dein Freund, Blair«, kam es leise von Ryan. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte er sich schützend vor mich gestellt und streckte jetzt den Arm aus, um mich zurückzuhalten.

»Das sagt der Richtige, Mr Chaos.« Ich sprang auf und schob seinen Arm entschieden beiseite.

Zev neigte den Kopf nach unten und knurrte erneut. Lauter. Bedrohlicher.

Mein Magen zog sich vor Furcht zusammen und meine Muskeln begannen zu zittern, aber ich weigerte mich noch immer wegzulaufen. Das hier war schließlich Zev. Das hier war mein Freund. Oder … war er das nie gewesen? Hatte Ryan recht? Hatte Zev mich von Anfang an nur benutzt, um Ragnarök herbeizuführen? Zumindest hatte er mir als Einziger dabei geholfen, Ryan nach Valhalla zu bringen. Und wenn er gewusst hatte, dass Ryan ein Diener von Vidar, dem Gott des Chaos war, dann … Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Nein, das wollte ich nicht wahrhaben. Das konnte einfach nicht wahr sein. Erst Kendra und Maeve, die uns alle verraten hatten –, und jetzt auch noch Zev?

»Wir müssen hier weg«, kam es von Ryan.

Wieder bebte der Boden und die Erschütterung warf uns beinahe um. Ein Krachen ertönte und ich wirbelte herum. Die Häuser, die nicht weit von der Weltesche beisammenstanden, fielen in sich zusammen. Das Zuhause von so vielen Valkyren und Kriegern. Mein Zuhause.

»Nein.«

Ein Rascheln in den Zweigen mischte sich unter das allgegenwärtige Rumoren. Es kam immer näher, bis etwas Kleines, Pelziges aus dem Baum heraussprang und auf meinem Kopf landete. Ich zuckte vor Schreck zusammen, doch bevor ich reagieren konnte, krabbelte das Tierchen unter meinen Pullover und hielt sich zitternd fest. Als ich nach unten blickte, entdeckte ich zwei braune Knopfaugen, spitze Öhrchen und eine zuckende Nase in meinem Ausschnitt. Ratatöskr. Das Eichhörnchen, das nie zu sehen war, aber ständig alle mit Nüssen bewarf, hatte sich Schutz suchend unter meinem Pullover verkrochen und klammerte sich an mich. Dabei verließ Ratatöskr nie seinen Platz im Baum. So oft waren die Nüsse schon haarscharf an mir vorbeigeflogen, aber das kleine Eichhörnchen hatte ich nie gesehen. Bis jetzt. Weil es mit Valhalla zu Ende ging.

Ein tiefes Knurren riss mich aus meinen Gedanken. Zev stand noch immer in seiner monströsen Wolfsgestalt vor uns und starrte uns mit diesen Augen an, die in Flammen zu stehen schienen. Augen, die jede Menschlichkeit verloren hatten. Er senkte den Oberkörper ein wenig nach unten, ganz so, als würde er zum Sprung ansetzen. In der einen Sekunde stand er noch da, in der nächsten stieß er sich bereits vom Boden ab und hechtete geradewegs auf mich zu.

Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, stieß Ryan mich aus dem Weg und warf sich zur Seite. Zu langsam. Ich sah gerade noch, wie der Wolf ihn erwischte, bevor ich zu Boden ging. Reflexartig fing ich den Sturz mit der Schulter ab und versuchte alles, um das kleine Eichhörnchen zu schützen, das sich noch immer so furchtsam an mich klammerte, als würde es seinen Platz unter meinem Pullover nie mehr hergeben wollen.

Mein Blick zuckte zu Ryan, der sich die blutende Seite hielt, sich jedoch sofort wieder aufrichtete, dann zurück zum Wolf.

»Zev!«, rief ich in dem verzweifelten Versuch, doch noch irgendwie zu ihm durchzudringen. »Du musst das nicht tun. Wir sind Freunde!«

»Achtung!« Ryans Stimme schallte zu mir herüber. Er hob die Hände, als wollte er Zev angreifen, als wollte er seine zerstörerischen Kräfte gegen ihn einsetzen.

Ich dachte nicht nach. Ich sprang auf, rannte los und stellte mich zwischen die beiden.

»Nicht! Wag es ja nicht!«

Ryans Augen weiteten sich. Ungläubigkeit und Wut spiegelten sich darin wider. »Aus dem Weg, Blair! Das ist nicht mehr der Kerl, den du gekannt hast. Das ist Fenrir.«

Als ob mir das nicht selbst schon aufgefallen wäre. Aber ich wollte nicht glauben, dass alles nur … eine Lüge gewesen war. Unser Kennenlernen im Institut. Wie er mich zu Ling gebracht und mich durch Vancouver begleitet hatte. Ohne Zev hätte ich die anderen Valkyren nie davon überzeugen können, dass ich eine von ihnen war. Ohne ihn hätte ich das wahrscheinlich nicht einmal herausgefunden. Und ohne seine Gesellschaft, die vielen Filmabende und sinnlosen, lustigen Gespräche wäre ich früher oder später wahrscheinlich vor Langeweile gestorben. Zev war seit meinem ersten Tag in Vancouver an meiner Seite gewesen. Ich weigerte mich, ihn jetzt einfach aufzugeben.

Hinter mir ertönte ein tiefes Grollen. Mit angehaltenem Atem drehte ich mich zum Wolf um. Wie konnte sich etwas, das so riesig war, so lautlos bewegen? Denn jetzt fiel sein Schatten auf mich und alles, was ich noch wahrnahm, war das dunkle, struppige Fell. Die bedrohlich leuchtenden Augen. Und die Reißzähne, die mir viel zu nahe gekommen waren.

