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Matt Drake ist Agent der Defense Intelligence Agency. Seinen letzten Einsatz in Syrien überlebte er selbst nur knapp, doch durch seine Fehler starben drei Menschen und sein bester Freund wurde verstümmelt. Matt ist von seiner Schuld wie gelähmt und die Erinnerungen an die Gefallenen verfolgen ihn. Dann wird er wieder in die Welt der Spionage hineingezogen: Ein Wissenschaftler, der für eine ISIS-Splitterzelle arbeitet, bietet an, mit einer schrecklichen Massenvernichtungswaffe überzulaufen. Doch er vertraut nur einem Mann, der ihn lebend aus Syrien herausbringen kann: Matt Drake. Und so muss Matt nach Syrien zurückkehren und sich seinem größten Versagen stellen. Lee Child: »Sensationell gut. Ich will mehr Matt Drake.« Steve Berry: »In diesem Roman kann man das Kordit riechen und die Explosionen hören.« Nick Petrie: »Ein schonungsloser, knisternder Auftakt über den Kampf gegen den Terrorismus und den Preis, den seine Agenten zahlen. Don Bentley hat dieses Leben gelebt, und er schreibt mit tiefer Authentizität. Dies ist ein großartiges Buch.« Mike Maden: »Ohne Zweifel der beste Thriller, den ich seit Jahren gelesen habe. Don Bentley fliegt seine Geschichte wie einen Apache-Kampfhubschrauber – mit Vollgas und scharfer Munition.« Jack Carr: »Ein echter Volltreffer!«
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Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Amerikanischen von Olaf Bentkämper
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Without Sanction
erschien 2020 im Verlag Berkley.
Copyright © 2020 by Donald Burton Bentley II
Copyright © dieser Ausgabe 2025 by
Festa Verlag GmbH
Justus-von-Liebig-Straße 10
04451 Borsdorf
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Titelbild: @difrats
eISBN 978-3-98676-206-3
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Ang – meine schöne Gläubige
Aufgeben ist kein Ranger-Wort. Ich werde niemals einen Kameraden in die Hände des Feindes fallen lassen und unter keinen Umständen werde ich jemals mein Land beschämen.
– 5. Strophe des Gelübdes der United States Army Ranger
Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.
– Johannes 11,50
PROLOG
ALEPPO, SYRIEN
Die Eingangstür sprang mit einem unheilvollen Krack aus dem Rahmen und Sonnenlicht flutete in den Raum.
Für Fazil Maloof schien die Zeit stehen zu bleiben. Das goldene Licht des Nachmittags spielte auf Yanas Zügen, ergoss sich über ihre dichten Wimpern und die Sommersprossen auf ihren Wangen. In diesem Moment gab es keine Bürgerkriege, sinnlosen Morde oder schwarz gekleideten Dschihadisten, die versuchten, in Fazils winzige Wohnung einzudringen. In diesem Moment existierten nur seine Frau und das sich windende Bündel, das sie an ihre Brust drückte.
Und dann war dieser Moment vorbei.
»Hinein«, sagte Fazil und führte Yana und ihre Tochter mit einer Hand in den Schutzraum der Wohnung, während er mit der anderen eine Pistole umklammerte. »Ich löse das Notsignal aus.«
»Fazil«, sagte Yana, nach ihm greifend, während sich ihre dunklen Augen mit Tränen füllten.
»Schnell, Liebes«, sagte Fazil, aus der Reichweite ihrer zitternden Finger tretend. »So wie wir es geübt haben.«
Fazil machte auf dem Absatz kehrt und rannte in Richtung Küche und Rettung. Er schnappte sich die Kaffeekanne vom überfüllten Tresen, fand den versenkten Knopf unter dem Griff und drückte ihn nach unten.
Das Plastik zerbrach unter seinen Fingern, als ein verborgener Schalter betätigt wurde. Einen Herzschlag später vibrierte die Karaffe, was bedeutete, dass das Notsignal gesendet worden war.
Er hatte es geschafft. Hilfe war auf dem Weg.
Fazil ließ die Kanne fallen und visierte über den kurzen Lauf der Pistole, als der erste Dschihadist, eine AK-47 im Anschlag, durch die zersplitterte Eingangstür stürmte. Fazil drückte den Abzug der Pistole, gerade als das Gewehr des Dschihadisten Feuer spuckte. Eine unsichtbare Faust hämmerte gegen Fazils Schulter. Er stolperte, die Pistole rutschte ab. Auf die Zähne beißend stabilisierte Fazil seinen Griff und feuerte erneut.
Und noch einmal.
Und noch einmal.
Fazil war kein Soldat, aber das musste er auch nicht sein. Er hatte das Notsignal ausgelöst. Der Amerikaner würde kommen.
So wie er es versprochen hatte.
1
AUSTIN, TEXAS
DREI MONATE SPÄTER
Das kleine Mädchen lächelte mich mit funkelnden Augen über die Schulter seiner Mutter hinweg an. Eine pummelige Hand schob sich vorbei an den wallenden Locken, die sein Gesicht umrahmten, und seine winzigen Finger winkten.
Ich winkte nicht zurück.
Nicht weil ich das kleine Mädchen nicht kannte. Ich kannte sie sehr gut. Ihr Name war Abir, Arabisch für schön, und die schwarzhaarige Süße machte ihrem Namen alle Ehre. Nein, ich ignorierte sie aus einem ganz anderen Grund. Wie ihre Mutter und ihr Vater war Abir seit fast drei Monaten tot.
Aber das hielt mich nicht davon ab, sie zu sehen.
