The Longest Way - Christoph Rehage - E-Book

The Longest Way E-Book

Christoph Rehage

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Beschreibung

Mittlerweile 10 Millionen Zuschauer verfolgten Christoph Rehages Video über seinen Weg zu Fuß durch China auf YouTube und Vimeo. Zum 26. Geburtstag macht sich Christoph Rehage selbst das schönste Geschenk: Nach seinem Studium in Peking bricht er auf zu einer Wanderung, die bis ins heimatliche Bad Nenndorf führen soll. Sein Weg ist gesäumt von »Weltwundern« wie der Großen Mauer, der Terrakottaarmee und der Seidenstraße. Und doch sind es die kleinen Wunder, die seine Reise unvergesslich machen: die Hilfsbereitschaft und Neugierde der chinesischen Dorfbevölkerung, die überraschenden Begegnungen mit Mönchen und Wahrsagern, Schulkindern und Rentnern, Beamten und Prostituierten, die Freundschaft zu Lehrer Xie und seine wachsenden Gefühle für die Sichuanesin Juli, die ihn – so die schwebende Verabredung – bei seiner Ankunft in Deutschland erwarten wird…

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Für Mama

Mit 47 Farbfotos und einer Karte

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe:

2. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95533-1

© Piper Verlag GmbH, München 2012

Fotos: Christoph Rehage

Kalligrafien: Wei Aichen

Karte: Glenn Vincent Kraft mit Illustrationen von Jia Meng

Redaktion: Renate Dörner, Wolfgang Gartmann

Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.A.

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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AM ENDE

20. Oktober 2008: Turpan, westchinesische Wüste

Ich stehe auf einer Straße, vor mir eine Mautstation und ein paar Läden und um mich herum die Wüste Gobi. Meine schweißnassen Hände halten die zwei Stangen, an denen ich den Karren mit meinen Sachen hinter mir herziehe.

Die Schmerzen in den Füßen, der Wind, die Wüste und selbst die Polizisten, die mir den Weg versperren, das alles ist mir egal.

Mein Herz tut weh. Ich kann an nichts anderes denken, als dass es aufhören soll.

»Du kommst hier nicht vorbei«, verkündet der dickere der beiden Polizisten und macht eine abweisende Handbewegung. Er trägt einen gigantischen Schlüsselbund am Gürtel, mit dem er zweifellos jede einzelne Nudelbude von hier bis ins 4500 Kilometer entfernte Beijing auf- und abschließen könnte. Dieser Bund und seine tiefe Stimme verleihen ihm die Aura eines Chefs.

»Viel zu gefährlich«, erläutert der andere Polizist, der in einer orange leuchtenden Warnweste steckt. Zur Sicherheit wiederholt er das letzte Wort noch einmal sehr langsam und deutlich. »Ge-fähr-lich!«

Die Silben hängen in der Luft, der Wind bringt Staub aus der Wüste. Einen Moment lang starren wir uns alle nur verständnislos an. Ich wünschte, ich könnte einfach durch die beiden hindurchgehen.

Die Warnweste zeigt auf den Horizont hinter mir und sagt: »Sturmwarnung! Wir sperren die Straße ab.« Und tatsächlich: Am Himmel stehen zwei Wolkentürme, die dabei sind, auseinanderzufallen und sich als düstere Masse über die Landschaft auf uns zuzuwälzen. Ich muss trotzdem weiter, es geht nicht anders.

Dem Schlüsselbund ist offenbar eine Idee gekommen. »Kannst du überhaupt Chinesisch?«, fragt er.

»Ja«, antworte ich.

»Ah, er kann Chinesisch!« Die Warnweste triumphiert, während der Schlüsselbund fortfährt. »Kehr um und geh in die Stadt zurück, hier draußen wird es später zu gefährlich!«

»Ich gehe weiter.«

»Vollkommen ausgeschlossen!«

»Ich muss.«

»Aber das geht nicht! Kehr um und versuch es vielleicht morgen noch einmal!«

Wie soll ich ihm das nur erklären?

»Ich muss heute weiter!«

»Und wohin?«

»Nach Ürümqi.«

»Ürümqi? Aber das sind fast zweihundert Kilometer!«

Dem Schlüsselbund scheint langsam zu dämmern, dass hier etwas nicht stimmt. »Moment mal!«, sagt er. »Warum fährst du nicht mit dem Auto?«

»Ich gehe immer zu Fuß. So bin ich gekommen, und so gehe ich weiter.«

»Und woher bist du gekommen?«

»Aus Beijing.«

»Beijing?!« Chinesen hängen gern ein ah ans Satzende, um ihr Erstaunen auszudrücken. »Beijing-ah?!«, macht der Schlüsselbund also und zieht das ah in die Länge. »Zu Fuß-ah?!«

»Richtig.«

Die beiden Polizisten blicken einander befremdet an, dann mustern sie mich von oben bis unten: einen knapp über einen Meter neunzig großen Ausländer in fadenscheinigen Klamotten, mit langem Haar und struppigem Bart, dessen Augen blutunterlaufen sind und der einen weißen Karren durch die Wüste Gobi zieht.

Es scheint, als wäre dem Schlüsselbund erst jetzt das Nächstliegende eingefallen. »Pass und Visum!«, bellt er.

Ich schlucke meinen Ärger hinunter und mache mich daran, aus den Tiefen meines Karrens die gewünschten Dokumente hervorzukramen.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie sich die Warnweste neugierig nach vorn beugt, während der Schlüsselbund irgendetwas in ein Funkgerät spricht. Aus den Läden neben der Mautstation sind einige Bauern herbeigelaufen, um das Spektakel zu verfolgen. Ein langhaariger, bärtiger Ausländer, der Ärger mit der Polizei hat und in fremden Sprachen flucht, das ist schon etwas hier draußen. Ich bin eine Attraktion.

Endlich finde ich zwischen einer Melone und einer Kekspackung meinen Dokumentenbeutel und nehme den Pass heraus: achtundvierzig Seiten, vor drei Monaten frisch ausgestellt, ein makelloses Stück Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. Er leuchtet bordeauxfarben im Graubraun der Gobi.

Der Schlüsselbund flippt mit zwei Fingern durch die Seiten und bleibt schließlich bei dem Ausweisbild hängen. Christoph Rehage, steht da, geboren am 09.11.1981 in Hannover. Er tut einen Moment lang so, als ob diese Information für ihn irgendeinen Sinn ergeben würde, dann klappt er den Pass mit einer Hand zu und schnauzt: »Visum!«

»Es ist genau vor deinen Augen«, sage ich böse, »und wenn du lesen könntest, hättest du es bereits gefunden!«

Er blättert verwirrt in meinem Pass herum, und ich beschließe, noch einmal nachzutreten. »Soll ich es dir vielleicht auch noch vorlesen?«

Einige der umstehenden Bauern kichern, und die Warnweste blickt ein wenig bekümmert drein. Der Schlüsselbund hat beschlossen, meine Frechheit zu ignorieren, und ist mit der Lektüre meiner Papiere beschäftigt. Ich schaue den Wolken zu, die unaufhaltsam über die Wüste rollen.

»Deutscher?«, fragt er.

»Ja.«

»Von wo nach wo unterwegs?«

»Von Beijing nach Ürümqi.«

»Alles zu Fuß?«

»Ja.«

»Hm … kein anderes Verkehrsmittel?«

»Nein.« Ich denke an die blaue Gurke, das alte Lastenfahrrad, mit dem ich wenige Wochen zuvor mit meinem Bruder durch die Wüste gepoltert bin.

Er macht eine Pause, offensichtlich muss er seine Gedanken kurz sortieren, dann geht es weiter. »Wie lange insgesamt in China?«

»Drei Jahre.«

»Was gemacht?«

»Studieren.«

»In Beijing?«

»Ja.«

»Hier steht aber«, sagt er, blättert noch einmal nach und blitzt mich an, »das Visum wurde in Qingdao ausgestellt!«

Qingdao ist eine Stadt im Osten des Landes, weit entfernt von Beijing und meiner Marschroute. Ich war zwar seit Jahren nicht mehr da, beschließe aber, das Gespräch durch eine Lüge zu vereinfachen. »Ja, richtig, schöne Stadt! Das Visum habe ich während des Urlaubs dort beantragt!«

Muss ja nicht jeder erfahren, dass ich mir meinen Aufenthalt in China durch einen Bekannten mit ominösen »Geschäftskontakten« in Beijing verlängern lassen musste, weil die Visavergabe während der Olympischen Sommerspiele so eingeschränkt war.

Der Schlüsselbund guckt misstrauisch, doch dann wendet er sich anderen wichtigen Themen zu. »Was ist hier drin?«, fragt er und zeigt auf den Karren.

»Kleidung, Schlafsack, Essen, Wasser – was man auf dem Weg so braucht.«

»Und das da, ist das ein Zelt?«

»Ja.«

»Campieren ist verboten!«

»Ich hasse Zelten sowieso.«

»Ist dieser Wagen aus Deutschland?«, fragt der Schlüsselbund weiter, und einen Moment lang weiß ich nicht mal, was er meint. Der Karren soll aus Deutschland sein? Aber da wollte ich doch ursprünglich hin, bevor alles aus dem Ruder lief.

»Nein, der Wagen ist aus Zhangye«, antworte ich und zeige auf die Straße hinter mir. Einige der Bauern recken tatsächlich die Köpfe und stieren einen Moment lang in Richtung Horizont, als ob sie wirklich Herrn Wang in seiner Schweißerwerkstatt am anderen Ende der Wüste Gobi entdecken könnten.