Ich schluckte hart, zwang mich jedoch, stehen zu bleiben. »Bitte, Zev …«

Er setzte erneut zum Angriff an. Ich würde ihn nicht töten. Unter keinen Umständen würde ich seine Seele aus seinem Körper reißen und an mich binden. Er war lange genug ein Gefangener gewesen. Das konnte ich ihm nicht antun.

Aber ich konnte auch nicht nichts tun. Vor allem nicht, wenn Ratatöskr noch immer zitternd bei mir Schutz suchte, Ryan nur wenige Meter hinter mir stand und Anastasia auch irgendwo hier sein musste. Denn Maeve hatte sie nach Valhalla gebracht, um sie vor dem Kampf im Bestattungsinstitut zu schützen.

Panik begann sich in mir auszubreiten. Jeder Muskel in meinem Körper versteifte sich. Wie in Zeitlupe spielte sich alles vor meinen Augen ab.

Der Wolf machte einen Satz nach vorne. Die Reißzähne kamen geradewegs auf mich zu. Ryan setzte sich in Bewegung, aber er würde es nicht rechtzeitig schaffen. Instinktiv riss ich die Hände hoch, ertastete etwas für das bloße Auge Unsichtbares und grub meine Finger hinein. Ich riss Zevs Seele nicht aus seinem Körper heraus, aber ich hielt sie so fest ich konnte und stieß sie dann mit aller Macht von mir weg.

Mitten im Sprung prallte der Wolf gegen eine Art unsichtbare Barriere, die ihn zurückschleuderte. Der Boden erzitterte, als er wieder auf allen vieren landete und eine tiefe Spur durch die Erde zog. Ein Winseln entkam der monströsen Gestalt, und ich meinte, für einen Moment ein Flackern in den unmenschlichen Augen zu sehen. Doch es war so flüchtig gewesen, dass ich nicht ganz sicher sein konnte. In der einen Sekunde funkelte mich der Wolf noch an, in der nächsten machte er abrupt kehrt und rannte davon. Geradewegs auf die Weltesche zu.

»Nein!«, rief ich, aber es war zu spät.

Fenrir erreichte den Weltenbaum und verschwand in einem Aufleuchten. Ich konnte nur auf die Stelle starren, an der er eben noch auf mich losgegangen war. Er hatte sich aus seinen Fesseln befreit. Der Wolf hatte Valhalla verlassen und war jetzt in unserer Welt. Oh Gott … Was hatte ich nur getan?

Die Kraft verließ meinen Körper so schnell, dass mir schwindlig wurde. Ich atmete keuchend und stützte mich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Jeder Atemzug brannte in meiner Brust. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, woher diese plötzliche Schwäche kam. Ich hatte meine Kräfte nie zuvor auf diese Weise eingesetzt, um eine Seele zwar zu ertasten und zu packen, aber sie nicht herauszureißen, sondern den Angreifer zurückzuschleudern. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie das passiert war. Oder ob ich es jemals wiederholen könnte.

»Blair …« Ryan trat neben mich. Von der blutenden Wunde an seiner Seite war nichts mehr zu sehen. Und obwohl Zev verschwunden und die unmittelbare Gefahr gebannt war, klang seine Stimme noch drängender als zuvor. »Wir müssen weg.«

Ich schüttelte den Kopf und richtete mich wieder auf. »Ich kann nicht einfach abhauen.«

»Hier bricht gleich alles zusammen.«

Damit hatte er nicht unrecht. Der Boden wies unzählige Risse auf. Beinahe alle Gebäude im Tal waren in sich eingestürzt. Der Himmel hatte sich verdunkelt, ganz so, als wäre es Nacht geworden, dabei wurde es in Valhalla nie richtig dunkel. In der Ferne, am Fuße der Berge, meinte ich, Flammen erkennen zu können. Flammen, die alles verschlangen und immer näher kamen, bis sie auch uns erreichen würden. Bis sie die Weltesche erreichten und damit die letzte Verbindung zwischen Valhalla und der Menschenwelt zerstörten. Bis Valhalla selbst vernichtet war.

All das war meine Schuld. Es war ganz allein meine Schuld, denn ich hatte das Chaos hergebracht. Indem ich Ryan das Leben gerettet hatte, hatte ich alle anderen verdammt.

Ryan packte mich an den Armen. »Wir müssen verschwinden. Sofort!«

Bevor ich antworten konnte, spürte ich jemanden hinter mir und wirbelte herum. Ayane stand nur wenige Meter von uns entfernt. Sie war so bleich, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen, und schwankte genau wie ich bei dem erneuten Beben unter unseren Füßen. Blut klebte an ihrer weißen Bluse und lief ihr in einem Rinnsal von der Schläfe hinab, doch die Wunde begann sich bereits wieder zu schließen. In der Hand hielt sie ein Schwert, das mir bekannt vorkam. Kendras Schwert. Oh Gott, hatte sie etwa …?

»Ayane!« Ich entriss Ryan meine Arme und rannte zu ihr. »Geht es dir gut? Wo sind die anderen? Was ist passiert?«

»Keine Zeit«, fiel sie mir ins Wort und blickte sich hektisch um. Übelkeit begann sich in mir auszubreiten und ich schluckte hart, um dagegen anzukommen, denn so panisch hatte ich Ayane nie zuvor gesehen. Sie hatte immer wie die Ruhe in Person gewirkt, als könnte sie nichts und niemand aus dem Gleichgewicht bringen. Jetzt nicht mehr.

