Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa - Christoph Rehage - E-Book

Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa E-Book

Christoph Rehage

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Beschreibung

Immer mehr Chinesen zieht es in den Ferien nach Europa. Christoph Rehage hat sich einer dieser Reisegruppen angeschlossen, um herauszufinden, was die Chinesen wirklich über uns und unsere Heimat denken. Der Vorteil: Er spricht fließend Mandarin und kann so die Erfahrungen der Gruppe intensiv miterleben. Auf dem Programm der vierzehntägigen Erkundungstour stehen kulturelle Pflichtstationen wie Schloss Neuschwanstein, Michelangelos David in Florenz und der Eiffelturm in Paris. Aber auch die heimlichen Lieblingsziele der Chinesen: Outlet-Center und Luxusboutiquen. In seinem klugen und zugleich amüsanten Buch erklärt Christoph Rehage nicht nur die Faszination von Schwarzwalduhren und deutschem Babymilchpulver, sondern ermöglicht interessante Einblicke in eine uns fremde Kultur.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Diese Geschichte gründet sich auf Erinnerungen, Tagebucheinträge und Mitschriften. Vielleicht gibt es hier und da noch ein paar Unschärfen, und manche Gespräche und Ereignisse habe ich bewusst vertauscht, um alles insgesamt besser lesbar zu machen. Ach, und wegen der vielen Markennamen: Es ging leider nicht ohne sie, dafür waren sie uns Reisenden zu wichtig.

Für China

ISBN 978-3-492-97546-9Dezember 2016© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Redaktion: Matthias Teiting, DresdenKarten: Grazyna Ostrowska-Henschel, Illus – Icons – Infografiken, KölnCovergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.deCovermotiv: Schloss Neuschwanstein, Bus (iStock), Gruppe (privat), Kollosseum, Berge, schiefer Turm von Pisa,Eiffelturm, Frauenkirche, Rialto-Brücke (Fotolia)Datenkonvertierung: psb, BerlinAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

»Ah!«, machte Tianjiao und atmete tief ein, »die frische Luft!«

Ich blickte mich um: Es war fünf Uhr morgens im Februar, wir standen vor dem Münchner Flughafen, inmitten von Taxis und Bussen, die alle ihre Motoren laufen ließen. Ich sah Abgaswölkchen, die sich über dem Beton in der Kälte auflösten. Die Luft war alles andere als frisch, aber Tianjiao strahlte. Sie kam ja auch aus Beijing.

Ein paar Wochen zuvor war ich in Chinas Hauptstadt geflogen, um eine Reisegruppe zu finden und mit ihr durch Europa zu fahren. Die Idee dazu war in München entstanden, an einem sonnigen Wintertag. Ich spazierte gerade über den Marienplatz, als ich hinter mir Stimmen hörte, die mir vertraut erschienen, ohne vertraut zu sein. Es waren chinesische Stimmen.

»Kleiner Wang, mach ein Foto von mir!«, rief eine Dame.

Ich drehte mich um und erblickte eine Reisegruppe von etwa zwei Dutzend Männern und Frauen mit ein paar Kindern. Sie waren dabei, sich für Schnappschüsse vor dem Rathaus aufzustellen, und riefen einander Kommandos zu: »Einen Schritt nach links! Nein, nicht DEIN Links, sondern MEIN Links!«

»Guck in die Kamera!«

»Lächeln!«

Versonnen blieb ich stehen und schaute zu. Die meisten von ihnen trugen Outdoor-Jacken und Rucksäcke. Ich sah schicke Sonnenbrillen, außerdem die neuesten Smartphones und Digitalkameras. Sie lachten viel, waren ziemlich laut und machten anscheinend gern mit den Fingern das V-Zeichen. Ich fand sie sehr sympathisch.

Und während ich dort stand, während ich ihnen zusah und die anderen Menschen an ihnen vorbeihasteten, ohne sie zu beachten, bemerkte ich zwei Dinge: zum einen, dass ich gern mehr über die Teilnehmer dieser Reisegruppe erfahren hätte. Wie gefiel ihnen München? Welche anderen Orte lagen noch auf ihrer Reiseroute? Was waren ihre Träume und Hoffnungen, woher kamen sie, was machten sie, und was ging in ihnen vor?

Zum anderen: Ich vermisste China.

Und plötzlich war da die Idee.

Ich lief zu meinem Verlag und fragte, ob sie sich vorstellen könnten, dass ich nach Beijing ginge, um mit einer Reisegruppe wiederzukommen.

»Sprich weiter«, sagten die Leute im Verlag, und ich sprach weiter.

Die Idee war, dass ich als normaler Tourist mit meiner Reisegruppe durch Europa fahren würde, um zu gucken, was passierte. Dank meiner Chinesischkenntnisse würde ich mich unerkannt in die Gruppe einschleichen können. Wir würden uns wie wild selbst fotografieren, das war schon mal klar. Wir würden uns durch die Maximilianstraße kaufen und durch die Champs-Élysées. Vielleicht würden wir beklaut werden oder unser Gepäck verlieren, und vielleicht, vielleicht würden auch noch ein paar von uns in den Puff gehen. »Wäre das nicht ein toller Stoff für ein Buch?«

»Hm …«, sagten die Leute im Verlag.

Als ich ein paar Wochen später tatsächlich in Beijing ankam, tat ich erst einmal gar nichts. Ich suchte mir ein Hotel in der Nähe des Viertels, in dem ich einige Jahre zuvor, während meines Studiums an der Filmakademie, gewohnt hatte. Das Hotel war speziell: Es bestand aus einem Geflecht von Fluren und Zimmern direkt über einem Elektromarkt, und wenn ich zum Fenster ging und den Vorhang beiseiteschob, blickte ich auf die Rückseite einer Reklametafel. Aber es war günstig – so günstig, dass viele Leute einfach nur kamen, um hier ein paar Stunden Zeit miteinander zu verbringen. Wenn ich nicht gerade auf dem Bett lag und ihnen beim Zeitverbringen zuhörte, spazierte ich durch die Stadt. Oder zumindest durch einen Teil davon. Beijing war früher schon gigantisch gewesen, und es schien sich mit jedem Tag noch zu vergrößern.

Leider erinnerte ich mich schnell daran, dass ich nicht die beste Zeit für meinen Besuch gewählt hatte: Jedes Jahr im Januar und Februar war die Luft in Beijing nicht nur besonders kalt, sondern auch noch besonders schlecht – ein bisschen wie in einem Kühlhaus mit einem Auspuff darin.

