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Am helllichten Tag wird DIA-Agent Matt Drake in Austin, Texas, auf offener Straße von mehreren Attentätern überfallen. Wer hat die Killer angeheuert? Warum wollen sie ihn töten? Ist auch seine Familie in Gefahr? Die Antworten auf diese Fragen führen Matt an einige der gefährlichsten Orte im Nahen Osten, wo er in die Fänge eines alten Feindes gerät, der einfach nur als DER TEUFEL bekannt ist … Kyle Mills: »Der Leser wird jede Explosion, jede qualvolle Verletzung und jeden Verrat bis ins Mark spüren.« BookTrib: »Ein blutüberströmter und lebensmüder Matt Drake versucht die Welt zu retten … Bentley gehört zur Spitzengruppe der Autoren militärisch-politischer Thriller.« Coffee or Die Magazine: »Bentley besitzt diese einzigartige Kombination aus erzählerischem Talent und Lebenserfahrung, die seinen Romanen einen Hauch von Realismus verleiht, der nicht vorgetäuscht werden kann. Für Fans von Autoren wie Simon Gervais, Mark Greaney und Jack Carr.« Neben seinen eigenen Action-Thrillern ist Don Bentley auch Co-Autor der Serien JACK RYAN von Tom Clancy und MITCH RAPP von Vince Flynn.
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Seitenzahl: 493
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Amerikanischen von Olaf Bentkämper
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Outside Man
erschien 2021 im Verlag Berkley.
Copyright 2021 by Donald Burton Bentley II
Copyright © dieser Ausgabe 2025 by
Festa Verlag GmbH
Justus-von-Liebig-Straße 10
04451 Borsdorf
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Titelbild: E-Django / 99designs
eISBN 978-3-98676-248-3
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Will, Faith und Kelia –
ich bin so stolz auf jeden von euch und so dankbar,
dass Gott mich als euren Vater auserwählt hat.
Wer auf den König losgeht, sollte ihn besser nicht verfehlen.
– THE WIRE
Es ist gut, dass der Krieg so schrecklich ist, wir würden sonst vielleicht Gefallen daran finden.
– ROBERT E. LEE
1
AUSTIN, TEXAS
Austin im Februar ist das Paradies. Während der Rest des Landes von Schnee, klirrender Kälte oder beidem heimgesucht wird, steht die selbst ernannte Heimat der schrägen Vögel in voller Blüte. Der ewig blaue texanische Himmel erstreckt sich von Horizont zu Horizont, die Temperaturen liegen bei knapp 20 Grad und die Luft riecht nach Holzrauch und langsam gegarter Rinderbrust. Es ist schwer, in Austin im Februar einen schlechten Tag zu haben.
Aber ich versuchte mein Bestes.
Ich trat das Gaspedal durch, als die Ampel von Gelb auf Rot sprang. Der Acht-Zylinder-Hemi reagierte mit einem tiefen Grollen und schleuderte meinen Truck über die Kreuzung. Den Bruchteil einer Sekunde später stieg ich in die Eisen, und der 5000 Pfund schwere Dodge Ram kam mit einem Kreischen zum Stehen. Komfortable 15 Zentimeter trennten meinen Pick-up jetzt von der mit Aufklebern übersäten Stoßstange des metallicblauen Prius vor mir.
Auf der Sitzbank rechts von mir rutschte ein Stapel Akten Richtung Fußraum. Ich langte danach und verfehlte ihn. Stattdessen bekam ich das dünne grüne Seidenpapier zu fassen, in das ein Strauß roter Rosen eingewickelt war.
Im Großen und Ganzen waren mir die Blumen allemal lieber als die Akten. Selbst jetzt, wo sie im Fußraum des Trucks verstreut lagen, konnte ich noch das Wort RADIOLOGIE lesen, das in sterilen Druckbuchstaben oben auf den Seiten stand. Aus dieser Entfernung war die krakelige blaue Handschrift am Rand nicht lesbar, aber ich wusste, was der Arzt gekritzelt hatte.
Der Fahrer des Prius warf einen wütenden Blick in den Rückspiegel und ich musste kichern. Anscheinend galt der COEXIST-Sticker auf seiner Stoßstange nicht für seine Mitbürger in Austin. Zumindest nicht im Mittagsverkehr. Aber um ehrlich zu sein, war ich selbst nicht gerade in der Stimmung für Koexistenz, was allerdings nichts mit dem genervten Prius-Fahrer zu tun hatte. Nein, mein Zorn richtete sich auf den Mann in dem neueren Honda, der eine Kreuzung hinter mir fuhr.
Den Mann, der mich töten wollte.
Mein Name ist Matt Drake und ich habe keinen normalen Beruf. Tatsächlich hatte ich auch im vergangenen Jahr keinen Beruf. Bevor ich mich hatte beurlauben lassen, habe ich aber in einem ganz besonderen Bereich gearbeitet. Einem Bereich, in dem die Fähigkeit, zwischen einem abgelenkten Fahrer und einem geschulten, von Überwachung auf Intervention wechselnden Agenten unterscheiden zu können, eine Frage von Leben und Tod ist.
Daher wusste ich, dass der dunkelhäutige Mann im Honda mehr als nur den Verkehr im Auge hatte. An der vorigen Ampel hatte er einen weißen Tesla Roadster geschnitten, um sich hinter mich zu drängeln, und jeden Anschein von Heimlichkeit aufgegeben. Er war mir nicht über die rote Ampel gefolgt, was mir ein bisschen Zeit verschaffte, aber nicht viel.
Während ich darauf wartete, dass die Ampel vor mir auf Grün sprang, langte der Fahrer des Hondas über seinen Kopf und verstellte die Sonnenblende. Diese scheinbar harmlose Bewegung lieferte mir die endgültige Bestätigung. Der Fahrer trug Handschuhe, und das bei fast 20 Grad. Und nicht nur irgendwelche Handschuhe, sondern die dünne Nomex-Variante, die bis zur Mitte des Unterarms reicht. Solche Handschuhe werden nur von zwei Arten von Menschen getragen: Piloten und Killern.
Mein Urlaub war offiziell vorbei.
Mein Gewicht auf dem Sitz verlagernd, zog ich die Glock 23, die ich in meinem Don-Hume-Innenholster verstaut hatte, und prüfte das Patronenlager. Ein glänzendes Hohlspitzgeschoss Kaliber 40 blinzelte mich an. Ich ließ den Schlitten nach vorn gleiten, legte die Pistole auf den Sitz zwischen meine Beine und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte.
Die Ampel wurde grün und der Verkehr rollte weiter. Zumindest der größte Teil davon. Mr. Coexist tat es nicht. Stattdessen kroch er im Schneckentempo auf die Kreuzung zu und drehte an der Uhr, bis die Ampel auf Gelb umsprang. Dann gab er Gas und brauste im letzten Moment über die Kreuzung. Als sein winziges Auto unter der nun roten Ampel hindurchfuhr, zeigte er mir zum Abschied seinen gestreckten Mittelfinger.
Hinter mir fuhr der Killer über die Kreuzung und schob sich bis an meine Stoßstange heran.
Der Schlüssel, um einen Hinterhalt zu überleben, ist eigentlich ganz einfach: Man darf nicht in die Kill Zone, die Todeszone, geraten. Ich wusste nicht, wo der Killer mich angreifen wollte, aber da noch kein Blei in der Luft war, musste die Kill Zone irgendwo vor uns liegen. Das bedeutete, dass ich jetzt handeln musste.
Mit dem linken Fuß auf der Bremse schaltete ich in den Leerlauf und ließ mit dem rechten Fuß den Motor hochdrehen. Als die Drehzahl die 6000 überschritt, schnallte ich mich an, klemmte die Glock unter mein rechtes Bein und machte mich bereit, den Rückwärtsgang einzulegen.
Und genau in dem Moment trat eine Frau mit einem Kinderwagen auf die Straße.
2
Die Frau trug eine schwarze Yogahose und ein grellpinkes Tanktop, das ihre straffen gebräunten Arme zur Geltung brachte. Weiße Ohrhörer vervollständigten das Outfit – natürlich kabellos, wie es sich im hippen Austin gehörte. Sie schob den Kinderwagen direkt vor die vibrierende Motorhaube meines Trucks, als würde nichts auf der Welt sie kümmern – auch das war Austin im Februar. Aber selbst wenn sie die wachsamste Mutter der Welt gewesen wäre, hätte sie eine Schießerei mitten in South Congress wohl nicht auf dem Schirm gehabt. Das war einfach nicht ihr Alltag.
Meiner schon.
Hinter mir sprach der Killer in sein Handy. Das bedeutete, dass er nicht allein war. Was bedeutete, dass meine Zeit ablief.
Den Rückwärtsgang einlegend riss ich das Lenkrad nach links. Der Hemi enttäuschte nicht, sehr zum Leidwesen des kompakten Hyundai zu meiner Rechten. Gerade noch hatte dessen Fahrer verträumt den strahlend blauen Himmel über Austin betrachtet, jetzt schrammte der schwarze Schutzbügel meiner Stoßstange seine smaragdgrüne Seitenwand, als ich meinen Truck in einen rechten Winkel zur Bedrohung hinter mir drehte.