Ich schloss die Augen und kämpfte gegen den Drang an, ihr Winken zu erwidern, so wie ich es schon so oft in der Stube der winzigen syrischen Wohnung ihrer Familie getan hatte. Abirs Lachen war fast so hinreißend gewesen wie ihr Grinsen. Selbst jetzt musste ich mich beherrschen, nicht zu lächeln für den Fall, dass das tote Mädchen, das nur ich sehen konnte, sein Schweigen brechen und mir ein Lächeln schenken würde.
Aber ich lächelte nicht und ich winkte nicht zurück, denn Männer, die mit imaginären Kindern interagieren, fallen auf. Austin, Texas, mochte die selbst ernannte Heimat schräger Vögel sein, aber ich hatte keine Lust, die Bekanntschaft der TSA-Männer und -Frauen zu machen, die an diesem Flughafen arbeiteten. Also versuchte ich, Abir zu ignorieren, und das Zittern fing an, wie aufs Stichwort.
Es begann mit einem kaum merklichen Zucken meines linken Zeigefingers, aber wenn ich es nicht unter Kontrolle bekam, würde es nicht lange unauffällig bleiben. Ich atmete tief durch, krümmte den betroffenen Finger und zwei seiner Brüder zum Anfangsakkord von »Take It Easy« von den Eagles und stellte mir vor, wie sich meine Hand um den glatten Hals meiner nachgemachten Gibson-Akustikgitarre legte.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag auch moderne Musik, aber die Songs der Eagles hatten eine trügerisch simple Akkordstruktur, die selbst Amateure schnell beherrschen konnten. Wie die Gründungsmitglieder Don Henley und Glenn Frey mit einem Hit nach dem anderen bewiesen hatten, verbarg sich wahre Größe bisweilen in vermeintlicher Schlichtheit.
»Wie sehen sie aus, Sir?«
Erschrocken lenkte ich meine Aufmerksamkeit von dem Phantom-Kleinkind auf Jeremiah, den Schuhputzer, und dann auf meine glänzenden Ariat-Cowboystiefel. Es gab eine ganze Reihe von Schuhputzern an diesem Flughafen, aber nur einer von ihnen hatte seine Fähigkeiten an der harten Schule der Polierkunst erworben: dem Bootcamp der Marines.
»Gute Arbeit, Jeremiah.«
»Danke, Sir«, sagte Jeremiah und rückte seine Baseballmütze über den weißen Haarbüscheln zurecht. »Das macht dann acht Dollar.«
Jeremiahs Mütze war feuerwehrrot und auf der Vorderseite prangte in gelben Nähten die Aufschrift Vietnam Veteran. Über dem Schriftzug war das gestickte Abbild seines Vietnam-Dienstabzeichens. Mehr nicht. Keine Einheitsnamen, Special-Forces-Aufnäher oder Anstecknadeln, die auf frühere Dienstgrade oder Medaillen hinwiesen. Nur eine verblichene rote Mütze, die verkündete, dass Jeremiah, anders als so viele seiner Generation, dem Ruf seines Landes zur Waffe gefolgt war. Obwohl er mir schon viele Male die Schuhe geputzt hatte, hatte Jeremiah noch nie über seine Zeit in Vietnam gesprochen, aber ich wusste, dass er dort gewesen war. Erstens weil er sich weigerte, über seine Dienstzeit zu sprechen, und zweitens weil er den Blick hatte.
Bei Jeremiah manifestierte sich der Blick als ein gelegentliches Starren ins Nichts – eine körperliche Reaktion auf ein seelisches Trauma. Mit anderen Worten: Jeremiahs Augen hatten Dinge gesehen, von denen sein Verstand sich wünschte, er könnte sie irgendwie ungesehen machen.
Ich kannte dieses Gefühl.
Ich nahm einen Zehner und einen Fünfer aus meiner Brieftasche und drückte die Scheine in Jeremiahs knorrige braune Finger.
»Das ist zu viel, Mr. Drake«, sagte Jeremiah mit einem Stirnrunzeln, das die Falten in seinem ebenholzfarbenen Gesicht noch deutlicher hervortreten ließ.
»Zum tausendsten Mal«, sagte ich, »nenn mich Matt. Und das Extrageld ist kein Almosen. Es ist dafür, dass ich für eine Weile deinen Stuhl mieten kann.«
Jeremiah putzte mir zweimal pro Woche die Stiefel – jeden Montag und Freitag um neun Uhr morgens –, und das schon seit sechs Wochen. Trotzdem führten wir jedes Mal, wenn ich mich auf einen der vier hochlehnigen Stühle setzte, die er sein Büro nannte, eine Variante dieses Gesprächs.
In gewisser Weise war die Normalität, die mit unserer Routine verbunden war, tröstlich. Andere Leute hatten einen Assistenzhund, einen Psychiater oder einen Medizinschrank voller Pillen. Ich hatte einen 70-jährigen afroamerikanischen Schuhputzer und eine gebrauchte Gitarre. Alles in allem schlug ich mich eigentlich ganz gut.
»Dieses Zittern ist nicht gut, Mr. Drake«, sagte Jeremiah und deutete mit einem fleckigen Finger auf meine zitternde Hand.
Oder auch nicht.
Die Krämpfe waren über meine Finger hinausgekrochen und jetzt tanzten die Muskeln in meinen Unterarmen. Im Geiste wechselte ich den Song von »Take It Easy« zu »Ants Marching« und ersetzte die einfache G-D-C-Akkordfolge durch die Reihe kniffliger Barré-Griffe, über die Dave Matthews so mühelos hinwegschwebte.
Nichts zu machen.