»Ihr müsst diesen Ort auf der Stelle verlassen.« Ayane deutete zwischen uns hin und her. »Alle beide.«

»Was?«

In diesem Moment materialisierte sich etwas Dunkles direkt vor uns. Schwarzer Rauch, der sich zu Gestalten formte. Gestalten, die Ayane gefolgt sein mussten. Oder uns. Gestalten, die mir nur zu bekannt vorkamen, weil ich sie vor wenigen Minuten noch in der Lobby des Bestattungsinstituts in Vancouver gesehen hatte. Und jetzt waren sie hier.

»Valhalla ist nicht länger sicher«, rief Ayane und fixierte die Diener des Chaos. Eine Handbewegung von ihr und sie flogen mehrere Meter weit von uns weg, doch sie standen sofort wieder auf. Schweißtropfen traten auf Ayanes Stirn. »Ich kümmere mich um Anastasia. Geht jetzt!«

»Nein!« Mein Schrei wurde von einer Energiewelle begleitet, die uns alle zurückstolpern ließ und jedes Leben im Umkreis von mehreren Metern auslöschte. Gräser vertrockneten, Blumen verdorrten, der Boden unter unseren Füßen verwandelte sich in braunes, karges Ödland. Und die Anhänger Vidars, die Anhänger des Chaos-Gottes, die zu nahe bei uns gestanden hatten, fielen leblos zu Boden.

Ayane starrte mich an, dann glitt ihr Blick zu Ryan. Für einen winzigen Moment glaubte ich, dass sie ihm zunickte, aber ich konnte nicht sicher sein, denn im nächsten stand sie vor mir und packte mein Handgelenk. »Wenn wir alle versagen, bist du unsere letzte Chance gegen das Chaos, Blair! Niemand ist so mächtig wie die Nachfahrin Hels. Bring dich in Sicherheit!«

Bevor ich darauf reagieren konnte, riss Ayane einen Arm in die Höhe und tauchte uns alle in strahlendes Licht. Einen Wimpernschlag lang spürte ich noch ihre kühlen Finger, die sich um mein Handgelenk schlossen, dann ließ sie mich los.

»Nein! Ayane!« Mein Rufen ging in den Nordlichtern unter, die mich einnahmen und von hier forttrugen. Zusammen mit Ryan. Zusammen mit etwas Dunklem, das in diesem Moment in Valhalla auftauchte und uns an einen unbekannten Ort folgte.

KAPITEL 2

Ich schwebte durch die Lüfte, während die Welt in einem Lichtstrahl an mir vorbeisauste. Ohne zu wissen, was das Ziel war, ohne zu wissen, wohin Ayane uns geschickt hatte, konnte ich nichts weiter tun, als mich den Nordlichtern zu ergeben und von ihnen führen zu lassen.

Eine Hand lag an meinem Arm und hielt mich fest. Ryan. Aus irgendeinem Grund hatte Ayane ihn nicht angegriffen, sondern ihn mit mir geschickt. Warum, würde ich vielleicht niemals erfahren.

Doch anders als bei meinen seltenen bisherigen Reisen mithilfe der Nordlichter war das Gefühl von Freiheit diesmal mit Angst verbunden. Mit der Sorge um Ayane und die anderen Valkyren. Um Anastasia und Ling. Sogar um Zev. Und um den Rest der Welt.

Ohne Vorwarnung verschwand das Licht, als hätte es jemand ausgeknipst, und ich wusste nicht, wie ich es wieder heraufbeschwören sollte. Wir wirbelten durch die Luft, dann fielen wir plötzlich in die Tiefe. Der Boden raste immer schneller auf uns zu. Ich kniff die Augen zusammen und wappnete mich innerlich, hoffte und betete, dass der Schnee unseren Aufprall abbremsen würde. Gleich darauf landete ich hart auf dem Boden, rollte mehrere Meter weit und blieb schließlich schwer atmend liegen. Mein Puls hämmerte in meinen Ohren. Meine Gedanken waren ein einziges Chaos. Alles drehte sich. Aber ich war noch am Leben. Nur das zählte im Moment.

Das intensiv grüne Leuchten verblasste langsam über uns und enthüllte einzelne Sterne am Himmel. Es musste noch immer früh am Morgen sein – falls wir überhaupt noch in der Nähe von Vancouver und nicht am anderen Ende der Welt gelandet waren.

Bei der Vorstellung setzte ich mich ruckartig auf. Um uns herum war nichts als Schnee. Ich meinte Berge in der Ferne zu erkennen, einige kahle Bäume, doch es gab nichts, das darauf hinwies, wo wir uns befanden. Aber wir schienen allein zu sein. Keine Verfolger. Keine Diener des Chaos. Immerhin.

»Alles okay?«, fragte Ryan keuchend.

»Ja …«, erwiderte ich zögerlich und stand ächzend auf. Automatisch sah ich zu Ryan, der nur wenige Meter von mir entfernt gelandet war, und musterte ihn prüfend von oben bis unten. »Und bei dir?«

Für einen winzigen Moment trafen sich unsere Blicke, dann drehte er den Kopf zur Seite. »Alles noch dran«, erwiderte er leise und klopfte sich den Schnee von der Kleidung.

Auch wenn er wieder völlig geheilt war, konnte ich dieses Bild nicht aus meinem Kopf vertreiben: Die Erinnerung daran, wie er blutend auf dem Boden gelegen hatte. Das Entsetzen tief in mir, als mir klar wurde, dass er es vielleicht nicht schaffen würde. Dass ich ihn verlieren könnte, obwohl ich ihn nach Valhalla gebracht hatte.