Keine perfekte Lösung, aber es würde reichen.
Ich schnappte mir die Glock, sprang aus dem Auto und sah mich der Frau und ihrem Kinderwagen gegenüber. Sofort wechselte sie in den Bärenmutter-Modus. Obwohl ihre Augen groß wie Untertassen waren, stellte sie sich zwischen mich und ihre wertvolle Fracht. Dann schrie sie eine Frage heraus.
»Sind Sie irre?«
Gute Frage, über deren Antwort man ganze Bücher schreiben könnte. Dennoch verstand ich, warum sie die Frage stellte. Meine derzeitige äußere Erscheinung war das, was meine Frau gern neckisch als rustikal bezeichnete. Zumindest hoffte ich, dass es neckisch gemeint war. Mein Haar war struppig und mein Gesicht hatte seit drei Tagen keinen Rasierer gesehen. Mein Hemd war gebügelt, meine Jeans waren sauber und meine Ariat-Cowboystiefel geputzt. Trotzdem hatte ich irgendetwas an mir, das der Frau nicht passte. Vielleicht lag es daran, dass meine breiten Schultern und vernarbten Fingerknöchel nicht so recht zu meinem sorgfältig kultivierten Rumtreiber-Stil passten. Vielleicht war es aber auch etwas anderes.
Etwas Ursprünglicheres.
Wie auch immer, ich hatte keine Zeit für Nettigkeiten. Ich packte die Frau an ihrem durchtrainierten Arm und zog sie und ihren Kinderwagen in die relative Sicherheit, die der Radkasten meines Pick-ups bot.
»FBI«, sagte ich, weiter ihren Arm festhaltend. »Runter!«
Dass wir uns nicht missverstehen: Ich bin kein Polizeibeamter irgendeiner Art. Die Männer und Frauen in diesem Berufsfeld müssen vor Geschworenen stehen und schwören, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr ihnen Gott helfe. Meine eigene Beziehung zur Wahrheit war ein bisschen problematischer. Ich empfinde es zum Beispiel hin und wieder als vorteilhaft, mich als FBI-Agent auszugeben. Denn die meisten Amerikaner scheinen darauf konditioniert zu sein, FBI-Agenten zu vertrauen und ihren Befehlen zu gehorchen.
Leider war meine neue Freundin nicht wie die meisten Amerikaner.
»Nehmen Sie die Hände weg«, sagte sie und befreite sich mit überraschender Leichtigkeit aus meinem Griff.
Das Mädel trieb Sport. Vielleicht Pilates oder Kickboxen.
Ich packte ihren linken Arm, die Finger um ihren Bizeps gelegt, und versuchte, sie wieder in Sicherheit zu ziehen. Sie brachte ihren Unmut mit einem ziemlich respektablen rechten Cross zum Ausdruck. Ihre Fingerknöchel trafen genau mein Jochbein und ich spürte die Erschütterung bis in den Nacken.
Definitiv Kickboxen.
»Der Mann hinter mir hat eine Waffe«, sagte ich, einer kurzen Geraden ausweichend, während ich sie und den Kinderwagen hinter den Vorderreifen des Trucks zerrte.
»Sie auch«, sagte sie und versuchte, mir mit ihrem makellos weißen Sneaker auf den Spann zu treten.
Gott segne die Mädchen aus Texas.
Ich zog meinen Fuß zur Seite. Gerade noch so. Wenn das hier vorbei war, würde ich ihrem Kickboxtrainer vielleicht einen Besuch abstatten und zu seiner Arbeit gratulieren. Ich habe Mitglieder der Muslimbrüder in Kairo mit weniger Aufwand von der Straße geholt.
Eine Polizeisirene heulte durch die Luft, wieder einmal Dads Weisheit belegend, dass, wenn es regnet, ein Bär in den Wald scheißt. Keine Ahnung, was das bedeuten soll, aber Dad wirkte immer sehr überzeugend, wenn er es sagte.
Die Löwin, die sich als Vorstadtmom ausgab, visierte mit dem Ellbogen meine Leiste an. Ich drehte mich mit dem Schlag, sodass sie mich nur an der Außenseite meines Oberschenkels erwischte. Ich ignorierte das Stechen in meinem Bein und lugte über die Motorhaube des Trucks. Was ich auf der anderen Seite sah, war nicht schön. Einer der Freunde und Helfer der Stadt Austin stieg aus seinem Streifenwagen, seine Pistole in der Hand. Seine kräftigen Schultern und seine schmale Taille standen im Kontrast zu seinem Babyface und seinen rosigen Wangen. Er sah nicht einen Tag älter als 20 aus, aber ob jung oder nicht, er kam in meine Richtung gerannt, bereit, die Sache in die Hand zu nehmen. Als sich unsere Blicke trafen, blieb er stehen und ging in Schießstellung.
Direkt neben dem Honda.
Ich versuchte, eine Warnung zu rufen, war aber nicht schnell genug.
Der Polizist zuckte wie eine Marionette, sein Körper von Krämpfen geschüttelt. Die begleitende Serie von Knallgeräuschen war überraschend leise. Der Schütze hatte eine Maschinenpistole mit Schalldämpfer – eine Variante von Heckler & Koch, wenn ich raten müsste. Die 9-Millimeter-Pistolenkugeln hatten nicht die Durchschlagskraft eines Sturmgewehrs, aber die Waffe war präzise, kompakt und leicht schallzudämpfen.
Kurz gesagt, das perfekte Werkzeug für einen Killer.
Der Cop sackte in einem Gewirr aus Gliedmaßen zu Boden. Die blutgetränkte rechte Seite seiner Uniform deutete darauf hin, dass mindestens eine der Kugeln entweder durch oder unter seine Weste gedrungen war. Das war ein wichtiger Unterschied. Durch die Weste bedeutete, dass der Killer Geschosse abfeuerte, die dafür ausgelegt waren, Körperpanzerungen zu durchschlagen. Das deutete zusammen mit der schallgedämpften HK auf einen Schützen hin, der sowohl gut finanziert als auch gut ausgebildet war.
Wie meine SEAL-Freunde zu sagen pflegen: Der einzige leichte Tag war gestern.
»Bleiben Sie hier«, sagte ich zu der Teufelin. Zum ersten Mal in unserer kurzen, aber turbulenten Beziehung hörte sie auf mich. Vielleicht war es etwas, das sie in meiner Miene sah oder in meiner Stimme hörte. Oder vielleicht brachte ihre mütterliche Intuition irgendwie die schallgedämpften Schüsse mit dem zerbrechenden Glas in Verbindung. Wie auch immer, sie nickte und ihr blonder Pferdeschwanz wippte, während sie ihr zappelndes Baby aus dem Kinderwagen hob.
»Wohin gehen Sie?«, fragte sie und drückte sich mit dem Rücken gegen den Reifen des Trucks.
»Das hier beenden.«
3
Die wichtigste Regel für das Überleben einer Schießerei ist simpel: Vermeiden Sie es, zur selben Zeit am selben Ort wie eine Kugel zu sein. Aber in der Praxis ist das oft leichter gesagt als getan. Deshalb lief ich zum Heck meines Trucks, statt um die vordere Stoßstange herumzuspähen.
Wenn sie unter starkem Stress stehen, reagieren Menschen instinktiv. Da der Schütze mich zuletzt neben der Motorhaube hatte kauern sehen, würde er sich instinktiv weiter auf diese Stelle konzentrieren. Gleichzeitig rieten meine Instinkte mir, über die Motorhaube zu setzen und mit der Glock auf ihn zuzulaufen.
Also tat ich das Gegenteil.
Als ich um die hintere Stoßstange meines Trucks herumkam, baute sich die Szenerie vor mir in einer Abfolge unzusammenhängender Bilder auf, während die Zeit sich zu verlangsamen schien. Rechts von mir stieß der Cop ein feuchtes Husten aus, das seine Lippen mit roten Flecken sprenkelte. Links von mir war der Fahrer eines orangefarbenen Audi gerade dabei, seine Tür zu öffnen. Er hielt inne, als er die Glock in meiner Hand sah. Ich belohnte sein Zögern, indem ich seine Tür mit der Hüfte zuschlug. Dann konzentrierte ich mich auf den Schützen, der immer noch in seinem Auto saß und gebannt auf meinen Truck starrte.
Mein Waffenausbilder auf der Farm – dem Ausbildungszentrum der CIA in Camp Peary – pflegte zu sagen, dass Pistolen reine Verteidigungswaffen seien. Ich war ganz seiner Meinung. Leider stand mir die modifizierte M4, die ich beim Ranger-Regiment getragen hatte, im Moment nicht zur Verfügung.
Ebenso wie die Option, in der Defensive zu bleiben.