Und doch zog es mich jeden Tag nach draußen. Ich hatte das Gefühl, dass wir ein bisschen Zeit brauchten, um uns wieder kennenzulernen, die Stadt und ich. Manchmal blieb ich dabei auf einer der Fußgängerbrücken stehen und blickte nach unten. Es gab mehr Autos als früher, und der Verkehr war langsamer geworden. Er floss nicht, er bestand nur noch aus einem Ächzen und Wühlen. Aber vielleicht war das auch besser so.

Denn nachts, wenn die Straßen frei waren und die Autos schnell, passierten merkwürdige Dinge. Zwei junge Männer landeten in den Nachrichten, weil sie sich in einem Tunnel ein Rennen geliefert hatten. Das Ergebnis: ein zerstörter Ferrari, ein schrottreifer Lamborghini und eine verletzte Frau. Vor Gericht hieß es dann, es handele sich bei den beiden Fahrern auf keinen Fall um Söhne wichtiger Männer, sondern um aufstrebende Jungunternehmer. China rieb sich die Augen.

Und einmal, als ich nachts selbst in einem Taxi unterwegs war, tauchte vor uns mitten auf der Fahrbahn eine einsame Gestalt auf. Es war eine junge Frau im Nachthemd. Im gelben Licht der Straßenlaternen stand sie in einer Kurve, sehr bleich und sehr klein, die Arme leicht ausgebreitet. Aus irgendeinem Grund fiel mir noch auf, dass sie keine Schuhe anhatte, dann waren wir auch schon an ihr vorbei. Der Fahrer hatte es gerade noch geschafft, ihr auszuweichen.

»Manche Leute wollen einfach sterben«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, die Fingerknöchel waren weiß.

Ich ging lieber zu Fuß, als mit dem Auto zu fahren, besonders wenn ich mit etwas haderte. Und ich haderte oft in diesen Tagen. Mit dem Alltag in Deutschland. Mit dem sich verändernden China. Mit meinem Reisegruppenplan.

Mein größtes Problem waren meine zukünftigen Mitreisenden. Was sollte ich ihnen nur über mich erzählen? Was für einen Grund konnte ich als Deutscher schon haben, mit ihnen eine Gruppenreise durch Europa zu machen? Wenn ich ihnen die Wahrheit über meine Pläne sagte – wenn ich zugab, dass ich ein Buch schreiben wollte –, dann würden sie sich bestimmt beobachtet fühlen. Sie würden sich vielleicht ein bisschen anders geben, als sie in Wirklichkeit waren, und am Ende würde ich ihnen den ganzen Urlaub verderben! Aber belügen mochte ich sie auch nicht. Was also sollte ich sagen? Ich beschloss, diese Frage erst einmal zu ignorieren, bis ich meine Reisegruppe gefunden hatte.

Und dann war da noch die Sache mit meinem »Ruhm«. Über die Jahre hinweg war ich im chinesischen Internet bekannt geworden. Nicht sehr bekannt, aber ein bisschen. Am Anfang stand mein Versuch, nachdem ich mein Studium an der Filmakademie abgeschlossen hatte, zu Fuß von Beijing bis nach Bad Nenndorf zu laufen. Nach einem Jahr und mehreren Tausend Kilometern stand ich irgendwo in der westchinesischen Wüste und gab auf. Ich machte ein Video über die Reise und den dabei entstandenen Bart und stellte es unter dem Namen »The Longest Way« ins Internet. Und da es erstaunlich vielen Leuten zu gefallen schien, folgten darauf ein Buch, ein Bildband und Vorträge, zuerst in Deutschland und dann auch in China.

Meine Bekanntheit hatte jedoch noch mit etwas ganz anderem zu tun: mit Politik. Weil mir China fehlte (und weil ich dort Bücher verkaufen wollte), hatte ich mich auf chinesischen sozialen Medien angemeldet. Es gab dank der Regierung in China kein Google, kein YouTube, kein Twitter und kein Facebook, aber die Leute hatten ihre eigenen Netzwerke. Eins davon hieß Weibo, es war eine Art Twitter-Klon. Dort guckte ich, worüber die Leute redeten, und ab und zu sagte ich selbst auch etwas dazu.

Am Anfang sprach ich vor allem über Themen, die etwas mit Deutschland zu tun hatten, doch nach einer Weile begann ich, immer öfter auch etwas zu chinesischen Angelegenheiten zu sagen. Ich nahm mit dem Smartphone Videos auf, in denen ich mal sarkastisch, mal ernsthaft über Dinge sprach, die mich beschäftigten. Zum Beispiel über Korruption oder über den Umgang mit der eigenen Geschichte. Oder über Straßenverkehr. Nach einer Weile hatte ich ein beachtliches Publikum, Hunderttausende sahen sich regelmäßig meine Kommentare an.

Über eins brauchte ich mir dabei keine Illusionen zu machen: Viele Leute interessierten sich vor allem dafür, dass hier ein Ausländer irgendetwas auf Chinesisch in die Kamera sprach, da war es nicht so wichtig, was genau das war. Doch es gab auch Menschen, denen es wirklich um den Inhalt ging, um das, was Leike erzählte. Leike, das war mein chinesischer Name, er bestand aus den Zeichen für »Donner« und »erobern«. Unter diesem Namen wurde ich in China manchmal sogar auf der Straße angesprochen, was mich vor ein neues Problem stellte: Was sollte ich tun, wenn jemand aus meiner zukünftigen Reisegruppe eines meiner Videos gesehen hatte?

Nach einer Weile ging mir auf, dass ich mir darüber überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte. Denn so, wie die Dinge lagen, würde ich sowieso nie eine Reisegruppe finden. Zwei Wochen lang war ich in Beijing spazieren gegangen und hatte meine Videos gedreht, hatte Journalisten getroffen und mich mit Freunden verabredet, und schließlich hatte ich noch einen Medienpreis entgegengenommen (bei einer Veranstaltung, auf der ich es für eine lustige Idee hielt, eine Dankesrede an Marx und den Sozialismus zu halten). Aber hatte ich irgendetwas dafür getan, eine Reisegruppe zu finden? Nein. Ich hatte im Internet ein bisschen herumgesucht, und jedem, der es irgendwie hören wollte, hatte ich erzählt, wie schwierig es war, eine Reisegruppe für einen Trip nach Europa zu finden.

Einmal traf es eine Journalistin, der ich auf einem Rockkonzert zufällig über den Weg lief. Sie sagte, sie interessiere sich für die Idee hinter meinen Videos, ob ich dazu nicht etwas sagen könne. Ich war angetrunken, also sprach ich lieber ausgiebig darüber, dass es mir nicht gelang, eine Europareise zu buchen. Sie lachte: Sie kenne einen Reiseleiter, sagte sie, vielleicht würde der mir helfen können. In welchen Reisebüros ich denn bisher gewesen sei? Ich schluckte: Reisebüros?