Ich schluckte hart und deutete auf ihn. »Was ist passiert? Warum … Warum hat Cyrus das getan?«

Ryan sah kurz an sich hinab, dann trat ein kalter Ausdruck auf sein Gesicht und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich hatte keine Ahnung, ob er auf mich wütend war – weil ich es gewagt hatte, ihm das Leben zu retten –, auf sich selbst oder auf seinen Vater.

»Er konnte Ling nicht dazu bringen, sich zu verwandeln«, erklärte er mit einer viel zu ruhigen Stimme. Als ich nicht darauf reagierte, wurde er deutlicher. »Die Midgardschlange. Wenn sie erscheint, ist das ein weiteres Anzeichen für Ragnarök, genauer gesagt, ein Auslöser, ebenso wie der Wolf, der sich aus seinen Ketten befreit. Beides konnte Cyrus nicht beeinflussen, also hat er einen anderen Weg gewählt, um Ragnarök herbeizuführen.«

»Moment mal«, murmelte ich und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. »Ling ist die Midgardschlange?«

Ryan nickte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Aber wie … wie war das möglich? Wie konnte sie die legendäre Midgardschlange sein, ohne dass ich es gewusst oder auch nur geahnt hatte? Dabei war sie die ganze Zeit direkt vor meiner Nase gewesen. Genau wie Zev …

Während ich mich noch mit dieser Erkenntnis auseinandersetzte, sprach Ryan bereits weiter. »Cyrus wusste, dass du mich nicht sterben lassen würdest, also hat er …«

»Er hat dich tödlich verletzt«, beendete ich seinen Satz und schüttelte fassungslos den Kopf. Es war die eine Sache, diese Theorie in meinem Kopf aufzustellen, aber eine völlig andere, sie bestätigt zu bekommen. Das war Wahnsinn. Cyrus war wahnsinnig. Oder so machthungrig, dass ihm nichts und niemand mehr etwas bedeutete. Nicht einmal sein eigener Sohn.

Ryan räusperte sich. »Kannst du nicht … du weißt schon.«

»Was?«

Er deutete nach oben. »Uns mithilfe der Nordlichter zurückbringen?«

Ich lachte kurz und trocken auf, auch wenn mir nach schreien zumute war. Oder nach weinen. Wenn das so einfach wäre, würden wir nicht hier herumstehen und plaudern. »Ich bin zwar schon mit den Nordlichtern gereist, aber ich habe sie bisher nur bei kurzen Strecken selbst erschaffen. Nie, um ein so weit entferntes Ziel zu erreichen. Ich weiß nicht mal …« Meine Stimme erstarb und ich blickte auf meine Hände hinab, ehe ich sie zu Fäusten ballte. »Ich weiß nicht mal, wie das funktioniert.«

Und das war die traurige Wahrheit. Obwohl ich wochenlang trainiert hatte, kannte ich noch immer nur einen Ausschnitt der Geschichte und beherrschte einen Bruchteil der Fähigkeiten der Valkyren. Definitiv nicht genug, um uns zurück nach Vancouver zu bringen. Aber Valkyren waren schließlich nicht die Einzigen, die sich von Ort zu Ort bewegen konnten …

»Was ist mit dir?«, hakte ich nach und musterte Ryan genau. »Cyrus und seine Leute sind immer ganz plötzlich irgendwo aufgetaucht und genauso schnell wieder verschwunden. Erzähl mir nicht, das wäre keine besondere Fähigkeit.«

»Doch, aber …« Er zögerte und strich sich etwas Schnee vom Mantel, obwohl da keiner mehr war. »Das können nicht alle und anscheinend braucht es ziemlich viel Übung.«

Also konnten uns auch Ryans Kräfte nicht zurück nach Vancouver bringen. Toll. Ganz toll.

»Wo sind wir überhaupt gelan…«, begann ich, hielt dann jedoch inne, als ich ein Knirschen hinter mir hörte. Ein Knirschen, das definitiv nicht hierher gehörte, da wir uns mitten im Nirgendwo befanden. Das Einzige, was ich sah, waren Schnee, Berge und Bäume. Keine Spur von Zivilisation. Dennoch hatte ich das Geräusch ganz deutlich gehört und drehte mich um. Meine Beine gingen sofort in Kampfstellung. Die Hände hob ich schützend vor meinen Körper, bereit anzugreifen. Thyra wäre stolz auf mich, wenn sie mich jetzt so sehen könnte.

Doch da war nichts. Ich war mir absolut sicher, ein Knirschen gehört zu haben, ganz so, als würde jemand durch den Schnee stapfen, aber es gab keine Fußabdrücke und auch sonst keine Hinweise darauf, dass Ryan und ich nicht allein hier draußen waren. Aber was hatte ich dann gehört?

In diesem Moment ertönte ein Rascheln, dicht gefolgt von schnellen, tapsigen Schritten. Gleich darauf sprang mich etwas Kleines mit buschigem Schwanz an und verkroch sich wieder unter meinem Pullover. Meine Schultern sackten vor Erleichterung herab und ich ließ die Hände sinken.

»Was war das?« Ryan kam langsam zu mir herüber.

Statt zu ihm zu sehen, zupfte ich am Ausschnitt meines Pullovers und blickte gleich darauf in zwei braune Knopfaugen. Wider Willen musste ich lächeln, weil ich das Eichhörnchen kurzzeitig vergessen hatte. Seine Backen waren aufgebläht und in den winzigen Pfoten hielt es eine Nuss, ganz so, als würde es sich bereit machen, jemanden damit zu bewerfen.