Obwohl sie ein kleineres Kaliber als meine Glock abfeuerte, hatte die HK des Schützen einen viel längeren Lauf, wodurch sie naturgemäß präziser war. Das bedeutete, dass ich nicht den Luxus hatte, mich hinter einem Auto zu verstecken und mich auf einen Schusswechsel mit meinem Angreifer einzulassen. Stattdessen musste ich mich auf die beiden Dinge verlassen, die Infanteristen seit der Erfindung der Muskete am Leben erhalten haben: Schnelligkeit und entschlossenes Handeln.
Ich brachte die Glock auf Augenhöhe. Mein Fokus verengte sich und verengte sich dann noch mehr, als ich die Brust des Schützen anvisierte. Ich begann den Abzug zu drücken, als das Korn der Glock mit der Aussparung in der Kimme auf gleicher Höhe war.
Gleiche Höhe, gleiches Licht.
Schuss.
Durch den Rückstoß wanderte der Balken des Korns nach oben, dann senkte er sich wieder in die Aussparung der Kimme.
Schuss.
Der Vorgang wiederholte sich.
Ich gab noch ein paar gezielte Schüsse ab, bevor ich zum ersten Mal am Korn vorbeischaute, während ich mich vorwärtsbewegte. Ich verlagerte mein Gewicht von der Ferse auf die Zehen in einer fließenden Bewegung, die ich durch Tausende von Schüssen und Hunderte von Stunden auf dem Schießstand perfektioniert hatte. Die Frontscheibe des Honda war um mein Trefferbild herum spinnwebenartig geborsten, aber der Fahrer war noch sehr lebendig.
Jemanden, der in einem Auto sitzt, zu töten, ist schwierig. Fenster, Türen und eine Reihe anderer Hindernisse konnten die Flugbahn einer Kugel in einer Weise beeinflussen, die unmöglich vorherzusehen war. Ich habe gesehen, wie Terroristen durch einen einzigen Schuss getötet wurden und wie Kämpfer unversehrt blieben, die mit einem Trommelfeuer automatischer Waffen belegt wurden.
Letztlich gab es nur eine Möglichkeit, um sicher zu sein: Ich musste näher heran.
Auf die Motorhaube des Wagens springend feuerte ich aus der hohen Vorhalteposition. Mit dem Zielen nahm ich es nicht mehr so genau, stattdessen jagte ich einen steten Strom aus Blei durch die Windschutzscheibe, während ich vorrückte. Der Fahrer zuckte und eine HK MP5 fiel ihm aus den Händen.
Ich nahm seine Stirn ins Visier und drückte noch zweimal ab. Er hatte den Kampf angefangen. Jetzt war keine Zeit für Gnade. Sein Körper zuckte wieder, als sich meine Hohlspitzgeschosse durch den Nasenrücken und die rechte Augenhöhle bohrten.
Dann sackte er regungslos nach vorn.
Die ganze Aktion hatte vielleicht 15 Sekunden gedauert, aber es hatte sich wie 15 Jahre angefühlt. Als mein Gehirn endlich verstand, dass die lebensbedrohliche Situation vorbei war, schalteten sich auch meine anderen Sinne wieder ein. Ich spürte den genoppten Griff der Glock unter meinen Fingern und roch den kupfernen Geruch von Blut, vermischt mit dem beißenden Gestank von Schießpulver.
Aber es war mein Gehör, das die Dinge ins rechte Licht rückte. Über dem Klingeln in meinen Ohren und dem Stöhnen des verwundeten Cops verlangte noch etwas anderes meine Aufmerksamkeit: quietschende Reifen und krachender Stahl, als zwei SUVs sich ihren Weg durch den Stau bahnten. Einer schwang rechts von mir auf den Bordstein hinauf, während der andere links von mir über den Bürgersteig polterte.
Beide kamen direkt auf mich zu.
4
In meinem Beruf ist eine gute Ausbildung wichtig, aber nichts geht über Erfahrung. Als die beiden SUVs auf mich zusteuerten, konnte ich dank meiner Erfahrung in Dreckslöchern auf der ganzen Welt mehrere Dinge auf einmal verarbeiten. Erstens: Der Schlitten meiner Glock war hinten eingerastet, was hieß, dass das Magazin leer war. Zweitens: Mein Ersatzmagazin befand sich im Handschuhfach meines Trucks, was bedeutete, dass es in diesem Moment genauso gut auf der anderen Seite der Welt hätte sein können. Drittens: Die beiden Fahrzeuge, die auf beiden Seiten der Straße durch den Gegenverkehr rasten, waren wahrscheinlich nicht auf der Seite der Engel.
Die Kumpels des Killers rückten an, und ich war ihnen waffentechnisch und zahlenmäßig unterlegen und Munition hatte ich auch keine mehr.
Mit anderen Worten: ein ganz normaler Tag im Büro.
Ich sprang von der Motorhaube und landete neben dem verwundeten Cop, als quietschende Bremsen und sich öffnende Autotüren das Eintreffen der Verstärkung verkündeten. Der Cop war ein großer Bursche, der mitsamt seiner Ausrüstung wohl über 100 Kilo auf die Waage brachte. Ich ließ die Pistole fallen, griff mit beiden Händen die Stoffschlaufe an der Oberseite seiner taktischen Weste und begann, begleitet vom Popp, Popp, Popp mehrerer schallgedämpfter automatischer Waffen, ihn in Richtung meines Trucks zu ziehen.
Die Kugeln schwirrten wie tollwütige Hornissen um meinen Kopf herum, aber ich lief weiter, bis ein Querschläger meine rechte Wade erwischte, was sofort einen Krampf verursachte. Dank einer Mischung aus Adrenalin und Zähigkeit gelang es mir, den Cop hinter den Vorderreifen meines Trucks zu zerren. Dann übernahm die Physik das Kommando. Ich sackte neben der Ninja-Mutter und ihrem Kleinkind zusammen und arbeitete den Krampf aus meinem Bein heraus. Wieder weiteten sich ihre Augen bei meinem unerwarteten Erscheinen, aber dieses Mal versuchte sie nicht, mir eine zu langen.
Allmählich ging es aufwärts.
»Ich dachte, Sie wollten das hier beenden«, sagte sie, während mein Truck unter dem Beschuss der automatischen Waffen wankte.
»Bin dabei«, sagte ich und zog die Pistole des Cops aus dem Holster.
Wie so viele Cops schien er zu glauben, dass größer auch besser ist. Er trug eine maßangefertigte Springfield 1911. Es handelte sich um eine äußerst präzise Pistole vom Kaliber 45, die jedoch nur sieben Patronen in ihrem Einzelmagazin fasste, plus eine im Patronenlager. Das war ein Problem. Bei Schusswechseln mit mehreren Gegnern waren mehr Kugeln grundsätzlich besser.
Dennoch, eine Springfield .45 mit acht Schuss war allemal besser als eine Glock mit null. Den geriffelten Nussholzgriff mit beiden Händen fassend, drückte ich mich an den Pick-up und riskierte einen Blick.
Was ich sah, nahm mir den sprichwörtlichen Wind aus den Segeln.
Zwei Teams zu je zwei Schützen bewegten sich mit lehrbuchmäßiger Präzision auf mich zu. Die Männer rückten auf beiden Straßenseiten vor, wobei ein Mitglied jedes Teams seinem Partner mit kurzen, kontrollierten Salven Deckungsfeuer gab.
Diese Burschen verstanden ihr Geschäft.
Über den schmalen Lauf der Springfield visierend, feuerte ich ein paar gezielte Schüsse auf den vorrückenden Schützen zu meiner Linken ab, bevor ich das Gleiche mit dem Schützen zu meiner Rechten tat. Das kanonenartige Gebrüll der 45er hallte über die Straße und übertönte fast das schallgedämpfte Knallen der HKs. Meine Schüsse gingen daneben, aber die vorrückenden Schützen hielten dennoch inne, um die taktische Situation neu zu bewerten.
Ein Punkt für die Guten.
Leider hatte mich dieser einzige Schusswechsel auch die Hälfte meiner Munition gekostet.
Das war nicht so gut.
Ich duckte mich hinter die Motorhaube des Pick-ups, griff nach den ledernen Magazinhaltern, die am Gürtel des Cops befestigt waren, und hielt dann mitten in der Bewegung inne, als mein Blick auf das Funkgerät fiel, das an seiner Brust befestigt war. Verdammt noch eins, wo hatte ich bloß meinen Kopf?
Ich riss dem Cop das Funkgerät vom blutigen Hemd und drückte die Sendetaste.
»Schießerei Ecke Congress und Chavez Street. Polizist verletzt. Mehrere Schusswunden.«
Ich ließ die Sendetaste los und mehrere Stimmen meldeten sich. Stimmen, auf die zu antworten ich keine Zeit hatte. Stattdessen schnappte ich mir zwei Magazine aus dem Gürtel des Cops, lud die Springfield nach und sprang wieder auf die Motorhaube.