»Sind wir jetzt endlich fertig?«, frage ich entnervt. »Ich habe heute noch ein Stück Weg vor mir!«

»Geh zurück in die Stadt«, befiehlt der Schlüsselbund und gibt mir meinen Pass.

Ich explodiere: »Ich gehe jetzt weiter, egal, was ihr erzählt! Ich bin über Schneeberge und durch Sandstürme gekommen, euer Wind hier macht mir gar nichts aus!«

»Geh zurück!«

»Nein!«

»Doch!«

Und dann passiert es. Eine Beleidigung über die Mütter der Polizisten entfliegt meinem Mund.

Plötzlich werden alle sehr ernst.

»Entschuldigung, das wollte ich nicht«, sage ich. Der Schlüsselbund steht einen Moment lang still vor mir und guckt mich an.

Ich fange an zu weinen.

»Sag so etwas nie wieder«, donnert er, »und schon gar nicht zu einem Polizisten!« Und dann: »Was ist überhaupt los mit dir?«

HERBST

LOSGEHEN

9. November 2007: Beijing

Ein Kreischen reißt mich aus meinen Träumen. Ich schiebe die Schlafmaske von den Augen und bin für einen Moment geblendet: Die Sonne wirft helle Muster an die Wand meines Zimmers, und mir ist warm, obwohl ich mich in der Nacht von der Bettdecke freigestrampelt habe. Es muss schon fast Mittag sein, beinahe hätte ich mein eigenes Geburtstagsgeschenk verschlafen.

Ich springe auf, renne zum Fenster und blicke in einen blauen Himmel, den nur zwei zarte Kondensstreifen durchziehen: ein seltener Anblick im ewigen Grau dieser Riesenstadt. Zwanzig Stockwerke unter mir rattert ein Passagierzug durch die Flachdachsiedlungen, und wieder ertönt das schrille Geräusch, das sich zwischen den Hochhäusern mit tausendfachem Echo bricht. Ich beobachte, wie unten an den Gleisen jemand schnell die Wäsche von der Leine nimmt, ehe der Zug herandonnert. Heute werde ich sechsundzwanzig, eigentlich wollte ich schon längst zu einer Wanderung um die halbe Welt aufgebrochen sein.

»Vor sieben Uhr werde ich das Haus verlassen, solange die Sonne noch nicht aufgegangen ist und die Stadt noch schläft«, hatte ich gestern Abend feierlich verkündet, in dem Gefühl, dass ein Aufbruch im Morgengrauen die einzig passende Weise wäre, um Abschied von meinem Leben in Beijing zu nehmen.

Dann aber war ich mit meinem Nachbarn Xiaohei und ein paar anderen Freunden bis in die frühen Morgenstunden im Feuertopfrestaurant geblieben, weil niemand so richtig Lust gehabt hatte, nach Hause zu gehen. Essen türmte sich auf unserem Tisch, und überall standen Bier- und Colaflaschen.

»Wenn du nicht schnell genug läufst, komm ich mit dem Auto vorbei und treib dich ein bisschen an!«, sagte Xiaohei irgendwann und hob lachend den Zeigefinger. »Pass auf dich auf, ja, Alter?«

Es ist kurz nach elf, die anderen schlafen wahrscheinlich noch ihren Rausch aus, und ich stehe in meiner Unterhose am Fenster und fühle mich müde und aufgekratzt zugleich. Heute soll es endlich losgehen, nach so vielen Monaten des Wartens und Planens. Ich beschließe, den Tag wie jeden anderen mit einer Dusche zu beginnen.

Im Wohnzimmer liegen meine Sachen auf dem Fußboden verteilt: der große Rucksack, die Packtaschen mit der Kleidung, die beiden Schlafsäcke, das Zelt, die Isomatte, der kleine Rucksack mit dem Laptop, die beiden Kamerataschen, die Wanderstöcke und der Beutel mit Batterien, Medikamenten und dem restlichen Kleinkram. Ich hänge mein nasses Handtuch an den Haken und stelle mich auf die Waage, die ich mir vor ein paar Tagen gekauft habe.

Der Zeiger schlägt weit aus, schwingt wieder zurück und pendelt sich ungefähr bei hundert ein. Habe ich es doch noch geschafft? Bin ich zum wandelnden Doppelzentner geworden? Ich beuge mich nach unten, um das Ergebnis genauer ablesen zu können. Exakt neunundneunzig Kilo bringe ich auf die Waage. Was für eine Enttäuschung! Kurz spiele ich mit dem Gedanken, eine große Menge Tee zu trinken, doch dann verwerfe ich die Idee als billige Schummelei. Außerdem habe ich gar keine Zeit für solche Albernheiten, mein Geschenk wartet auf mich.

Ich schlüpfe in das T-Shirt, glätte sorgfältig alle Falten und ziehe dann Pullover und Hose darüber. Dann kommen die Socken, die mit dem R für rechts und dem L für links. Ich schnüre die Schuhe fest zu, damit sie gut sitzen und ich mir nicht zu schnell die Füße wund laufe. Der Schmerz wird schon noch früh genug kommen.

Nachdem ich den Rucksack gepackt habe und noch zweimal durch die Wohnung gegangen bin, um sicherzugehen, dass auch wirklich nichts fehlt, ziehe ich meine Jacke an, streiche noch einmal alle Falten glatt und hänge mir die Kamerataschen rechts und links über die Schultern. Jetzt der Rucksack, an dem Zelt, Isomatte und Wanderstöcke hängen. Ich stapfe ein paarmal probehalber durch den Raum und bleibe am Kühlschrank stehen, um Wasserflaschen, Schokoriegel und Bananen herauszunehmen und in die Außentaschen des Rucksacks zu stecken. Dann stelle ich mich noch einmal auf die Waage: 127 Kilo. Ach du Scheiße. Ich fange an zu schwitzen. Sollte ich vielleicht doch erst einmal auf der Couch Platz nehmen und in Ruhe ein paar Bananen essen, bevor ich mich auf die Reise begebe? Doch gerade als ich den Rucksack abstreifen will, wird mir klar, dass ich ernsthaft Gefahr laufe, heute überhaupt nicht mehr loszugehen.

Ich bin frisch rasiert, und meine Haare sind geschnitten. Ich bilde mir ein, dass meine Augen voll freudiger Erwartung glänzen müssten, und verdränge, dass ich vorhin im Spiegel die Angst aus ihnen habe hervorlugen sehen. Ich kann es nicht länger aufschieben. Es muss sein, jetzt.

Große Schritte tragen mich zur Wohnungstür, meine Hand drückt den Griff hinunter. Noch einmal drehe ich mich um und betrachte die Wohnung, in die bald jemand Fremdes einziehen wird: die rote Couch mit den Spuren kulinarischer und erotischer Höhepunkte, den Fernseher, den Kühlschrank mit dem Wasserspender obendrauf, den leeren Schreibtisch, auf dem der Wohnungsschlüssel blitzt. Ein Schritt, und ich stehe im Flur. Eine Handbewegung, und die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Ich biege um die Ecke zum Fahrstuhl, vorbei an der Wand, an die jemand vor einiger Zeit riesengroß auf Chinesisch geschrieben hat: »Billige Schlampen für Leike!« und daneben: »Fotzen, die es mit Ausländern treiben!«

Leike, das ist mein chinesischer Name. Meine Sprachpartnerin Kati aus Taiwan hatte ihn mir damals in München herausgesucht, bevor ich zum ersten Mal nach China gefahren bin. Ich wollte einen, der sich männlich anhört, und einfach zu schreiben sollte er sein. »Also, am besten wir machen es folgendermaßen«, sagte Kati. »Dein Nachname ist Rehage, davon nehmen wir die erste Silbe und suchen ein chinesisches Zeichen, das sich so ähnlich anhört. Lei zum Beispiel, das heißt ›Donner‹.« Ich war begeistert. Kati fuhr fort, indem sie aus der ersten Silbe meines Vornamens ein chinesisches Ke machte, das so viel wie »erobern« oder »überwinden« heißen konnte. So bekam ich meinen chinesischen Namen, bestehend aus zwei Zeichen: Leike, »Eroberer des Donners«.

Jetzt stehe ich voll bepackt in der Stille des Treppenhauses und lese unweigerlich noch einmal die beleidigenden Zeichen an der Wand: »Billige Schlampen für Leike!«

Xiaohei hatte damals vergeblich versucht, die Sätze mit einer Spraydose unleserlich zu machen. »Eine Frau würde nie das Wort Fotze benutzen«, erklärte er mir. »Das muss ein Mann geschrieben haben. Vielleicht ein gehörnter Ehemann oder ein eifersüchtiger Verehrer? Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein!«

Mit einem Bing öffnet sich die Fahrstuhltür, und ich zwänge mich in den Aufzug. Ich drücke die 1, die Tür schließt sich. Ein letztes Mal lese ich das Wort »Ausländer«, dann rumpelt der Fahrstuhl das Gebäude hinunter. Ich werde wohl nie erfahren, von wem die Beleidigungen stammen, denke ich, als ich aus der Haustür in den Sonnenschein trete. Ich muss die Augen zusammenkneifen, so strahlend hell und schön ist mein Geschenk an mich selbst: der erste Tag meiner Wanderung nach Hause.

DER MILLIONÄR

Irgendetwas vibriert, und eine Melodie ertönt. Ich öffne die Augen und starre in die fensterlose Dunkelheit. Verdammter Handyalarm, warum habe ich den gestern nicht ausgeschaltet?

Ich taste nach dem schwach blauen Glimmen neben meinem Schlafsack und brauche einen Moment, um zu erkennen, dass es sechs Uhr morgens ist und mich gerade jemand aus Deutschland anruft. Dort muss es mitten in der Nacht sein, denke ich, während ich das Telefon ans Ohr halte.