Wenn ich den Kreislauf nicht bald stoppte, würde das Zittern zu etwas ausarten, das einem ausgewachsenen Anfall gleichkam, und das durfte nicht passieren. Nicht jetzt. Denn der Ankunfts- und Abflugmonitor, der über Jeremiahs rechter Schulter hing, zeigte an, dass der Direktflug aus San Diego soeben an Gate 5 angekommen war. In weniger als zehn kurzen Minuten würde der Grund, warum ich jeden Montag und Freitag an diesem Flughafen saß, über den belebten Fußweg vor mir zu Gate 9 und ihrem Anschlussflug zum Ronald Reagan Airport gehen. Ein Ticket für denselben Flug steckte in meiner rechten Hosentasche. Vielleicht war heute der Tag, an dem ich es endlich benutzen würde.
»Mr. Drake?«
»Ich heiße Matt, Jeremiah – Matt.«
»Mr. Drake, ich glaube, der Herr hat Ihnen etwas zu sagen.«
Ich blickte vom Monitor zu Jeremiah. Dies war unerforschtes Gebiet. In den etwa 40 Tagen, die wir uns kannten, waren unsere Gespräche nie über die Sicherheit des Oberflächlichen hinausgegangen. Trotz meiner nicht vorschriftsmäßig langen Haare und meines ungepflegten Bartes schien Jeremiah geahnt zu haben, dass er und ich so etwas wie eine gemeinsame Vergangenheit teilten. Vielleicht lag es daran, dass meine breiten Schultern und vernarbten Fingerknöchel im Widerspruch zu meinem sorgfältig kultivierten Zottellook standen.
Oder vielleicht spiegelte der Ausdruck in meinem Gesicht den seinen wider.
Auf jeden Fall wusste Jeremiah, dass er und ich zur selben Bruderschaft gehörten. Obwohl ich wahrscheinlich mindestens 40 Jahre jünger war als er und sein Krieg nicht der meine gewesen war, waren wir durch die stille Kameradschaft derer verbunden, die den Elefanten gesehen hatten und lebten, um davon zu berichten. Doch Jeremiahs ernster Miene nach zu urteilen war es mit diesem uneingestandenen Einvernehmen bald vorbei.
»Wenn du eine Botschaft vom Allmächtigen hast«, sagte ich mit einem Lächeln, das ich nicht so recht spürte, »bin ich ganz Ohr.«
Ich riskierte einen Blick nach rechts, in Richtung des Food Courts, wo zahlreiche Tische um eine kleine erhöhte Bühne angeordnet waren. Ein Bursche in einem Retro-T-Shirt und ausgeblichenen Jeans klampfte sich durch eine recht ansehnliche Version von »Amy’s Back in Austin«. Der Platz neben dem Frühstücks-Tacostand, wo ich Abir über die Schulter ihrer Mutter hinweg hatte winken sehen, war jetzt leer, aber ich zitterte trotzdem noch.
»Der Herr will, dass Sie wissen«, sagte Jeremiah und griff mit überraschend starken Fingern nach meinem zitternden Unterarm, »dass Sie nicht zurückkönnen.«
Bei seiner Berührung hörte das Zittern auf. Ich wollte gerade die offensichtliche Frage stellen, als zwei Dinge kurz hintereinander passierten. Erstens: Das Handy in meiner Tasche begann zu vibrieren. Zweitens: Ein Mann setzte sich auf den Stuhl neben mir.
Ein Mann mit einer Waffe.
2
Für die meisten Menschen ist das Summen eines Handys kein Ereignis, das ihren Tag verändert. Ich gehöre nicht zu den meisten Menschen. In den sechs Wochen, seit ich das Telefon gekauft hatte, das in meiner rechten Hosentasche steckte, hatte es nie geklingelt. Kein einziges Mal.
Das lag daran, dass die Zahl der Personen, die wussten, dass ich es besaß, genau eins war. Ich.
Im Gegensatz zu dem NSA-Suite-B-verschlüsselten, von der Regierung ausgegebenen Smartphone, das sein Vorgänger gewesen war, war dieses Handy ein einfacher Burner, den ich bei Costco mit Prepaid-Tarif gekauft hatte. Ich hatte mein altes Handy zurückgelassen, als ich mein altes Leben verließ, aber in meiner Welt haben frühere Leben es an sich, in neue einzudringen.
Auf dem Sitz neben mir nahm der Mann mit der Waffe eine der Zeitungen in die Hand, die Jeremiah für seine Kunden in ordentlichen Stapeln ausgelegt hatte. Die Schlagzeile lautete: Rennen um die Präsidentschaft offen bis zum Schluss.
Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.
»Schuhe putzen, Sir?«, fragte Jeremiah.
Der Mann mit der Waffe nickte.
Zugegebenermaßen tat mein neuer Freund sein Bestes, so zu tun, als wäre er nicht bewaffnet. Er hatte einen schicken Haarschnitt und trug ein Sakko, eine legere Hose, ein durchgeknöpftes Hemd und geschnürte Anzugschuhe. Vielleicht wäre mir die Pistole, die er in einem Holster an der Taille trug, gar nicht aufgefallen, wenn sein Sakko nicht an den Schultern ein bisschen zu eng gewesen wäre, sodass sich der Stoff zu einem vertrauten Knäuel raffte, als er sich auf Jeremiahs Stuhl gesetzt hatte
Obwohl er sich von links genähert hatte, hatte der bewaffnete Mann den ersten freien Stuhl ignoriert und sich auf den Stuhl zu meiner Rechten gesetzt. Ein zynischer Mensch hätte glauben können, dass er versuchte, so viel Platz wie möglich zwischen mich und die Pistole an seiner rechten Hüfte zu bringen.
Interessant.
Ich fischte das vibrierende Telefon aus meiner Tasche, sah auf die Nummer, die auf dem Display angezeigt wurde, und seufzte.
Mein ehemaliger Chef war vieles, aber subtil war er gewiss nicht. Die meisten Anrufe, die vom Hauptquartier der Defense Intelligence Agency mit Sitz an der Joint Base Anacostia-Bolling in Washington, D. C. ausgingen, wurden von der Anrufer-ID als eine Abfolge zufälliger Zahlen angezeigt.