»Ratatöskr.«

Ryan blieb neben mir stehen. »Ratawas?«

Ich gluckste. Trotz der schrecklichen Lage, trotz der Unwissenheit, wie es zu Hause aussah und ob es den anderen Valkyren gut ging, musste ich lachen, weil Ryan genauso auf den seltsamen Namen reagierte wie ich damals. Vielleicht war es der Schock, womöglich auch die pure Verzweiflung. Welche Rolle spielte das schon?

»Ratatöskr«, wiederholte ich, diesmal eine Spur langsamer. »Das Eichhörnchen, das in Valhalla in der Weltesche lebt und Leute mit Nüssen bewirft.«

Kaum hatten diese Worte meinen Mund verlassen, sauste etwas Kleines, Rundes an meinem Kinn vorbei in Ryans Richtung.

»Whoa!« Er wich gerade noch rechtzeitig aus und starrte mich ungläubig an. »Das war kein Witz?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das war –«

»Achtung!« Ryan riss mich zur Seite.

Einen Sekundenbruchteil später raste eine dunkle Energiewelle an uns vorbei und geradewegs auf die Baumgruppe am Rande der Lichtung zu. Die Tannen ächzten, Zweige flogen durch die Luft und ein Stamm gab unter der Gewalteinwirkung nach und stürzte auf die anderen Bäume.

Mein Puls hämmerte, als ich mich zu dem Angreifer umdrehte. Nur dass es nicht bloß einer war, der uns von Valhalla hierher gefolgt sein musste, sondern gleich drei. Zwei Männer und eine Frau, die alle in langen Mänteln oder Kutten gekleidet waren wie die Anhänger eines Kultes. Was der Wahrheit vermutlich ziemlich nahe kam. Allerdings schienen sie nicht hier zu sein, um uns zu missionieren, sondern um uns zu töten. Jetzt wurde mir auch klar, dass das Knirschen, das ich vorhin gehört hatte, eindeutig keine Einbildung gewesen war.

»Ryan«, sagte ein junger Mann, höchstens Anfang bis Mitte zwanzig, mit militärischem Kurzhaarschnitt. Er war größer als wir beide, muskulös gebaut und eine Furcht einflößende Erscheinung. Doch am schlimmsten waren seine Augen. Wie bei Cyrus, wie bei Ryans Bruder Hector lag in ihnen eine absolute Leere. Eine Kälte, gegen die selbst die frostigen Temperaturen hier draußen, mitten in der Natur, verblassten. »Du weißt, wo dein Platz ist. Komm mit uns zurück.«

Ryan verspannte sich neben mir, rückte aber nicht ab. Stattdessen schüttelte er den Kopf. »Nein.«

Der Fremde hob die Brauen, bis kleine Falten auf seiner Stirn erschienen. »Nein?«, wiederholte er, als würde er die Bedeutung dieses Wortes nicht kennen.

Ryan machte einen halben Schritt nach vorne, und ich musste den Impuls unterdrücken, nach seinem Arm zu greifen und ihn zurückzuhalten. »Nein«, betonte er und hob die linke Hand. »Und ihr wollt euch nicht mit mir anlegen. Schon gar nicht mit uns beiden zusammen«, fügte er hinzu, ohne mich anzusehen.

Dabei wünschte ich mir, er würde es tun. Ich wollte, nein, ich musste in seine Augen schauen und mir versichern, dort nicht dieselbe kalte Leere zu finden wie bei den anderen Dienern des Chaos. Ich musste sichergehen, dass er wirklich auf meiner Seite stand. Dass wir beide auf derselben Seite standen – welche das auch immer sein mochte.

»Dein Vater wird dir diesen Verrat niemals verzeihen«, knurrte der Fremde und legte die Fingerspitzen aneinander. Dazwischen bildete sich eine Form von schwarzer Energie, deren bloßer Anblick mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. »Und unser Gott Vidar wird dich grausam bestrafen!«

Ehe ich auch nur nach Luft schnappen konnte, passierte plötzlich alles gleichzeitig. Er schleuderte seine Attacke auf uns. Ryan stellte sich schützend vor mich und hob die Arme. Die schwarze Energie raste geradewegs auf ihn zu. Jemand schrie. War ich das? War es mein Schrei, der über die Ebene hallte und sich zwischen den kahlen Bäumen verlor?

Doch die Attacke traf Ryan nicht. Sie prallte mitten in der Luft auf etwas Unsichtbares, auf eine neue Macht, die alles um sich herum zerstörte. Instinktiv hob ich den Arm vor mein Gesicht und hielt Ratatöskr mit der anderen Hand fest an mich gedrückt. Ein Knall, so laut wie ein Donnerschlag, erschütterte die Umgebung und hallte in meinen Ohren nach.

Als ich den Arm wieder senkte und mich aufrichtete, funkelten lauter winzig kleine Schneeflocken im Sonnenlicht und schwebten herab – geradewegs in einen Krater, der nun zwischen den drei Angreifern und uns klaffte.

»Oh mein Gott«, flüsterte ich, als ich die Zerstörung sah, die sich direkt vor meinen Augen ausbreitete.