Es knistert, dann höre ich die Stimme meines Vaters. Er ist besorgt, weil ich gestern mein Telefon ausgestellt hatte. »Pass auf dich auf, mein Sohn!«, wiederholt er immer wieder, und trotz der schlechten Verbindung meine ich, eine Mischung aus gutem Willen und Resignation in seiner Stimme zu hören. »Teil dir deine Kraft vernünftig ein!«

Ich muss lächeln. Wie gern würde ich ihm von meinem ersten Reisetag berichten: von dem freundlichen Abschiedswinken der Omas und Opas unten im Hof, von meinem Zickzackweg durch das rechtwinklige Straßennetz der Kaiserstadt, vom Gezerre und Geschiebe durch die Menschen- und Automassen und davon, wie ich dann schließlich doch noch irgendwann abends in einer kleinen Herberge diesseits der Marco-Polo-Brücke ankam, wo mich eine Gruppe Touristen bei sich zum Essen aufnahm und mich neugierig über mein Vorhaben ausfragte.

Stattdessen sage ich: »Mach dir keine Sorgen, ich passe schon auf mich auf.«

Eine knappe Stunde später stehe ich auf der Marco-Polo-Brücke, die eigentlich Lugouqiao, »Schilfrohrgossenbrücke«, heißt, und kann es kaum glauben: Ich habe es tatsächlich geschafft, mein erstes kleines Etappenziel liegt direkt vor mir!

»Zehn Meilen nach Cambaluc gelangt der Reisende an den breiten Fluss Pulisanghin. Kaufleute mit ihren Waren fahren darauf bis zum Ozean. Eine prächtige steinerne Brücke führt über den Fluss; auf der ganzen Welt ist keine mit ihr zu vergleichen.« So hat Marco Polo diesen Ort vor mehr als siebenhundert Jahren beschrieben.

Cambaluc – eigentlich Khanbalik, Stadt des Groß-Khan –, das war die glanzvolle Residenz der mongolischen Herrscher, die etwa am gleichen Ort wie das heutige Beijing lag. Die Brücke ist noch da, zumindest eine restaurierte Version aus dem siebzehnten Jahrhundert. Der Fluss jedoch scheint zu fehlen; da ist allenfalls noch ein Rinnsal in einem endlosen Bett aus Staub, ein trauriger Anblick, der die mächtigen Brückenpfeiler irgendwie fehl am Platz erscheinen lässt.

Das Morgenlicht ist sanft und verheißungsvoll. Ich lehne mich an das steinerne Geländer und genieße es für einen Moment, das Gewicht meines Rucksacks darauf ablegen zu können. Ob Messer Marco damals wirklich bis hierher gekommen ist? Es gibt Leute, die behaupten, seine Beschreibungen bestünden nur aus Geschichten, die er von anderen Reisenden aufgeschnappt habe, doch ich bin mir da nicht so sicher.

Die Venezianer nannten Marco Polo jedenfalls nach seiner Rückkehr einfach nur spöttisch »Millionär«, weil er ohne Unterlass vom Prunk des Khans und seinen eigenen ehemaligen Besitztümern in dessen fernen Landen erzählte. Er kommt mir vor wie jemand, der von seinem Schicksal enttäuscht wurde und es vorzog, sich in eine Welt aus Erinnerungen und Phantasie zurückzuziehen. Steckt vielleicht in jedem Heimkehrenden ein kleiner Millionär?

Ich streiche mit der Hand über den kühlen, hellen Stein des Geländers. Mir gefällt die Vorstellung, dass der venezianische Reisende vor so langer Zeit einmal an dieser Stelle gestanden haben könnte, vielleicht in ein weites Gewand gehüllt wie die chinesischen Händler der Kaiserzeit, mit einem Kamel oder einem Pferd an der Hand, hinter sich die mächtigen Tore der Kaiserstadt und vor sich den langen, steinigen Weg nach Europa.

Eine Gruppe Touristen läuft wild durcheinander und macht Gruppenfotos, am liebsten vor den Löwenstatuen am Geländer. Sie sind so energiegeladen und vor allem so gepäcklos, dass ich mir vorkomme wie ein Elefant inmitten einer Herde Gazellen. Am liebsten würde ich mich einfach nur hinsetzen.

»Guck mal, der Ausländer!« Eine Dame mit einem bunten Stoffhut, der entfernt an eine Bademütze erinnert, hat mich erspäht und zählt begeistert und ungeniert die sichtbaren Teile meines Gepäcks auf: »Zelt, Schlafmatte, Wanderstöcke, und schau doch mal, sogar Badelatschen hat er an seinem Rucksack hängen! Wo der wohl hinwill?«

»Oh!«, macht ihr Begleiter entzückt, und auch der Rest der Gruppe schaut erwartungsvoll in meine Richtung. Ob sie mir ansehen können, dass ich sie verstanden habe? Werden sie gleich Gruppenfotos mit mir machen, die Finger zum V erhoben und die Zähne zum fotogenen Grinsen gefletscht? Nichts wie weg hier! Ich stürme so eilig auf das andere Ende der Brücke zu, dass mein Zelt, meine Schlafmatte, meine Wanderstöcke und meine Badelatschen hinten am Rucksack nur so auf und nieder hüpfen.

Warum bin ich nur so scheu, wenn es um mein Vorhaben geht? Aus Beijing habe ich mich fortgeschlichen wie ein Dieb, und die Reisegruppe im Hotel gestern Abend habe ich schlicht und einfach angelogen.

Wo ich denn hinzulaufen gedenke, war ihre zweite Frage, gleich nach der über meine Herkunft.

»Nach … Baoding.«

Ein Raunen. Eine der Damen vergaß sowohl weiterzukauen als auch den Mund zu schließen, und schließlich fand der Anführer der Gruppe, der auf dem besten Weg war, sich ordentlich einen anzusaufen, als Erster die Sprache wieder. »Baoding?! Aber das liegt vierhundert Li von hier! Da kannst du doch unmöglich zu Fuß hinlaufen!«

Was sollte ich sagen? Vierhundert Li, das waren ungefähr zweihundert Kilometer, und ich war mir nicht sicher, ob ich das mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken überhaupt schaffen würde. Dabei wollte ich eigentlich noch weiter bis zur alten Kaiserstadt Xi’an und dann durch die Wüste Gobi nach Mittelasien, um von dort bis nach Deutschland zu wandern. Aber das gab ich lieber nicht zu.

Statt einer Antwort murmelte ich etwas von »mal sehen« und kaute beschämt auf meinem Mantou, einem Dampfbrötchen, herum. Den angebotenen Schnaps verweigerte ich wie immer und trank stattdessen eine Cola. Dann nahm ich eine Dusche und ging zeitig schlafen.

Ich habe die Marco-Polo-Brücke und ihre Reisegruppen hinter mir gelassen und biege auf die Hauptstraße nach Südwesten ein, Richtung Baoding. Da müsste ich in einer Woche ankommen, wenn meine Füße mitmachen. Ich kann sie schon jetzt spüren, die Blasen und wunden Stellen, die sich dort bilden, wo die Schuhe beinahe unmerklich drücken …

Ein kleiner Junge in einem vorbeifahrenden Auto hat mich erspäht und gestikuliert aufgeregt nach vorn, damit seine Eltern meinen Anblick auf keinen Fall verpassen. Da klingelt schon wieder das Telefon. Peipei aus Beijing ist am anderen Ende, und ihre Stimme hört sich zutiefst unglücklich an. »Jetzt bist du wirklich losgegangen«, sagt sie. Ich starre auf meine staubbedeckten Schuhe und weiß nicht genau, was ich antworten soll. Sind wir nicht mittlerweile gute Freunde geworden? Ich mache irgendeine lockere Bemerkung darüber, wie nah ich der Stadt noch bin, doch sie lacht nicht.

»Bitte schick mir ein Lied, das du beim Laufen gern hörst, okay?«, sagt sie, und ich nehme mir vor, heute Abend im Hotel zwei Lieder zu verschicken. Eines an Peipei und eines an Juli.

Jetzt brauche ich erst mal etwas zu essen und vor allem mehr Guthaben für mein Handy, denn es kostet jedes Mal Geld, wenn ich einen Anruf entgegennehme. In der Dorfstraße von Changxindian sieht es aus, als ob ich Glück habe: Unter einem grünen Baldachin aus Baumkronen erstrecken sich links und rechts Imbissbuden und Läden entlang einer nicht enden wollenden Straße. Dazwischen wuseln Fahrradfahrer und Fußgänger hin und her, und das eine oder andere Auto versucht sich langsam seinen Weg durch das Gewimmel zu bahnen.

Die Vorfreude auf eine Schüssel Nudeln beschleunigt meine Schritte. Könnte nicht der ganze Weg bis nach Deutschland so sein? Eine einzige Aneinanderreihung von Fressständen, zehntausend wohlschmeckende Kilometer lang?

Im Handyladen werde ich von den Verkäuferinnen skeptisch beäugt, weil ich gleich mehrere Telefonkarten auf einmal kaufen will. Ich zähle eine Handvoll rosafarbene Banknoten ab und tausche sie gegen zehn bunte Karten mit dem Logo der Olympischen Sommerspiele, die in neun Monaten in Peking stattfinden werden, die ersten Spiele in China überhaupt. Dann gehe ich in ein kleines Nudelrestaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite, stelle meinen Rucksack auf einem Stuhl ab, lege die Kameras vorsichtig dazu, öffne die Jacke und das Fleece, bestelle mir eine kalte Pepsi und eine Schüssel heißer Nudeln, falte die Hände vor dem Gesicht und mache einen Moment Pause. Meine Gedanken kreisen um Juli.

