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Beschreibung

Es gibt nur das Hier, das Jetzt und eine weit entfernte Vergangenheit, als das Erwachsenwerden noch undenkbar war. Als sie sich über den Dächern New Yorks wiedertreffen, waren Sarah und Josh bereits zweimal da angelangt, wo jeder Liebesfilm den Abspann gezeigt hätte. Doch nach dem Happy End geht das Leben einfach weiter, und während es Sarah ans andere Ende des Kontinents verschlagen hat, ist Josh mittlerweile mit der Enkelin des einflussreichen Namenspartners seiner Anwaltskanzlei verlobt. Haben sie den richtigen Zeitpunkt für ihre Liebe endgültig verpasst? Gab es je den richtigen Zeitpunkt? Oder ist es die Summe der Momente, die die große Liebe ausmacht?  

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The Moments I loved you

Laura Janus

1

Greenglade – New Haven – New York – San Francisco

Dezember 2011 – 26 Jahre

Die Stadt versinkt im Chaos.

In einer Woche ist Heiligabend. Menschenmassen strömen mit entschlossenen Gesichtern in die Feinkostabteilungen der Geschäfte und verlassen sie abgekämpft mit Wagenladungen an Lebensmitteln, als würde es morgen nichts mehr zu kaufen geben. In den Spielzeugläden stehen quengelnde Kinder vor den Regalen und verlangen vom Weihnachtsmann, was die Fernsehwerbung ihnen versprochen hat; verzweifelte Männer suchen in der Schmuckabteilung nach dem ›Nichts‹, das ihre Partnerin sich wünscht. Überall wird man von All I Want For Christmas Is You beschallt. Und der Höhepunkt des Wahnsinns ist noch nicht einmal erreicht.

Noch lässt der Schnee auf sich warten, aber lange kann es nicht mehr dauern. Graue Wolken ziehen sich dicht über den Spitzen der weltberühmten Skyline des Big Apple zusammen und trüben das ohnehin schon spärliche Licht des Nachmittags. Wie jeden Monat habe ich eine Woche lang die atemberaubende Aussicht aus den Panoramafenstern der Niederlassung von Houghe Industries in San Francisco gegen den Blick über die Häuserschluchten und künstlichen Lichter der Stadt, die niemals schläft, eingetauscht. Aus dem Fenster des altehrwürdigen Bürogebäudes, in dem die Vorstandsbüros des Unternehmens im zwölften Stock angesiedelt sind, beobachte ich das Verkehrschaos. Rote und weiße Lichter schieben sich im Schneckentempo durch die Häuserschluchten, während die Autofahrer ihrem Unmut über die anderen Verkehrsteilnehmer mit einem stetigen Hupkonzert Luft machen.

Angesichts der verstopften Straßen sollte ich vielleicht eine halbe Stunde früher aufbrechen, um meinen Flug nach Hause auf jeden Fall zu kriegen. In diesem Moment klopft es am Rahmen der offenen Tür, und Valerie lehnt sich mit verschränkten Armen in das Büro.

»Bei mir ist gerade deine E-Mail mit der Umbuchungsanfrage für deinen Rückflug auf dem Bildschirm gelandet«, erklärt sie. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Unzufriedenheit.

Meine Hoffnung auf einen früheren Heimflug schwindet. Ich bin bereit, meinen Sitz in der Business Class morgen Vormittag gegen einen in der Economy Class einzutauschen, wenn ich schon heute Abend abreisen kann. Die Umbuchung ist kostenfrei, ich muss lediglich meine Vorgesetzte von meinem Vorhaben überzeugen. In meiner Position bei Houghe Industriesbin ich keiner Abteilung zugeordnet und unterstehe direkt dem Management. Die Entscheidung über meine Reisekosten trifft Valerie Houghe, die Konzernchefin höchstpersönlich, und sie hat anscheinend entschieden, den kostengünstigeren Heimflug heute Abend abzulehnen.

»Sarah, die Weihnachtsfeier ist Tradition in dieser Firma. Wir wollen uns bei allen Beschäftigten für die hervorragende Arbeit bedanken. Sie stärkt den Zusammenhalt innerhalb der Teams. So leid es mir tut, aber ich will, dass du teilnimmst.«

Ich mustere sie unwillig, doch Valerie wirkt unnachgiebig. Dabei weiß sie genau, warum ich solchen Events aus dem Weg gehe. Letztes Jahr hat sie noch zugelassen, dass ich mich mit einer Ausrede habe entschuldigen können.

Aber ich muss mir eingestehen, dass Valerie recht hat. Wie lange soll ich mich noch davor drücken? »Na schön. Dann fliege ich eben morgen.«

»So schlimm wird es schon nicht werden.« Sie lächelt ermutigend. »Nicht vergessen, Dresscode: festlich. Mach früher Feierabend, falls du nichts Passendes im Koffer hast.«

Valerie kann ein liebenswürdiger Tyrann sein.

Natürlich habe ich kein Kleid für die Weihnachtsfeier dabei, immerhin habe ich gehofft, Valerie würde mich auch dieses Jahr verschonen. Viel Zeit bleibt mir nicht, um die passende Abendgarderobe zu finden.Deshalb beeile ich mich, das Prozessdiagramm, an dem ich gerade arbeite, fertigzustellen und es zur Prüfung an Valerie zu versenden. Schließlich klappe ich mein Notebook zu und verstaue es in meinem Reisekoffer.

Frustriert begebe ich mich kurze Zeit später in den New Yorker Weihnachtswahnsinn, den ich eigentlich hatte meiden wollen. Die Shoppingtour lenkt mich von dem flauen Gefühl in meinem Bauch ab – allerdings nicht im positiven Sinn. Die Kaufhäuser sind völlig überlaufen, die Verkäufer gestresst, und ich, die ohnehin nicht gern shoppen geht, stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Was trägt man denn Festliches auf einer Weihnachtsfeier? Weihnachtsmannrot? Tannengrün? Bedeutet ›festlich‹ womöglich ›bodenlang‹?

Ich probiere einige Kleider an, die ich bei den Restposten in einem der großen Kaufhäuser finde. Keines der Stücke hat die Bezeichnung ›festlich‹ verdient. Ob ich doch eines meiner Arbeitsoutfits tragen kann? Wohl kaum, Valeries expliziter Hinweis war deutlich genug.

Für Geheimtipps oder Ausweichmöglichkeiten abseits der großen Shopping Malls kenne ich mich hier nicht gut genug aus. Eine Art kleines Weihnachtswunder muss her.

Zum Glück kenne ich die Person, die es herbeizaubern kann.

Das Smartphone zwischen Kopf und Schulter geklemmt, krame ich aus meinem Portemonnaie eine alte abgegriffene Visitenkarte aus edlem, rauen Strukturpapier. Wie lange habe ich diesen Anschluss nicht mehr angewählt? Es kostet mich einige Überwindung, die Nummer einzutippen und schließlich die Wahltaste zu drücken, während ich mich in eine halbwegs ruhige Ecke des überfüllten Kaufhauses zurückziehe. Ich lausche dem Wählton und dem anschließenden Freizeichen und hoffe, dass die Person am anderen Ende der Leitung mich noch nicht vergessen hat.

2

Greenglade – New Haven – New York – San Francisco

Mai 1996 – 11 Jahre

Meine erste Erfahrung mit dem Verliebtsein machte ich in der fünften Klasse.

Meine Englischlehrerin Mrs. Green hatte uns aufgegeben, einen Aufsatz über das letzte Buch zu schreiben, das uns zum Nachdenken gebracht hatte. Im Fernsehen war kurz zuvor eine ältere Verfilmung von Romeo und Julia gezeigt worden, die ich zusammen mit Mom gesehen hatte. Mom hatte ihren Bildungsauftrag wahrgenommen und mir daraufhin aus ihrer persönlichen Literatursammlung ein Exemplar mit Shakespeares Werken zur Verfügung gestellt. Bücher gehörten zu meinen Leidenschaften, seit ich denken konnte, und auch von bedeutenden Werken ließ ich mich nicht abschrecken. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, fühlte ich mich in Sachen Liebe ernüchtert – und zögerte nicht, dies in meinem Aufsatz kundzutun.

Happy End für Romeo und Julia?

Romeo verliebt sich in Julia und Julia in Romeo. Um gegen den Willen ihrer verfeindeten Familien zusammen sein zu können, schmiedet Julia mit Hilfe von Pater Lorenz einen Plan. Pater Lorenz schreibt Romeo einen Brief, in dem steht, dass Julia ihren Tod vortäuscht, damit sie mit Romeo weglaufen kann. Ein unglücklicher Zufall verhindert, dass Romeo den Brief erhält, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Wäre der Brief bei Romeo angekommen, wäre das größte Liebespaar aller Zeiten für immer zusammen gewesen.

Wäre das ein Happy End? Beide sind ja erst Teenager. Woher sollen sie wissen, was Liebe ist? Sie kennen sich eigentlich gar nicht, aber wer wäre auch gern mit einem Trauerkloß wie Romeo befreundet, der immer schlecht drauf ist? Außerdem ist er oberflächlich und sucht seine Freundin danach aus, ob sie hübsch ist. Julias Vorgängerin Rosalinde fand er nur schön und nicht klug oder lustig.

Eigentlich soll Julia ja den Grafen Paris heiraten. Der hat Geld, und sie muss niemals arbeiten. Wenn sie mit Romeo wegläuft, sind sie arm. Geld macht nicht glücklich, aber man sollte trotzdem welches haben, wenigstens für Essen, Trinken und Kino. Freunde machen glücklich, aber ihre Freunde sind ja alle zu Hause in Verona geblieben oder tot.