Das hier war nicht mit der Wirkung zu vergleichen, die meine Kräfte gehabt hatten, als sie sich vorhin in Valhalla aus purer Verzweiflung verselbstständigt hatten und alles im Umkreis von mehreren Metern abgestorben war. Ja, Hels Magie, die Fähigkeiten der Todesgöttin, floss durch meine Adern. Aber Ryan … Ryan war die absolute Vernichtung. Seine Kräfte waren das Äquivalent von Chaos. Und auf einmal verstand ich, warum sein Vater so unerwartet aufgetaucht war und alles daran gesetzt hatte, Ryan auf seine Seite zu ziehen. Wäre ich bei ihm gewesen, wäre ich mit ihm zurück nach Hause gegangen, hätte ich das vielleicht verhindern können, doch dafür hätte ich Valhalla und meinem Erbe den Rücken zukehren müssen. Dann hätte ich alles, wofür meine Mutter gekämpft, wofür sie gelebt und gestorben war, aufgeben müssen – und das konnte ich nicht. Ratatöskr krallte sich an mich und gab ein ängstliches Fiepen von sich. Als würde das Eichhörnchen spüren, wie ich mich innerlich wappnete, krabbelte es um mich herum und versteckte sich hinter meinem Rücken. Gut so.

Ohne nachzudenken und ohne auch nur einen einzigen Zweifel zuzulassen, streckte ich die Hände nach den Anhängern des Chaos aus. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich ihre Seelen ertasten konnte. Im selben Moment erstarrte einer von ihnen und drehte langsam den Kopf in meine Richtung. Seine Augen waren aufgerissen und er musterte mich ungläubig. Ich schnaubte. Glaubten diese Kerle wirklich, ich wäre harmlos, nur weil Ayane mich weggeschickt hatte? Weil Ryan versuchte, mich zu beschützen?

Oh nein. Ich war nicht harmlos. Ich war das Gegenteil davon.

Mit aller Kraft riss ich die Seele aus seinem Körper und zu mir, bis sich die durchscheinende Gestalt direkt neben mir materialisierte. Mein Blick traf den von Ryan und er nickte mir unmerklich zu. Als hätten wir schon tausendmal zusammen gekämpft, stellte ich mich dem nächsten Gegner, einer Frau in Moms Alter, während er es mit dem Typen aufnahm, der vom ersten Moment an mit Drohungen um sich geworfen hatte.

Langsam ging ich rückwärts, um die Fremde von Ryan und dem anderen Kerl wegzulotsen. Der Schnee knirschte bei jedem meiner Schritte und reichte mir mittlerweile bis zur Mitte der Unterschenkel. Ein beißender Wind kam auf, schnitt mir ins Gesicht und wirbelte die aschblonden Haare meiner Gegnerin durcheinander. Ich schauderte trotz meiner Jacke. Allzu lange würden wir es hier draußen in der Kälte nicht aushalten, doch dazu mussten wir erst einmal diesen Kampf überleben.

»Ich weiß, wer du bist«, behauptete die Fremde in einer überraschend sanften, ruhigen Stimme. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das fast schon herzlich wirkte, doch das täuschte nicht über den kalten Ausdruck in ihren blauen Augen hinweg. »Die Valkyre mit den Todeskräften. Reynas Tochter.« Sie schnaubte abfällig. »Cyrus und seine Söhne hätten dich schon längst töten sollen, genauso wie sie deine Mommy getötet haben.«

Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ein Zittern wanderte durch meinen Körper, das nichts mit den frostigen Temperaturen zu tun hatte.

»Sag das noch mal«, forderte ich sie mühsam beherrscht auf. Obwohl sich mein Magen vor Furcht und Anspannung zusammenzog, hielt ich die Stellung. Ich war nicht länger das Mädchen, das Konfrontationen um des lieben Friedens willen aus dem Weg ging. Vielleicht war dieser Teil von mir bereits an jenem Tag gestorben, an dem auch Mom und Fenja gestorben waren. Jetzt gab es nur noch mich: Blair Arctander. Und ich würde nicht zulassen, dass Vidars Anhänger so weitermachten. Ich würde nicht noch mehr Menschen verlieren, die mir wichtig waren. Selbst wenn das bedeutete, mich sogar gegen Ragnarök stellen und einen Weg finden zu müssen, das Ende der Welt aufzuhalten. Ich würde es schaffen. Koste es, was es wolle. Und diese … Person, diese Anhängerin des Chaos würde mich ganz sicher nicht davon abhalten.

Ich stieß die Hände nach vorn in der Absicht, ihre Seele genauso aus ihrem Körper herauszureißen wie bei ihrem Kollegen, dessen Geist noch immer ganz in der Nähe und an mich gebunden war. Machtlos, bis ich ihn freilassen würde. Doch in der Sekunde, in der ich meinte, etwas ertasten zu können, entglitt mir die Seele wieder und die Frau löste sich vor meinen Augen in Dunkelheit auf.

Ich verlor das Gleichgewicht und stolperte einen Schritt vor, nur um mich anschließend ungläubig umzusehen. »Was …?«, begann ich.

Nur wenige Meter entfernt lieferten sich Ryan und sein Angreifer einen gewaltigen Kampf. Energiewellen rasten über die Ebene, wirbelten Schnee auf, rissen Zweige und Büsche mit sich und brachten sogar Bäume zu Fall. Doch Ryan wich den gegnerischen Attacken immer wieder geschickt aus und setzte seine zerstörerischen Kräfte gegen sein Gegenüber ein.

Ich unterdrückte den Drang, mich einmischen zu wollen, und sah mich wieder nach meiner Gegnerin um. Sie konnte sich nicht einfach so in Luft – oder vielmehr in Dunkelheit – aufgelöst haben, oder? Das war unmöglich. Das war …

Etwas Hartes traf mich im Rücken und ich sackte in mich zusammen. Gerade rechtzeitig fing ich mich mit Händen und Knien ab und warf mich in letzter Sekunde zur Seite, als der nächste Angriff auf mich zusauste.

»Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, ertönte die sanfte Stimme hinter mir.