Unser Kennenlernen kam zugegebenermaßen eher unromantisch zustande. An einem Frühlingstag vor fast zwei Jahren hätte ich eigentlich im Chinesischunterricht in Beijing sitzen sollen, doch stattdessen trieb ich mich in der schwülen Hitze der südchinesischen Stadt Chengdu auf der Suche nach etwas Leckerem herum. Dies alles war Teil eines Plans: Anstatt meine Zeit mit den anderen Ausländern im Sprachkurs zu verschwenden, wollte ich lieber das Land bereisen und so viele Köstlichkeiten wie nur möglich in mich hineinstopfen.

An jenem Tag in Chengdu hatte ich auf einem meiner Spaziergänge ein Mädchen in einem geblümten Kleid nach dem Weg gefragt, und aus ein paar gewechselten Worten war eine spontane Verabredung zum Essen geworden. So einfach geht das, dachte ich, als ich wenig später mit ihr bei einem traditionellen Feuertopf zusammensaß, und es sah auch wirklich alles sehr vorteilhaft für mich aus: Ting war adrett und geistreich, und in dem Topf zwischen uns schwammen Chilischoten in einer Brühe, deren dunkelrotes Brodeln ungefähr der Vorfreude in meinen Lenden entsprach.

Doch dann ging alles schief.

»Du machst wohl Witze!«, prustete sie heraus, nachdem ich eine geschickte, aber eindeutige Avance platziert hatte. Ihr Gesichtsausdruck sah eher amüsiert als schockiert aus. »Ich bin gerade erst achtzehn, und meine Eltern wohnen gleich da vorn um die Ecke!«

»Ja, aber …«

»Kein Interesse!«

Autsch.

Man muss auch verlieren können, dachte ich bei mir. Doch zu meinem Bedauern wurde die Niederlage noch dadurch verstärkt, dass ich das Essen offenbar nicht gut vertragen hatte. Nach einer hastigen Abschiedsszene wollte ich nur noch so schnell wie möglich zurück in mein Hotel. Ich war mir sicher, dass ich von diesem Mädchen nie wieder auch nur ein Sterbenswörtchen hören würde.

Dementsprechend groß war meine Überraschung, als ich ein paar Wochen später die enthusiastische Mitteilung erhielt, dass sie mir gern zwei ihrer Freundinnen in Beijing vorstellen wolle; die eine lerne gerade Deutsch, zur Vorbereitung auf ihr Studium in Deutschland.

Moment, hatte ich da etwas falsch verstanden? Sie musste doch gemerkt haben, worauf ich es abgesehen hatte!

»Mit Vergnügen!«, antwortete ich.

Wenige Wochen später saß ich abends zwischen den beiden Freundinnen von Ting auf meiner Couch vor dem Fernseher. Die Ältere hatte einen wirren Film über einen verknallten Transvestiten in der DDR mitgebracht und redete ununterbrochen über ihre Vorstellung von der unsterblichen Liebe, während die Jüngere die meiste Zeit über verschüchtert schwieg. Ich für meinen Teil war damit beschäftigt, mir einen Plan zurechtzulegen, wie ich die beiden zu einem Dreier überreden könnte. Der Abend wurde länger und länger, der Film verwirrte sich hoffnungslos in seiner Handlung, und irgendwann hatte das Mädchen mit der unsterblichen Liebe dann tatsächlich ihre Hand in meiner Hose und kicherte aufgeregt, während das stille Mädchen offensichtlich peinlich bemüht war, den Blick abzuwenden.

Es wurde natürlich keine erotische Nacht daraus, aber etwas anderes passierte. Als das Mädchen mit der unsterblichen Liebe einen Moment lang draußen war, entlockte ich dem stillen Mädchen einen Kuss: zaghaft, sanft und sehr lang. Sie hatte tiefschwarze Augen, die leuchteten, wenn sie sich freute. Juli.

EIN GEFÄHRTE

Der Weg nach Baoding ist fast vollkommen gerade. Nur in den Ortschaften, die an ihr aufgereiht sind wie staubgraue Perlen auf einer langen Kette, macht die Fahrbahn zuweilen einen Schlenker. Die Fahrer scheinen sich dafür jedoch nicht sonderlich zu interessieren, und alle Autos, Laster, Busse und dreirädrigen Lieferwagen rasen ungebremst an den Dorfbewohnern vorbei. Meist hupen sie dabei wie wahnsinnig.

Ich beschließe, mir das Treiben eine Zeit lang von der Seite anzugucken, und setze mich auf einen Stuhl in einem Hof, in dem Möbel verkauft werden. Den Blasen an meinen Füßen tut die Pause gut. Überall stehen eingeschweißte Sofas und Sessel herum, und nach einem Moment erscheint die Besitzerin, schaut überrascht und bietet mir schließlich einen Tee an.

Dann kommt Niuniu angehumpelt.

Niuniu ist eine schwarze, zottelige Jammergestalt von einem Hund. Schon von Weitem sieht man, dass ihre Gliedmaßen irgendwie eine seltsame Form haben. Wenn sie dann schwanzwedelnd näher kommt, wird deutlich, dass ihre Vorderpfoten im rechten Winkel abgeknickt sind. Und wer sie gestreichelt hat, weiß, dass das Helle die Knochen sind, die es bei der Wundheilung nicht zurück in den Körper geschafft haben.

»Sie hat großes Glück gehabt!«, sagt die Besitzerin und schiebt einen Stuhl neben meinen. Wir betrachten über unsere Teebecher hinweg die Autokolonnen auf der Hauptstraße, während Niuniu rücklings auf dem Boden liegt und sich streicheln lässt. Ihre kleine rosa Zunge flitzt vergnügt auf ihrer Nase hin und her. Die Besitzerin erzählt: »Wir haben Niuniu sehr gern, aber sie war immer sehr lebhaft, und wir konnten sie nur schlecht davon abhalten, dauernd von unserem Hof auf die Straße zu rennen. Die Autos fahren hier sehr schnell. Irgendwann ist es dann passiert.«

»Und der Tierarzt konnte sie retten?«

»Ach was, Tierarzt, wir sind hier auf dem Land! Ich habe sie eingesammelt und mit ins Haus genommen. Ich hätte ja nicht gedacht, dass sie überleben würde, aber nach ein paar Tagen war sie immer noch lebendig. Zum Kacken und Pinkeln musste sie rausgetragen werden. ›Niuniu, kacken?‹, habe ich gerufen, und wenn sie den Kopf gehoben hat, wollte sie raus. Sie ist ein sehr freundlicher Hund.«

»Läuft sie immer noch so gern auf die Straße?«

Die Besitzerin guckt verblüfft, dann lacht sie. »Zum Glück nicht! Ich glaube, das hat sie gelernt.«

Ein paar Kilometer weiter komme ich an einem Schäferhundmischling vorbei, der im Staub an einem Telefonmast angebunden ist. Er rennt im Kreis, springt mit Wucht in die Kette und bellt den vorbeifahrenden Fahrzeugen hinterher. Das Tier sieht verzweifelt aus, und ich frage mich, was mit ihm passieren wird. Vielleicht hat Niuniu es doch nicht so schlecht getroffen?

Nachdenklich und mit schmerzenden Füßen laufe ich an der Landstraße entlang, als ein Fahrradfahrer neben mir auftaucht, der nicht so recht in das Straßenbild passen will: Er fährt ein modisches Mountainbike, ist in eine dunkelblaue Outdoorjacke gekleidet und hat eine beigefarbene Schirmmütze auf dem Kopf. Sein gepflegter Bart lässt ihn für mich irgendwie aussehen wie einen Japaner. Ah, ein Japaner, denke ich, während er langsam von links an mir vorbeizieht und mich ungläubig bestaunt.

Als ich »Hello!« sage, erscheint ein scheues Lächeln auf seinem Gesicht. Dann beschleunigt er, sodass er bald im Verkehr verschwunden ist. Nach ein paar Hundert Metern sehe ich ihn wieder. Der Japaner hat die Füße auf dem Boden abgesetzt und macht sich an seinem Tacho zu schaffen. Ich denke, er hat wahrscheinlich Lust, sich zu unterhalten, und richtig. »Kannst du Chinesisch?«, fragt er mich, und er spricht es langsam und überdeutlich aus, während ich ihn in meinem Fußgängertempo überhole. Wohl doch kein Japaner, denke ich seltsam enttäuscht. Als ich seine Frage bejahe, hellt sich seine Miene auf, und er rollt langsam auf seinem Fahrrad neben mir her, um mir mehr Fragen zu stellen.

»Du kannst also Chinesisch!«

»Ein bisschen, ja.«

»Und du kommst aus …?«

»Ich komme aus Deutschland, und ich habe in Beijing gewohnt.«

»Und wo gehst du jetzt hin?«

»Nach Baoding!«

Er grinst und steigt ab. »Genau da will ich auch hin! Ich heiße Zhu Hui!«

Der will da auch hin? Natürlich, die Straße G308 führt nun mal direkt von Beijing nach Baoding. Und wie werde ich den jetzt wieder los? Ich will nicht mit irgendjemandem zusammen laufen, schon gar nicht mit einem Fahrradfahrer, den ich überhaupt nicht kenne.

»Ich gehe aber nicht direkt nach Baoding, sondern schaue mir auf dem Weg noch andere Sachen an. Und außerdem bin ich sehr langsam!«, erkläre ich, und es ist ein etwas hilfloser Versuch, ihm die Idee mit der gemeinsamen Lauferei auszureden.