Das Team aus vier Schützen war nun auf gleicher Höhe mit dem Honda des Killers. Während in der Ferne Polizeisirenen heulten, befreite einer der Männer den toten Schützen aus dem Wagen. Der zweite warf etwas von der Größe einer Coladose auf den Rücksitz.
Mein plötzliches Auftauchen wurde von einem weiteren Kugelhagel begrüßt, und ich warf mich auf den Asphalt. Auf der Seite liegend streckte ich mich über den Vorderreifen hinaus und linste um die Stoßstange. Über das Korn meiner Waffe fand ich einen der Bewaffneten. Ich gab einen Schuss ab und wollte gerade einen zweiten abfeuern, als der Honda explodierte.
Die Erschütterung drückte mich zu Boden, gerade als eine Radkappe wie eine Sense an meinem Gesicht vorbeischoss. Ich klammerte mich an die Stoßstange und zog mich in eine sitzende Position, während sich das Killerkommando mit kurzen, disziplinierten Sätzen zurückzog.
Der Profi in mir bewunderte die taktische Solidität des Teams. Ihr Rückzugsmanöver lief wie im Lehrbuch ab, wie etwas aus dem Film Heat. Dass ich noch am Leben war, verdankte ich dem Heer der herannahenden Polizeisirenen. Noch ein paar Minuten, und das Team hätte mich in die Zange genommen. Manche Leute behaupten ja, es sei besser, Glück zu haben, als gut zu sein, aber mir sind eine M4 mit EOTech-Reflexvisier und ein taktischer Gurt voller Ersatzmagazine allemal lieber als Glück.
Was übrigens genau das war, was der Cop, der soeben um die Ecke kam, bei sich hatte.
5
Gute Cops sind absolut furchtlos. Sie stürmen mitten im Raubüberfall in die Bank und laufen auf das Geräusch der Schüsse zu. Der Bursche, der um das Gebäude gerannt kam, während das Killerkommando in seine SUVs stieg, war keine Ausnahme. Seine Augen fanden mich, dann meine Waffe, dann seinen blutüberströmten Kollegen.
Er zögerte keine Sekunde.
Er hob die M4 mit einer fließenden Bewegung an die Schulter und begann, den Abzug zu drücken. Er brüllte nicht »keine Bewegung«, forderte mich nicht auf, die Waffe fallen zu lassen, und rief auch nicht nach Verstärkung. Er sah eine Bedrohung und ging daran, sie zu eliminieren.
Aber er sah nicht, dass der Schütze zu meiner Linken zögerte, als er in seinen SUV stieg. Ich mochte das Ziel gewesen sein, aber das war, bevor die Operation schiefgegangen war. Jetzt waren die bösen Buben auf dem Rückzug. Davon, dass ich hinter meinem demolierten Truck kauerte, würden sie sich nicht aufhalten lassen, aber der Cop war eine andere Geschichte. Sollte er ihre Beschreibung durchgeben, konnten sie ihren geordneten Rückzug vergessen.
Was bedeutete, dass der Cop sterben musste.
Also schoss ich auf ihn.
Streng genommen feuerten wir drei unsere Waffen fast gleichzeitig ab. Aber ich schoss zuerst. Meine Kugel traf den Cop mitten in die Brustplatte, und auch wenn er ein großer Bursche war, brachte ihn ein Treffer auf die Panzerung dennoch ins Wanken. Das bedeutete, dass seine Kugel meine Schulter streifte, statt mich in die Brust zu treffen, und die Salve aus der HK des Killers bohrte sich in die Mauer über dem Cop statt in seine Stirn.
Alter Schwede.
Das Brennen in meiner Schulter und das Pochen in meiner Wade ignorierend, gab ich eine weitere Salve gezielter Schüsse auf den Killer ab. Ich traf ihn zwar nicht, aber die Botschaft kam trotzdem an. Statt den Cop zu erledigen, der auf allen vieren nach Luft schnappte, sprang der Killer in den SUV und schlug die Tür zu. Der SUV setzte zurück, fuhr einen Zeitungsstand über den Haufen und verschwand dann quietschend in einer Seitenstraße, den zweiten SUV im Schlepptau.
Inzwischen schienen von überall kreischende Sirenen zu kommen. Ein halbes Dutzend Rettungsfahrzeuge kamen aus allen Richtungen auf den brennenden Honda zu. Ein Streifenwagen hielt hinter mir und eine Polizistin sprang auf der Fahrerseite heraus.
»Waffe fallen lassen«, sagte sie, die Mündung ihrer Pistole trotz ihrer adrenalingetränkten Stimme fest auf mich gerichtet.
Diesmal tat ich, wie mir geheißen, und legte die Springfield mit langsamen, überzogenen Bewegungen auf das Pflaster. Nachdem ich die Pistole losgelassen hatte, begann ich aufzustehen. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Ein Meer aus blauen Uniformen stürzte sich auf mich und drückte mich zu Boden. Ausnahmsweise schien Mama Bär auf meiner Seite zu sein. Ich hörte sie schreien, dass ich auf der Seite der Guten war, aber die Cops wollten nichts davon hören. Metall biss in meine Handgelenke, als jemand Handschellen anlegte.
Dann nahmen sie mich richtig durch.
Vielleicht hätte ich sauer sein sollen, den Arsch versohlt zu bekommen, nachdem ich gerade einem Cop das Leben gerettet hatte, aber ich konnte es ihnen nicht verdenken. Der Cop mit der aufgemotzten M4 und der taktischen Weste war noch am Leben, aber der junge Bursche, der als Erster eingetroffen war, lag regungslos in einer Lache seines eigenen Bluts. Jemand hatte versucht, mich zu töten, und einer der Freunde und Helfer von Austin war im Weg gewesen. Jetzt war ein Junge, der kaum alt genug war, um sich zu rasieren, tot.
Und das Schlimmste war, dass ich nicht einmal wusste, warum.
6
»Sie sind wie Herpes. Sie kommen einfach immer wieder zurück.«
Ich würdigte die Bemerkung keiner Antwort. Zumindest nicht gleich. Die Prügel, die ich von den Cops bezogen hatte, hatten mich mehr mitgenommen, als ich zugeben wollte. Deshalb fiel es mir schwer, eine passende Erwiderung zu formulieren. Zumindest hoffte ich, dass das die Ursache für meine Benommenheit war. Unwillkürlich kam mir der Arztbericht in den Sinn, der im Fußraum meines Trucks lag.
Und dann fing das Zittern an.
»Hey – was zum Teufel ist los mit Ihnen?«
Normalerweise begann das Zittern schwach und ging von den kleinen Muskelgruppen in meinen Extremitäten aus, bevor sich die Zuckungen auf Brust, Rücken und Arme ausweiteten. Aber diesmal nicht. Diesmal zitterten meine Hände und Schultern sofort wie die eines Junkies.
»Ich freue mich nur, Sie wiederzusehen«, sagte ich mit klappernden Zähnen. »Agent Rawlings, richtig?«
Ich konnte meine Hände nicht mehr kontrollieren, und die Handschellen und die Metallkette, die sie zusammenhielten, klapperten wie die Armreife einer Wahrsagerin.
»Haben Sie einen Schlaganfall?«, fragte Rawlings.
»Nein. Vielleicht. Es ist kompliziert. Es ist entweder eine physiologische Reaktion auf einen zuvor erlebten psychosomatischen Stressfaktor oder die Nebenwirkung einer experimentellen chemischen Waffe. Der Arzt war da etwas unspezifisch.«
»Soll ich einen Arzt rufen?«
»Sie sollen mir vor allem diese Scheißdinger abnehmen«, sagte ich und hielt meine gefesselten Hände über den IKEA-Tisch, der uns trennte.
Durch das Zittern vibrierte die Kette, die die Schellen verband, wie eine Stimmgabel. Trotzdem sah ich die Unentschlossenheit in Agent Rawlings’ Gesicht. Nach den Aussagen der Ninja-Mom und anderer Augenzeugen musste er zu 99 Prozent sicher sein, dass ich die Schießerei auf der South Congress Avenue nicht angezettelt hatte. Aber das restliche eine Prozent war ein Miststück, zumal die Dinge ein bisschen aus dem Ruder gelaufen waren, als wir uns das letzte Mal begegnet waren.
Es war an der Zeit, den Elefanten im Raum anzusprechen.
»Schauen Sie, Sie wissen, wer ich bin und was ich mache. Es tut mir leid, wie die Sache beim letzten Mal gelaufen ist, aber wir wissen beide, dass Sie ein Stück weit selbst schuld waren. Jetzt nehmen Sie mir die Handschellen ab, bevor es unangenehm wird.«
Rawlings zögerte noch einen Moment, dann griff er in seine Jackentasche und fischte einen Handschellenschlüssel heraus, genau wie ich es erwartet hatte.
Unsere gemeinsame Geschichte beschränkte sich auf ein Scharmützel am Flughafen von Austin, ich kannte ihn also nicht besonders gut. Aber ich kannte Typen wie ihn. Special Agent Rawlings trug, so wie bei unserer letzten Begegnung, Sakko, Slacks, geknöpftes Hemd und Schnürschuhe. Sein braunes Haar war modisch geschnitten und er hatte das aufrichtige Gesicht von jemandem, dem man vertrauen würde.