Als ich mich im Schnee liegend umdrehte, ragte sie über mir auf. Schwarze Adern schimmerten unter ihrer Haut und an ihren Fingerspitzen bildete sich eine dunkle Energie. Und mit einem Mal erkannte ich sie wieder. Wir hatten bereits gegeneinander gekämpft. Im Bestattungsinstitut hatte sie mich angegriffen.

»Ich bin Natalia.« Sie lächelte. »Und deine Kräfte sind wirkungslos bei mir.«

»Ach wirklich?« Ich sprang in einer fließenden Bewegung auf und packte sie am Handgelenk. Doch im selben Moment, in dem ich glaubte, ihre Seele spüren zu können, löste sie sich vor meinen Augen in Dunkelheit auf. Einzig ihr helles Lachen hing noch in der Luft.

Gleich darauf traf mich ihre Hand und mein Kopf flog herum. Was um alles in der Welt …?

Meine Wange brannte wie Feuer und meine Muskeln zitterten, dennoch richtete ich mich wieder auf, nur um im selben Moment in mich zusammenzusinken, als ein heftiger Knall die ganze Ebene erschütterte. Schneeböen wehten über mich hinweg und ich kniff die Augen zusammen. Gleichzeitig zog sich alles in mir zusammen. Was um alles in der Welt war das gewesen? Ging es Ryan gut? War er der Angreifer gewesen? Oder war er …?

Ich zwang mich dazu, die Augen zu öffnen, und erstarrte, als ich den neuen Krater sah, der sich neben mir aufgetan hatte. Bäume waren umgestürzt. Kleine Steine lösten sich vom Rand und fielen in die Tiefe. Von Ryan war weit und breit nichts zu sehen.

Ich sprang auf und rannte los. Ungeachtet der Gefahr. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Natalia noch immer ganz in der Nähe war und mich jederzeit attackieren konnte. In meinem Kopf gab es nur noch einen Gedanken, genau wie in jenem Moment, als ich dabei hatte zusehen müssen, wie Cyrus seinem eigenen Sohn einen Dolch in die Brust gerammt hatte.

Schlitternd kam ich am Rande des Abgrunds zum Stehen. Schnee und Erde rieselten hinab, während ich noch um mein Gleichgewicht kämpfte. Und dann entdeckte ich ihn. Ryan stand in der Mitte des Kraters. Sein Gesicht war dreckverschmiert und ein kleines Blutrinnsal lief an seiner Schläfe hinunter. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Aber er war allein. Von seinem Gegner war nichts mehr zu sehen. Langsam ließ er die Arme sinken und suchte meinen Blick.

»Das kann nicht sein.« Natalias Stimme drang an mein Ohr. Urplötzlich tauchte sie auf der anderen Seite des Kraters auf und sah von Ryan zu mir und wieder zurück. Wut vertrieb die Fassungslosigkeit in ihrer Miene. »Das wirst du noch bereuen.« Und damit verschwand sie in einem schwarzen Nebel.

Meine Knie gaben nach und ich sank in mich zusammen. Wir hatten es geschafft. Wir waren allein. Es war vorbei.

Doch der wahre Kampf hatte gerade erst begonnen.

KAPITEL 3

Sekunden, vielleicht sogar Minuten vergingen, in denen sich keiner von uns auch nur einen Millimeter bewegte. Wir blickten uns um. Warteten. Rechneten mit dem Schlimmsten, erwarteten den nächsten Angriff, doch nichts passierte. Unsere keuchenden Atemzüge und das Rascheln des Windes in den Baumkronen und Tannenzweigen waren die einzigen Geräusche weit und breit. Doch auch wenn es so wirkte, als wären Ryan und ich völlig allein, spürte ich nur zu deutlich, dass dem nicht so war. Noch nicht.

Ich sah zu der durchscheinenden Gestalt, die ganz in meiner Nähe stand und mich finster anstarrte. Die Seele des Dieners des Chaos, die ich im Kampf an mich gebunden hatte. Ich schloss die Augen und durchtrennte das Band zwischen uns. Ein letztes Mal sah ich in seine leeren Augen, dann löste er sich auf, bis nichts mehr darauf hindeutete, dass er je hier gewesen war.

Ich atmete tief durch und sah zu Ryan zurück. »Wer waren diese Typen? Und wer war die Frau, gegen die ich gekämpft habe?«

»Anhänger Vidars. Die Frau ist Natalia.« Ryan klopfte sich den Schnee von Mantel und Jeans, wischte sich mit dem Ärmel das Blut von der Schläfe und setzte sich in Bewegung. »Sie ist so etwas wie die rechte Hand meines Vaters.«

»Seltsam. Ich dachte, du wärst das.«

Er warf mir einen harten Blick zu, ließ das Ganze jedoch unkommentiert, während er zu mir hochkletterte.

Sein Haar war wie so oft zerzaust, doch das gut gelaunte Funkeln war schon lange aus seinen graublauen Augen verschwunden. Abgesehen von der Wunde am Kopf schien er unversehrt – und noch er selbst – zu sein. Keine Leere in den Augen wie bei den anderen Dienern des Chaos. Er war noch immer Ryan. Er war noch immer mein bester Freund. Und trotz allem, was mittlerweile geschehen war, reagierte ich genauso heftig auf ihn wie früher.

In meinem Magen begann ein sanftes Flattern und das Pochen in meiner Brust nahm zu, während weiter Adrenalin durch meine Adern pumpte und mir gleichzeitig wärmer wurde. Letzteres war gar nicht so schlecht hier draußen in der Kälte, doch auf alles andere hätte ich wirklich verzichten können.