Es dauerte ein paar Tage, bis ich endlich meinen Weg in ein Reisebüro fand. »Nordreisen« oder »North Travel International«, wie es auf Englisch hieß, lag zwar nicht weit von meinem Hotel entfernt, aber es war zwischen Imbissbuden und Geschäften derartig gut versteckt, dass man es nur allzu leicht übersehen konnte.

Nachdem ich mich durch einen Eingang gezwängt hatte, der mehr Spalt als Tür war, stand ich vor einem Tresen. An den Wänden glänzten Wasserfälle und Strände, und überall wiesen Werbetafeln darauf hin, dass dies die LETZTE und wirklich ALLERLETZTE Möglichkeit sei, einen BESONDERS GUTEN PREIS zu erhaschen. Die Decke war niedrig und der Raum so eng, dass ich das Bedürfnis verspürte, möglichst schnell einen Urlaub zu buchen, nur um wieder aus diesem Reisebüro herauszukommen.

Ich war nicht der einzige Kunde. Neben mir stand ein Mann mit einer Herrenhandtasche, der in ein Gespräch mit zwei Damen verwickelt war. Eine der beiden lächelte mich entschuldigend an, dann wandte sie sich wieder an den Mann.

»Nur Sie allein?«, wollte sie wissen.

Er nickte: »Fünf Tage.«

»Wissen Sie, das Problem ist, dass wir in die Provinz Yunnan keine einzelnen Herren mitnehmen dürfen. So ist leider die Regelung!«

»Oh«, machte der einzelne Herr und wand sich noch ein bisschen, dann verließ er kleinlaut das Reisebüro.

»Warum dürfen Männer nicht allein nach Yunnan?«, fragte ich und versuchte mir vorzustellen, was alles an Übertretungen stattgefunden haben musste, dass zu solch drastischen Maßnahmen gegriffen wurde.

Die Dame zuckte mit den Schultern: »Männer kaufen nichts.«

»Aber was sollen sie denn kaufen?«

»Alles Mögliche.«

Es stellte sich als rein kaufmännisches Problem heraus: Allein reisende Frauen gaben Geld aus – für Souvenirs, Luxusartikel und Unterhaltungsangebote. Männer, die mit ihren Frauen zusammen verreisten, gaben ebenfalls Geld aus – um die Wünsche ihrer Partnerinnen zu erfüllen. Wenn jedoch Männer allein verreisten, dann guckten sie sich alles an und machten von allem eifrig Fotos, gaben aber fast kein Geld aus. Aus diesem Grund waren sie bei den meisten Veranstaltern, die sich gegenseitig preislich unterboten und ihr Geld dann bei den »Extras« wieder hereinzuholen versuchten, überaus unbeliebt oder gleich ganz verboten.

Als die Dame meinen fragenden Blick bemerkte, winkte sie ab: »Das ist eine ganz allgemeine Regelung, hat überhaupt nichts mit unserer Firma zu tun!«

Dann schien ihr noch etwas einzufallen: »Wohin genau möchten Sie denn eigentlich in Yunnan?«

»Ich? Aber ich will doch gar nicht nach Yunnan!«

»Aber Sie haben doch nach Yunnan gefragt!«

»Ich wollte nur wissen, warum der Herr von vorhin nicht allein dorthin fahren darf.«

»Aber das darf er ja!«

»Nur nicht mit Ihrem Veranstalter?«

»Nur nicht mit unserem Veranstalter.«

»Weil er dort nichts kauft?«

»Weil … wegen der REGELUNG!« Sie überlegte einen Moment. »Was wollen Sie überhaupt hier? Möchten Sie mit uns eine Reise machen?«

»Ja.«

»Und wohin?«

»Nach Europa.«

»Nach … und wo kommen Sie her?«

»Aus Deutschland.«

»Aber Deutschland liegt doch mitten in Europa! Warum will denn bitte schön ein Europäer eine Reise von China aus nach Europa machen?«

Da war sie, die Frage, vor der ich mich gefürchtet hatte. Alle im Raum starrten mich an, während ich versuchte, in meinem Kopf die Ausreden zu sortieren: Ich würde sagen, dass ich mein ganzes Leben lang im Ausland gewohnt hätte und dass es jetzt an der Zeit sei, endlich einmal die Heimat zu sehen. Außerdem fühlte ich mich in China derartig zu Hause, dass ich mir einfach nicht vorstellen könne, ohne Chinesen nach Deutschland zu fahren!

»Also«, fing ich an, »es ist so, dass ich vielleicht ein Buch schreiben will, und …«

»Sie sind Journalist?«

»Nein, ich schreibe Reisebücher, aber für dieses Buch habe ich noch nicht einmal einen Vertrag unterschrieben, es ist quasi nur so eine Idee …«

Ich bekam skeptische Blicke und eine Visitenkarte, dann wurde ich mit dem Versprechen entlassen, dass mich das Team von Nordreisen benachrichtigen werde, sobald eine passende Reisegruppe gefunden sei.

Ich hörte nie wieder etwas von ihnen.

Mit dem Gefühl, bereits unheimlich viel erreicht zu haben, kehrte ich zu meiner Lieblingsbeschäftigung zurück: dem Spazierengehen durch das eisige Grau von Beijing. Ich hatte einen Park nicht weit von meinem Hotel entdeckt, in dem es einen kleinen Kanal und einige Bäume gab, zwischen denen es still war. Das gefiel mir. Stille war Luxus geworden in den Städten Chinas, die unentwegt die Massen aus ihrem Umland in sich aufsogen und auf ihre Straßen hinausspien.

Ich war nicht der einzige Spaziergänger. Außer Rentnergruppen gab es noch viele einzelne Männer, die scheinbar ziellos im Park herumschlenderten. Einmal blieb ich auf einer Lichtung stehen, und jemand trat zu mir. Er sah aus wie ein Geschäftsmann. Wir standen nebeneinander und blickten ins Leere, ohne einen Ton zu sagen. Irgendwann ging er weiter, und es dauerte einen ganzen Tag, bis ich verstand, was er wahrscheinlich gewollt hatte.

Es war am nächsten Morgen, ich ging wieder in dem kleinen Park spazieren. Diesmal schlenderte ich zwischen den Rentnern am Kanal entlang und dachte über den Inhalt eines neuen Videos nach – als mir ein junger Mann entgegenkam.

»Hello«, sagte er auf Englisch, und ich antwortete mit »Hello«.

Dabei beließ ich es. Ich war mit meinen Gedanken bei dem Text für mein Video. Ich wollte darüber sprechen, dass im chinesischen Internet politische Gedanken gnadenlos zensiert wurden, während man Bilder und Videos von brutaler Gewalt oft einfach stehen ließ.