Wenn sie geheiratet haben, müssen Romeo und Julia zusammenbleiben. Irgendwann werden sie erwachsen und seltsam. Jeden Samstag muss saubergemacht werden. Julia will, dass alles ordentlich ist, falls Besuch kommt. Romeo geht lieber in sein Arbeitszimmer, als beim Aufräumen zu helfen. Dann streiten die beiden manchmal bis zum Nachmittag, und danach geht Julia einkaufen. Dafür braucht sie auch Geld. Wenn er sich traut, schimpft Romeo abends über die neuen Schuhe. Aber meistens traut er sich nicht und ist froh, wenn Julia wieder bessere Laune hat.

Verheiratet zu sein ist nämlich gar nicht so einfach. Das sollte man sich gut überlegen. Romeo und Julia denken aber gar nicht nach, weil sie so verliebt sind. Pater Lorenz sagt, die Liebe junger Leute sitzt wohl bloß in ihren Augen und nicht in ihrem Herzen. Damit meint er, dass die beiden nur auf das Aussehen achten. Das ist keine gute Idee, wenn man nicht aus Versehen einen Psychologen heiraten will.

Vielleicht geht auch alles schief, weil sie keinen ordentlichen Plan haben. Hätten sie mal darüber nachgedacht, was es heißt, von zu Hause wegzulaufen, müssten sie nicht verhungern. Aber wenn der Plan funktioniert, gibt es dann doch ein Happy End?

Liebe macht blind, sagt man. Dann ist es bei Romeo und Julia Liebe, aber ganz bestimmt kein Happy End. Die Geschichte ihrer Ehe wäre eine eigene Tragödie. Gut, dass Shakespeare keine Fortsetzung geschrieben hat. Romeo und Julia 2 wäre wahrscheinlich ein Flop geworden. Denn wer will schon ein Buch oder Theaterstück über das wahre Leben lesen?

Zu meinem Entsetzen überreichte mir Mrs. Green neben meinem Aufsatz auch einen Brief für meine Eltern, in dem sie um ein Gespräch bat.

Dabei hatte ich mich ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt!

Jetzt stand ich in unserer Küche und wartete auf Dads Reaktion.

Dad sah mich über den Rand des Briefbogens, den er in der Hand hielt, an. Er maß mich mit einem undefinierbaren Blick, ehe er Mom das Schreiben reichte. Eine Einladung zum Lehrergespräch war ein Grund für ein schlechtes Gewissen, oder? Jetzt sollte ich den Kopf sinken lassen, um zumindest etwas geknickt zu wirken, doch ein Grinsen umspielte Dads Mundwinkel, das er nicht unterdrücken konnte. Da ich noch nicht wusste, wie Mom reagieren würde, musste ich mir das Kichern verkneifen.

Mein Vater war Anfang vierzig. Er galt wohl als gutaussehend, denn mir war aufgefallen, wie unsere frisch geschiedene Nachbarin ihn anlächelte und in Gespräche über Gartenpartys, Country-Clubs und Müllabfuhrzeiten verwickelte. Richard Johnson stellte die ersten grauen Strähnen an den Schläfen in seinem sonst vollen braunen Haar mit viel Würde zur Schau. Sein markantes Gesicht war an Augen und Mundwinkeln von kleineren Fältchen durchzogen. Die hatte er, behauptete er, weil Mom ihn oft zum Lachen brachte. Zurzeit trug er einen Dreitagebart, der von einer intensiven Schreibphase herrührte. Mom sah in diesen Phasen über gelegentliche Ausfälle bei der Körperpflege hinweg und sorgte lediglich für ein Minimum an Hygiene, Nahrungsaufnahme und Schlaf – sofern es sich mit seinen Arbeitszeiten am Computer vereinbaren ließ.

Mom runzelte die Stirn, als sie den Brief überflog. Dad gab sich alle Mühe, ernst zu bleiben. Schließlich ließ sie das Blatt sinken. »Sarah, was ist das?«

»Eine Einladung zum Lehrergespräch«, erklärte ich und bemühte mich um einen betretenen Gesichtsausdruck.

Mom und Dad tauschten einen Blick. Dad unterdrückte nur mit Anstrengung ein Schmunzeln, während Mom es bei einem zuckenden Mundwinkel beließ. »Wegen eines Aufsatzes?«

Hinter mir hörte ich ein belustigtes Schnauben. Aufgebracht drehte ich mich um. »Du musst gerade lachen, Max. Wie oft musstest du schon zum Direktor?«

Mein älterer Bruder lehnte entspannt mit verschränkten Armen im Türrahmen zur Küche. Er musste gerade von der Schule gekommen sein und wollte sich das Schauspiel offensichtlich nicht entgehen lassen. Jetzt grinste er auch noch schadenfroh, weil seine sonst so brave Schwester einen Brief von der Schule erhalten hatte.

Er zuckte mit den Schultern. »Dieses Jahr waren wir erst zweimal dort.«

Nun runzelte Mom ungehalten die Stirn. »Ihr habt Glück, dass noch kein Vorfall in euren Schülerakten gelandet ist. Du bist nicht unbedingt ein Vorbild für deine Schwester.« Ihr Blick wanderte zurück zu mir. »Was steht in diesem Aufsatz?«

Seufzend holte ich meinen Rucksack, um die Blätter herauszuziehen. Dabei musste ich mich an Max vorbeizwängen, der mich im Vorbeigehen in die Seite knuffte. Als ich ihn ärgerlich ansah, zwinkerte er mir zu. »Keine Angst, Sarahlein, Josh und ich haben jede Menge Erfahrung mit der Schulleitung. Die haben ganz andere Sorgen als deine Streberaufsätze.«

»Darüber entscheidest nicht du«, sagte Mom streng.

Max verdrehte nur die Augen.

Ich reichte Dad den Aufsatz, und er las. Mom trank einen Schluck von ihrem Kaffee, dann hob sie die Augenbrauen und sah fragend in Max’ Richtung. »Hast du keine Hausaufgaben zu erledigen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Doch, massig. Aber ich wüsste zu gern, was in diesem ominösen Aufsatz steht, der meiner kleinen braven Schwester ein Lehrergespräch eingebrockt hat.«

Mom schüttelte den Kopf. »Geh auf dein Zimmer. Du musst vor dem Karatetraining fertig sein, sonst sitzt du wieder bis Mitternacht.«

Max brummte, warf sich seinen Rucksack über die Schulter und schlenderte langsam in Richtung Treppe davon.

»Ich kontrolliere nachher, ob du alles gemacht hast«, rief Mom ihm noch hinterher. »Sonst schreibst du wieder bei Josh ab.«

»Warum soll ich mir die Mühe machen, wenn er ohnehin schon fertig ist?«, entgegnete Max vom Treppenabsatz. »Und vor allem alles richtig hat.«

Mom seufzte und schüttelte lächelnd den Kopf. Sie konnte Max nur selten widerstehen, wenn er sie so angrinste wie jetzt. Das Lächeln hatte er von ihr – und er wusste es einzusetzen, um nicht nur sie um den Finger zu wickeln. Er hatte eine natürliche Begabung, Menschen für sich einzunehmen. Überhaupt hatte Max in der Erbgutlotterie Glück gehabt: Er hatte Moms strahlend grüne Augen, die in Kombination mit seinem kastanienbraunen Haar auffielen. Im Gegensatz dazu war ich eher unscheinbar. Auch ich hatte Moms grüne Augen, ebenso wie ihr blondes Haar, das ich wegen seiner Naturwellen meistens in einem Zopf trug. Als hübsch hätte ich mich nicht bezeichnet, während Max definitiv als gutaussehend durchging – vor allem jetzt, da er in die Pubertät kam, im letzten Jahr bestimmt einen halben Meter in die Höhe geschossen war und durch das Karatetraining auch noch Muskeln bekam.

Dad las den Aufsatz schweigend durch. Mom räumte die Küche auf und nippte nebenher an ihrem Kaffee. Als Dad die Seiten schließlich auf der Theke ablegte, die Mom Sekunden zuvor abgewischt und abgetrocknet hatte, hatte ich mich noch keinen Zentimeter bewegt. Meine Hände waren vor Anspannung kalt geworden. Was, wenn ich doch etwas geschrieben hatte, was mir jetzt Ärger einbrachte?

Dad räusperte sich und schob die Blätter weiter Richtung Mom, damit auch sie einen Blick darauf werfen konnte. Dann griff er nach seiner Kaffeetasse – ›Bester Krimiautor-Dad der Welt‹, eine Kreation von Max und mir zu seinem achtunddreißigsten Geburtstag – trank einen Schluck und unterdrückte ein Schaudern, weil der Kaffee mittlerweile nur noch lauwarm war. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. »Für dein Alter ganz schön abgeklärt, obwohl man sicherlich an der einen oder anderen Formulierung noch arbeiten könnte. Und ich nehme an, du meinst ›Psychopath‹, nicht ›Psychologe‹.«

»Richard!« Mom seufzte, obwohl auch sie nur mit Mühe ein Lachen unterdrückte.