Aber nicht wenn Abteilungsleiter James Glass deine Aufmerksamkeit wollte.
James hatte sein Telefon irgendwie so manipuliert, dass die Ziffern 911, die sich in Folge wiederholten, als Rückrufnummer angezeigt wurden. Wenn James deine Aufmerksamkeit verlangte, wollte er keinen Zweifel daran lassen, wer anrief.
Aber auch wenn James etwas anderes glauben mochte, war ich nicht mehr bei der DIA beschäftigt. Dies schien ein guter Zeitpunkt zu sein, diesen Umstand zu bekräftigen.
Ich drehte das immer noch vibrierende Telefon auf die Seite, öffnete das Gehäuse, nahm die SIM-Karte heraus und brach sie entzwei. Ich überlegte, das Telefon zu behalten, entschied aber, auf Nummer sicher zu gehen. Ich drehte mich um und warf die Teile in den Mülleimer neben meinem Stuhl.
Theoretisch wäre der Burner mit einer neuen SIM-Karte sicher gewesen, aber Theorien neigen dazu zu verblassen, wenn sie mit der technischen Macht der National Security Agency konfrontiert werden. So mancher übermütige Terrorist war zu einer von einer Hellfire-Rakete erzeugten Wolke aus organischem Dampf verpufft, nachdem die NSA sein vermeintlich undurchdringliches Mobiltelefon geknackt hatte. Streng genommen war es illegal, die Macht der NSA gegen einen US-Bürger einzusetzen.
Andererseits hielt James nicht viel von Formalitäten.
Aus der Jacke des bewaffneten Mannes erklang ein mehrtöniges elektronisches Läuten, das eher an die Alarmsirene eines Atomreaktors erinnerte, der kurz vor der Schmelze stand, als an den Klingelton eines Handys. Mit seiner nicht für das Schießen vorgesehenen Hand griff mein Nebenmann in die Innentasche seiner Jacke und holte einen Blackberry heraus, den er sich ans Ohr hielt.
Jeremiah, der aufgeblickt hatte, als das Telefon zum ersten Mal läutete, setzte einen genervten Blick auf, der sich schnell zu etwas anderem veränderte, als sich das Sakko des bewaffneten Mannes kurz öffnete. Die braunen Augen des Schuhputzers fanden meine und ich schüttelte langsam den Kopf.
Ich wusste nicht, was vor sich ging, und es war mir auch egal, solange es in den nächsten zwei Minuten und 30 Sekunden zu Ende war. Aus Erfahrung wusste ich, dass sie dann erscheinen würde. Dann, und nur dann, würde ich herausfinden, ob sich dieser Tag von den vielen Montagen und Freitagen unterschied, die ihm vorausgegangen waren.
»Was?«, sagte der bewaffnete Mann in sein Telefon.
Ich ignorierte ihn und suchte stattdessen den inzwischen überfüllten Gehweg nach ihrem vertrauten Gesicht ab.
Eine Familie von Hipstern, die einen Designer-Kinderwagen schob, rangelte mit einem jungen Mädchen in abgeschnittenen Shorts, das einen Gitarrenkoffer über der Schulter trug, um Platz. Ein Geschäftsmann, der in sein Handy sprach, wich nach rechts aus, um ein Paar Cowboys in hautengen Wrangler-Jeans und staubigen Stiefeln vorbeizulassen.
Das war Austin von seiner exzentrischsten Seite, aber der Grund für meinen Besuch ließ sich nicht blicken.
Ich hatte sie noch nicht gesehen.
»Ich habe ihn«, sagte der bewaffnete Mann.
Gleich wäre es so weit. Es sei denn …
Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. Ich konnte es nicht. Nicht jetzt. Ich musste glauben, dass heute alles anders werden würde. Anstatt mein unbenutztes Ticket erneut auf einen zukünftigen Flug umzubuchen, würde alles wieder normal werden. Heute würde ich den Flug nach D. C. nehmen.
»Mein Name ist Special Agent Rawlings«, sagte der bewaffnete Mann und drehte sich zu mir um, während er sein Telefon auf sein Bein legte. »Sie müssen mit mir kommen.«
»Nein.«
Eine Lücke in der Menge tat sich auf. Mein Herz schlug schneller.
»Das ist keine Bitte. Stehen Sie auf. Sofort.«
Das Ding mit Bundesbeamten ist, dass sie für Bürokratien arbeiten, und Bürokratien haben ihre Eigenheiten und ihre eigene Stammessprache. Im Laufe meiner fünfjährigen Tätigkeit bei der DIA hatte ich gelernt, dass eine klare, präzise Kommunikation bei der Zusammenarbeit mit Bundespartnern von entscheidender Bedeutung ist. In diesem Sinne antwortete ich Special Agent Rawlings mit Worten, von denen ich wusste, dass er sie verstehen würde.
»Verpissen Sie sich.«
Ich wusste nicht, warum Agent Rawlings plötzlich in mein Leben getreten war, und es war mir auch egal. Wir befanden uns immer noch im großartigen Staat Texas, was bedeutete, dass Polizeibeamte nicht einfach wahllos Leute verhaften konnten. Jedenfalls nicht ohne einen hinreichenden Verdacht oder einen Haftbefehl. Da mein neuer Freund keins dieser beiden Zauberworte benutzt hatte, verließ er sich eher auf Einschüchterung als auf die Kraft des Gesetzes, um meinen Gehorsam zu erwirken. Das war bedauerlich für ihn, weil Einschüchterung bei mir nicht zieht.
Rawlings erwiderte etwas; und obwohl ich sicher bin, dass es sowohl geistreich als auch relevant war, hörte ich nicht zu. Sie war soeben aufgetaucht.