Nach einer Weile kam mir der junge Mann wieder entgegen, und um nicht unhöflich zu erscheinen, lächelte ich ihm zu. Ah, wir haben uns doch eben schon einmal gesehen!, sagte mein Lächeln.

Er lächelte zurück.

»Excuse me«, fragte er dann, »are you gay?«

Der Park war ein Treffpunkt der Schwulenszene, und jeder wusste es – außer den Rentnern und mir.

Als ich einer Freundin namens Yuanyuan begeistert von dieser Entdeckung erzählte, unterbrach sie mich: »Solltest du dich nicht lieber darum kümmern, eine Reisegruppe zu finden? Dafür bist du doch hergekommen!«

Yuanyuan war chefig. Ich hatte sie bei einem Meet & greet zur Veröffentlichung meines letzten Buches kennengelernt. Sie arbeitete in einem Zeitschriftenverlag, aber viel lieber trieb sie sich im Westen des Landes herum, wo sie von Ort zu Ort driftete. Ich mochte sie, denn sie war klug, witzig und ohne falsche Höflichkeit.

»Was willst du denn überhaupt in einem Reisebüro?«, brummte sie, als ich ihr von meinem Problem erzählte. »Heutzutage bucht doch keiner mehr da, das läuft alles übers Internet!«

Am nächsten Tag bekam ich eine Nachricht von ihr: 13 TAGE EUROPA – 14 000 YUAN (das entsprach etwa eintausendachthundert Euro) – DEUTSCHLAND, ITALIEN, SCHWEIZ, FRANKREICH – AM CHINESISCHEN NEUJAHRSTAG ZURÜCK NACH BEIJING. OKAY?

Ich bat um etwas Bedenkzeit, worauf ich als Antwort ein stirnrunzelndes Smiley erhielt. Dann ging ich in den Park, um zu überlegen. An diesem Tag war es kälter als sonst, und trotzdem waren sie alle da, die Rentnergrüppchen und die diskret herumschlendernden Männer. Eigentlich hatte Yuanyuan ja völlig recht: Es gab nichts zu überlegen. Ich wollte mit einer chinesischen Reisegruppe nach Europa, und da war eine. Warum sollte ich eine andere wollen?

Ich blieb noch eine Weile, bis ich durchgefroren war, dann kehrte ich in die stickige Wärme meines Hotels zurück und schickte ihr eine Nachricht: Ja, ich wollte die Reise.

Gut, kam als Antwort zurück, sie habe schon gebucht. Das Geld könne ich ihr dann bei Gelegenheit wiedergeben. Ich ging zum Fenster, schob den Vorhang beiseite und spähte durch einen Spalt in der Reklametafel hinaus auf die Straße. Ich hatte meine Reisegruppe! Es war kaum zu glauben.

Doch ganz so einfach war es dann doch nicht. Yuanyuan teilte mir mit, jemand vom Reisebüro habe bei ihr angerufen, um noch etwas mit der Anmeldung zu klären. Dabei habe sich herausgestellt, dass ich erkannt worden war.

»Wie denn das?«

»Irgendwer dort hat dein Buch gelesen. Du bist eben berühmt!« Sie lachte, und es hörte sich ein bisschen schadenfroh an und auch ein wenig spöttisch.

»Und was bedeutet das jetzt?«

»Was weiß ich denn? Nichts, glaube ich. Sie wollten nur genauer wissen, was du vorhast.«

Kurz darauf rief die Journalistin an, die ich angetrunken auf dem Rockkonzert kennengelernt hatte. »Stell dir vor, die Welt ist ja so klein!«, gluckste sie, und irgendwie ahnte ich bereits, was sie sagen würde. »Es ist kaum zu glauben, aber der Leiter von deiner Reisegruppe ist genau DER Freund, den ich für dich um Hilfe bitten wollte! Er hat mich gerade angerufen.«

»Ach was!«, sagte ich und versuchte, es nicht zu sehr wie »Scheiße« klingen zu lassen.

»Ja, witzig, oder? Das Problem ist aber: Er hat ein bisschen Angst!«

»Angst? Wovor denn?«

»Na, vor dir! Davor, dass du schlechte Sachen über ihn und seine Firma schreiben könntest.«

»Ach was!«

Ein paar Tage später saß ich in einem Restaurant einem gewissen Reiseleiter Huang gegenüber. Leider hatte ich es irgendwie geschafft, mich zu verlaufen und eine halbe Stunde zu spät zu kommen. Ich war untröstlich.

»Ist schon okay«, sagte er auf Deutsch, wobei er jede Silbe einzeln betonte. Er machte eine einladende Handbewegung über den Tisch hinweg: Es gab Entenscheibchen mit kross gebratener Haut, dazu Lauchzwiebeln und eine dunkle Soße. Das Ganze wurde in hauchdünne Pfannkuchen gerollt.

»Traditionelle Pekingente«, sagte er und lächelte.

Er trug einen Bürstenhaarschnitt und Brille, und es stellte sich heraus, dass er Panzer und Kampfflugzeuge ebenso liebte wie das Wort »korrekt«, welches er sehr korrekt aussprach. Er war mir sofort sympathisch.

»Weißt du«, sagte er, »die chinesische Reisebranche ist ein ganz schön schwieriges Geschäft. Die Leute wollen immer nur das günstigste Angebot haben. Deshalb unterbieten sich die Veranstalter mit den Preisen. Aber irgendwo muss das Geld ja herkommen!«

»Extras«, sagte ich und nickte bedeutungsvoll. Seit meinem Gespräch mit den Leuten von Nordreisen wusste ich ja, wie das Ganze funktionierte.

»Genau, Extras. Du bezahlst einen Preis, um irgendwo hinzufahren, und wenn du dann erst mal da bist, gehst du einkaufen oder beteiligst dich an Aktivitäten wie Bootsfahrten oder Führungen. Und der Reiseveranstalter verdient daran.«

»Und wenn die Leute das nicht wollen?«

»Ach was! Wir Chinesen kaufen unheimlich gern ein, das müsstest du doch wissen! Und was die Aktivitäten angeht: Wir lassen wirklich nur höchst selten eine Gelegenheit aus, um uns an einem interessanten Ort selbst zu fotografieren.« Er lachte: »Ein Selfie machen, das sagt man doch so, oder?«

Fast zehn Jahre war es her, seit Huang nach Deutschland gegangen war, genauer gesagt: nach Köln. Eigentlich wollte er Informatiker werden, doch das Studium langweilte ihn, und ein Praktikum stellte sich als Albtraum heraus. Eines Tages fragte ihn dann ein Freund, ob er eine Reisegruppe aus der Heimat herumführen könnte, gegen Bezahlung natürlich. Informatikstudent Huang hielt sich selbst zwar für eher schüchtern, doch andererseits interessierte er sich für Geschichte, besonders für alles, was mit Militär zu tun hatte, und davon gab es in Europa reichlich. Also nahm er das Angebot an. Er führte seine erste Reisegruppe herum und dann seine zweite und seine dritte. Irgendwann schmiss er das Studium, denn er hatte gemerkt, dass aus Informatikstudent Huang längst Reiseleiter Huang geworden war.