»Hmm … was willst du dir denn angucken?«

»Da vorn kommen zum Beispiel die Zwillingspagoden von Zhuozhou.«

»Gut, dann begleite ich dich!«

In der mittelgroßen Stadt Zhuozhou beschreibt die Straße eine lange Kurve, die beidseitig von Geschäften und Gasthäusern gesäumt wird. Bunte Schriftzeichen prangen auf Backstein und Beton, dazwischen wuseln Fahrradfahrer und Fußgänger hin und her – nur von den berühmten Pagoden ist auf der Hauptstraße weit und breit nichts zu sehen. Mein neuer Mitreisender fragt jemanden nach dem Weg, und wir biegen in eine Gasse ein, die durch ein Labyrinth aus mehrstöckigen Mietskasernen führt.

Ich entziffere eine Werbung für Elektrogeräte auf einer weiß getünchten Mauer: JUBAOYUAN, Schatzquelle, steht dort, darunter stehen eine Wegbeschreibung zu einem Elektrogeschäft und eine Telefonnummer. Was für ein klangvoller Name für einen Laden, der wahrscheinlich Ventilatoren und Nasenhaarschneider verkauft, denke ich kichernd, da zupft mich Zhu Hui aufgeregt am Arm und deutet nach vorn, auf das Ende der Gasse. Und tatsächlich: Dort steht sie, eine einsame Pagode, nicht viel höher als die Häuser um sie herum, umgeben von einem zarten Netz aus Baugerüsten wie von einem überdimensionierten Trauerschleier.

Zu unserem großen Bedauern ist sie wegen Renovierungsarbeiten für Besucher geschlossen, aber es gibt ja noch ihre Schwester ein paar Straßen weiter. Als wir das Tor der zweiten Pagode erreichen, hören wir die Stimmen einiger älterer Damen, die sich angeregt unterhalten. Bei unserem Erscheinen werden sie schlagartig stumm und beobachten jede unserer Bewegungen mit argwöhnischen Blicken. Zhu Hui schließt umständlich sein Fahrrad ab.

»Tante, entschuldige bitte«, wendet er sich schließlich höflich an diejenige der Damen, die mit ihrem strengen Blick wie die Anführerin aussieht, »ich würde gern wissen, ob diese Pagode Eintritt kostet.«

»Ihr könnt hier nicht rein!«, blafft sie und erhebt sich von ihrem Sitz. Es ist klar: Sie ist hier die Anführerin, und dies ist ihre Pagode, die sie gegen uns Eindringlinge zu verteidigen bereit ist.

Wir sind verwirrt. »Und warum nicht?«, fragt Zhu Hui.

»Hier wird renoviert.«

»Aber hier sind doch gar keine Baugerüste zu sehen!«

»Guck auf das Schild!«, entgegnet die Anführerin.

An der hohen Mauer, die uns von der Pagode trennt, hat jemand eine rostige Plakette angebracht. ZUTRITT VERBOTEN steht da in ungelenker Schrift, und darunter: VORSICHT VOR DEN HUNDEN!!! Die drei Ausrufezeichen fallen so erbärmlich nach unten ab, dass es aussieht, als wäre die Person während des Schreibens von den Bestien zu Boden gerissen worden.

Ich bin untröstlich, dass ich die Pagode nicht näher betrachten kann, denn sie stammt noch aus der Zeit der Liao-Dynastie vor fast genau tausend Jahren, als dieser Teil Chinas in der Hand des Reitervolks der Khitan war. Die Khitan waren eifrige Buddhisten und talentierte Krieger, deren Herrschaft mehr als zweihundert Jahre andauerte, jedoch wurden sie in den folgenden Jahrhunderte, als Dschingis Khans Armeen über die Welt herfielen, in alle Winde zerstreut und verschwanden schließlich ganz. Nur einige wenige ihrer Bauwerke haben bis heute überdauert, darunter ebendiese beiden Pagoden in Zhuozhou.

Während ich einen Winkel suche, um über die Mauer hinweg ein paar Fotos von dem ehrwürdigen Gebäude zu machen, höre ich, wie die Damen untereinander tuscheln und sich schließlich die Anführerin an meinen Begleiter wendet. »Sag mal, woher kommt der eigentlich, dein ausländischer Freund?«, fragt sie, doch bevor er antworten kann, fügt sie schon verschwörerisch hinzu: »Und wo ist überhaupt sein Fahrrad?«

An diesem Tag halte ich es für das Beste, nicht weiterzugehen, sondern lieber im Ort eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Die Blasen an meinen Füßen machen mir zu schaffen, und vor allem an den beiden kleinen Zehen fühlt es sich bei jedem Schritt an, als würde mich jemand mit einem kleinen glühenden Hämmerchen traktieren. Zhu Hui ist mit einer Übernachtung in Zhuozhou einverstanden, zumal ihm eingefallen ist, dass er hier noch etwas vorhat. »Eine Verabredung«, sagt er und lacht. Wir laufen zusammen über die Marktstraße bis zu einem größeren Platz, tauschen Telefonnummern aus und versprechen, uns am nächsten Morgen wieder hier zu treffen. Dann ist er in der Menge verschwunden.

Ich bleibe einen Moment stehen. Was soll ich nur von diesem Zhu Hui halten? Er hat gesagt, er sei etwas über dreißig, arbeite als Fitnesstrainer in der westchinesischen Provinz Xinjiang, und im Moment fahre er mit seinem Fahrrad hier in der Gegend herum, um Seminare über Kampfkunst zu besuchen. Das Auffälligste an ihm sind sein Bart und seine angenehme Stimme – und die Tatsache, dass er oft und gern lacht.

Plötzlich machen meine Füße mir mit einem dumpfen Schmerz ihre Freude darüber deutlich, dass ich in der Ecke des Platzes einen Betonklotz mit winzigen Fenstern erspäht habe, auf dem in chinesischen Schriftzeichen das Wort HOTEL prangt. Das muss alles noch aus der Zeit vor der Kulturrevolution stammen, denke ich leicht angegruselt, als ich durch die düstere Eingangshalle zur Rezeption dieses Kaderhotels stolpere, um meinen Pass durch ein winziges Fenster zu schieben. Die Rezeptionistin und ich wechseln kühle Worte und ein paar abgegriffene Geldscheine, dann fülle ich ein Formular aus und bekomme meinen Schlüssel ausgehändigt. Mühsam besteige ich das Treppenhaus und blicke die scheinbar endlosen, menschenleeren Flure hinunter. Ein seltsames Gefühl der Beengtheit lässt mich meine Schritte beschleunigen.

Als ich mein Zimmer endlich gefunden habe, lasse ich mein Gepäck auf das eine Bett und mich selbst auf das andere fallen, breite die Arme aus und starre für eine Weile bewegungslos an die Decke. In einer Ecke baumelt eine kleine Spinne an einem Heizungsrohr. Zhu Hui ist irgendwo draußen unterwegs, und ich weiß nicht, ob ich ihn morgen oder überhaupt jemals wiedersehe. Den heutigen Abend werde ich auf jeden Fall ungestört für mich allein verbringen können; das bedeutet ein heißes Bad für die Füße und ein paar Stunden Zeit, um Bilder zu sortieren und Texte für meinen Blog zu schreiben. Ob ich die Blasen aufstechen soll, wie damals in Frankreich? Ich richte den Blick zum Fenster hinaus, wo der Himmel langsam alle Schattierungen von Grau bis Tiefschwarz durchgeht. Mit einem Mal wird mir kalt. Wie lange noch, bis der erste Frost kommt?

DIE ZWEI VOM PFIRSICHHAIN

»Was lange getrennt war, wird sich vereinigen, was lange vereint war, wird sich trennen«, so lautet der erste Satz des berühmten, aus der Ming-Zeit stammenden Romans Die Geschichte der Drei Reiche von Luo Guanzhong.

Als ich auf dem Platz an der Marktstraße ankomme, steht da schon Zhu Hui mit seinem Fahrrad und grinst. »Guten Morgen, kleiner Lei!«, ruft er lachend über die Menschenmenge hinweg, und ich bemerke überrascht, dass ich mich tatsächlich ein bisschen freue, ihn zu sehen.

Wir kaufen ein paar Bananen zum Frühstück, dann machen wir uns auf den Weg. »Heute«, verkündet er mit theatralischer Geste, »werde ich mein Fahrrad schieben und zu Fuß gehen, genau wie du, um mal auszuprobieren, wie das so ist!«

Noch vor dem Ortsausgang machen wir an einer Schule halt, wo auf dem Hof gerade die Morgengymnastik stattfindet. Hunderte, nein Tausende von Jungen und Mädchen stehen mit gespreizten Armen hintereinander aufgereiht, während eine blecherne Lautsprecherstimme Parolen über sie hinwegplärrt. Im Hintergrund qualmen aus einem Schornstein Rauchschwaden in den tiefgrauen Himmel.

Die Schüler führen langsam die Arme über dem Kopf zusammen, und ich muss an Juli denken. Vor nicht allzu langer Zeit, in einer ähnlichen Schule im grün überwucherten Südwesten des Landes, muss auch sie so dagestanden haben: das Haar zu zwei Zöpfen gebunden, die Arme von sich gestreckt, der Kopf voller Träume. Ob damals schon ihre Idee vom Studium im fernen Deutschland entstanden ist?

»Hello!« Ein paar Schülerinnen haben uns entdeckt und den Mut aufgebracht, uns auf Englisch anzusprechen. »How are you doing?«, fragen sie, und ich antworte langsam und sehr deutlich: »Fine, thank you.« Auf meine Gegenfrage »And how are you?« ernte ich jedoch nur ein Kichern hinter vorgehaltener Hand.