Erleichtert erwiderte ich Dads Blick. Anscheinend war er nicht sauer oder wütend oder, was am schlimmsten wäre, enttäuscht. Noch nie war ich mit einem Lehrer aneinandergeraten, außerdem brachte ich immer anständige Noten mit nach Hause. Als Max’ kleine Schwester hatte ich in der Schule eine gewisse Bürde zu tragen, weil ich hohe Erwartungen zu erfüllen hatte. Max war ein guter Schüler, der vor allem durch seine offene Art bestach und vielen Lehrern als witziger, charmanter Junge im Gedächtnis blieb. Nicht zuletzt im Gespann mit seinem besten Freund Josh, den er schon seit frühester Kindheit kannte, war er jedem Lehrer an unserer Schule auch nach seinem Wechsel an die Highschool noch ein Begriff. Was die schulischen Leistungen betraf, stand ich ihm in nichts nach. Leider hatte ich aber gar kein Talent darin, die Lehrer um den Finger zu wickeln. Bisher war das aber auch nicht nötig gewesen, weil ich normalerweise nichts anstellte.

Dad legte mir einen Arm um die Schultern und gab mir einen Kuss aufs Haar. »Soweit ich das sehe, hast du nichts falsch gemacht. Im Gegenteil, du hast wahrscheinlich frischen Wind in das etwas angestaubte Schulfach der englischen Literatur gebracht. Manche Lehrer mögen das nicht.« Er sah Mom an. »Was denkst du, Pat?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe auch nicht, was an diesem Aufsatz anstößig sein sollte. Lassen wir uns einfach überraschen.« Sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Du kannst Mrs. Green ausrichten, dass wir am Freitag für ein Gespräch zur Verfügung stehen.«

»Danke, Mom, Dad.« Ich wand mich aus Dads Umarmung. »Dann mach ich mal Hausaufgaben.«

»Das war wahrscheinlich die kürzeste Teenager-Rebellion der Geschichte«, sagte Dad zu Mom, während ich die Zettel wieder sorgfältig in meinem Rucksack verstaute.

Es klingelte, als ich gerade aus der Küche ging. Da die Haustür direkt rechts von mir lag und ich die Umrisse sofort erkannte, öffnete ich, ohne nachzudenken. »Hi Josh.«

»Hi Sarah.« Max’ bester Freund kam herein. Er hielt sich nicht groß mit mir auf. Er war oft hier und fühlte sich bei uns wie zu Hause. Im Gegenzug ging auch Max bei ihm ein und aus, wie es ihm beliebte. Die beiden hingen so häufig zusammen, dass unsere Eltern sie wie Brüder behandelten.

Josh blieb im Türrahmen der Küche stehen wie Max wenige Minuten vor ihm.

»Hallo Pat, hallo Richard!«, begrüßte er meine Eltern.

»Hey Josh«, antworteten beide fröhlich im Chor.

»Wie geht’s deiner Mutter?«, wollte Mom wissen. »Ich hab sie eine Weile nicht gesehen.«

Wenn Josh nichts lieber wollte, als sich in Max’ Zimmer zu verziehen, ließ er es sich nicht anmerken. »Sie hat wieder eine Deadline«, erklärte er geduldig. »Ich soll dich aber grüßen und fragen, ob ihr euch nach Mittwoch mal zum Kaffee treffen wollt.«

»Darüber würde ich mich sehr freuen«, antwortete Mom. »Bitte grüß sie auch von uns.«

Josh wandte sich zum Gehen, da rief sie ihm nach: »Lass Max nicht wieder alle Hausaufgaben abschreiben, ja?«

Er blieb stehen. »Max braucht keine Hilfe. Wir betreiben lediglich effiziente Arbeitsteilung.«

Mom und Dad hoben erstaunt die Augenbrauen. Einen Moment herrschte Stille, dann fragte Dad: »Wie sieht denn diese Arbeitsteilung aus?«

Josh erwiderte ihre Blicke ruhig. »Heute bin ich dran mit Mathe und Physik, dafür erledigt er Geschichte. Nächste Woche tauschen wir die Fächer. Wenn ich nicht verstehe, was er gemacht hat, erklärt er es mir und andersherum.«

Das war geflunkert. Josh erledigte seine Hausaufgaben häufig schon in der Schule zwischen den einzelnen Stunden, zumindest, wenn es Kleinigkeiten wie Mathe oder Naturwissenschaften waren. Meistens war er mit allem fertig, wenn er zu uns kam. Josh war so fleißig wie nötig, um der beste Schüler seines Jahrgangs zu sein. Er stellte Max seine Hausaufgaben gerne zur Verfügung, um in der gewonnenen Freizeit mit ihm Videospiele zu zocken. Anfangs war Mom von den regelmäßigen Zockerrunden nicht sonderlich begeistert gewesen, doch da Max’ Leistungen konstant gut waren, beließ sie es bei gelegentlichen mütterlichen Ermahnungen.

Josh warf mir einen Seitenblick zu. Er selbst hatte mir erzählt, dass er Max seine Hausaufgaben ohne jede Einschränkung überließ. Max’ einzige Aufgabe war es, Texte umzugestalten, damit kein direkter Zusammenhang zwischen ihren Arbeiten nachweisbar war.

Mir wäre im Traum nicht eingefallen, die beiden zu verpetzen. Obwohl Max und ich uns nicht seltener stritten als andere Geschwister, hielten wir gegenüber Erwachsenen meistens zusammen.

Dad grinste. »Lasst euch bloß nicht erwischen.«

Mom seufzte, doch auch sie musste lächeln und drehte uns rasch den Rücken zu.

»Oh, wir haben darin bereits Übung«, erklärte Josh und verschwand, ehe meine Eltern etwas erwidern konnten.

Etwas langsamer trottete ich nach ihm zur Treppe. Als ich im oberen Stockwerk ankam, war Josh längst bei Max verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Die Stimmen der Jungs drangen gedämpft in den Flur, während ich in mein Zimmer ging.

Unser Haus war eines von zehn Einfamilienhäusern in einer verkehrsberuhigten Straße. Wenn ich aus meinem Fenster schaute, sah ich die Fassade des Nachbarhauses. Durch den Wein, der sich an der Wand gegenüber hochrankte, war der Anblick nicht allzu trist. Weil ich das kleinste Zimmer hatte, hatten meine Eltern sich alle Mühe gegeben, es nach meinen Wünschen einzurichten. So hatten sie die Wände in einem dunklen Ozeanblau gestrichen und mit Bildern und einer Lichterkette dekoriert. Mein Kleiderschrank war nicht gerade geräumig. Dafür hatte ich Platz für einen Nachttisch neben meinem schmalen Bett an der linken Zimmerwand, einen großen Schreibtisch an der rechten Seite, mehrere Bücherregale und, am allerwichtigsten, eine Sitzbank direkt vor meinem Fenster. Dad hatte sie mit seinen eher spärlichen Handwerkerkenntnissen so zusammengezimmert, dass ich auf Höhe der Scheibe mit ausgestreckten Beinen sitzen konnte. Daneben war eine Ablage für Bücher und Teetassen, die ich einmal wöchentlich auf Moms Bitte hin abräumte.

Max hatte das große Zimmer neben mir mit gleich zwei Fenstern und Blick in den Garten. Weil er fast doppelt so viel Platz hatte wie ich, hatte er eine Ausziehcouch, auf der Josh nahezu jedes Wochenende schlief. In jener Ecke des Raums standen auch der Fernseher, ein Super Nintendo und seit Kurzem eine PlayStation, für die ich ein eingeschränktes Nutzungsrecht hatte. Max entschied über dieses Nutzungsrecht, wie es ihm gerade passte. Manchmal saßen wir stundenlang zu zweit oder zu dritt vor den Konsolen und zockten. In den Ferien schlugen wir uns sogar ganze Nächte um die Ohren. Es gab aber auch Tage, an denen Max sein Zimmer abschloss und mich nicht dabeihaben wollte.

An diesem Nachmittag war mir nicht nach Videospielen zumute. Ohne es zu wollen, hatte Max mir Angst gemacht. Was, wenn mir tatsächlich Ärger in der Schule bevorstand? Wenn ich etwas getan oder geschrieben hatte, dessen Tragweite mir nicht bewusst war? Max und Josh waren schon häufiger bei der Direktorin gewesen, und sie waren immer mit einem blauen Auge davongekommen. Das war sicherlich nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Max die Liebenswürdigkeit in Person sein konnte, während Josh es schaffte, in einer Diskussion beinahe jeden von seiner Unschuld zu überzeugen. Kaum jemand konnte ihnen böse sein. Aber ich fühlte mich weder liebenswert noch sonderlich überzeugend.

Max war anscheinend in Windeseile mit seinen Hausaufgaben fertig, denn ich hörte schon nach kurzer Zeit den Fernseher in seinem Zimmer laufen. Heute wünschte ich mir auch jemanden, der mich bedingungslos abschreiben ließ und zudem noch mit allen Mitteln deckte. Meine beste Freundin Claire hätte ob dieser Bitte nur gelacht und erklärt, sie hätte die Hausaufgaben selbst nur abgeschrieben – von der Qualität ganz zu schweigen.

Während ich über meinen Hausaufgaben saß, ohne mich richtig darauf konzentrieren zu können, hörte ich, wie die Tür zu Max’ Zimmer aufflog. Die sorglosen Stimmen der Jungs wurden lauter, und es hörte sich an, als trampelte eine Herde Gnus die Treppe hinunter. Schließlich wurde es ruhig, als sie sich auf den Weg zum Karatetraining machten. An anderen Tagen half mir die folgende Stille beim Lernen, doch heute war sie beklemmend. Seit Mrs. Green mir den Brief übergeben hatte, hatte ich mich wie ein Grenzgänger gefühlt, der mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Die Reaktion meiner Eltern hatte mich zwar etwas beruhigt, doch je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich, dass das Thema noch nicht vorbei war.