»Und damit bin ich ganz zufrieden!«, sagte er und grinste.

Dann wurde er ernst: »Weißt du, der Grund, warum ich dich gern vor der Reise treffen wollte, liegt darin, dass ich mir ein bisschen Sorgen mache, ob du nicht vielleicht zu negativ über uns schreiben wirst«, sagte er.

»Kein Problem, ich nenne weder dich noch die Firma beim Namen.«

»Ich meine die ganze Branche. Es gibt immer wieder Skandale um Reiseveranstalter, die ihre Kunden ausnehmen, und jedes Mal schädigt das unser Geschäft, selbst wenn wir gar nichts damit zu tun haben. Und außerdem sind wir gar nicht so wie die meisten anderen Veranstalter.«

»Wie seid ihr denn?«

»Das siehst du doch schon am Preis! Für deine Reise zahlst du bei uns vierzehntausend, oder? Die hättest du woanders auch für unter zehn haben können.«

»Weil man die Leute dort mehr Extras machen lässt?«

»Richtig. Bei uns ist das anders. Wir sparen auch nicht bei Bussen oder Hotels, und wir bieten nur Extras an, die fair sind. Wir behandeln unsere Kunden …« – er suchte nach dem passenden Wort – »korrekt.«

An diesem Abend kehrte ich erst spät in mein Hotel zurück. Als ich dort ankam, hatte der Elektromarkt längst zu, und die Einfahrt war durch ein fahrbares Gitter versperrt. In einer Kammer daneben saßen zwei Wachmänner. Ich konnte sie durch eine Scheibe sehen – sie schliefen, die Mützen tief in die Gesichter gezogen. Draußen war es eisig und still.

Ich stand eine Weile unschlüssig herum, bevor ich schließlich einen Pfiff ausstieß. Einer der beiden wachte auf und schob seine Mütze ein Stück hoch. Ich sah ihn träge nach einem Knopf tasten, und das Gitter begann, mit einem leisen Rumpeln zur Seite zu fahren.

Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ich in Beijing gar nicht auf die Idee gekommen, im Hotel zu wohnen. Ich hätte auf jeden Fall bei Freunden übernachtet, allein schon des Geldes wegen. Doch seit ein paar Jahren wurde wieder eine alte Vorschrift durchgesetzt, die früher niemanden interessiert hatte: Ausländische Gäste mussten innerhalb von vierundzwanzig Stunden bei der Polizei angemeldet werden, in einer Prozedur, die viel Papier und Geduld erforderte.

China war strenger geworden, seit der neue Vorsitzende Xi Jinping an die Macht gekommen war. Obwohl: Eigentlich hatte er sich eher mühsam zur Macht durchgerungen, in einem Vorgang, der für ihn und die Kommunistische Partei unendlich peinlich gewesen war.

Das Problem war, dass jeder Regierungswechsel in China eigentlich harmonisch abzulaufen hatte. Alle zehn Jahre kam eine neue Führungsgeneration an die Macht, gekürt aus den Reihen der Partei. Ohne Wahl. Ohne Presse. Ohne Streit. Auf diese Art waren die Wechsel ziemlich lange ziemlich geschmeidig über die Bühne gegangen, doch im Jahr 2012 geschah plötzlich das Undenkbare: Es gab zwei Kandidaten!

Es kam zu einem Machtkampf, in dessen Verlauf die Partei verzweifelt versuchte, zumindest nach außen den Anschein von Geschlossenheit aufrechtzuerhalten. Erfolglos. Am Ende landete einer der beiden Anwärter hinter Gittern, während der andere zum Chef von China wurde. Er hieß Xi Jinping, und die ganze Sache war für ihn und seine Partei vor allem deshalb so peinlich, weil der Rest der Welt alles mit angesehen hatte. Besonders auf Weibo war die Stimmung wie elektrisiert. Wir, die kleinen Nutzer mit unseren Notebooks und Smartphones, wir hatten das System in einem Moment der Schwäche erlebt, und wir fragten uns: War das nur so etwas wie ein Schnupfen, oder war es doch eher eine schwere Erkrankung?

Der neue Chef Xi reagierte, indem er sich zu einem starken Anführer ausrief. Mit Slogans fing es an. Einmal, es muss kurz nach seinem Machtantritt gewesen sein, kam ich nach Beijing, um Werbung für mein Buch zu machen, und rieb mir die Augen: Das ganze Land war mit neuer Propaganda vollgekleistert. KERNWERTE DES SOZIALISMUS stand da auf Brücken, Mauern und Fahnen und CHINESISCHER TRAUM. Alles in leuchtenden Farben. Es ging darum, dass China wieder zu einer Weltmacht werden sollte, am besten unter der Führung des neuen starken Mannes Xi Jinping.

Die Leute zuckten mit den Schultern.

»Du siehst ja wirklich alles!«, lachte ein Lektor aus meinem chinesischen Verlag spöttisch, als ich ihn auf ein Plakat mit den KERNWERTEN ansprach. Für ihn, wie für so viele andere, war es unsichtbar. »Es ist wie das Ticken einer Uhr – das hörst du auch nicht, wenn du nicht unbedingt willst, oder?«, erklärte er mir.

Xi Jinping erkannte dieses Problem ziemlich schnell und begann, einen Kult um seine Person aufzubauen. Fanclubs entstanden, Buchläden wurden mit Sammelausgaben seiner Reden überschwemmt, in den Nachrichten drehte sich alles um einen Namen: Xi Jinping, Xi Jinping, Xi Jinping.

Einmal ließ er sich beim Teigtaschenessen in einem Imbiss fotografieren – rein zufällig natürlich –, und die Medien begannen zu verbreiten, das Volk würde ihn zärtlich »Xi Dada« nennen, was »Papa Xi« oder »Onkel Xi« bedeuten konnte. Hinter seinem Rücken hatte er jedoch schon einen anderen, nicht ganz so schmeichelhaften Spitznamen: Teigtaschen-Xi.

Egal, wie man ihn nun nannte – Xi Jinping, Vorsitzender Xi, Xi Dada oder Teigtaschen-Xi –, er gab sich strenger als seine Vorgänger. Er begann eine Kampagne gegen Korruption, die das Land erschütterte. Seine harte Hand beschränkte sich jedoch nicht auf die Kontrolle der Staatsbediensteten. In meinem Bekanntenkreis gab es viele Journalisten, und fast alle stöhnten unter der Zensur und beschrieben ihren Job mehr und mehr als pure Propaganda. Auch die zart erblühende Meinungsvielfalt im Internet schien Xi Jinping nicht sehr zu gefallen. Wir auf Weibo waren unter den Ersten, die das zu spüren bekamen, denn es kam zu wahren Zensurorgien. Einträge wurden gelöscht, Nutzer verschwanden.