Ein Lehrer tritt hinzu, fragt, was wir hier wünschen, und als ich antworte, wir seien ein Deutscher und ein Japaner, werden wir kurz und bestimmt zu einem kleinen Rundgang durch die Schule eingeladen. Zhu Hui muss sich sichtlich anstrengen, nicht loszulachen, während Hunderte Schüler um uns herumstehen und aufgeregt dabei zusehen, wie ich dem Schuldirektor die Hand schüttele, ein paar offiziell anmutende Fotos knipse und mich in Lobhudeleien über die Schule und die Stadt Zhuozhou ergehe.

Als wir wieder auf der Landstraße sind, prustet Zhu Hui los. »Die dachten echt, ich käme aus Japan! Ha!«

Dann bleibt er stehen und schaut mich betroffen an: »Du, sag mal, sehe ich wirklich aus wie ein Japaner?«

Nach nur ein paar Kilometern auf dem staubigen Seitenstreifen der Landstraße kommen wir an einer weiteren Schule vorbei. Hinter einem hohen Zaun am Straßenrand liegt ein mit roten und blauen Filzmatten ausgelegter Platz. Ich sehe Schwerter und Stöcke. Ein bulliger Trainer steht am Rand und gibt seinen Schülern mit einem Stab Anweisungen. Zhu Hui ist entzückt.

»Eine Kampfkunstschule!«

Die Jungs und Mädchen, allesamt in Rot-Weiß gekleidet und ungefähr im Grundschulalter, schielen bei ihren Übungen zu uns hinüber. Einige lächeln schüchtern, und das eine oder andere Kichern ist zu hören. Als der Trainer uns bemerkt, verharrt er kurz und winkt uns dann wortlos in das Schulgebäude hinein.

Es muss ein hartes Leben für die Kleinen hier sein, denke ich, als ich durch die menschenleeren Schlafquartiere im Obergeschoss schleiche. Zhu Hui ist mit den Lehrern unten im Empfangsraum geblieben und unterhält sich mit ihnen über Trainingsmethoden, während ich mit meiner Kamera auf Motivsuche gegangen bin.

Mir scheint, das Leben der Kinder in dieser Schule besteht im Wesentlichen aus zwei Dingen: Disziplin und Anspruchslosigkeit. Sie schlafen jeweils zu zwölft in einem gefliesten Raum, in dem es außer grünen Stockbetten keine anderen Möbel gibt. Persönliche Besitztümer suche ich vergebens, dafür hängt ein handgeschriebener Stundenplan an der Wand: Wecken um zehn nach sechs, Licht aus um halb neun, und dazwischen ist jede Stunde mit Übungen, Unterricht, Mahlzeiten und Saubermachen verplant. Ein Wochenende gibt es hier nicht, jeder Tag gleicht dem anderen.

Wie aus dem Nichts taucht ein schüchternes Mädchen hinter mir in der Tür auf. Die Lehrer haben sie zu mir geschickt, damit ich mit ihr ein Interview machen kann. Zhu Hui muss ihnen erzählt haben, ich sei ein Journalist oder so etwas, denke ich und bitte sie der Einfachheit halber erst mal, für ein Foto zu posieren. Sie ist fünfzehn Jahre alt und seit einem halben Jahr an dieser Schule. Ursprünglich sei sie zum Abnehmen hierhergekommen, erklärt sie mir, und, tatsächlich, sie sieht ein bisschen pummelig aus.

»Früher war ich sehr dick«, sagt sie mit einem scheuen Lächeln, »deshalb haben mich meine Eltern für sechs Monate an diese Schule geschickt.«

»Und jetzt kannst du bald nach Hause?«

»Eigentlich schon«, das Lächeln wird breiter, »aber ich bleibe noch. Es gefällt mir hier!«

Im Empfangsraum ist Zhu Hui mit den beiden Lehrern in eine zigarettenverqualmte Unterhaltung vertieft. Ich bekomme einen Becher Tee und schlendere damit an der Pokalwand entlang, als die Tür aufgeht und der bullige Trainer hereinkommt. Aus der Nähe sieht er mit seinem Bürstenhaarschnitt, den breiten Wangenknochen und dem eckigen Kinn sogar noch brachialer aus als vorhin.

»Ah, aus Deutschland!«, ruft er, als ich mich vorgestellt habe, und noch ehe der Tee in meinem Becher auf eine trinkbare Temperatur abgekühlt ist, bin ich bereits in eine Diskussion über die Rolle der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg verwickelt.

Die Gespräche wiederholen sich immer wieder, seit ich in China bin: Die Deutschen, das sei ein mächtiges, ein überlegenes Volk gewesen und Hitler ein Visionär! Man habe damals mit hochtechnisierten Waffen an mehreren Fronten gekämpft und letzten Endes trotz allen Heldenmuts verloren. Im Übrigen seien die japanischen Teufel die eigentlichen Übeltäter!

Als Zhu Hui und ich wenig später wieder auf unserer Landstraße sind und uns über die Theorien des Trainers lustig machen, bin ich froh, dass mein Reisegefährte nicht nur sehr umgänglich ist, sondern zudem auch immer für eine Überraschung gut.

»Komm, wir gehen einen kleinen Umweg!«, sagt er unvermittelt und deutet auf einen Seitenweg abseits des brausenden Verkehrs. »Da vorn befindet sich der Pfirsichhain des Freundschaftsschwurs – den müssen wir uns unbedingt ansehen!«

Ich kann es kaum glauben: Diesen legendären Ort aus der Geschichte der Drei Reiche gibt es tatsächlich? Und er soll hier auf unserem Weg liegen, mitten in der nordchinesischen Tiefebene? Vor meinem inneren Auge erstehen aus dem Laub Hünen mit Hellebarden und Waffenröcken, mit langen schwarzen Bärten und grimmigen Gesichtern. Als wir auf den birkengesäumten Weg einbiegen, beginnt Zhu Hui begeistert zu erzählen, und schon liegt die brummende Volksrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts weit hinter uns, und die Luft ist erfüllt vom Hufgetrappel, Kampfgeschrei und Waffengeklirr vergangener Zeiten.

Im Jahr 184 nach Christus, fast ein halbes Jahrtausend nachdem der berüchtigte Kaiser Qin Shihuang das chinesische Kernland geeint hatte, lag die zweite Dynastie, das Haus der Han, in ihren letzten Atemzügen: Missernten, Überschwemmungen und einfallende Nomadenhorden hatten das Reich in seinen Grundfesten erschüttert. Im kaiserlichen Palast kauerte ein unfähiger Lüstling auf dem Thron, der hilflos im Intrigennetz seiner Berater und Eunuchen gefangen war. Wütende Aufstände brachen überall los, und in den Provinzen erhoben sich Kriegsherren, um die Macht an sich zu reißen.

Der aus dieser Situation entstehende Bürgerkrieg, der fast einhundert Jahre andauern sollte, fegte die kaiserliche Dynastie hinweg und spaltete das Land in drei verfeindete Lager, die miteinander erbittert um die Macht rangen. Diese Epoche ging später in die chinesische Geschichtsschreibung als »Zeit der Drei Reiche« ein und sollte den asiatischen Kulturraum über fast zwei Jahrtausende hinweg mit Legenden von Schlachten, Strategen und heldenhaften Kämpfern versorgen.

Wer hätte gedacht, dass die kleine Stadt Zhuozhou mit ihren Birken und Getreidefeldern in dieser Geschichte eine so bedeutende Rolle spielte? Im Frühling ebenjenes Jahres 184 traf hier ein Schuhmacher auf einen Metzger und einen Soldaten. Einer anfänglichen Auseinandersetzung folgte ein Gespräch über die Aufstände, die das Reich bedrohten. Am nächsten Tage kamen die drei im Garten des Metzgers zusammen, ließen Weinbecher kreisen und schworen sich unter den weißen und rosafarbenen Blüten der Pfirsichbäume ewige Treue im Kampf um das Reich. Noch im selben Jahr gründete der Schuhmacher, der aus einem verarmten Adelsgeschlecht stammte und entfernt mit dem Kaiserhaus verwandt war, das westliche der Drei Reiche, den kriegerischen Staat Shu, und machte seinen Namen Liu Bei in ganz China mit Donnerhall bekannt.

Seine beiden Freunde, General Zhang Fei, der Metzger, der sein Messer gegen einen prachtvollen Schlangenspeer eintauschte, und General Guan Yu, der riesenhafte Bartträger mit der Hellebarde, gingen als Beispiele für Kampfesmut und Treue in die Geschichte ein.

Bis heute wird Zhang Fei mit weit geöffneten, kreisrunden Augen abgebildet, um auszudrücken, dass er dem Schlaf zu entsagen gelobte, um seinen Freund und Kaiser Liu Bei rund um die Uhr beschützen zu können. Und Guan Yu ist mittlerweile sogar in den Kreis der Götter aufgestiegen: Millionenfach hängt sein Abbild in den Haushalten und Geschäften Chinas, ein bärtiger Gott des Krieges, der sich im Verlauf der Jahrhunderte zum Beschützer vieler verschiedener Lebensbereiche gewandelt hat und besonders in Südchina eine der beliebtesten Gestalten der Mythologie überhaupt ist.

»Da vorn ist er – der Ort, wo die drei ihren Wein tranken und sich miteinander verbrüderten!« Zhu Hui zeigt auf eine lange rote Mauer mit einem imposanten Durchgang und grinst. Am Kassenhäuschen sind zwei ältere Herren mit Schachspielen beschäftigt, verkaufen uns aber trotzdem unsere Eintrittskarten und bieten mir obendrein an, auf meinen Rucksack aufzupassen, während wir uns im Tempel aufhalten.