Kurz vor dem Abendessen klopfte es an meine Zimmertür. Seit beinahe einer Stunde brütete ich über einer Geschichtsaufgabe und war froh über die Ablenkung. Allerdings hatte ich erwartet, dass Mom mich zum Abendessen rief oder Dad mir ein neues Kapitel seines Buchs brachte, an dem er gerade arbeitete. Deshalb war ich überrascht, als Josh den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Darf ich reinkommen?«

»Klar.« Ein Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass die Jungs schon seit einer Weile zurück sein mussten. Ich drehte mich im Schreibtischstuhl um. »Solltest du nicht längst zu Hause sein?«

»Ich darf bei euch essen. Deadline«, rief er mir in Erinnerung.

Joshs Mutter Mary arbeitete als Texterfasserin für Drehbücher. Sie übertrug handschriftliche Skripte für schmalzige Telenovelas in elektronische Form – ein Job, der puren Stress bedeuten konnte, wenn neue Staffeln bevorstanden. Mary ernährte sich dann fast ausschließlich von dem, was der Pizzaservice unserer Kleinstadt zu bieten hatte. In diesen Phasen durfte Josh ab und zu sogar unter der Woche bei uns übernachten.

Er schloss die Tür. »Ich hab von deinem Brief gehört.«

Keine Ahnung, ob er bei der spärlichen Beleuchtung, die meine Schreibtischlampe lieferte, sehen konnte, wie ich rot wurde. Obwohl Max ihm beinahe alles erzählte, hatte ich irgendwie gehofft, dass er diese Kleinigkeit für sich behielt.

»Wir dachten, du verstößt nie gegen die Regeln«, sagte er.

Ich seufzte. »Das wollte ich auch nicht.«

Josh grinste. Auch wenn ich es niemals zugeben würde, hatte ich doch eine Schwäche für dieses Lächeln, das mich schon mein ganzes Leben begleitete. Irgendwie fühlte es sich immer an, als hätten wir ein Geheimnis. Ein kleines bisschen meiner Anspannung fiel von mir ab.

»Darf ich ihn lesen?«

Überrascht hob ich die Augenbrauen. »Den Aufsatz?«

»Was denn sonst?« Josh konnte schnell ungeduldig werden, wenn man ihm blöde Fragen stellte.

Etwas in mir umklammerte die Worte dieses Aufsatzes, als wären sie ein Teil von mir. Seltsam, meine Gedanken mit Mrs. Green oder meinen Eltern zu teilen hatte mich nicht gestört. Aber Josh daran teilhaben zu lassen, kostete mich Überwindung. »Nur, wenn du nicht lachst.«

Er schüttelte ernst den Kopf. »Versprochen.«

Ich reichte ihm den Hefter, in dem ich meine Klassenarbeiten sammelte. Meinen Aufsatz hatte ich ganz vorne eingereiht.

Josh nahm ihn und begab sich wortlos zu meiner Sitzbank. Für gewöhnlich hasste ich es, wenn Besucher das taten. Diese Bank war mein Platz, mein persönlichster Rückzugsort. Aber Josh zog immer die Schuhe aus, ehe er sich darauf setzte. Er durchstöberte die Bücher, die ich dort ablegte, ohne sich darüber lustig zu machen. Und er sortierte nicht die sorgfältig positionierten Kissen um, denn sie lagen genau so, dass ich mich bequem anlehnen konnte.

Als Max letzten Winter die Grippe gehabt hatte und Josh ihn nur kurz besuchen konnte, hatten wir uns gemeinsam auf die Sitzbank gesetzt. Sie war gerade breit genug, dass wir uns im Schneidersitz gegenübersitzen konnten. Wir hatten den Regentropfen beim Fallen zugesehen, uns über das Buch unterhalten, das ich gerade gelesen hatte, und dabei eine Kanne meines Lieblingstees geleert. Bis auf Weiteres hatte Josh also mein unausgesprochenes Einverständnis, meine Sitzbank zu nutzen.

Er vertiefte sich in meinen Aufsatz. Eine der Eigenschaften, die ich am meisten an ihm mochte, war seine Art, zu lesen. Er überflog Texte nicht einfach, er versank in ihnen. Er wollte verstehen, was sie ausdrückten. Er ließ sich nicht ablenken, er kommentierte nicht und sog den Inhalt auf wie ein Schwamm. Josh las viel; sein halbes Zimmer bestand aus Büchern. Die Reihe seiner Lieblingsbücher kannte ich auswendig. Da waren die Romane von Jules Verne, die er als kleiner Junge verschlungen hatte, die vollständige Sammlung von Sherlock Holmes, sämtliche John-Grisham-Romane, Ken Follett und Stephen King.

Während Josh so hochkonzentriert las, beobachtete ich ihn. Er war ein halbes Jahr jünger als Max, aber während Max in den letzten Monaten deutlich gewachsen war, hielt sich bei Josh noch etwas Babyspeck, der vor allem im Gesicht auffiel. Max überragte ihn mittlerweile um einen halben Kopf, und ich glaubte, trotz seines unerschütterlichen Selbstbewusstseins nagte es an Josh. Seine Haare waren etwas heller als die von Max, ein Schokoladenbraun, das die Sonne mit honigfarbenen Reflexen versehen hatte. Seine Augen schimmerten in einem Braunton, der mich an die Farbe reifer Kastanien erinnerte. Wenn er mich musterte, breitete sich in mir eine Wärme bis in die Fingerspitzen und Zehen aus.

Josh merkte, dass ich ihn unverwandt ansah. Auf seinem Gesicht erschien dieses ihm eigene Lächeln, das immer ein wenig spöttisch wirkte, nur selten offen, so als ginge in ihm noch hundertmal mehr vor, als er aussprach. Er blickte nur kurz auf, und ich wandte die Augen schnell ab. Doch er sagte nichts und las weiter.

Schließlich legte er den Hefter beiseite. Er winkelte die Beine an und stützte die Ellbogen darauf. »Romantik ist nicht so dein Ding, oder?«

»Nicht wirklich«, murmelte ich, ohne zu wissen, ob das schlecht oder gut war.

»Du denkst, dass es für die beiden kein Happy End geben könnte?«, fragte er und überraschte mich damit. Wollte er wirklich den Inhalt meines Aufsatzes diskutieren?

»Stimmt«, antwortete ich, »sie sind doch noch Kinder! Die sind bloß verliebt, aber Liebe ist das nicht.«

Josh grinste. »Und du wärst nicht gern mit Romeo befreundet?«

»Nein, der ist mir zu oberflächlich.«

Er musterte mich belustigt. »Du bist auf jeden Fall das rationalste Mädchen, das ich kenne.«

Das amüsierte ihn also, wie schön!

»So viele Mädchen kennst du doch gar nicht«, stichelte ich eingeschnappt.

Er grinste bloß. »Das stimmt nicht. Ich hab noch ein paar mehr Freunde als Max und dich.«

Natürlich hatte er noch mehr Freunde, aber redete er mit denen über so etwas? Für mich war dieses Gespräch sehr persönlich. Zugegeben, ich hatte versucht ihn zu kränken, weil ich mich angegriffen fühlte.

»Was ist so schlimm daran, vernünftig zu sein?«, wollte ich beleidigt wissen.

»Nichts, Matilda.«

Es kostete ihn nur eine Sekunde, mich wieder auf seine Seite zu ziehen. Das lag weniger an seiner Antwort als an dem Spitznamen. Manchmal bedachte Josh mich mit den Namen literarischer Vorbilder oder Filmprotagonisten. Als Matilda Wormwood bezeichnete er mich zurzeit am liebsten. Das kleine Mädchen, das Bücher verschlang und große Zahlen im Kopf multiplizieren konnte, passte in seinen Augen anscheinend gut zu mir. Wenn er damit meine Laune heben wollte, war ihm das gelungen.

»Du warst bloß noch nie richtig verliebt.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, als könnte uns jemand belauschen. »Sag Max nicht, dass ich das gesagt habe. Er denkt, du wärst ohnehin noch zu jung dafür.«

Mir war nicht klar gewesen, dass die beiden überhaupt über mich redeten. Um meine Verlegenheit zu überspielen, fragte ich: »Was denkst du, warum müssen Mom und Dad zum Lehrergespräch?«

Josh zwinkerte mir zu. »Vielleicht glaubt deine Lehrerin, dein Dad hätte dir beim Schreiben geholfen.«

»Aber das habe ich ganz allein geschrieben!«

»Dann musst du dir auch keine Sorgen machen.« Josh senkte die Stimme noch einmal. »Aber ich verrate dir ein Geheimnis.«

Neugierig, worauf er hinauswollte, nickte ich.

»Vor ein paar Tagen hat Mrs. Green nach Schulschluss auf dem Parkplatz einen Mann angeschrien, sie hätte doch auf ihre Mutter hören sollen, statt ihn zu heiraten. Sie lässt sich wohl gerade scheiden.« Er deutete auf den Hefter. »Du hast einen Nerv bei ihr getroffen.«

Ehe ich darüber nachdenken konnte, fragte ich: »Warum heiratet man überhaupt?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Du bist echt hoffnungslos unromantisch! Schau dir deine Eltern an. Dann weißt du, warum einige Menschen heiraten.«

»Sie haben wegen Max geheiratet«, entgegnete ich nüchtern.

Josh seufzte und stand auf. »Deine Eltern lieben sich, Sarah. Sei froh, dass sie die große Ausnahme von deiner Regel sind.«

Vielleicht hatte ich Josh mehr damit getroffen als mit allem, was ich zuvor gesagt hatte. Er lebte nur mit seiner Mutter zusammen. Hatte er seinen Vater überhaupt je kennengelernt?