Außerdem merkte ich, dass es komplizierter wurde, ein Visum zu bekommen. Wo es früher reichte, wenn ich auf dem Antrag zwei oder drei Städte als ungefähre Route angab, wurde ich jetzt schon mal von der Visazentrale angerufen und zu meinen genauen Reiseplänen befragt.

Allgemein hatte ich den Eindruck, dass eine lähmende Stimmung über dem Land lag, eine Stimmung, in der niemand derjenige sein wollte, der zuerst einen Fehler machte.

Für mich bedeutete das, dass ich lieber dreißig Euro pro Nacht für ein Hotelzimmer bezahlte, anstatt umsonst bei Freunden zu wohnen. Ich wollte niemandem Ärger machen.

Es waren noch vier Tage bis zur Abfahrt. Reiseleiter Huang hatte mir erklärt, dass chinesische Gruppen immer mit Koffern verreisten, also stellte ich meinen Rucksack bei Freunden unter und ging in ein verwinkeltes Marktgebäude, um mir einen Koffer zu kaufen. Ich fand einen. Er war schwarz, konnte in alle Richtungen rollen, und er war sehr günstig. Ich bekam sogar noch einen Gepäckgurt dazu.

Dann zog ich mich auf mein Hotelbett zurück und studierte den Katalog des Reiseveranstalters. Zu meiner Überraschung war er voller Schweizer Uhren. Besonders auf den ersten Seiten hätte man meinen können, dass es gar nicht um Reisen in die Welt ging, sondern um Uhren aus der Schweiz: Nicole Kidman mit ernstem Blick und Schweizer Uhr. Es folgte ein Laden für Schweizer Uhren irgendwo in Paris sowie zwei Seiten mit Großaufnahmen von Schweizer Uhren. Dann kam Cameron Diaz mit nachdenklichem Blick und Schweizer Uhr, ein deutscher Uhrenladen, der anscheinend vor allem Schweizer Uhren verkaufte, und schließlich die Pariser Luxuskaufhäuser Printemps und Lafayette.

Ich blieb an den chinesischen Namen der beiden Geschäfte hängen: Das Printemps hieß Chuntian, also einfach »Frühling«, eine schöne, naheliegende Übersetzung. Das Lafayette jedoch hatte den Namen Laofoye erhalten, drei Zeichen, die »alt«, »Buddha« und »Großvater« bedeuteten, wobei »alt« und »Großvater« auch einfach Respektsbezeichnungen sein konnten. Erhabener Buddha? War das ein guter Name für ein Kaufhaus? Ich schlug den Begriff nach und stellte fest, dass es eine Anrede für Cixi, die mächtigste Frau der letzten Dynastie Chinas, gewesen war. Ein Kaufhaus mit dem Namen einer Fast-Kaiserin, das hörte sich doch wirklich nach Luxus an! Ich vermutete, dass es dort auch Schweizer Uhren zu kaufen gab.

Zur Sicherheit überprüfte ich noch einmal die Etappen meiner Reiseroute: Ja, die Schweiz war dabei. Und Paris mit dem Erhabenen Buddha und dem Frühling auch. Ich fühlte mich erleichtert.

Tatsächlich gab es in dem Katalog zwischen den ganzen Uhren aber auch jede nur erdenkliche Art von Reisen.

Bei ihrer ersten Fahrt ins Ausland, so hatte es mir Reiseleiter Huang erklärt, ging es für chinesische Touristen zumeist nach Korea, Japan oder Südostasien. Das war bezahlbar, und vor allem unterschied sich diese Art von Ausland nicht ganz so sehr von zu Hause. Als nächste Reiseziele kamen dann Amerika, Europa und Australien an die Reihe.

In dem Katalog gab es natürlich all das, aber es gab auch ausgefallenere Dinge: Es gab Fotosafaris nach Afrika und Expeditionen in die Polarmeere, es gab kulinarische Reisen und Fahrradtouren, es gab Kreuzfahrten und Intensivreisen (MEHR ZEIT AM EINZELNEN ORT), es gab Hochzeitsreisen (MEINE HOCHZEIT IN ÜBERSEE), und seit Neuestem gab es auch Bildungsreisen für Eltern mit Kindern (ENTDECKEN SIE IHR KIND, UND IHR KIND ENTDECKT SICH SELBST).

Meine Reise stand auf Seite 300, weit hinter den Uhren und den exklusiveren Angeboten. Die Rubrik hieß »Massenreisen«, was mir vom Klang her sehr gut gefiel. Aber was war das eigentlich genau, eine Massenreise? Unter der Überschrift stand ein erläuternder Satz: »Es gibt doch keine schönere Reise als die, bei der man für das gleiche Geld in der gleichen Zeit mehr zu sehen bekommt.« Mit anderen Worten: Hier gab es mehr fürs Geld. Das klang in der Tat verlockend.

Unsere Reise sollte dreizehn Tage dauern, und wir würden München, Venedig, Florenz, Pisa, Rom, Luzern, Paris, Frankfurt und eine »europäische Kleinstadt« zu sehen bekommen. Inbegriffen waren außerdem ein Direktflug mit einem luxuriösen Flugzeug, tägliche Mahlzeiten, Vier-Sterne-Hotelzimmer und Landschaften, die wie gemalt aussahen.

Luxuriös! Vier Sterne! Wie gemalt!

Ich blickte mich in meinem Zimmer um: Okay, es hatte wirklich keinen besonders guten Ausblick, aber dafür war es sauber, und es gab Internet. Außerdem war es großzügig geschnitten. Wenn ich so darüber nachdachte, dann wäre es in Deutschland wahrscheinlich etwas kleiner ausgefallen. Dort schienen Hotelzimmer allgemein weniger geräumig zu sein als hier, so wie auch die Autos kleiner waren. Wer fuhr schon in Deutschland mit einem Audi A8 in der Langversion durch die Gegend?

Mein Blick fiel auf die Visitenkarten, die vor der Tür auf dem Boden lagen. Jeden Tag fand ich sie dort, wie von Geisterhand durch den Türschlitz geschoben, immer drei oder vier Karten auf einmal. Ich brauchte sie nicht aufzuheben, um zu wissen, was auf ihnen stand, denn es waren sowieso immer die Telefonnummern von Prostituierten.