Rawlings war Angestellter des Federal Bureau of Investigation. Das war ein wichtiger Unterschied zwischen uns, denn das FBI war in erster Linie eine Strafverfolgungsbehörde. Im Gegensatz zu mir war Rawlings Anwälten und Richtern unterstellt, die es nicht gern sahen, wenn Menschen, die keine Bedrohung darstellten, Handschellen angelegt wurden. Vor allem Menschen, die eine diffuse medizinische Episode durchlebten.
Anders als Sie vielleicht denken, liebe ich die Verfassung. Ich mag es nur nicht, wenn wir versuchen, unsere Gründungsprinzipien auf sämtliche Drecksäcke dieser Welt anzuwenden. Der amerikanische Exzeptionalismus beruht auf den Werten Amerikas, und diese Werte unterscheiden sich grundlegend von denen, die ein Großteil der übrigen Welt vertritt. Je eher wir aufhören, so zu tun, als ob dem nicht so wäre, desto eher können wir uns mit den wirklichen Problemen der Welt befassen.
Rawlings hielt die Kette in seinen nikotinfleckigen Fingern, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte. Die Metallfessel öffnete sich mit einem hörbaren Knall. Er tat dasselbe mit der zweiten Handschelle, und schon war ich frei.
Meine Hände zu Fäusten ballend, schloss ich die Augen und stieg in den ersten Song ein, der mir in den Sinn kam.
Während meiner selbst auferlegten Auszeit hatte ich angefangen, ernsthaft Gitarrenunterricht zu nehmen. Wie die Schwielen an meinen Fingerkuppen bezeugen, hatte sich mein Können über einfache G-C-D-Akkordfolgen hinaus entwickelt. Trotzdem hatte ich weiterhin die eindringliche Stimme von Glenn Frey im Ohr, wenn ich an die erste Strophe von »Take It Easy« dachte. Ich stellte mir vor, wie ich ihn auf der Gitarre begleitete, wobei meine linke Hand die Akkorde auf meiner alten, verbeulten Gibson-Kopie griff, während die Finger meiner rechten Hand die Muster schlugen. Als ich den Refrain erreichte, verspürte ich keine Spannung mehr in Schultern und Rücken. Mit dem Beginn der Bridge hörte das Zittern ganz auf.
Für den Moment.
Ich atmete tief ein und hielt die Luft an, bis meine Lunge zu brennen anfing, bevor ich langsam wieder ausatmete. Dann öffnete ich die Augen.
»Was war das?«, fragte Rawlings.
»Habe ich Ihnen schon erzählt«, sagte ich und legte meine soeben befreiten Hände auf die Knie. »Also, worum geht’s hier?«
»Worum es hier geht?«, fragte Rawlings. »Im Ernst? Wer waren die Schützen?«
»Keine Ahnung.«
»Bullshit.«
»Echt jetzt?«, fragte ich. »Ein Team von hervorragend ausgebildeten Killern hat gerade Austin zusammengeballert und Sie wollen den bösen Bullen geben?«
»Sie waren nicht gerade ein unbeteiligter Zuschauer.«
»Was soll das heißen?«
»Sie hatten es auf Sie abgesehen«, sagte Rawlings.
»Stimmt. Aber wie genau macht mich das zu einem Mittäter?«
»Ein Team von Profis hat versucht, Sie am helllichten Tag zu töten. Sie sind weder Kartellmitglied noch Mafioso, das gebe ich gern zu. Aber Lehrer sind Sie auch nicht. Sie sind Offizier der Defense Intelligence Agency. Ihr Beruf hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass South Congress zum O. K. Corral wurde. Ich wette, dass Sie vielleicht sogar eine Ahnung haben, warum.«
Rawlings lehnte sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln in seinem Stuhl zurück wie ein Anwalt, der gerade sein Schlussplädoyer gehalten hat. Wahrscheinlich war er auch einer, denn das FBI wimmelte von Anwälten. Doch nur weil er den Fehler gemacht hatte, Jura zu studieren, hieß das nicht, dass Rawlings unrecht hatte. Tatsächlich hatte ich so eine Ahnung, warum.
Das Attentat war keine Schießerei zwischen zwei Gangs gewesen. Diese Männer waren Profis, die es auf eine einzelne Person abgesehen hatten – auf mich. Und da ich kein besonders interessanter Mensch bin, hatte ihre Aufmerksamkeit vermutlich etwas mit meinem Beruf zu tun.
Beziehungsweise meinem früheren Beruf.
In letzter Zeit war dieser Unterschied immer unklarer geworden. Aber da ich ein Spion und kein Cop wie Rawlings war, tat ich, was Spione am besten können. Ich beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage.
»Was wissen Sie über die Schützen?«, fragte ich.
»Nix da«, sagte Rawlings und schüttelte den Kopf. »So läuft das nicht. Sie sind in meinem Haus. Ich stelle die Fragen. Sagen Sie mir, was Sie wissen, und ich werde mich erkenntlich zeigen.«
»Okay. Das geht schnell; was gut ist, denn ich bin spät dran für ein Date mit meiner Frau. Ich habe keine Ahnung. Sie sind dran.«
Zum ersten Mal sah ich, wie der Stress, unter dem Rawlings stand, durch seine sorgfältig kultivierte ausdruckslose Miene brach. Was in South Congress passiert war, war zweifellos größer als alles, was Austins winzige FBI-Außenstelle seit Langem erlebt hatte. Vielleicht sogar jemals. Die Schießerei hatte sich vermutlich schon bis ins Hauptquartier herumgesprochen. Rawlings’ Reaktion nach zu urteilen, war man dort alles andere als begeistert.
»Hören Sie mir zu«, sagte Rawlings und beugte sich über den Tisch. »Ich bin das Einzige, was zwischen Ihnen und einem Gebäude voller Cops steht, die davon überzeugt sind, dass Sie für den Tod eines Kollegen verantwortlich sind. Ein Wort von mir, und zwei von denen bringen Sie nach Downtown in eine Zelle. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass diese Fahrt nicht angenehm sein wird. Wenn Sie nicht die nächsten 48 Stunden damit verbringen wollen, sich mit MS-13-Zellengenossen anzufreunden, fangen Sie besser an zu reden.«
»Agent Rawlings, ich habe Sie wirklich für schlauer gehalten. Ihnen wurde an der Akademie doch beigebracht, wie man ermittelt, oder? Also ermitteln Sie. Was hatte ich in der Hand, als ich in Gewahrsam genommen wurde?«
»Eine Pistole.«
»Etwas genauer bitte«, sagte ich. »Es war die Waffe des Streifenpolizisten. Warum hatte ich seine Pistole?«
»Weil Sie keine Munition mehr hatten.«
»Ganz genau. Und das, weil ich ein Magazin in meiner Glock hatte und kein zweites bei mir. Bitte besinnen Sie sich für einen Moment auf Ihre legendäre Ausbildung beim FBI. Wirke ich auf Sie wie jemand, der mit einer Glock und einem einzigen Magazin unterwegs ist, wenn er weiß, dass er von einem Killerkommando gejagt wird?«
Rawlings sah mich einen Moment an und versuchte, sich ein Szenario auszumalen, in dem ich mehr wusste als das, was ich preisgab. Zu seinem Bedauern waren Fakten recht hartnäckige Gesellen. Mit einem resignierten Seufzer schüttelte er langsam den Kopf.
»Nein, das tun Sie nicht«, sagte Rawlings.
»Verdammt richtig, das tue ich nicht. Hätte ich von den Killern gewusst, hätte ich eine M4 auf dem Beifahrersitz, eine unauffällige Schutzweste unter dem Hemd und mindestens drei Ersatzmagazine bei mir gehabt. Ganz zu schweigen von einem Aufklärungsteam und einem eigenen Trupp Scharfschützen. Aber Sie haben keine zusätzliche Ausrüstung in meinem Truck gefunden, oder?«
»Nein.«
»Das liegt daran, dass ich keine Ahnung habe, wer diese Kerle waren. Aber ich glaube, Sie schon.«
Mein Statement war nicht direkt eine Frage gewesen, aber Rawlings’ Körpersprache verriet, dass er wusste, worauf ich hinauswollte. Er stieß sich vom Tisch ab, als würde er versuchen, meiner Frage auszuweichen. Aber er war nicht der Einzige, der sein Handwerk an einer erstklassigen Schule gelernt hatte.
Die Ausbildung für angehende Spione in Camp Peary war nicht weniger renommiert als die der Quantico Academy des FBI.
Ich hatte von den Besten der Branche gelernt, wie man Agenten anwirbt und führt. In den sieben Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte ich meine Fähigkeiten, Informationen zu beschaffen, auf der ganzen Welt verfeinert. Ich saß zwar seit einer Weile auf der Ersatzbank, aber ich war nicht zu eingerostet, um einem gestressten FBI-Agenten Informationen zu entlocken.