Wie die Stille, die sich einstellt, wenn das Licht im Saal gedimmt wird und sich der Vorhang langsam hebt, verstummte das Gemurmel der Menge, als Laila die Bühne betrat. Sie hatte einst an der School of American Ballet studiert und bewegte sich noch immer mit der gemessenen Anmut einer Tänzerin. Meine Rolle in dieser griechischen Tragödie war noch nicht vollendet – Agent Rawlings winkte Verstärkung herbei, während Jeremiah von mir zu dem massigen Bundesagenten blickte und sich für eine Seite zu entscheiden versuchte – aber ich hatte nur Augen für Laila.
Fairerweise muss man sagen, dass Laila eine außergewöhnlich schöne Frau war. Ihr pakistanischer Vater und ihre afghanische Mutter hatten sie mit einem Reservoir von Genen aus einer der ethnisch vielfältigsten Gegenden der Erde ausgestattet. Das Gebiet, das das heutige Afghanistan und Pakistan umfasste, hatte zahllose fremde Eroberer aufgenommen, von den Mongolenhorden bis zu Alexander dem Großen, und der kollektive Einfluss der Region spiegelte sich in Lailas Aussehen wider. Ihr dunkler Teint und die Wellen ihres mitternächtlichen Haars, das ihr bis zu den Schultern fiel, ließen ihre unerwartet grünen Augen umso mehr auffallen.
Selbst sie über einen überfüllten Raum hinweg zu sehen ließ mein Herz stolpern.
Ein zweiter Bundesbeamter folgte Rawlings’ Aufforderung und näherte sich vom Food Court aus. Er war eindeutig der Mann fürs Grobe in der Beziehung und sah mit seinem rasierten Schädel, dem Harley-Davidson-T-Shirt, den Jeans und den abgewetzten Arbeitsstiefeln auch so aus. Er war gebaut wie ein Hydrant und die geübte Leichtigkeit, mit der seine fleischigen Hände meine Schulter und meinen linken Arm fanden, ließ vermuten, dass dies nicht sein erstes Rodeo war.
Dahinter folgte Laila dem Strom der Passagiere in Richtung Gate 9, eine weitere Arbeitswoche war vorbei. Sie war auf dem Weg nach Hause und für das ungewöhnlich warme Wetter Ende Oktober mit einem ärmellosen weißen Tanktop und einem Maxirock gekleidet, der zu gleichen Teilen andeutete und verbarg. Das Tanktop betonte den mandelfarbenen Farbton ihrer straffen Arme, während der durchsichtige Stoff des Rocks die zarten Kurven ihrer Hüften hervorhob.
Aber sosehr mir der Körper meiner Frau auch den Atem raubte, es war ihr Gesicht, nach dem ich mich sehnte. Als sie auf gleicher Höhe mit meinem Stuhl war, 50 Meter entfernt, aber ohne mich zu bemerken, geschah es. Innerhalb eines Herzschlags verwandelten sich Lailas vertraute Gesichtszüge in etwas anderes.
Jemand anderen.
Obwohl ich zu weit weg war, um die morbiden Details zu sehen, wusste ich, was mich erwartete: wächserner Teint, leere Augen, zu einem stummen Schrei zusammengepresste Lippen und ein 9-mm-Loch, das sich in die Mitte ihrer glatten Stirn bohrte.
In den letzten sechs Wochen hatte ich jeden Montag und Freitag auf demselben Stuhl gesessen und darauf gewartet, einen Blick auf Laila werfen zu können. Jeden Tag hatte ich gehofft, meine Frau zu sehen, aber jedes Mal starrte mich das Gesicht einer anderen an.
Abirs tote Mutter.
Muskelmann riss mich mit einem Ruck vom Stuhl, meinen 180 Pfund schweren Körper mit Leichtigkeit handhabend. Zu meiner Rechten verschwand Laila in der Menge, eine weitere Chance zur Aussöhnung war dahin. In diesem Moment brach die schwelende Wut durch, die sich jedes Mal aufgestaut hatte, wenn ich mitansehen musste, wie Laila aus meinem Leben verschwand. Sie suchte ein Ziel.
Sie fand eins in Muskelmann.
Meine Finger ballten sich zur Faust und ich versetzte Muskelmann einen Schlag in den Solarplexus, meine Knöchel bohrten sich tief in seine Brust. Er krümmte sich, sein Atem zischte mit einem abgerissenen Keuchen heraus. Ich packte ihn am Ellbogen, drehte mich, nahm den glücklosen Agenten in einen Armhebel und schleuderte ihn in Rawlings hinein. Die beiden FBI-Agenten gingen krachend zu Boden und rissen die hochlehnigen Stühle mit sich.
Nachdem ich Monate der erzwungenen Passivität ertragen hatte, fühlte sich die Gewalt gut an. Vielleicht zu gut. Aber mir blieb wenig Zeit, das Gefühl auszukosten.
Noch bevor die Überraschung aus Rawlings’ Miene gewichen war, packte mich jemand von hinten. Ich ging hart zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen das abgewetzte Linoleum.
Bundesagenten sind ein bisschen wie Kakerlaken – für jede, die man sieht, lauern zehn weitere in der Dunkelheit.
Mein Angreifer verpasste mir ein paar gut platzierte Schläge in die Nieren. Das war ein Fehler. Die Schläge taten höllisch weh, aber er hätte auf die Gelegenheit zur Revanche verzichten und lieber meine Hände sichern sollen.
Ich drehte mich auf die Seite und rammte einen Ellbogen dorthin, wo ich seine Nase vermutete. Mein Ellbogen knirschte gegen etwas Festes und der befriedigende Aufprall zog sich durch meinen ganzen Arm.