Wenn ich in China allein in einem Hotel abstieg, passierte das Gleiche, wie wenn ich in Hamburg meinen alten Golf am Straßenrand abstellte: Ich bekam Karten zugesteckt. In Deutschland standen auf den Karten Telefonnummern, unter denen ich mein Auto verkaufen konnte, in China waren es solche, unter denen ich mir Mädchen kommen lassen sollte.

Eigentlich war es ein Zeugnis für das Scheitern von Xi Dadas harter Hand: Egal, wie viele Massagesalons er von der Polizei ausheben ließ, und egal, wie viele Huren dabei verprügelt wurden, er konnte die Visitenkarten nicht verschwinden lassen. Nicht einmal mitten in der Hauptstadt, nur wenige Kilometer von seinem Amtssitz entfernt. Ich hatte das Gefühl, sie waren noch nicht einmal weniger geworden.

Ich fragte mich, wie meine Mitreisenden die Hotelzimmer in Europa finden würden. Zu klein? Zu alt? Zu wenig Unterhaltungsmöglichkeiten? Und ich fragte mich, ob jemand mit mir auf der Reise das Zimmer teilen würde. Bei der Anmeldung hatte es die Wahl gegeben zwischen Einzel- und Doppelzimmern. Yuanyuan hatte kurzerhand für mich entschieden: »Du willst die anderen doch kennenlernen!«, hatte sie gesagt und mich für ein geteiltes Zimmer eingetragen. Preislich hatte sich dadurch komischerweise nichts verändert.

Ich klappte den Reisekatalog zu und starrte auf einen Haufen Blätter, die ich unterschreiben sollte. Auf dem obersten waren noch einmal die Highlights unserer Reise aufgelistet: Da war wieder die Rede von dem »luxuriösen Flugzeug«, was auch immer das bedeuten mochte. Und es sollte ein italienisches Dinner geben, bei dem wir »gleichzeitig die Romantik Italiens und seine einzigartige kulinarische Kultur kennenlernen« würden. Nicht schlecht! Außerdem war die Rede von einem Ort, der sich geradezu fantastisch anhörte: »Unter blauem Himmel und weißen Wolken, von Dunst umhüllt, werfen milchfarbene Mauern güldenes Licht zurück, und graue Spitzen recken sich ins Firmament – dies ist Neuschwanstein, das Vorbild für Disneyland!«

Dann kamen ein paar Hinweise: Busfahrer in Europa seien gesetzlich zu Pausen verpflichtet. Trinkgelder seien allgemein üblich, man solle jedoch den Reiseleiter fragen, wie viel im Einzelfall angemessen sei. Außerdem gebe es fixe Extratrinkgelder für Fahrer und Fremdenführer (vier Euro pro Tag), die vom Reiseleiter eingesammelt würden. Allgemein sei Europa relativ sicher, in gewissen Ländern gebe es jedoch Probleme, man solle daher besonders an Touristenorten und im öffentlichen Verkehr auf seine Wertsachen achtgeben.

Dann kam ein langer Teil über Versicherungen und das Zurückerstatten von Steuern beim Einkaufen. Danach ein Teil über Risiken.

Das erste Risiko hatte erstaunlicherweise mit dem Essen zu tun: »Das Frühstück in italienischen Hotels ist mäßig. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist es eher spärlich und einfach. Normalerweise gibt es Brot, Kaffee, Tee und Fruchtsaft. Andere Länder, andere Sitten! Wir danken für Ihr Verständnis.«

Oha.

Und auch beim zweiten Risiko ging es ums Essen: »Das extra angebotene westliche Dinner wird nach ortsüblicher Art zubereitet. Sollte es daher nicht ganz dem Geschmack unserer Gäste entsprechen, bitten wir Sie, dies zu entschuldigen.«

Das dritte Risiko bestand darin, dass in der Hochsaison und zu Messezeiten oft keine Hotels in den Innenstädten zu finden seien, man werde in diesem Fall einfach etwas weiter außerhalb wohnen.

Und der letzte Risikohinweis besagte, dass jeder Reisende selbst auf seine Fitness achten sollte, wenn er sich für Aktivitäten wie Bergwanderungen oder Ballonfahrten entschied.

Ballonfahrten? Ich schlug noch einmal in unserer detaillierten Reisebeschreibung nach, doch von Ballonfahrten war dort keine Rede.

Es folgte ein Abschnitt über Pässe. Der Reiseveranstalter werde sich um die Visabeschaffung kümmern, hieß es, es könne jedoch trotzdem sein, dass jemand zum persönlichen Gespräch eingeladen oder ihm gar das Visum verweigert werde. Während der Reise würden alle Pässe vom Reiseleiter verwahrt werden, und auch nach der Reise bekomme man sie nicht sofort zurück, weil das jeweilige Konsulat, das das Visum ausgestellt habe, zuerst noch anhand der Flugtickets und der Pässe kontrollieren müsse, ob auch alle wieder zurückgekommen seien.

Dann kam der wirklich langweilige Teil: ein mehr als zwanzig Seiten langer Vertrag, der komplett aus Kleingedrucktem bestand. Es ging um die Rechte und Pflichten des Reisenden und die Rechte und Pflichten des Veranstalters. Es war grauenvoll. Ich blätterte darüber hinweg und blieb am Ende an einem Punkt hängen, der »Das nationale Ansehen bewahren« hieß.

»China ist eine alte Zivilisation«, stand da, »bitte seien Sie daher bei Auslandsreisen um höfliches Benehmen bemüht. Machen Sie an öffentlichen Orten bitte keinen Lärm, und rauchen Sie nicht. Bitte spucken Sie nicht auf den Boden, und werfen Sie auch keinen Müll achtlos weg. Bitte beschmieren Sie keine Sehenswürdigkeiten. Eltern werden gebeten, auf ihre Kinder zu achten: An Orten, an denen das Toben nicht gestattet ist, sollte nicht getobt, geschrien oder gerannt werden. Zünden Sie keine Feuerwerkskörper! Verzehren Sie in Bussen oder auf Schiffen bitte kein Obst und keine Melonenkerne, kein Eis und keine Hamburger, denn sonst kann es sein, dass der Fahrer die Fahrt abbricht oder Sie nicht mitfahren lässt.«

Für die Tischetikette war noch ein gesonderter Punkt reserviert: »Machen Sie beim Essen bitte keinen Lärm. Klimpern Sie nicht mit dem Besteck, spielen Sie keine Trinkspiele! Nehmen Sie Rücksicht auf Ihre Umgebung, indem Sie am Büfett Verschwendungen vermeiden: Essen Sie zuerst Ihren Teller leer, und nehmen Sie sich dann nach. Wenn man all die Speisen, die einem zusagen, für sich selbst zurücklegt, dann ist das ein unhöfliches und selbstsüchtiges Verhalten.«

Ich setzte meine Unterschrift darunter: Das nationale Ansehen würde bewahrt werden!