»Hören Sie«, sagte ich und beugte mich vor, um den Abstand zwischen uns wieder zu verringern. »Ich war ehrlich zu Ihnen – ich weiß nichts. Und ich werde Ihnen noch etwas verraten: Ich bin nicht im Einsatz. Schon seit zwölf Monaten nicht mehr. Aber Sie haben recht. Das war kein Zufall. Sagen Sie mir, was Sie wissen, und ich werde versuchen, den Rest zu ergänzen. Wenn etwas klingelt bei dem, was Sie sagen, werde ich mich revanchieren. Was meinen Sie?«
Rawlings starrte mich lange an, sein Gesicht zu der ausdruckslosen Maske verzogen, die Bundesagenten jeden Abend vor dem Schlafengehen vor dem Badezimmerspiegel üben. Innerlich war ich aufgewühlt, aber genau wie Rawlings ließ ich es mir nicht anmerken. Bei diesem Spiel verlor derjenige, der zuerst blinzelte.
Rawlings blinzelte zuerst.
»Also gut«, sagte Rawlings, nachdem er durch die Zähne ausgeatmet hatte. »Ich sage Ihnen, was ich weiß. Es ist nicht viel. Gestern hat meine Einheit einen Hinweis aus dem FBI-Hauptquartier erhalten.«
»Sie arbeiten für die CT?«
Rawlings schüttelte den Kopf. »Nein, CI.«
Ich musste mein ganzes Training als Spion aufbieten, um eine unbewegte Miene zu bewahren. Ich war davon ausgegangen, dass Rawlings für die Abteilung Terrorismusabwehr beziehungsweise CT tätig war, aber dem war nicht so. Stattdessen arbeitete mein Kollege für die Abteilung Spionageabwehr, die CI. Rawlings jagte Spione. Das ergab keinen Sinn. Aber statt meine Unwissenheit zu offenbaren und die Initiative abzugeben, nickte ich und setzte meine schönste gelangweilte Miene auf.
Und hörte zu.
»Es ist nicht ungewöhnlich, einen Tipp aus dem Hauptquartier zu bekommen«, sagte Rawlings. »Bei der CI ist das gang und gäbe. Austin hat sich zu einem der Tech-Zentren des Landes entwickelt. Halb Kalifornien ist bereits hergezogen, um den Steuern zu entgehen, und die andere Hälfte ist auf Wohnungssuche. Apple, Google und Facebook haben Büros in der Innenstadt. Amazon wird nicht lange auf sich warten lassen. Sogar die Army hat ihre Futures-Command-Dienststelle hierherverlegt, um Austins Mini-Silicon-Valley-Vibe zu nutzen. Bei so viel Technologie können Sie einen drauf lassen, dass es hier nur so wimmelt von ausländischen Agenten, die sie illegal kaufen oder einfach stehlen wollen.«
»Aber dieser Tipp war ungewöhnlich«, sagte ich.
Rawlings nickte und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Er schüttelte eine Marlboro ohne Filter heraus und bot mir eine an. Ich hätte sie fast angenommen, tat es aber nicht. Eine Beziehung aufzubauen, war schön und gut, aber ich hoffte nach wie vor, heute Abend noch Sex zu haben. Ich war bereit, viele Dinge für mein Land zu opfern. Sex mit meiner Frau gehörte nicht dazu.
»Genau«, sagte Rawlings. Er holte eins dieser futuristisch anmutenden Zigarrenfeuerzeuge aus seiner Jackentasche, das eher was von einem Schweißbrenner als einem Streichholz hatte, zündete die Zigarette an und nahm einen langen Zug. »Die Zentrale arbeitet an einer hochrangigen CI-Ermittlung, und die Agentin, die den Fall in D. C. leitet, ist auf eine Verbindung nach Austin gestoßen.«
»Moment«, sagte ich und spürte den Anflug eines Klingelns. »Das ist doch an sich schon ungewöhnlich, oder? Ich meine, ich dachte, Washingtons Aufgabe wäre, Ermittlungen zu koordinieren, nicht, sie zu leiten.«
»Das ist richtig«, sagte Rawlings, nachdem er einen weiteren Zug genommen hatte. »Aber dieser Fall ist anders. Der Zugriff ist eingeschränkt. Ich habe den Hinweis aufgenommen, und selbst ich kann die dazugehörigen Akten nicht einsehen.«
»Warum?«
Rawlings zuckte die Schultern. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass es an der Sensibilität rund um das Ziel der Ermittlung liegt. Entweder das oder der zuständigen Agentin ist es bereits gelungen, einige hochrangige Quellen zu rekrutieren, deren Identität sie schützen will. Wie auch immer, das Hauptquartier hat uns angewiesen, einen verdächtigen ausländischen Agenten unter Beobachtung zu stellen.«
»Ohne Angabe von Gründen?«
»Wenn das FBI-Hauptquartier Ihnen einen Auftrag erteilt, stellen Sie keine Fragen. Wäre der Papierkram von irgendwo sonst gekommen, hätte ich der ermittelnden Agentin gesagt, sie solle sich verpissen, aber dem Hauptquartier den Mittelfinger zu zeigen, ist einer langen Karriere nicht förderlich. Und obendrein rief der für die CI zuständige stellvertretende Direktor an, um mit meinem vorgesetzten Special Agent zu sprechen. Er wollte sicherstellen, dass wir uns über die Wichtigkeit des Auftrags im Klaren waren. Bullshit-Tipp hin oder her, wir haben mitgespielt.«
»Wann ging das über die Bühne?«
»Gestern Nachmittag. Wir nahmen die Überwachung des Ziels auf, um ein Lebensmuster zu erstellen. Sie wissen, wie das läuft. Wir erhielten alle erforderlichen Befugnisse. Sobald wir ein Lebensmuster erstellt hatten, sollte das Blackbag-Team in die Wohnung der Zielperson eindringen und sie verwanzen. Bis gestern Abend war bei der Überwachung nicht viel rumgekommen. Andererseits ist es nach nicht mal 24 Stunden auch schwierig, genau zu wissen, wonach man sucht.«
»Aber trotzdem haben Sie was gefunden.«
Wieder ein Nicken. »Reines Glück, aber manchmal läuft es eben so. Der Leiter des Überwachungsteams folgte der Zielperson in ein Whole-Foods-Parkhaus. Die Zielperson fuhr rein, ging dann aber zu Fuß weiter. Der Teamleiter hatte nur wenige Leute, entschied sich aber kurzerhand, eine Agentin für das Fahrzeug abzustellen. Und schlag mich tot – kaum eine Stunde nachdem die Zielperson abgehauen war, stieg jemand in den Wagen und fuhr davon. Die Agentin machte ein Foto von dem neuen Fahrer. Kommt er Ihnen bekannt vor?«
Rawlings öffnete den Ordner, der auf dem Tisch zwischen uns lag, zog ein einzelnes Hochglanzfoto heraus und reichte es mir. Die Qualität war nicht überragend, aber sie war gut genug. Ich habe ein Auge für Gesichter – so wie die meisten Spione. Vor allem für Gesichter von Männern, die versucht haben, mich zu töten.
»Das ist der Kerl«, sagte ich und starrte auf das Bild.
»Sind Sie sicher?«, fragte Rawlings. »Sie haben ihn nicht aus der Nähe gesehen und die Spiegelungen auf der Windschutzscheibe können täuschen.«
»Glauben Sie mir, er ist es. Er war mir ungefähr so nahe, wie ich Ihnen jetzt bin.«
»Ohne Scheiß?«
»Ohne Scheiß. Ich stand auf der Motorhaube seines Wagens.«
Rawlings ging darauf nicht weiter ein, und das war auch gut so. Irgendetwas an dem Bild packte mich und ließ mich nicht mehr los. Dann wurde mir klar, was es war.
»Sie kennen ihn, oder?« Rawlings stellte die Frage fast nonchalant, so als wären wir zwei Typen, die bei einem Bier über Politik reden. Aber ich wusste, dass hinter der kühlen Fassade sein Herz pochte.
»Haben Sie noch mehr Fotos von ihm?«, fragte ich und spielte auf Zeit.
Rawlings nickte und schob zwei weitere Hochglanzbilder über den Tisch.
Rawlings war ein Mann der alten Schule – Marlboro ohne Filter, Manschettenknöpfe und so weiter. Diese neumodische Digitalbild-Scheiße kam ihm nicht ins Haus. Wahrscheinlich hatte er immer noch ein Klapphandy. Trotzdem waren die beiden zusätzlichen Aufnahmen, die er auf den Tisch legte, nicht so gut wie die erste. Die Agentin hatte wahrscheinlich versucht, so viele Bilder wie möglich zu knipsen, und dementsprechend sahen sie aus.