Ehe ich mich entschuldigen konnte, rief Mom von unten zum Essen. Josh wartete nicht ab, bis ich die richtigen Worte gefunden hatte.

»Es riecht nach Lasagne«, bemerkte er fröhlich. Damit verließ er mein Zimmer.

Er fand meine Eltern bestimmt nur so toll, weil Mom ihm ständig sein Leibgericht kochte, wenn er bei uns aß.

3

Greenglade – New Haven – New York – San Francisco

Mai 1996 – 11 Jahre

Am Freitag stand das Lehrergespräch mit Mrs. Green an.

Als ich an diesem Morgen aufbrach, waren Max und Josh längst weg. Die Zeiten, in denen Max und ich gemeinsam zur Schule gingen, waren lange vorbei. Nachdem ich mein Lunchpaket eingepackt hatte, verabschiedete ich mich von Mom – Dad schlief noch, er hatte anscheinend die ganze Nacht gearbeitet – und machte mich auf den Weg zu meiner besten Freundin Claire, die eine Straße weiter wohnte.

Es war ein klarer Morgen. Der Himmel war tiefblau, ohne eine einzige Wolke, und ließ erahnen, dass es heute den ganzen Tag so bleiben würde. Die Rasensprenger zischten in den Vorgärten, um das Smaragdgrün unserer Kleinstadtidylle gegen das trockene Klima, das in Greenglade herrschte, zu verteidigen. Etwa eine Autostunde nördlich von San Francisco gelegen waren die Sommer hier lang und heiß, während der Winter mit seinen kläglichen verregneten Wochen aus meiner Sicht viel zu kurz und schneearm war.

Claire war ein Jahr älter als ich, wie beinahe alle meiner Klassenkameraden. Weil ich bei meiner Einschulung bereits lesen und schreiben konnte, war ich direkt von der ersten in die zweite Klasse versetzt worden. Mom hatte mir das Lesen beigebracht, als Max aus der Vorschule in die Grundschule gewechselt war und ich alles wissen wollte, was er dort lernte.

Während es mir überhaupt nicht schwerfiel, dem Schulstoff zu folgen, fand ich an meine Klassenkameraden nicht so leicht Anschluss. In der Middle School freundete ich mich mit meiner Banknachbarin an. Claire war sehr klein und zierlich und sah deshalb nicht älter aus als ich. Sie hatte rote Korkenzieherlocken, die sie selbst hasste wie die Pest, um die ich sie aber beneidete. Sie trug einen strengen Zopf, um die Locken zu verstecken, doch über den Tag verselbstständigten sie sich meistens und umrahmten ihr sommersprossiges Gesicht auf unnachahmliche Weise.

Claire war ganz anders als ich, viel offener und frecher. Meine Eltern hofften wohl, dass sie mich mit ihrer Lebensfreude etwas ansteckte. Max hingegen war ziemlich genervt von ihr und verließ den Raum, wenn sie auftauchte. Wir trafen uns häufiger bei ihr als bei uns, wenn wir gemeinsam Hausaufgaben machten oder Musik hörten.

Claire kam bereits den Weg von ihrer Haustür zu mir gehüpft. Sie trug eine kurze Latzhose in Pink, ein grünes T-Shirt und glitzernde Turnschuhe. Sie machte sich nie Gedanken um ihre Kleidung, doch irgendwie schaffte sie es immer, lässig und niedlich auszusehen. Schreiend bunte Kleidung war mir viel zu ausgefallen, in Jeans und T-Shirt fühlte ich mich wohler – je unauffälliger, desto besser.

Als Claire mich erreichte, drängelte sie: »Susan wartet bestimmt schon an der Kreuzung. Komm schon, Sarah!«

Mit hüpfendem Rucksack steuerte sie rasch den Gehweg hinunter. Susan war Claires andere beste Freundin, ein Mädchen aus unserer Parallelklasse. Obwohl ich Susan mochte, wären wir doch nie auf die Idee gekommen, uns nur zu zweit zu treffen. Wir hatten nicht viel gemeinsam.

Tatsächlich wartete Susan bereits auf uns. Sie hatte lange, glatte, dunkelbraune Haare und sah mit ihrem dezenten Make-up älter aus als wir. Das ließ sie sich allerdings nicht anmerken. Sie setzte sich zwischen uns, während wir uns in die anderen Schüler einreihten, die in Richtung Schule strömten.

»Na, nervös wegen heute Nachmittag?«, fragte sie mich mitfühlend.

Claire horchte auf. »Ach ja, dein Klassenleitergespräch. Was zur Hölle hast du nur geschrieben?«

»Nichts Schlimmes«, antwortete ich schulterzuckend. Seit dem Gespräch mit Josh hatte sich meine Aufregung etwas gelegt. »Bestimmt habe ich nur einen Nerv getroffen.«

Claire sah mich befremdet an, hakte allerdings nicht nach. Als sie Susan fragte, ob sie heute Nachmittag vorbeikäme, war das Thema auch schon vergessen.

Wir passierten den Sportplatz vor der Senior High, auf dem Max und Josh mit einigen ihrer Freunde spielten. Die Gruppe Mädchen, die am Rand saß, wurde irgendwie von Woche zu Woche größer.

Susan griff plötzlich meine rechte und Claires linke Hand, damit wir stehen blieben. Als ich ihrem Blick zum Sportplatz folgte, stöhnte ich auf. Am liebsten hätte ich dieses Schauspiel überkochender Teenie-Hormone ignoriert, musste nun aber mit ansehen, was Susan auf keinen Fall verpassen wollte.

Wer bei dem Spiel vorne lag und ob sie überhaupt nach irgendwelchen Regeln spielten, erschloss sich mir nicht – und meine Zweifel wurden größer, als die Schulglocke ertönte und sie ihre Partie beendeten. Susans Griff wurde fester, als mein Bruder aus völlig unerfindlichen Gründen sein T-Shirt auszog und sich damit den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn wischte.

Susan schnappte nach Luft. Claire grunzte nur genervt. Aus den Reihen der älteren Mädchen ertönte kreischender Jubel. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

»Sarah, kannst du Max nicht sagen, er soll sich wieder anziehen?«, fragte Claire gereizt und schirmte ihr Blickfeld mit einer Hand ab. »Das ist ja eklig!«

»Ich geh doch da nicht rüber«, widersprach ich ihr entschlossen. »Los, weiter!«

»Das ist doch nicht eklig«, entgegnete Susan verzückt. »Sarah, dein Bruder ist so heiß!«

Claire riskierte einen kurzen Blick in Richtung der Jungs. Anscheinend versuchte sie, Susans Einschätzung nachzuvollziehen.

Obwohl ich mir tausend bessere Dinge vorstellen konnte, als Max’ Show zu verfolgen, wurde ich doch neugierig, als ich sah, wie er gezielt zu zwei Mädchen ging, die am Rand saßen. Eines der Mädchen stand auf und kam ihm entgegen. Sie trug einen faltenfreien, knielangen Rock und eine weiße Bluse, die ihrer schmalen Figur schmeichelten, und hatte perfekte glatte, blonde Haare, die ihr Gesicht seidig umrahmten. Sie umarmte Max und unterhielt sich dann mit ihm. Etwas an der Art, wie sie miteinander redeten, diese Vertrautheit, das leichte Flirten, erregte meine Aufmerksamkeit.

Weil ich Max nicht unterbrechen wollte, steuerte ich Josh an, der längst bereit zum Aufbruch war. Im Gegensatz zu Max war er angezogen. Neugierig fragte ich Josh: »Wer ist das?«

Er folgte meinem Blick Richtung Max. »Das ist Linda. Über kurz oder lang lernst du sie selbst kennen.«

»Ist sie seine Freundin?«, wollte ich wissen. Wie war das denn passiert? Seit wann war mein Bruder an Mädchen interessiert?

»Noch nicht. Aber die beiden tänzeln schon ein paar Wochen umeinander herum. Das dauert nicht mehr lange.«

Claire war bereits weitergegangen, als ich zu Susan zurückkehrte. Sie starrte noch immer zu den Jungs, obwohl Max sich mittlerweile ein frisches T-Shirt übergezogen hatte.

»Sorry, aber wie es aussieht, ist mein Bruder so gut wie vergeben«, erklärte ich kopfschüttelnd. So richtig begreifen konnte ich es nicht.

Der Schultag ging viel zu schnell vorbei. Als es zum Wochenende klingelte, beeilten sich die meisten meiner Klassenkameraden, das Schulgebäude zu verlassen, um das schöne Wetter auszunutzen. Claire verabschiedete sich mit einem »Viel Glück, Sarah« und war verschwunden.

Ich wartete in unserem Klassenzimmer. Langsam räumte ich meine Bücher in den Rucksack, doch ewig würde ich die Stille zwischen Mrs. Green und mir nicht überbrücken können. Hoffentlich trafen Mom und Dad bald ein!

Mrs. Green blieb an ihrem Tisch sitzen und sah Unterlagen durch. Ab und zu schenkte sie mir ein schwaches Lächeln, dann arbeitete sie weiter. Seit Josh mir erzählt hatte, was er beobachtet hatte, war mir aufgefallen, dass sie tiefe Augenringe hatte. Der Elan, den sie zu Anfang des Schulhalbjahres noch gehabt hatte, war wie weggeblasen. Irgendwie hatte ich Mitleid.