Verdammt noch eins, das machte Spaß. Vielleicht hätte ich die ganzen Sitzungen mit dem Psychiater der Agency zugunsten einer guten alten Kneipenschlägerei auslassen sollen.
Eine Faust schlug gegen meinen Wangenknochen und ließ winzige Lichtblitze über meine Augen tanzen. Ein großes Knie bohrte sich in die Mitte meines Rückens.
Muskelmann war wieder mit von der Partie.
Schwielige Finger packten das Gewebe zwischen meinem Daumen und Zeigefinger und zerrten aufwärts, während sich Handschellen in meine Handgelenke bohrten.
Muskelmann hatte das bestimmt schon ein- oder zweimal gemacht. Allerdings wusste er nichts von dem Keramikschlüssel für Handschellen, den ich in jedes meiner langärmeligen Hemden eingenäht hatte. Mein Ruhestand hatte mich zwar meine Glock und mein sicheres Handy gekostet, aber ein paar meiner Tricks hatte ich mir bewahrt.
»Halt seinen verdammten Kopf still.«
Der Befehl wurde in Agent Rawlings’ eisernem Ton ausgesprochen. Eine fleischige Hand schlug meine Wange flach gegen das unnachgiebige Linoleum. Ich machte mich auf einen weiteren Schlag gefasst, spürte aber stattdessen das kühle Plastik eines Handys an meiner Wange.
»Matthew, lassen Sie den Scheiß. Es ist Zeit, nach Hause zu kommen. Einstein ist aktiv.«
Der Anruf endete ohne weitere Anweisungen, aber die hatte ich auch nicht erwartet. Trotz meiner Bemühungen hatte James Glass mich aufgespürt und zu sich zitiert. Ich hatte die letzten sechs Wochen damit verbracht, durch die Wildnis von Austin zu wandern, aber damit war es nun vorbei. Wie Moses, der vor dem brennenden Dornbusch stand, war ich aus dem Exil zurückgerufen worden und hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen.
Der Allmächtige akzeptierte kein Nein als Antwort.
3
WASHINGTON, D. C.
Nicht zum ersten Mal ertappte sich Peter Redman dabei, darüber zu fantasieren, wie es sich anfühlen würde, seine Finger um Beverly Castles aristokratischen Hals zu legen und einfach zuzudrücken. Obwohl er wusste, dass der Stabschef des Präsidenten solche Gedanken nicht hegen sollte, konnte Peter an manchen Tagen nicht anders, als sich zu fragen, wie sich Beverlys zarte, glatte Haut unter seinen Fingern anfühlen würde.
Meistens konnte Peter seine Rivalin im Weißen Haus einfach nicht leiden.
Heute hasste er sie.
Er atmete tief ein und ignorierte den Drang, die Frau, die ihm gegenübersaß, körperlich anzugreifen. Stattdessen ließ er sich vom Gefühl dieses besonderen Ortes leiten. Hier, im Büro des mächtigsten Menschen auf dem Planeten, war das Gewicht der Geschichte fast greifbar.
Wenn er die Augen schloss, konnte Peter sich den Widerhall der erhobenen Stimmen vorstellen, als Lincolns berühmter Rat der Rivalen darüber debattierte, wie man die zerbrechende Union am besten instand halten konnte. Oder auch das Flüstern von zwei jungen Brüdern, der eine der Präsident, der andere sein Justizminister, als sie versuchten, dem sowjetischen Bluff auf Kuba zu begegnen, ohne den ersten atomaren Weltkrieg auszulösen.
Obwohl er schon seit vier Jahren den knallharten Alltag präsidialer Politik mitmachte, hatte Peter das Gefühl der Ehrfurcht, das der West Wing in ihm auslöste, noch nicht abgelegt. Trotz allem war die Dankbarkeit, die er für die Giganten empfand, die vor ihm in diesen Hallen gewandelt waren, noch mit einer Demut verbunden, die vielen seiner Zeitgenossen abging. Peter wusste nur zu gut, dass er zwar heute an der Spitze der Welt stehen mochte, dass aber in einer nicht allzu fernen Zukunft seine Anstrengungen nicht mehr als eine historische Fußnote sein würden. Nein, Peters Demut war noch intakt.
Von seiner Geduld konnte man das allerdings nicht behaupten.
»Ich frage einfach freiheraus, Beverly«, sagte Peter und tat sein Bestes, um zu verhindern, dass seine mörderischen Gedanken seine Stimme färbten. »Was ist verfickt noch mal passiert?«
Beverly zuckte zusammen, als Peter den Kraftausdruck benutzte, als wäre ein so ungehobeltes Wort noch nie an ihr Ohr gedrungen. Obwohl sie schon deutlich über 50 war, sah Beverly ein Jahrzehnt jünger aus – was weniger ihren guten Genen geschuldet war als dem Können einer Legion von Schönheitschirurgen, die in San Francisco ansässig waren.
Dennoch musste Peter zugeben, dass Beverly, ob künstlich oder nicht, gut gealtert war. Mit ihrem schulterlangen blonden Haar, den blauen Augen und den kantigen, fast nordischen Zügen zog Beverly immer noch die Blicke von Männern auf sich, die halb so alt waren wie sie. Sie hätte ohne weiteres politische Analystin für einen Kabelnachrichtensender sein können.
Stattdessen war sie die Direktorin der Central Intelligence Agency und eine kolossale Nervensäge.
Wenn Beverlys schwierige Persönlichkeit ihr größtes Manko gewesen wäre, hätte Peter ihre Beziehung ertragen können, ohne jedes Mal an Mord zu denken, wenn er ihre wohlgeformten Wangenknochen sah oder ihre sorgsam kultivierte Stimme hörte. Mit Mitte 40 hatte Peter sein ganzes Erwachsenenleben in der Politik verbracht. Mit Arschlöchern konnte er umgehen. Es war Inkompetenz, die ihn in den Wahnsinn trieb.