Diese beiden Bilder waren nacheinander aufgenommen worden. Das erste zeigte das Gesicht des geheimnisvollen Mannes im Profil. Das zweite zeigte seinen Hinterkopf, als er sich abwandte. Keine guten Fotos, aber die Qualität spielte keine Rolle. Die erste Aufnahme hatte gereicht. Die Ähnlichkeit war unheimlich.
»Wen sehe ich da?«, fragte Rawlings in demselben nonchalanten Tonfall. Nur dass seine Finger ein Stakkato auf den Tisch klopften, auf das Lars Ulrich stolz gewesen wäre. Vielleicht war das der Grund, warum Rawlings rauchte. Seine nervösen Finger brauchten etwas zu tun, während er abtrünnige Spione verhörte.
»Weiß ich nicht«, sagte ich und schob die Bilder zurück über den Tisch.
»Was soll der Scheiß? Sie haben gesagt, wenn ich auspacke, würden Sie sich revanchieren. Also packen Sie aus.«
»Ich sage die Wahrheit. Ich weiß nicht, wer der Typ ist, aber ich bin ziemlich sicher, dass ich seinen Vater kannte.«
»Woher?«
»Er hat auch versucht, mich zu töten. Vielleicht liegt es in der Familie.«
7
Ich sah auf die Uhr, als ich die abgewetzten Betonstufen hinaufsprang, und atmete erleichtert durch. Geschafft. Gerade noch so. Nachdem ich mit Agent Rawlings fertig war, hatte ich gerade noch Zeit gehabt, mir auf der Toilette des Polizeireviers den gröbsten Schmutz aus dem Gesicht zu schrubben, bevor ich meinen Truck vom Abschlepphof holte und ihn in einem verzweifelten Kampf mit dem Berufsverkehr quer durch die Stadt steuerte. Ich hatte überlegt, ob ich Rawlings bitten sollte, mir eine »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte zu unterschreiben für den wahrscheinlichen Fall, dass ich auf meiner wilden Fahrt eine bis drei Radarfallen überfahren würde, entschied mich aber dagegen. Obwohl mein Freund vom FBI die alleinige Schuld an meiner Verspätung trug, schien er nicht in Geberlaune zu sein.
Vermutlich weil wir nicht gerade als Freunde auseinandergegangen waren.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die junge Frau, die hinter einem Pult am Empfang stand.
»Ich habe eine Reservierung auf den Namen Drake«, sagte ich.
Wie in Austin üblich, hatte die Hostess mindestens drei Haarfarben, von denen ich zwei nicht benennen konnte. Sowohl ihre Lippen als auch ihre Nase waren gepierct und unter dem linken Ärmel ihrer Bluse lugte der Zipfel eines Tattoos hervor. Trotzdem bedachte sie mich mit einem Blick und schnupperte.
Hörbar.
Okay, vielleicht war meine Säuberungsaktion am Waschbecken auf der Reviertoilette nicht so gründlich gewesen, wie ich gehofft hatte.
»Ihre Begleitung ist bereits eingetroffen, Sir«, sagte die Hostess. »Sie sitzt an einem Tisch im hinteren Bereich.«
»Sie sieht fantastisch aus, nicht wahr?«, fragte ich.
Die Hostess bedachte mich mit einem weiteren langen Blick und ich konnte sehen, wie sie ihre Optionen abwog. Sollte sie dem Spinner die Wahrheit sagen und ihren Job riskieren oder höflich bleiben und ihn nicht kränken? Es sprach für sie, dass die Wahrheit siegte.
Auch das war Austin.
»Sie sieht umwerfend aus«, bestätigte die Hostess mit einem weiteren vielsagenden Blick auf mein zerknittertes Hemd.
Mein Sakko bedeckte die blutverschmierte Stelle an meiner Schulter, wo mich das 5,56er-Geschoss des Cops getroffen hatte. Zum Glück für meine Garderobe hatte der Querschläger, der meine Wade erwischt hatte, die Haut nicht verletzt. Das Laufen tat höllisch weh, aber es gab keine bleibenden Schäden. Trotzdem konnte ich nichts tun, um mein zerknittertes Hemd oder die Ölflecke auf meinen Jeans zu verbergen, wo ich auf der schmutzigen Straße aufs Knie gegangen war.
An jedem anderen Abend hätte ich mich umgezogen, bevor ich Laila getroffen hätte. Aber dies war das Taj’s Place, eines der angesagtesten indischen Restaurants in Austin. Ich hatte unsere Reservierung vor fast zwei Monaten gebucht und ich wollte sie auf keinen Fall drangeben, Blutflecke hin oder her.
Außerdem war der heutige Abend kein gewöhnlicher Abend.
»Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen«, sagte ich zur Hostess. »Wie heißen Sie?«
»Emma.«
»Emma«, sagte ich und nahm meine Geldklammer aus der Tasche, »Sie haben recht – die Frau dadrin ist eine Nummer zu groß für mich. Es sind jetzt sechs Jahre, und meistens kann ich immer noch nicht fassen, dass sie mich geheiratet hat. Heute ist unser Hochzeitstag und ich bin ein bisschen unvorbereitet. Hier sind 100 Dollar – würden Sie bitte zum Blumenladen gegenüber laufen und ein Dutzend Rosen mitbringen? Ich würde es selbst tun, aber ich habe meine Frau lange genug warten lassen. Den Rest können Sie behalten.«
Einen Moment lang dachte ich, sie würde sich weigern, aber das tat sie nicht. Stattdessen langte sie hinauf, richtete meinen Kragen und strich die Vorderseite meines Hemds glatt.
»Denken Sie auf jeden Fall daran, Ihrer Frau ein Kompliment zu ihrem Outfit zu machen«, sagte Emma und steckte das Bündel Zwanziger ein. »Das Kleid ist wie gemacht für sie. Ich lasse Champagner bringen.«
Emma hatte recht – Laila sah umwerfend aus. Obwohl sie von mir abgewandt saß, war es nicht schwer, meine Frau in der Menge auszumachen. Sie trug ein cremefarbenes rückenfreies Kleid, das die Masse an mitternachtsschwarzem Haar betonte, das ihr auf die Schultern fiel. Meine Frau in einem überfüllten Raum zu sehen, raubte mir jedes Mal den Atem. An diesem Abend aber krampfte sich mein Magen beim Anblick ihres Profils zusammen.
Ich ging mit schnellen, gleichmäßigen Schritten an den Tisch und beugte mich vor, um ihre mandelfarbene Schulter zu küssen. Selbst nach sechs Jahren im selben Bett ließ mich das seidige Gefühl ihrer nackten Haut auf meinen Lippen erschauern.
»Hey«, sagte Laila und strich mir mit den Fingern durchs Haar. »Du bist spät dran.«
Ihre Bemerkung war eine Feststellung, kein Vorwurf, aber ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Als ehemaliger Militäroffizier und Spion drehte sich mein ganzes Leben um Zeitabläufe. Ich war nie spät dran. Niemals. Aber an diesem Abend, an unserem Hochzeitstag, hatte ich meine wunderschöne Frau fast 30 Minuten lang warten lassen. Nicht gerade ein vielversprechender Anfang.
»Tut mir leid«, sagte ich und nahm ihr gegenüber Platz, natürlich mit dem Blick zur Tür. »Ich bin in ein paar Schwierigkeiten geraten.«
»Mein Gott«, sagte Laila und ihre grünen Augen weiteten sich angesichts meines Aussehens, »Baby, du siehst beschissen aus. Was ist passiert?«
Meine Frau fluchte nur selten oder gar nicht. Ihre afghanische Mutter und ihr pakistanischer Vater waren Immigranten, und obwohl Laila keine praktizierende Muslimin war, hatten viele Eigenheiten ihrer Eltern auf sie abgefärbt, darunter auch eine Abneigung gegen unflätige Sprache. Wenn Laila einen Kraftausdruck benutzte, und sei er noch so harmlos, war das bemerkenswert.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete ich und griff über den Tisch, um ihre Hand in meine zu nehmen. »Aber ich glaube, es hatte mit der Arbeit zu tun.«
»Warum?«
Ich hielt inne und erwog meine Antwort. Der Gedanke, meine Frau zu belügen, kam mir nie in den Sinn. Wir waren gegen Ende meiner Zeit beim Ranger-Regiment ein Paar geworden und hatten geheiratet, kurz bevor ich meinen Dienst auf der Farm angetreten hatte. Sie wusste, was ich war und was ich tat.
Das heißt aber nicht, dass ich in Bezug auf die operativen Aspekte meines Berufs völlig transparent war. Meine Frau verstand, dass ich Spion war, aber es gab vieles, was sie nicht wusste, und das war auch gut so. Und doch hatte ich vor einem Jahr offiziell meine Stelle bei der DIA gekündigt. Ich war kein Teil dieser geheimen Welt mehr.
Zumindest redete ich mir das immer wieder ein.