Am Abend der Abreise fuhr ich mit dem Taxi zum Flughafen. Der Fahrer war ein freundlicher Mann, der es genoss, sich zu unterhalten. Als er mich nach meinen Hobbys fragte und ich ihm sagte, dass ich gern zu Fuß durch die Welt ging, sah ich seine Augen im Rückspiegel aufblitzen. Er selbst sei ein begeisterter Radfahrer. Am liebsten gehe er mit seiner Tochter auf Tour, einmal seien sie bereits durch ganz China gefahren, von Beijing bis nach Guangdong! Als Taxifahrer verdiene er nicht viel Geld, aber er wünsche sich, dass sein Kind etwas von der Welt sehe.

Wie alt seine Tochter denn sei, wollte ich wissen.

Dreizehn, sagte er.

Als ich am Flughafen ankam, hatte ich noch zwei Stunden Zeit bis zum Treffen mit der Reisegruppe. Ich war mit Absicht früher gekommen, denn die Staus in Beijing waren unberechenbar, und ich wollte mich auf keinen Fall verspäten.

Außerdem machte es mir nichts aus, am Flughafen zu warten. Mir gefiel es, den umherschwirrenden Menschen zuzuschauen, mir gefiel die Vorstellung, bald irgendwo anders zu sein, und mir gefielen die surrenden Fahrsteige.

Ich setzte mich in ein Café und bestellte eine heiße Schokolade. Dann ein Stück Kuchen. Dann einen Limonentee. Dann klingelte mein Telefon. Reiseleiter Huang war am anderen Ende der Leitung: »Wo bleibst du?«

Ich hatte mich in der Zeit vertan. Alle anderen waren schon am Treffpunkt, nur einer fehlte: ich.

Na toll.

Es waren dreizehn Leute, die da in der Abflughalle unter dem Buchstaben D standen und auf mich warteten. Obwohl, eigentlich schien nur einer von ihnen auf mich zu warten: Reiseleiter Huang.

»Da bist du ja«, raunte er mir erleichtert zu.

Die anderen schienen mich ignorieren zu wollen. Sie blickten in die Luft oder auf ihre Schuhe, während sie einem Mann zuhörten, der noch einmal die Grundregeln der Reise erklärte: Wertsachen nicht im Hotelzimmer lassen, nie den Anschluss an die Gruppe verlieren, immer auf den Reiseleiter hören! Reiseleiter Huang nickte, während er auf einem Zettel unsere Namen abhakte.

Wir waren eine kleine Gruppe. Eigentlich hatte es geheißen, die Reise werde gar nicht erst zustande kommen, wenn wir nicht mindestens zwanzig Leute seien. Doch jetzt waren wir nur ein gutes Dutzend, und wir fuhren trotzdem.

Ich blickte mich um: Da waren ein paar Damen im mittleren Alter und eine, die etwas älter wirkte als die anderen. Es gab einen dicklichen, sehr groß gewachsenen Jungen um die zwanzig und ein paar Mädchen im gleichen Alter. Dann war da noch ein ernst aussehender Mann, der wirkte, als ob er auf Geschäftsreise wäre, und eine Frau mit ihrer kleinen Tochter. Die Tochter sah aus, als wäre sie ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt, und sie war die Einzige, die verstohlen zu mir herüberlinste. Als ich es mit einem Lächeln versuchte, blickte sie sofort woandershin.

Ich sah mich in der Halle um. In einiger Entfernung, unter dem Buchstaben E, stand noch eine andere Reisegruppe. Sie waren viel mehr als wir, sie machten großen Krach, und sie hatten jemanden dabei, der für sie eine Fahne schwenkte. Eine chinesische Reisegruppenfahne! Ich spürte Neid in mir aufwallen.

Als der Repräsentant unseres Reiseveranstalters mit seiner Ansprache fertig war, klatschte er in die Hände und übergab das Wort an Reiseleiter Huang. Dann wandte er sich an mich: Ob ich auch eine Erkennungsmarke an meinem Koffer haben wolle? Ich zuckte mit den Schultern und sagte, wenn die anderen welche hätten, dann würde ich natürlich auch eine wollen. Er grinste verschmitzt, als handele es sich um einen geheimen Scherz. Ich bekam meine Erkennungsmarke.

»Das hier ist Leike, er ist Teil unserer Reisegruppe«, sagte Reiseleiter Huang zu den anderen und zeigte auf mich.

Keine Reaktion.

»Er ist aus Deutschland«, versuchte er es noch einmal.

Nichts.

Ich lächelte und hob einen Daumen, um irgendwie mit Freundlichkeit und Optimismus in Verbindung gebracht zu werden. Das kleine Mädchen schielte zu mir herüber, der ernst aussehende Mann schaute mich durchdringend an. Sein Blick war noch eine Spur ernster als vorher.

Reiseleiter Huang checkte uns als Gruppe ein, die Passkontrolle und die Sicherheitschecks danach mussten wir allein bestehen. Die Grenzbeamten waren jung und hatten strenge Gesichter. Ein Schild wies darauf hin, dass es verboten war zu fotografieren. Als die Reihe an mich kam, trat ich an den Schalter und händigte meinen Pass aus. Der Beamte blickte mich flüchtig an und blätterte dann eine Weile durch die Seiten.

»Verzeihung, dass ich nicht das aktuelle Visum aufgeschlagen habe«, sagte ich. Begegnungen mit der Staatsmacht bereiteten mir immer ein unangenehmes Gefühl.

»Moment mal« – er hob den Blick –, »dich kenne ich doch!«

Ich fühlte, wie ich bleich wurde.

»Du bist Leike, oder?«

»Ja, schon…«, stammelte ich.

»Deine Videos gefallen mir gut.« Er drückte mir einen Stempel in meinen Pass und gab ihn mir lächelnd zurück. »Weiter so!«

Als wir durch alle Kontrollen hindurch waren, verstreute sich die Gruppe. Ich hatte das Gefühl, als ob die anderen kreisförmig von mir fortstrebten, wie Wellen in einem Teich, nachdem man einen Stein hineingeworfen hatte. Und ich war der Stein.

Ich suchte mir einen Sitzplatz und begann, Tagebuch zu schreiben. Ich war noch nicht mit dem Wort »Scheißgruppe« fertig, als sich Reiseleiter Huang zu mir setzte.

»Die meisten sind Mütter mit ihren Kindern«, sagte er und zeigte in Richtung der anderen. »Alles Mittelklasse, insgesamt eine kleine, ruhige Gruppe. Wird bestimmt ganz entspannt!«

Ich lächelte und versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ich wollte keine entspannte Reise. Und schon gar nicht wollte ich eine Reise mit Leuten, die vor mir wegrannten.



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