»Ich schlage vor, Sie reißen sich zusammen«, sagte Beverly, auf deren porzellangleichen Zügen sich rote Flecke gebildet hatten. »Ich bin Mitglied des Kabinetts …«
»Das nach Gutdünken des Präsidenten dient, was Sie noch immer nicht zu begreifen scheinen. Wir haben in vier Tagen eine Wahl, Beverly. Vier Tage, und die Umfragen liegen innerhalb der Fehlergrenze. In den nächsten 96 Stunden geschieht nichts ohne meine Zustimmung. Nichts. Haben wir uns verstanden?«
»Sie arroganter kleiner Drecksack«, sagte Beverly, deren Augen wie Eiskristalle blitzten, während ihre Lippen sich zurückzogen und perfekte Zähne entblößten. »Ich arbeite nicht für Sie.«
»Für die nächsten 96 Stunden tun Sie das ganz sicher. Was glauben Sie, wie es um Ihre Präsidentschaftsambitionen bestellt sein wird, wenn ich Sie vier Tage vor der Wahl feuere?«
»Das würden Sie nicht wagen«, sagte Beverly. »Ohne mein Spendennetzwerk wäre der Präsident nicht im Amt.«
»Bilden Sie sich bloß nichts ein. Wir haben Ihnen bei den Vorwahlen vor vier Jahren den Arsch versohlt und Sie haben sich an unseren Zug drangehängt. Vielleicht haben wir Sie damals gebraucht. Jetzt brauchen wir Sie nicht mehr. Ich werde Ihnen also Kaffee einschenken und Sie werden mir erzählen, was zum Henker passiert ist.«
Peter griff nach der silbernen Kanne in der Mitte des Tisches und goss Kaffee in zwei weiße Keramiktassen, auf denen das blaue Präsidentensiegel prangte. Der reichhaltige, nussige Duft von Texas-Pecan-Kaffee erfüllte die Luft.
Peter gab Sahne in seine Tasse und schob die zweite Beverly hin.
»Sie sagten gerade …«, begann Peter.
Beverly starrte Peter an und machte sich nicht die Mühe, den Hass zu verbergen, der in ihrem Blick lag.
Das war in Ordnung. Peters Aufgabe war es nicht, gemocht, bewundert oder gar gefürchtet zu werden. Seine einzige Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass Präsident Jorge Gonzales, der erste Hispanoamerikaner, der je das höchste Amt des Landes innehatte, erfolgreich in eine zweite Amtszeit gewählt wurde. Alles andere, einschließlich der Verachtung einer Parteigenossin und wahrscheinlichen zukünftigen Präsidentin, spielte keine Rolle.
Beverly hielt seinem Blick noch eine Sekunde lang stand, bevor sie sich in sich selbst zurückzog wie eine Katze, die ihre Krallen einfährt. Sie griff nach der Tasse mit dem schwarzen Kaffee, hob sie an die Lippen, nahm einen Schluck und setzte sie ab. Dann öffnete Beverly die Kuriertasche zu ihren Füßen, suchte einen Ordner heraus und legte ihn auf den Tisch.
»Möchten Sie den Einsatzbericht lesen?«, fragte Beverly.
»Danke, nein«, sagte Peter und betrachtete den orangefarbenen Umschlag der Mappe, auf dem oben und unten in großen Druckbuchstaben die Aufschrift TOP SECRET prangte. »Bitte geben Sie mir nur die Zusammenfassung.«
Das war typisch Beverly – eine Maulheldin vor dem Herrn, bis sie in ihre Schranken verwiesen wurde. Dann verwandelte sie sich auf magische Weise in eine vorbildliche Beamtin bis zu dem Moment, in dem ihr fein entwickelter politischer Instinkt Schwäche witterte.
Aber, liebe Güte, er hatte genug von ihrem Scheiß. Manchmal dachte Peter, er hätte ein besseres Verhältnis zum Fraktionsvorsitzenden der Republikaner als zu seinen eigenen Kabinettskollegen. Seine Gegner auf der anderen Seite sollten unsympathisch sein; das gehörte zum Spiel. Beverly hingegen hob die Widerborstigkeit auf eine ganz neue Ebene.
»Gewiss«, sagte Beverly.
In ihrer Stimme lag jetzt der klare, präzise Ton, der ihr zweifellos gute Dienste geleistet hatte, als sie noch eine unbekannte Geschichtsprofessorin an der UC Berkeley gewesen war. Das war, bevor eine Rede, die sie vor einer Gruppe von Studenten gehalten hatte, die gegen Einkommensungleichheit protestierten, viral ging und sie ins nationale Rampenlicht katapultierte.
Beverly Castle war eine reizende Frau, aber wer ihre intellektuellen Fähigkeiten aufgrund ihres Aussehens unterschätzte, tat dies auf eigene Gefahr.
»Um etwa zwei Uhr syrischer Zeit stürmte ein paramilitärisches Team der CIA ein mutmaßliches Chemiewaffenlabor, das einer ISIS-Splitterzelle gehörte. Unsere Geheimdienstinformationen deuteten zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass das Labor nur leicht verteidigt, wenn nicht sogar leer sein würde. Die Informationen waren falsch und das paramilitärische Team geriet in einen Hinterhalt. Bei dem anschließenden Feuergefecht wurde ein Black-Hawk-Hubschrauber zerstört und vier Männer wurden getötet.«
»Herr im Himmel«, sagte Peter und verschluckte sich fast an seinem Kaffee. »Sie haben entschieden, am Wochenende vor der Wahl ins syrische Wespennest zu stechen? Haben Sie Ihren Scheißverstand verloren?«
»Entschuldigung. Bin ich zu spät?«
Peter ärgerte sich dermaßen, dass er eine ganze Sekunde brauchte, um die vertraute Stimme zu erkennen. Er hätte vielleicht noch einen oder zwei Momente sprachlos am Tisch gesessen, wäre da nicht der strahlende Ausdruck auf Beverlys Gesicht gewesen und der Widerwille, den er in ihm auslöste.