Ächzend hievte sich Ryan das letzte Stück hoch und musterte mich besorgt von oben bis unten, erst dann ließ er sich neben mir auf den Rücken zurückfallen. Wir atmeten beide noch immer schwer nach diesem Kampf, doch unser Keuchen wurde nach und nach leiser. Unsere Atemzüge normalisierten sich wieder. Trotzdem hing die Gefahr noch in der Luft und war geradezu greifbar.

Ryan war der Erste, der wieder sprach. »Wo zum Teufel sind wir hier gelandet?«

Schützend hielt ich mir die Hand über die Augen und schaute mich um. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel herab, dennoch war es bitterkalt. Diesmal war ich mir sicher, Berge mit weißen Gipfeln in der Ferne zu erkennen, ebenso wie kahle Bäume, aber auch Tannen und Fichten, die das Tal säumten. Und eine endlos wirkende Ebene, die sich vor uns ausbreitete. Ohne den kleinsten Hinweis darauf, wo wir uns befanden.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab ich zu und vergrub meine kalten Hände in den Jackentaschen.

Es gab keine Anzeichen von Zivilisation. Keine Häuser, keine Gebäude, keine Straßen oder Fahrzeuge. Nicht einmal Strommasten. Wir waren mitten im Nirgendwo gelandet und könnten sonst wo auf der Welt sein. Vielleicht befanden wir uns noch in Kanada, womöglich waren wir aber auch irgendwo in Sibirien gelandet. Oder in der Antarktis, denn im Vergleich zu den stets milden Temperaturen in Valhalla war es bitterkalt und jeder meiner Atemzüge kondensierte in der Luft. Ich legte den Kopf in den Nacken, doch die Nordlichter waren nur noch ein schwaches Echo am Himmel und verblassten schließlich ganz.

Einen Moment lang versuchte ich, sie zurückzuholen, sie mit bloßer Willenskraft wieder heraufzubeschwören, um zurück nach Valhalla zu gelangen, aber es funktionierte nicht. Niemand hatte mir beigebracht, wie ich mithilfe der Nordlichter durch die ganze Welt reisen konnte. Niemand hatte mir beigebracht, wie ich zurück nach Hause kommen konnte. Dafür war keine Zeit geblieben.

Ryan setzte sich auf und zog sein Handy hervor. Gleich darauf runzelte er die Stirn. »Kein Empfang. Gar nichts.«

Ich prüfte mein eigenes Handy und musste ihm stillschweigend recht geben. Nicht nur, dass mein Akku fast vollständig leer war, ich hatte genauso wenig Empfang wie er – und damit keine Möglichkeit, Hilfe zu rufen oder wenigstens herauszufinden, wo wir uns gerade befanden. Ich konnte nur hoffen, dass der fehlende Empfang nicht etwa daran lag, dass wir irgendwo am Nordpol gelandet waren.

»Geht’s dir gut?« Ryans Stimme war so leise, dass ich nicht sicher sein konnte, sie wirklich gehört zu haben. Doch der besorgte, fast schon sanfte Ausdruck in seinen Augen bestätigte diese Frage.

Langsam zog ich die Brauen hoch und starrte ihn an. »Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

Er presste die Lippen aufeinander, schwieg jedoch. Ich wandte mich ab und stand auf, weil ich den Ausdruck in seinem Gesicht nicht ertrug. Ich ertrug diese Besorgtheit einfach nicht, schon gar nicht nach allem, was passiert war. Ryan mochte mich vor dem Plan seines Vaters gewarnt, mich vor dem Waisenhaus in Sibirien sogar beschützt haben – aber er war auch zusammen mit Cyrus’ Armee nach Vancouver ins Bestattungsinstitut einmarschiert. Er hatte Ling gegen ihren Willen aus ihrem Zuhause gerissen und Cyrus ausgeliefert. Seinetwegen hatte ich das Chaos nach Valhalla geführt und alle in Gefahr gebracht. Wie konnte er da fragen, ob es mir gut ging?

Tat es nicht. Mir ging es beschissen. Aber wenigstens war ich unverletzt und zumindest im Moment außer Gefahr, was man von den anderen Valkyren nicht behaupten konnte, genauso wenig von den Menschen in Vancouver. Ich musste dorthin zurück. So schnell wie möglich.

Doch als ich mich langsam im Kreis drehte, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, war bis auf die Krater und Kampfspuren nichts zu sehen. Keine Hinweise. Nicht mal eine Richtung, die vielversprechend aussah.

»Wir sollten los.« Langsam stand Ryan auf und klopfte sich erneut den Schnee vom Mantel.

Ich breitete die Arme aus. »Und wohin?«

Falten erschienen auf seiner Stirn. »Keine Ahnung. Aber wir können nicht hierbleiben, sonst erfrieren wir. Also such dir irgendeine Richtung aus und lass uns hoffen, dass wir schnell auf Zivilisation stoßen.«

Ich schnaubte. Das war sein Plan? Losgehen und hoffen, dass irgendwann irgendwo eine Straße oder eine Stadt auftauchte? Wir könnten uns auch mitten in den Bergen befinden und uns total verlaufen. Und wenn wir nicht erfroren, fraßen uns nachts die Bären oder Wölfe, die es hier draußen bestimmt gab. Beim Gedanken an Wölfe schauderte ich unwillkürlich, da sofort die Erinnerung an Zev in meinem Kopf auftauchte. Eine Erinnerung, die ich mir im selben Augenblick verbot. Denn auch wenn ich es nur ungern zugab – Ryan hatte recht. Wir konnten nicht hierbleiben. Und ich konnte mich nur auf eine Sache nach der anderen konzentrieren. Mit meinen Schuldgefühlen würde ich mich später befassen müssen.