Tempel?

In dem großflächigen Hof auf der anderen Seite des Durchgangs steht tatsächlich der Neubau eines Tempelgebäudes, das Zhang Fei gewidmet sein soll. Mit seinen roten Mauern, dem grünen, elegant an den Enden nach oben geschwungenen Dach und der weißen Treppe mit dem zierlichen Geländer ist es nicht einmal unansehnlich, aber es wirkt einfach zu neu und makellos.

Zhu Hui zeigt auf ein Schild, auf dem PFIRSICHHAIN steht, und tatsächlich gehen wir wenig später zwischen Bäumen entlang, die sich dürr und kahl aus dem Boden erheben wie ausgestreckte Zeigefinger. In ihrer Mitte steht eine Betonplattform, auf der bunte Tonfiguren die drei Helden beim Trinken darstellen sollen. Mit ihren speckigen Mützen und den langen Bärten sehen sie aus wie gigantische Gartenzwerge, und ich muss mir ein Lachen verkneifen.

»Wo bitte sind denn jetzt die lieblichen Pfirsichblüten aus der Erzählung?«, frage ich, und Zhu Hui lacht. »Es ist doch schon fast Winter! Es gibt hier keine Blüten mehr, aber vielleicht pflanzen sie ja demnächst einfach Plastikbäume an?«

Im Tempel ist ein alter Daoist damit beschäftigt, die Zeitung zu lesen und auf Leute wie uns zu warten, um gegen ein bisschen Kleingeld ihr Schicksal vorherzusagen. Zhu Hui streckt den Arm seitlich aus wie ein Portier und blickt mich erwartungsvoll an. »Was für eine gute Gelegenheit: Frag doch mal, ob du es bis nach Deutschland schaffen wirst!«

O nein – genau so etwas hatte ich eigentlich vermeiden wollen! Hätte ich ihm bloß nichts von meinem Plan erzählt! Ich winde mich verlegen und starre immer wieder demonstrativ zur Tür, während Zhu Hui mit dem alten Mönch flüsternd irgendetwas beredet.

»Zieh!«, sagt dieser schließlich mit hallender Stimme und deutet auf ein Gefäß mit Holzstäbchen. Okay, was soll’s. Ich nehme ein Stäbchen aus dem Gefäß heraus und lege es in die runzelige Hand des Daoisten.

»Hm«, macht der, schaut es prüfend an und zieht es langsam über ein Stück Papier mit mehreren Reihen Schriftzeichen. Ich blicke fragend zu Zhu Hui hinüber, doch der hebt nur die Augenbrauen.

»Also«, sagt der alte Mönch schließlich und hält das Stäbchen mit beiden Händen in meine Richtung, »du wirst deine Ziele erreichen, deine Geschäfte werden von Erfolg gekrönt sein, und deine Nachkommen werden einen Universitätsabschluss haben.«

Aha.

Ich bedanke mich für die Weissagung und lege etwas Kleingeld auf den Tisch. Dann verlassen wir den Tempel und den Pfirsichhain und gehen querfeldein wieder zurück zur Landstraße. Ich muss mich zwingen, das Lauftempo zu erhöhen, denn wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, wenn wir heute Abend die Stadt Gaobeidian erreichen wollen. Die Blasen an meinen Füßen zwingen mich immer wieder zu kurzen Ruhepausen.

KAPUTT

Ich stehe vor einer weiß getünchten Mauer, auf die jemand in großen blauen Schriftzeichen die Worte JUNGEN UND MÄDCHEN SIND GLEICHWERTIG geschrieben hat, und wundere mich darüber, wie weit ich offenbar bereits von der Hauptstadt entfernt bin. In Beijing, dieser alles verschlingenden Metropole mit ihren Glitzerkaufhäusern und Ringstraßen, hat der letzte dieser Art Sprüche vermutlich schon vor mehr als einem Jahrzehnt der Hochglanzwerbung für Handtaschen von Louis Vuitton oder Armani Platz machen müssen.

Hier jedoch, in der laubbedeckten dörflichen Stille, in der ein schwacher Geruch nach brennenden Kohlen hängt, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Ich hole die Kamera mit dem Weitwinkelobjektiv aus der Tasche, um den Moment zu dokumentieren. Sanft duckt sich der Auslöser unter meinem Zeigefinger, der Spiegel schlägt mit einem zufriedenen Klacken hoch und runter, und einen Moment später leuchtet mir das Bild von der Mauer auf dem Kameradisplay entgegen.

Doch dann geht auf einmal gar nichts mehr. Das Display bleibt schwarz, die Kamera ist unansprechbar. Ich drücke ein paar Minuten lang alle möglichen Knöpfe, wechsele den Akku und die Speicherkarte, und schließlich gebe ich entnervt auf.

Vor noch nicht einmal einem Monat habe ich meine Ausrüstung zusammengekauft. Und jetzt gibt bereits die erste der beiden Kameras ihren Geist auf?

Ich beschließe, im Dorf einen Ort zu suchen, an dem ich sie genauer untersuchen kann; ein abgeschlossener Raum müsste es sein, damit kein Staub in den Apparat gerät. Ich laufe in den Spurrillen eines Treckers auf der Dorfstraße entlang, und nur die Kälte verhindert, dass der Matsch aufweicht und ich bis zu den Knöcheln einsinke. In einer Ecke schichtet eine alte Frau mit Kopftuch Reisig und Brennholz zusammen und redet mit sich selbst, und damit ist sie nicht alleine, denn auch meine Flüche und jammernden Worte trägt der Wind davon. Ich merke, dass ich meinen Freund Zhu Hui vermisse. Es war schön, nicht allein unterwegs zu sein.

Gestern war ich nach dem Mittagessen in einem kleinen Restaurant am Straßenrand vor Erschöpfung eingeschlafen, die Arme vor dem Körper verschränkt und der Kopf auf die Brust gesunken. Irgendwann wachte ich auf und blickte in einem Moment der Panik um mich, doch alles war noch genau wie vorher: Die Kameras und das GPS-Gerät lagen vor mir auf dem Tisch, mein Rucksack lehnte träge an der Wand, und sogar die leere Reisschüssel stand noch an ihrem Platz.

Zhu Hui saß mir gegenüber und blinzelte mich über sein Handy hinweg amüsiert an. »Du bist eingeschlafen!«, bemerkte er das Offensichtliche und fügte kichernd hinzu: »Ich habe ein Foto von dir gemacht. Ist es in Ordnung, wenn ich es später auf meinem Blog veröffentliche?«

Als wir uns heute Morgen voneinander verabschiedeten, war ich ein bisschen geknickt.

Wir kamen aus dem Hotel, in dem wir uns ein Zimmer geteilt hatten. Zhu Hui setzte sich auf sein Fahrrad, zog seine Handschuhe an und rückte seine Schirmmütze zurecht. Dann stellte er einen Fuß auf die Pedale. »Hör zu, ich mache jetzt keine großen Worte, denn wir sehen uns bestimmt bald wieder. Lauf nicht zu langsam, lauf nicht zu schnell, vergiss mich nicht, und komm auf jeden Fall bei mir in Xinjiang vorbei!« Er lächelte. »Mein Freund, ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg!«

Dann senkte er den Fuß auf die Pedale und kam ins Rollen, nahm Geschwindigkeit auf, hob im Fahren eine Hand zum Gruß, ohne sich umzusehen, und fuhr durch den Verkehr in den nebligen Morgen davon.

Ich kaufte einen Joghurt und ging die Landstraße nach Baoding weiter, in die gleiche Richtung wie mein Freund Zhu Hui.

Irgendwann kam ich an einen Hof, in dem sich ganze Gebirge von leeren Farbeimern türmten. In ihrer Mitte brannte ein Feuer. Zwei Jungen waren damit beschäftigt, Löcher in die verkrusteten Eimer zu schneiden, um sie als Ofenrohre weiterverkaufen zu können. Ich blieb stehen. Die beiden waren aus dem Süden des Landes hierhergekommen, um etwas Geld zu verdienen, und sie klagten über die ungewohnte Kälte in diesen Breiten. Ob sie ihre Heimat vermissten? »Ich habe mich in meinem Dorf verlobt!«, sagte der Größere mit leuchtenden Augen. »Und sobald ich genug Geld zusammenhabe, gehe ich zurück. Dann wird geheiratet!«

Ich fragte die beiden, ob sie einen Japaner auf einem Mountainbike gesehen hätten, doch sie verneinten. Als ihr Chef dazukam und etwas von »für Ausländer gesperrten Gegenden« redete, fand ich es an der Zeit weiterzugehen, und so landete ich wenig später in diesem kleinen Dorf mit dem Spruch auf der Mauer.

An einer Kreuzung haben mich sieben oder acht kleine Jungen erspäht und kommen johlend und Bambusstöcke schwingend näher gelaufen.

»Gibt es in diesem Ort irgendwo ein Geschäft?«, frage ich, doch ich ernte nur ungläubige Blicke. »Oder ein Restaurant?« Offene Münder. »Okay, wo kauft ihr normalerweise euer Eis?« Sie sehen aus, als würden sie mich wirklich nicht verstehen. Ich will schon entnervt aufgeben, da fasst sich endlich ein runder Junge mit Segelohren und imitierter Motorsportjacke ein Herz und wagt es, das Unaussprechliche auszusprechen: »Der kann ja Chinesisch!« Ein Johlen geht durch die Runde wie eine La-Ola-Welle.

Doch leider gibt es in diesem Ort kein Geschäft.