Mom und Dad waren auf die Minute pünktlich. Während Mom lieber zu früh als zu spät kam, wollte Dad die Etikette wahren, wie er sagte, und nicht zehn Minuten früher eintreffen als verabredet. Obwohl er es nicht zugeben würde, trieb ihn Moms zwanghafte Pünktlichkeit in den Wahnsinn. Doch sie hatten sich über die Jahre arrangiert und waren mittlerweile für ihre Punktlandungen bekannt.

Nachdem meine Eltern Mrs. Green herzlich begrüßt hatten, bat meine Lehrerin mich, vor dem Klassenraum zu warten. Beklommen wanderte ich zur Tür, während meine Eltern sich auf die Stühle vor dem Lehrerpult setzten. So schlimm konnte es doch nicht sein. Warum durfte ich nicht zuhören?

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich die Tür schloss und mich mit einem Seufzen dagegen lehnte. Zu meiner eigenen Überraschung hörte ich, wie Mom direkt zur Sache kam. »Gibt es ein Problem mit Sarahs Aufsatz?«

Mrs. Greens Antwort war etwas leiser, doch wenn ich das Ohr an das Holz der Tür legte, war auch sie gut zu verstehen. »Nein. Ihr Aufsatz entspricht ganz meinen Erwartungen.«

Das war doch gut, oder? Nervös wippte ich mit den Zehenspitzen. Mein schlechtes Gewissen darüber, ein Gespräch zu belauschen, in dem es immerhin um mich ging, hielt sich jedoch in Grenzen. Max hätte bestimmt das Gleiche getan.

»Zunächst einmal möchte ich Ihnen versichern, dass alles, was wir besprechen, streng vertraulich ist. Ich darf nichts darüber verlauten lassen«, begann Mrs. Green.

Gespannt, was denn so vertraulich sein sollte, wartete ich ungeduldig auf die Fortsetzung. Bestimmt tauschten Mom und Dad bei dieser Ankündigung einen bedeutungsvollen Blick.

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, wirklich«, fuhr Mrs. Green mit angespannter Stimme fort, »aber wollen Sie sich trennen?«

Dad lachte auf – gerade leise genug, damit Mrs. Green sich nicht angegriffen fühlte. »Wir haben bestimmt seit drei Wochen nicht mehr über Scheidung gesprochen, nicht wahr, Schatz?«

Dafür erntete er mit Sicherheit einen vernichtenden Blick von Mom.

Dad bemühte sich um Ernsthaftigkeit. »Mrs. Green, ich bewundere Ihr Engagement. Die meisten Lehrer würden davor zurückschrecken, private Probleme ihrer Schüler zu thematisieren. Wir wissen es zu schätzen, dass Sie Hinweise ernst nehmen und die Initiative ergreifen, statt sie zu ignorieren.«

Mom erklärte: »Aber das, was ich in dem Aufsatz gelesen habe, ist Sarahs Art. Sie ist noch jung, und Romantik ist nicht ihre Stärke.«

Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Hoffentlich war dieses Gespräch schnell vorbei! Jetzt war ich froh, vor der Tür zu stehen. So merkte niemand, wie unangenehm mir das Thema war.

»Das sehe ich vollkommen anders«, entgegnete Dad, »aber wir sollten nicht zu viel in den Aufsatz interpretieren.«

»Vielleicht ist es keine Trennung, aber Sarah ist so anders als Maximilian«, erwiderte Mrs. Green.

Diesen Spruch hörte ich nicht zum ersten Mal. Die meisten Lehrer wunderten sich, wenn sie die Verbindung zwischen Max und mir herstellten.

»Da können wir froh sein! Noch eine neunköpfige Raupe könnten wir uns nicht leisten«, scherzte Dad trocken. »Sie können die beiden nicht vergleichen. Vielleicht fehlt es Sarah noch an emotionaler Reife – auch wenn ich das nicht glaube. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich sie wieder hereinholen. Sie soll nicht denken, sie hätte etwas angestellt.«

Als sich Schritte näherten, hechtete ich von der Tür weg und setzte eine Unschuldsmiene auf.

Dad öffnete die Tür und winkte mich herein. Er legte mir den Arm um die Schultern und drehte sich wieder zu Mrs. Green um. »Wir sehen unsere Tochter jeden Tag. Nicht mehr lange, und sie ist aus dem Haus, genau wie Max. Vielleicht übersieht man die kleinen Veränderungen der eigenen Kinder.« Er wandte sich an mich. »Aber du weißt, dass du mit jedem Problem, jeder Unsicherheit und jeder Frage zu uns kommen kannst. Nicht wahr, Sarah?«

Eifrig nickte ich.

Nachdem Dad den zwischenmenschlichen Teil des Gesprächs übernommen hatte, erklärte Mom: »Wenn es kein Problem mit Sarahs Arbeit, mit ihrer Einstellung, ihrer Leistung oder ihrem Verhalten gibt, sind wir wohl fertig. Dann dürfen Sie jetzt in Ihr wohlverdientes Wochenende.«

Mrs. Green war einverstanden. Als Mom sich ebenfalls erhob, zog meine Lehrerin ein Buch unter ihrem Schreibtisch hervor.

»Ich hoffe, das wirkt nicht unpassend, aber könnte ich ein Autogramm bekommen?«, fragte sie Dad.

Er setzte seine professionelle Geschäftsmiene auf. »Selbstverständlich. Für Sie selbst?«

Mrs. Green schob eine neue Ausgabe eines seiner älteren Romane über den Tisch. »Für Theodore. Mein Mann ist ein großer Fan von Ihnen. Seit Jahren bittet er mich, Sie endlich danach zu fragen.«

Dad nahm sich Zeit für das Signieren seiner Bücher. Er schrieb nicht einfach seinen Namen hinein, sondern eine persönliche Botschaft. Zwar konnte ich nicht lesen, was es war, doch als wir gemeinsam den Klassenraum verließen und ich einen Blick zurückwarf, sah ich, dass Mrs. Green beim Lesen die Tränen kamen.

Auch Mom musste es bemerkt haben, denn sie fragte leise, während wir den verlassenen, stillen Schulflur entlangliefen: »Was hast du der armen Frau denn geschrieben?«

Dad legte einen Arm um mich, den anderen um ihre Schultern. »Für den Mann der couragiertesten Lehrerin, die man sich für seine Kinder wünschen kann.«

Mom gab ihm einen Kuss auf die Wange.

An diesem Abend aßen wir zu dritt. Max hatte behauptet, bei Josh zu sein, doch ich vermutete, der wahre Grund für seine Abwesenheit war das Mädchen, mit dem ich ihn heute Morgen gesehen hatte.

Nach dem Essen goss Mom sich ein Glas Rotwein ein und setzte sich mit einem Buch in ihren Lesesessel. Das Wohnzimmer hatte eine breite Glasfront mit Blick auf unseren gepflegten Garten, um den Mom sich mit viel Hingabe kümmerte. Aus dem Sessel heraus sah sie auf die Rosenhecke, die sie in diesem Frühjahr angelegt hatte. Eine Stehlampe spendete warmes Leselicht. Es lag uns fern, sie heute noch einmal zu stören.

Dad und ich hatten Küchendienst und räumten gemeinsam ab. Während ich den Geschirrspüler einsortierte, säuberte Dad die Kochinsel.

»Sarah, darf ich noch etwas über deinen Aufsatz sagen?«, fragte Dad, als er mit dem Geschirrtuch das Kochfeld trocken wischte.

»Hätte ich gewusst, dass jeder ihn lesen will, hätte ich einfach geschrieben, was Mrs. Green erwartet hat«, brummte ich. Wann konnte ich dieses Thema endlich hinter mir lassen?

»Aber das hast du nicht«, erwiderte Dad. Er hängte das Geschirrtuch sorgfältig zum Trocknen auf. Dann holte er zwei Gläser aus dem Schrank, goss Milch hinein und kramte eine Packung Kekse hervor, die er auf einen Teller entleerte. Schließlich setzte er sich an die Küchentheke und klopfte auf den Barhocker neben sich.

Ich schaltete den Geschirrspüler ein, ehe ich seiner Aufforderung Folge leistete und mich zu ihm setzte.

»Hör mir nur zu. Wenn du nicht darüber reden möchtest, ist das okay.« Dad trank einen Schluck Milch. Der Milchbart in den Dreitagestoppeln über seiner Oberlippe brachte mich zum Kichern.

»Ständig wird versucht, meine Romane zu interpretieren«, begann er. »Tonnenweise Briefe von übereifrigen Lesern erklären mir, wie ich bestimmte Dinge, die ich geschrieben habe, gemeint habe. Da sind die irrwitzigsten Gedanken und Diagnosen dabei, aber das Meiste davon ist Unsinn.« Als ich ihn verwirrt ansah, erklärte er: »Ein Buch ist immer auch ein Blick in die Seele des Autors. Ich möchte meinen Lesern nicht vorschreiben, wie sie meine Bücher verstehen sollen – das bleibt ihnen selbst überlassen. Aber in jedem meiner Bücher steckt etwas Autobiografisches. Etwas, das nur ich allein verstehen kann. Wie ein Tagebuch.«

In meiner vagen Hoffnung, dass Dad bei seinen Büchern blieb und nicht wieder den Bogen zu meinem Aufsatz schlug, schwieg ich.