»Folgendes weiß ich«, sagte ich und entschied mich für eine bereinigte Version der Geschehnisse. »Heute Morgen hat ein Team von Männern versucht, mich zu töten.«
»Wer waren sie?«, fragte Laila. Es sprach für sie, dass sie nicht emotional reagierte. Stattdessen ging sie mein Problem mit dem gleichen Intellekt an, der sie in einer der größten Buchhaltungsfirmen des Landes auf den Weg zur Teilhaberschaft gebracht hatte.
»Ich weiß es nicht. Aber einer der Schützen kam mir bekannt vor.«
»Als wärst du ihm schon einmal begegnet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht ihm. Aber vielleicht seinem Vater.«
»Wo?«
»Syrien.«
Das Wort Syrien platzte so subtil in unser Gespräch wie ein Teller mit drei Tage altem Fisch. Zum Glück tauchte genau in diesem Moment Emma an unserem Tisch auf.
»Alles Gute zum Hochzeitstag«, sagte Emma und überreichte Laila einen Strauß rosa Rosen, während ein Kellner zwei Champagnerflöten vor uns abstellte. »Hat er Ihnen ein Kompliment zu Ihrem Kleid gemacht?«
»Hat er nicht«, sagte Laila und nahm die Blumen entgegen. Wenn meine Frau wütend war, glitzerten ihre grünen Augen. In diesem Moment blitzten sie wie zwei Discokugeln.
»Wollte ich gerade«, sagte ich und erntete dafür einen finsteren Blick von Emma. Ich hatte in diesem Restaurant mit genau zwei Frauen gesprochen und es irgendwie geschafft, beide zu verärgern. Vielleicht hatte ich eine Gabe.
»Nein«, sagte Laila, »wolltest du nicht. Du wolltest mir von Syrien erzählen.«
»Syrien?«, fragte Emma und bedachte mich mit einem weiteren abschätzigen Blick. »Waren Sie dort?«
»Nein«, sagte ich, gerade als Laila »Ja« sagte.
Ich neigte den Kopf leicht in Emmas Richtung und versuchte, Laila das Nicht jetzt-Signal zu geben, aber sie starrte zurück, ohne die Geste zu würdigen, während ihre Augen schimmerten. Mit einem Seufzer sah ich Emma an und sagte: »Es ist kompliziert.«
»Männer sind das meistens«, sagte Emma und legte ihre Hand auf Lailas nackte Schulter. »Ich sage dem Kellner, er soll euch ein paar Minuten geben. Gib mir Bescheid, wenn du etwas brauchst, Schwester.«
»Danke«, sagte Laila, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Nach einem weiteren vielsagenden Blick machte Emma auf dem Absatz kehrt, schritt zurück an ihr Pult und ließ mich mit meiner radioaktiven Frau allein. Zugegeben brachte das Wort Syrien eine Menge Ballast mit sich. Vor 15 Monaten hatte ein vermasselter Einsatz einen meiner Agenten und seine Familie das Leben gekostet und meinen besten Freund zum Krüppel gemacht. Der Schaden für mich war nicht weniger groß, nur subtiler. Ich hatte begonnen, die tote Frau und die kleine Tochter des Agenten zu sehen, während ich unkontrollierte Anfälle erlitt.
Vor einem Jahr war ich nach Syrien zurückgekehrt, um einen gefangenen paramilitärischen CIA-Offizier zu retten, der von einer von ISIS inspirierten Splitterzelle gefangen gehalten wurde. Diesmal hatte ich die Person, für die ich verantwortlich war, lebend nach Hause gebracht, allerdings war mein Körper dabei wieder einmal kaputtgegangen. Laila und ich hatten vereinbart, dass dies meine letzte Mission sein würde. Nach meiner Rückkehr in die USA kündigte ich meinen Posten bei der DIA und wir zogen nach Austin, um sowohl physisch als auch emotional Abstand zwischen unserem alten Leben in D. C. und dem neuen, das wir aufzubauen versuchten, zu schaffen.
Nur hatte mein altes Leben gerade beschlossen, in mein neues einzudringen. Und das Verrückte war, dass ich nicht behaupten konnte, deswegen enttäuscht zu sein.
»Warte«, sagte Laila und langte über den Tisch, um meinen Arm zu greifen. »Deine Testergebnisse. Das hätte ich fast vergessen. Warst du heute trotzdem beim Arzt?«
»Ja.«
»Und?«
»Er sagte, es sei alles okay.«
»Okay?«
»Ja.«
»Ich bin mir sicher, dass er mehr als das gesagt hat.«
»Hat er auch«, sagte ich und erinnerte mich an den Stapel Papiere mit der krakeligen blauen Handschrift. »Aber nichts Neues. Die MRT-Ergebnisse sind die gleichen. Die Schäden an meinem Gehirn sind sichtbar, aber sie werden nicht schlimmer.«
»Du hast also keinen Rückfall?«, fragte Laila und lächelte, als sie die Frage stellte. Sie drückte mein Handgelenk, und ich versuchte zurückzulächeln.
»Nein.«
Lailas Miene wechselte von Freude zu Verwunderung, als sie versuchte, aus meiner Reaktion schlau zu werden.
Dann verstand sie.
»Und jetzt bist du wie gelähmt, weil du das Giftgas nicht für das verantwortlich machen kannst, was mit dir passiert«, sagte Laila und zog ihre Hand aus meiner.
Ich bin sicher, dass meine Frau eine prima Buchhalterin ist, aber das ist nicht wirklich mein Fach. Was ich aber weiß, ist, dass sie die unfehlbare Gabe hat, Wahrheit von Bullshit zu unterscheiden. Statt zu antworten, hob ich daher beide Hände auf Schulterhöhe, die Handflächen zu ihr gewandt. Eine Geste der Kapitulation.
Laila wollte davon nichts wissen.
»Matthew Drake«, sagte Laila und schüttelte langsam den Kopf. »Ich liebe dich, wie ich noch nie jemanden geliebt habe, aber du bist kein einfacher Mann. In den letzten sechs Monaten hatte ich Angst, dass das Gehirn meines Mannes langsam von einer chemischen Waffe aufgefressen wird. Ich hatte Angst, dass ich mitansehen muss, wie du langsam zu einem Gemüse wirst. Weißt du, wie viele Nächte ich wach gelegen habe, nur um dich atmen zu hören? Wie oft ich unter der Dusche geweint habe, damit du es nicht hörst? Und heute haben wir die beste Nachricht bekommen, die wir uns erhoffen konnten. Aber jetzt bist du derjenige, der Angst hat. Und warum? Weil es dir lieber ist, einen langsamen, schrecklichen Tod zu sterben, als zuzugeben, dass deine Probleme vielleicht eher psychologischer als physischer Natur sind.«
»Baby, es tut mir leid«, sagte ich und griff nach ihrer Hand, aber sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Von wegen Baby«, sagte Laila. »Wenn du heute Abend nicht darüber reden willst, na gut. Das ist mein Geschenk zum Jahrestag an dich. Also lass uns über etwas reden, das dich wirklich interessiert. Erzähl mir von dem Mann, der heute versucht hat, dich zu töten.«
Unnötig zu erwähnen, dass ich mir unser Dinner anders vorgestellt hatte. Ich überlegte, ob ich das Thema wechseln sollte, aber ein Blick auf Laila verriet mir, dass das aussichtslos war. Meine Frau war eine der hartnäckigsten Personen, die ich kannte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte selbst Gott sie nicht mehr umstimmen. Wenn sie etwas über den Attentäter hören wollte, war ihr das nicht auszureden.
»Der Schütze ähnelte einer Zielperson, die ich in Syrien verfolgte«, sagte ich. »Vielleicht war er sein Sohn.«
»Und du hast seinen Vater getötet«, sagte Laila eher sachlich als anklagend. Wie ich schon sagte, wusste Laila, wer ich war und was ich tat. Immerhin dafür war ich dankbar.
»Ja, aber es war eine enge Kiste. Die Zielperson führte den Hinterhalt an, der Frodo zum Krüppel machte, und er war mit der Splitterzelle im Bunde, in der sich der paramilitärische CIA-Offizier befand. Ich habe ihn schließlich ausgeschaltet, aber es blieben noch viele Fragen offen. Fragen, die es meiner Meinung nach nicht wert waren, weiterverfolgt zu werden, da wir beide beschlossen hatten, dass es für mich an der Zeit war, aus dem Spiel auszusteigen.«
»Außer dass du nicht mehr aus dem Spiel bist, richtig? Nicht wenn der Sohn der Zielperson hinter dir her ist.«
»Er ist nicht mehr hinter mir her«, sagte ich.
Laila sah mich eine Sekunde lang an, bevor sie langsam nickte. »Und weiter?«
»Er war nicht allein. Er hatte ein Team von Schützen als Verstärkung. Solange ich nicht weiß, wer sie geschickt hat, ist die Sache nicht vorbei.«
»Sie war nie vorbei, oder?«
Ich wollte antworten, aber Laila schüttelte den Kopf. »Nein, lass mich ausreden. Heute Abend wusste ich in dem Moment, als du dich hingesetzt hast, dass etwas anders ist. Weißt du, warum?«