»Frag doch die Tante da vorn!«, schlägt schließlich einer vor, und als ich mich umdrehe, sitzt da in einem halb geöffneten Tor tatsächlich eine Frau mit einer Schüssel Kohlköpfe und staunt mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Ich gehe einige Schritte über die Straße auf sie zu und versuche es mit einer höflichen Anrede. »Guten Tag, Tante!« Und nach einem Moment der Stille: »Wäre es möglich, dass ich in Ihrem Haus einen Blick auf meine Kamera werfe?«

Völlige Verständnislosigkeit ist in ihrem Blick, und ich fühle mich genötigt, wortreiche Erklärungen über Fußreisen nach Baoding, defekte Objektive, elektrostatisch aufgeladene Sensoren und staubfreie Innenräume nachfolgen zu lassen. Noch während ich spreche, merke ich, wie sie den Kopf schüttelt und die Schüssel mit den Kohlköpfen aus dem Eingangstor zieht, um es vor mir schließen zu können.

»Versuch es doch im nächsten Haus!«, schlägt einer der Jungen aus meinem Gefolge vor, und wenige Augenblicke später stehen wir tatsächlich vor einem hohen Tor und halten den Atem an, während ich mit einem Ring auf die Nase eines Kupferlöwen klopfe, um unseren Besuch anzukündigen. Das Tor öffnet sich quietschend einen Spaltbreit, und eine schlecht gelaunte Gesichtshälfte mustert mich von oben bis unten. »Guten Tag, Tante!«, sage ich. »Wäre es möglich, in Ihrem Haus meine Kamera zu untersuchen? Sie scheint kaputt zu sein, und …«

»Was wollen Sie?«

»Nun, ich glaube, das Objektiv ist defekt und …«

»Keine Fotos!«

»Nein, nein, ich möchte keine Fotos von Ihnen machen, sondern nur meine Kamera untersuchen, und dafür …«

Die Tür geht zu.

»Onkel, hier drüben!« Meine Gefolgschaft hat offenbar Gefallen an dem Spiel gefunden und ist bereits zum nächsten Hauseingang vorgelaufen. Ich tue ihnen den Gefallen, doch auch hier werde ich abgewiesen. Obwohl wir noch mehrere Male an unterschiedlichen Punkten im Dorf unser Anliegen vorbringen, sind die Reaktionen immer ähnlich: Ich werde angestaunt, abgewiesen und hinauskomplimentiert. Oder einfach nur weggewunken.

Nach dem sechsten oder siebten Haus habe ich genug. »Hört mal, das funktioniert so nicht!«, erkläre ich meinen stockschwingenden Mitstreitern. »Ich glaube, es ist am besten, wenn wir uns aufteilen: Ihr bleibt hier und passt auf das Dorf auf, und ich gehe zur nächsten Stadt und gucke, ob man die Kamera dort reparieren kann! Okay?« Verständnisvolles Raunen.

»Und wie komme ich zurück zur Landstraße?«

Was folgt, ist eine endlose Wegbeschreibung, in deren Verlauf sich die Vortragenden ständig gegenseitig unterbrechen, verbessern oder gleich komplett als Blödmänner bezeichnen. Lediglich das Wort Markt kommt zwischen den ganzen Schleichwegen, Abkürzungen und unbekannten Ortsnamen mit einiger Regelmäßigkeit vor.

Ich bedanke mich und beschließe, mich lieber auf mein GPS zu verlassen. Dann sind die kleinen Jungen weg, so plötzlich, wie sie gekommen waren, und ich stehe wieder allein in den Rillen meiner Traktorspur auf der Dorfstraße. Und da ist er wieder, dieser schwache Geruch nach glühenden Kohlen. Die heizen gerade die Häuser, in die sie mich nicht einlassen wollen, denke ich.

ES GIBT VIELE GUS

Als ich morgens das Hotel verlasse, kommt gerade ein Luftballonverkäufer am Tor vorbei. Erfreut folge ich ihm und seiner bunt glänzenden Wolke die Straße hinunter, und mit jedem Schritt scheint mir, als ob ich meine Sorgen hinter mir zurücklasse. Es gibt Grund zum Optimismus: Ich habe herausgefunden, wie ich die Kamera reparieren lassen kann, außerdem scheinen mir sogar meine Füße heute weniger wehzutun.

Da fällt mir ein, dass ich ganz vergessen habe, Zhu Hui zurückzuschreiben. Ich krame das Handy aus der Tasche und fasse meine Situation in wenigen Worten zusammen: Alles gut, komme heute in Gucheng an!

Die Antwort leuchtet nur Minuten später auf dem Display: GUCHENG!!

Ich wundere mich ein bisschen über diese Nachricht.

Unterdessen ist aus der Stadtstraße eine Landstraße geworden, die Gebäude der Stadt sind eines nach dem anderen verschwunden und haben weitläufigen Feldern Platz gemacht. Die Felder wiederum sind einzelnen Bäumen gewichen, und aus der Landstraße ist schließlich ein kurviger Waldweg geworden. Ehe ich mich’s versehe, befinde ich mich in einem märchenhaften Palast ganz aus Birken: Tausendfach recken sie ihre Stämme zu einem goldenen Dach zusammen, der Boden ist ganz mit ihrem Laub bedeckt, und hier und da löst ein Flügelschlag einen Blätterregen aus, der wie ein goldener Wasserfall in Zeitlupe zu Boden schwebt. In der Ferne werden einige bunte Punkte langsam zu einer Gruppe von Kindern, die mit ihren Schultaschen auf einem Schleichweg durch den Wald laufen. Zum Glück habe ich noch die andere Kamera, denke ich und richte das Teleobjektiv aus.

Da lässt mich ein brummendes Geräusch den Kopf wenden: Auf dem Weg hinter mir nähert sich in einer Staubfahne eine schwarze Limousine. Mit ihrem Glänzen und den verdunkelten Scheiben wirkt sie hier merkwürdig fehl am Platz. Eine Brise spielt mit den Baumwipfeln und trägt ein schwaches Kinderlachen zu mir herüber, während das Fahrzeug langsam näher kommt. Ich gehe ein paar Schritte aus dem Weg, ziehe den Reißverschluss meiner Jacke etwas höher und richte das Teleobjektiv wieder in den Wald. Das Lachen der Kinder ist jetzt deutlich zu hören: Ein Junge ist aus der Gruppe ausgebrochen, und die anderen haben jubelnd die Verfolgung aufgenommen. Mir ist, als ob das Brummen der Limousine tiefer würde. Und tatsächlich: Das Auto verliert an Fahrt, steuert auf meine Seite des Weges zu, rollt langsam aus und kommt mit knirschenden Reifen vor mir zum Stehen. Das Motorgeräusch verebbt, und für einen Moment schwebt nur das Kinderlachen durch den Birkenwald, während ich darauf warte, was als Nächstes geschieht.

Wie ein großer, schwarzer Käfer, denke ich, als das Auto seine Türen spreizt. Vier ernst aussehende Männer steigen aus und kommen auf mich zu.

»Guten Tag, wir sind vom Kulturministerium der Stadt Dingxi.« Der Wortführer mag um die vierzig sein, ist etwas untersetzt und trägt eine Brille, durch die er abzuschätzen versucht, ob ich überhaupt eines von seinen Worten verstanden habe.

»Guten Tag«, erwidere ich auf Chinesisch, und sofort wirkt die ganze Gruppe erleichtert.

»Ah, Guten Tag, Guten Tag. Wir möchten wissen, wer Sie sind und was Sie hier tun!«

Ich muss erst mal schlucken, denn so etwas ist mir während meiner ganzen Zeit in diesem Land noch nie passiert.

»Ich bin Leike aus Deutschland«, sage ich so selbstverständlich wie nur möglich.

»Chen, Kulturministerium der Stadt Dingxi«, kommt es zurück, und die vier blicken mich abwartend an, sodass ich das Bedürfnis habe, meine Daseinsberechtigung etwas wortreicher auszuführen. »Filmhochschule Beijing, Abschluss im Fach Kameraführung. Ich bin auf einer Fußreise durch die Provinz und mache dabei Fotos.« Zur Erläuterung zeige ich auf das Display meiner Kamera. »Landschaftsfotos!«

Herr Chen legt den Kopf schräg, um das Bild mit den Birken und den Kindern besser sehen zu können, und nickt höflich, während die anderen untereinander Blicke austauschen, die ich nur schwer einschätzen kann.

»Moment bitte«, ich hebe den Zeigefinger und krame aus meiner Bauchtasche den Dokumentenbeutel hervor. Nachdenklich wird mein Reisepass durchgeblättert, dann schlägt Herr Chen den Studentenausweis auf: Da ist es, das Passbild mit dem blauen Hintergrund, darunter mein chinesischer Name und der dicke rote Stempel der Filmhochschule. Seine Miene hellt sich auf: »Die Filmhochschule in Beijing?«

Und mit einem Mal ist alles anders: Hände werden geschüttelt, Zigaretten angeboten und meine Chinesischkenntnisse über alle Maßen gepriesen. Es ist fast, als wären wir hier als Freunde zusammengekommen, um die Natur zu genießen und uns gegenseitig zu beglückwünschen. Während ich die landschaftlichen Vorzüge und die wirtschaftliche Entwicklung der Region Dingxi hervorhebe, können sich die Leute vom Kulturministerium vor Begeisterung über meine Wanderung kaum beruhigen. Von Beijing bis hierher – und alles zu Fuß? Das sei ja wie der Lange Marsch der Kommunisten!

Zum Abschluss erhalte ich eine Visitenkarte, und Herr Chen legt mir die Hand auf die Schulter. »Wenn du irgendwie Hilfe brauchst, ruf einfach an!«