Er fuhr fort: »Ich bin also der letzte Mensch, der etwas in deinen Aufsatz hineininterpretieren möchte. Niemand weiß besser als du, was dir in diesem Moment durch den Kopf gegangen ist. Aber ich möchte dir sagen, was ich darüber denke.«

Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. »Nur, wenn wir danach nie wieder darüber reden müssen.«

»In Ordnung.« Dad biss von einem Keks ab und spülte ihn mit Milch herunter. »Auch ich halte Romeo und Julia nicht für das größte Liebespaar der Geschichte. Liebe zeigt sich erst mit der Zeit. Du bist nicht unromantisch. Du bist rational und sehr realistisch für dein Alter. Auch wenn du gerade erst anfängst, dich für Jungs – oder Mädchen, je nachdem, was dir lieber ist – zu interessieren, erwartet man von Teenagern doch, dass sie mit verklärtem Blick und völlig vernebelten Sinnen in ihre erste Liebe taumeln.«

Nun wollte ich doch etwas dazu sagen. »Aber so kann man doch keine gute Entscheidung treffen! Wie soll denn so eine Beziehung halten? Und danach ist man enttäuscht. Warum lassen Leute sich auf so etwas ein?«

Dad bemühte sich, nicht zu breit zu schmunzeln. »Du hast recht, Sarah. Mit Vernunft hat das nichts zu tun. Aber die erste Liebe ist auch eine der schönsten und intensivsten Erfahrungen, die man im Leben macht. Und sie endet nicht immer, manchmal hält sie für immer.«

»Das passiert aber nur selten«, erwiderte ich.

»Stimmt. Trotzdem sollte dich das nicht davon abhalten, dich darauf einzulassen. Wenn es so weit ist, wirst du dich ohnehin nicht dagegen wehren können.«

In diesem Punkt sollte er sich irren.

»Aber du glaubst an die große Liebe, oder?«, wollte Dad wissen.

Ich verdrehte die Augen. »Du und Mom lasst mir gar keine andere Wahl.«

Nun, da das Schlimmste überstanden war, blieb ich doch noch etwas bei Dad sitzen. Wir aßen Kekse und redeten. Irgendwann hörten wir den Schlüssel in der Tür. Wir drehten uns um, als Max gerade an uns vorbeischleichen wollte. Dad hielt den Keksteller hoch. »Wir haben dir einen übrig gelassen.«

»Danke, aber ich gehe direkt ins Bett«, antwortete mein Bruder nur. »Gute Nacht.« Aber bevor er sich abwenden konnte, erschien auf seinem Gesicht ein breites Grinsen.

Dad und ich sahen uns an. Dad musste es schon länger vermutet haben, aber ich wusste es erst seit heute: Max hatte es erwischt. Er war bis über beide Ohren verliebt in ein Mädchen namens Linda.

4

Greenglade – New Haven – New York – San Francisco

Dezember 2011 – 26Jahre

In der Leitung klickt es, dann sagt eine freundliche Frauenstimme: »Rosalie Hunt, Kanzlei Fisher, Matthews und Wellington.«

Ich unterbreche sie, bevor sie ihre gesamte Litanei heruntergerasselt hat. »Sally, hier ist Sarah. Sarah Johnson.«

Hoffentlich weiß sie noch, wer ich bin. Sally führt tagtäglich Dutzende von Telefongesprächen und muss mich vermutlich erst einordnen. Am anderen Ende ist es kurz still. Doch wenn Sally überrascht ist, meine Stimme zu hören, lässt sie es sich nicht anmerken.

»Sie haben tausendachthundertdreiundsiebzig neue Benachrichtigungen in Ihrem A-Newsticker. Bitte sagen Sie ›Weiter‹, um die nächste Nachricht abzurufen«, fährt sie nach wenigen Sekunden fort.

»Um Gottes willen, Sally, löschen! Allesamt!«, entgegne ich entsetzt, muss aber trotzdem lächeln. Sie hat mich nicht vergessen.

Sally kichert. »Schon gut, sorry. Lange nichts von dir gehört.«

»Und es tut mir leid, aber ich konnte nicht –«, versuche ich mich zu entschuldigen, obwohl eine Entschuldigung dafür, dass ich mich drei Jahre lang nicht gemeldet habe, wohl kaum ausreicht.

»Süße«, unterbricht sie mich, »bei mir musst du dich nicht entschuldigen. Also, was kann ich für dich tun?«

Ich atme tief durch. Zu erkennen, was andere Menschen denken oder fühlen, zählt nicht zu meinen Stärken – schon gar nicht über das Telefon. Aber ich vermute – hoffe –, Sally ist mir nicht böse.

»Ich brauche deine Hilfe«, räume ich ein. »Heute ist die Weihnachtsfeier bei Houghe Industries, und ich muss bis zum Abend ein Kleid finden, in dem ich mich dort blicken lassen kann, und hier ist die Hölle los. Du kennst doch praktisch alles und jeden in dieser Stadt. Hast du einen Tipp für mich?«

Sally überlegt einen Moment. »Ich kann eine Freundin anrufen und fragen, ob sie dich in ihrer Boutique dazwischenquetschen kann. Aber ich warne dich: Ihre Kleider sind der Hammer, und das lässt sie sich bezahlen.«

»Du bist ein Engel«, sage ich erleichtert.

»Ich hör mich mal für dich um. Ich muss ohnehin gleich in die Poststelle, da kann ich unterwegs auch ein paar Anrufe erledigen.« Ihre raschen Schritte klackern im Hintergrund bereits über den Boden. »Wie wär’s, wenn du mich dafür auf einen Drink einlädst, wenn du das nächste Mal in der Stadt bist?«

Es soll bestimmt kein Vorwurf sein, aber mich überkommt dennoch das schlechte Gewissen. Es gab in den letzten zwei Jahren genug Gelegenheiten, mich mit Sally zu treffen.

»Im Januar bin ich das nächste Mal in der Stadt. Dann können wir gerne was trinken gehen«, schlage ich vor.

»Freut mich! Ich melde mich bei dir, sobald ich etwas habe.« Und damit legt sie auch schon auf.

Ob ich noch etwas essen kann, bis sie mich zurückruft? Aber Sally arbeitet schnell, präzise und effizient und übermittelt mir wenige Minuten später die Adresse einer Boutique, die zu meinem Glück in nur zwanzig Minuten zu Fuß erreichbar ist. Augenblicklich mache ich mich auf den Weg. Das Essen ist nicht so wichtig.

Sallys Freundin erwartet mich bereits. »Hi, ich bin Karen. Herzlich willkommen. Hier ist dein Champagner. In fünfzehn Minuten kommt meine nächste Kundin«, spult sie im Eiltempo herunter und drückt mir ein Glas in die Hand. »Hast du in den letzten drei Jahren ab- oder zugenommen? Sally kannte nur die Maße von vor drei Jahren.«

Etwas überrumpelt zucke ich mit den Schultern. »Ein wenig abgenommen, denke ich.«

»Mist!« Karen scheucht mich in den hinteren Bereich des exklusiven Geschäfts. Die Wände und der Fußboden sind glänzend weiß und hell ausgeleuchtet. Es sind nur wenige Kleider ausgestellt, die Einrichtung ist schlicht gehalten. Karen deutet auf einen Stuhl, auf den ich meine Sachen lege, dann schiebt sie mich auf ein kleines Podest und zaubert aus einer Tasche ein Maßband hervor. Sie vermisst Brustumfang, Taille, Po und Beine, und ich bin froh über die Fitnessgeräte in unserem Büro in San Francisco, auf denen man strampeln oder laufen kann, während man arbeitet.

Als sie fertig ist, strahlt Karen mich an. »Ich denke, ich finde etwas für dich. Du wirst mindestens Zehn-Zentimeter-Absätze brauchen, deine Beine sind etwas kurz.« Jemand anderem hätte ich diese Bemerkung vielleicht übelgenommen, doch bei ihr hört sich das nicht wie eine Beleidigung an. »Und du brauchst den passenden BH. Weißt du, dass deiner etwas zu klein ist? Keine Sorge, ich hole dir alles her.«

Und sie verschwindet irgendwo im Lager.

Es dauert fünf Minuten, in denen ich halbnackt in der Umkleidekabine warte, bis Karen zurückkommt. Sie zieht den Vorhang beiseite und mustert mich ungeniert, ehe sie nickt und mir einen BH, von dem ich keine Ahnung habe, wie er halten soll, zwei Kleider und verboten hohe Schuhe hineinreicht. Dann zieht sie den Vorhang wieder zu und ruft: »Beeil dich, die nächste Kundin ist in fünf Minuten dran!«

Das Kleid, in das ich zuerst schlüpfe, ist aus dunkelrotem Satin und einfach geschnitten. Der Stoff schmiegt sich kühl und seidig an meinen Körper. Auf der Taille ist es ein wenig gerafft, und es verfügt über einen Beinschlitz, der gerade noch als anständig durchgeht. Der Ausschnitt am Rücken endet kurz vor dem Po. Trotz der hohen Schuhe berührt der Stoff fast den Boden, und ich bete, dass ich nicht hinfalle.

Karen beäugt mich fachkundig. »Das ist es.«

»Soll ich das zweite noch anprobieren?«, frage ich.

Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, du nimmst das hier. Das steht dir fantastisch. Ich wünschte, ich hätte deinen Po. Wie Scarlett Johansson! Du musst nur den Slip nachher weglassen.«

Entgeistert sehe ich sie an. »Das ist ein Firmenevent!«

»Dieses Kleid trägt man ohne Slip! Wenn du einen anziehst, wird es jeder sehen.«

»Wenn ich ihn weglasse, auch!«

Sie schenkt mir einen Blick, der keine Widerrede duldet. »Leg mir alles raus, ich bringe es zur Kasse.«

Und damit verschwindet sie, um ihre nächste Kundin zu begrüßen.

Perplex bleibe ich in der Umkleidekabine zurück. Als ich mich wieder anziehen will, vibriert mein Telefon mit einer SMS.

›18:30 Uhr Frisur und Make-up bei Meg. Richte ihr meine Grüße aus. S.‹

Darunter die Adresse des Friseurs. Wie gern würde ich Sally dafür umarmen! Ich zahle das Kleid, die Schuhe und den BH mit meiner Kreditkarte. Ein halbes Monatsgehalt.

Aber das Selbstvertrauen, das mir dieses Kleid verschaffen wird, ist unbezahlbar. Und an diesem Abend dringend notwendig.

Und das alles nur, weil ich ihm begegnen könnte ...

5

Greenglade – New Haven – New York – San Francisco

Juli 1999 – 14Jahre

Die Sommerferien standen kurz bevor, und mein Selbstvertrauen lag in Trümmern. Seit zwei Jahren kämpfte ich mit Gewichtsschwankungen. Mein bisheriges Leben lang war ich recht zierlich gewesen, und meine neuen Speckröllchen setzten mir ziemlich zu. Jeden Tag fühlte ich mich hässlicher.

Seit ich dreizehn war, ging ich zum Karate. Das regelmäßige Training jeden Dienstag und Donnerstag war gut für meine Augen-Hand-Koordination, meine Fitness, meine Konzentration und mein Körpergefühl. Es half zu meinem Leidwesen kaum gegen mein Gewicht.

Claire und Susan machten eine komplett gegensätzliche Entwicklung durch. Susan, die schon immer sehr hübsch gewesen war, reifte über das achte Schuljahr schon fast zur jungen Frau. Sie wechselte zweimal die Körbchengröße ihres BHs, wurde groß und schlank und kleidete sich schon bald viel erwachsener als ich. Sie trug nun Blusen, enge Jeans, Stiefel und Halstücher – Dinge, die ich nicht einmal besaß. Seit ein paar Monaten war sie mit Tim zusammen, einem Jungen aus Max’ Klassenstufe.

Claires Verwandlung war noch auffälliger. Sie bekam den Dreh raus, ihre roten Locken so zu zähmen, dass sie weich und seidig wurden, und trug sie nun viel häufiger offen. Ihre Haut war beneidenswert rein und hatte die Farbe von Elfenbein. An ihrem zierlichen Körper war nicht ein Gramm zu viel, und Susan half ihr, das gekonnt zur Geltung zu bringen.

Wenn ich mit den beiden über den Schulhof ging, drehten sich viele Jungs nach uns um. Mir war bewusst, wie klein und unscheinbar ich neben meinen schönen Freundinnen wirkte. Allmählich kam ich in das Alter, in dem mich das tatsächlich störte.

Max und ich genossen den Luxus, in den nahenden Sommerferien nicht auf einen Ferienjob angewiesen zu sein. Dennoch verlangte Mom, dass wir während der schulfreien Zeit einer regelmäßigen Tätigkeit nachgingen. So fuhr Max zweimal pro Woche abends Pizza aus. Ich half Mom bei ihrem Teilzeitjob in der Bibliothek. Das ständige Archivieren, Registrieren und Verschicken von Mahnungen entsprach nicht unbedingt meinen Vorstellungen von der Arbeit mit Büchern.

Im Gegensatz zu uns war die Haushaltskasse bei Josh und seiner Mutter Mary oft knapp bemessen. Marys Job als Texterfasserin für Drehbuchskripte war nicht besonders lukrativ, weshalb sie versuchte, als selbstständige Drehbuchautorin für Telenovelas Fuß zu fassen. Gerade hatte sie einen Auftrag für ein Projekt an Land gezogen, das sie mir skizzierte, als ich mit dem Buch Der Goldene Kompass, das ich Josh zurückbringen wollte, vor ihrer Haustür stand. Die Show hieß Die dicke Rafaela mit den grasgrünen Augen, und die Protagonistin war ein Modell im Fatsuit – sie musste ihre Fettleibigkeit schließlich am Ende der Staffel abgelegt haben, erklärte mir Mary, das wäre dann das große Finale – mit grünen Augen. Rafaela arbeitete in einem Varietétheater an der Kasse und war die gute Fee des Hauses. Die eingebildete Sängerin Conchita machte ihr jedoch das Leben zur Hölle. Dann war da noch Chico, der aufstrebende Schauspieler, unfassbar gutaussehend, der eine Frau nach der anderen hatte, aber in Wahrheit Rafaela liebte, seit er ihre grasgrünen Augen gesehen hatte. So wie Mary jedes Mal seufzte, wenn sie von Raúl sprach, hatte sie wohl eine Schwäche für den Schauspieler des Chico.

»Das hört sich an, als hättest du diesmal jedes Klischee bedient«, hatte ich bemerkt.

Daraufhin hatte sie die Stirn gerunzelt. »Findest du? Ich hätte zu gern eine böse Zwillingsschwester untergebracht oder einen Hochstapler, der sich als Cousin zweiten Grades ausgibt, um das Familienerbe an sich zu reißen.«

Mary erging sich gern in den unglaublichsten Geschichten, spektakulären Wendungen, aufregenden Cliffhangern und pompösen Finalen. Sie hatte Gefallen daran, mit einem Glas Rotwein vor dem Computer zu sitzen und sich die romantischsten Szenen und hassenswertesten Bösewichte auszudenken. Sie ließ mich gern daran teilhaben, wenn Max und Josh befanden, ihre Gesprächsthemen wären nichts für kleine Schwestern, und mich aus Joshs Zimmer verbannten. Oder wenn ich, wie an diesem Tag, den nächsten Teil einer Buchreihe aus Joshs Bücherregal leihen wollte, obwohl er nicht da war. Mary wusste, dass ich ein beinahe uneingeschränktes Nutzungsrecht an seinem Buchbestand genoss.

Das war allerdings nicht meine einzige Bezugsquelle für handverlesene Bücher. Um das Haushaltsgeld aufzubessern, hatte Josh neben seinen Kursen am Community College einen Ferienjob in einer Buchhandlung, wo ich ihn mindestens einmal pro Woche besuchte. Wenn er bei seiner Arbeit über ein interessantes Buch stolperte, legte er es für mich beiseite. Er hatte mir sogar den zweiten Harry-Potter-Band vor dem Erscheinungstermin mitgebracht, obwohl ihn das seinen Job hätte kosten können.

Als die Sommerferien begannen, hätte ich mich am liebsten bis zum Ende derselben in meinem Zimmer eingeschlossen. Es kostete Claire und Susan jedes Mal viel Überredungskunst, mich dazu zu bewegen, mich im Badeanzug in die Öffentlichkeit zu begeben.

Unser Freibad war nicht besonders groß. Das einzige Schwimmbecken war umgeben von gepflegtem grünen Rasen. Da in unserer Gegend viele Leute einen Pool besaßen, war es auch selten richtig voll. Es war ein Treffpunkt für viele Schüler unseres Bezirks. Häufig trafen wir Klassenkameraden, sodass sich die Gleichaltrigen in Gruppen zusammenfanden und ich nur selten mit Max und seinen Freunden zu tun hatte.

An einem dieser Tage hatte es auch Josh geschafft, nach Feierabend noch zum Schwimmen zu kommen. Anfangs bemerkte ich ihn nicht, weil er bei Max, Linda und deren Freundin Caroline saß. Wie so häufig war ich in ein Buch vertieft, während meine Klassenkameraden um mich herum redeten und lachten. Als ich Josh schließlich entdeckte, spielte ich mit dem Gedanken, hinüberzugehen, Hallo zu sagen und ihn über die neuesten Bücher im Laden auszuquetschen. Ich unterhielt mich gern mit ihm, weil er mir nicht ständig das Gefühl gab, drei Jahre jünger zu sein als alle anderen in der Runde. Außerdem teilte er meinen Humor. Wenn ich schon einmal einen meiner seltenen Witze riss, konnte ich in seinem Gesicht ein kleines Grinsen ausmachen, selbst wenn alle anderen mich ignorierten oder den Kopf schüttelten.

Während ich noch überlegte, ob ich hinübergehen sollte, musterte ich Josh unwillkürlich. Mir war bisher nicht aufgefallen, dass er über den Sommer auch den letzten Rest Kindlichkeit verloren hatte, obwohl ich ihn fast jeden Tag sah.

Heute registrierte ich zum ersten Mal seine schärferen Gesichtszüge und seinen definierten Körperbau. Anscheinend nahm er sich jetzt morgens Zeit für seine Frisur. Den ›Colt-Haarschnitt‹, wie ich ihn insgeheim liebevoll nannte, weil er meinem Lieblings-Ninja-Kid sehr ähnlich sah, hatte er bereits vor über einem Jahr abgelegt. Er hatte Max bis auf wenige Zentimeter eingeholt und war nun fast genauso groß. Den deutlichsten Wiedererkennungswert im Vergleich zu dem kleinen, etwas dicklichen Jungen, der er vor einer Weile noch gewesen war, hatten seine Augen und sein Lächeln.

So vertieft in meine heimliche Beobachtung bemerkte ich die Ansammlung junger Mädchen, die man nur als Gänseschar bezeichnen konnte, erst, als ich gerade mein Buch zuklappte, um zu Max’ und Joshs Gruppe zu gehen. Als mir klar wurde, wohin sie wollten, schlug ich mit einem Seufzen mein Buch wieder auf.