»Ganz und gar nicht, Mr. President«, sagte Beverly und erhob sich. »Sie kommen genau zur rechten Zeit.«
Wieder einmal betrachtete Peter Beverlys langen, glatten Hals und versprach sich, eines Tages seine Finger um ihn zu legen und zuzudrücken, bis seine Wut einfach verging.
4
»Wie geht es Ihnen heute Morgen, Peter?«, fragte der Präsident und bedeutete Peter und Beverly, wieder Platz zu nehmen.
»Die Umfragen sind eng, Sir«, sagte Peter und schenkte dem Präsidenten eine Tasse Kaffee ein, während er einen freien Platz am Tisch einnahm, »aber ich glaube, wir werden es schaffen.«
»Kommen Sie«, sagte der Präsident mit tadelnder Stimme, »ich habe nicht gefragt, wie es um meinen Wahlkampf bestellt ist. Ich habe gefragt, wie es Ihnen geht.«
»So gut, wie man es erwarten kann, Sir«, sagte Peter und gab Sahne und Zucker in die Tasse des Präsidenten. Trotz seiner Wut auf Beverly spürte Peter, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
Das war die Wirkung, die Jorge Gonzales auf die Menschen hatte.
Als Sohn mexikanischer Einwanderer verfügte der Präsident nicht über einen beeindruckenden politischen Stammbaum, der mit Generationen von Familienvermögen verbunden war. Was er jedoch hatte, waren Charisma, eine Arbeitsmoral, die ihresgleichen suchte, und ein generell sonniges Gemüt – eine seltene Eigenschaft unter Berufspolitikern.
Jorge hatte außerdem sein Leben lang in Texas gewohnt und teilte die Neigung seiner texanischen Landsleute, Differenzen beiseitezulegen und sich an die Arbeit zu machen. Zu Beginn seiner Amtszeit war Jorge mit seiner Kombination aus scheinbar endlosem Optimismus und der Bereitschaft, der anderen Seite die Hand zu reichen, um den ewigen Morast zu durchbrechen, der den Kongress allzu oft lähmte, häufig mit Reagan verglichen worden.
Jetzt, vier Jahre später, angesichts einer schwachen Wirtschaft, ungelöster Konflikte in Afghanistan und im Irak und eines außer Kontrolle geratenen Bürgerkriegs in Syrien, zog niemand mehr diese Vergleiche.
Doch falls die Welt um ihn herum zusammenbrach, schien Jorge das nicht zu bemerken. Nachdem er einen großen Schluck Kaffee getrunken hatte, setzte der Präsident sein typisches Grinsen auf. »Es kommt nicht oft vor, dass ich meinen Morgen mit zwei meiner Lieblingsmenschen beginnen kann. Beverly, ich glaube, Sie haben dieses Meeting einberufen. Was kann ich für Sie tun?«
Peter zuckte angesichts der Naivität der Frage innerlich zusammen. Er hatte zwar keinen Zweifel daran, dass Jorge, der Mann, an dessen Seite er gearbeitet hatte, seit er dessen Wiederwahlkampagne als Bürgermeister von Houston begleitet hatte, die Frage aufrichtig meinte, aber Peter wusste auch, dass Beverly die Worte für bare Münze nehmen würde.
Obwohl Jorge sie bei der Nominierung der Partei mit Leichtigkeit geschlagen hatte, war Beverly der Meinung, dass ihre Zeit gekommen und Jorge nur ein Eindringling war. Das begehrte Amt der CIA-Direktorin, das nur selten an einen politischen Rivalen vergeben wird, sollte alte Wunden heilen und die Partei nach den erbitterten Vorwahlen einen.
Stattdessen hatte der Posten Beverlys Anspruchsdenken nur noch befeuert. Sie war der Meinung, dass der Präsident und die Partei ihr nichts Geringeres als die Nominierung schuldeten, sobald Jorge seine zweite Amtszeit beendet hatte. Alles, was nicht zu ihrem vermeintlichen Rendezvous mit ihrer Bestimmung beitrug, lenkte sie ab, auch Jorges aktuelle Umfragesorgen.
»Es geht um Syrien, Mr. President«, sagte Beverly und drehte sich auf ihrem Stuhl so, dass sie Jorge direkt anblickte.
Die Veränderung in Beverlys Haltung war fast unmerklich, aber Peter spürte sie trotzdem. Eben noch war sie ganz auf ihn konzentriert gewesen, aber jetzt, wie ein Scheinwerfer, der auf einer dunklen Bühne von einem Schauspieler zum anderen wandert, war Beverlys Strahlkraft auf den Präsidenten gerichtet und ließ Peter im kalten Schatten stehen.
Mehr als einmal in den letzten vier Jahren hatte Peter sich gefragt, wie seine Beziehung zu Beverly wohl ausgesehen hätte, wenn sie keine politischen Gegner gewesen wären. Aber diese Gedanken hielten nie lange an. Er und Beverly waren zwei Seiten derselben Medaille – beide setzten sich mit dem Eifer des wahren Gläubigen für ihre politische Sache ein. Diese alles umfassende Hingabe ließ wenig Raum für andere Dinge, schon gar nicht für romantische Beziehungen.
»Was ist mit Syrien?«, fragte der Präsident.
»Eines meiner paramilitärischen Teams hat ein vermeintliches Chemiewaffenlabor ausgehoben«, sagte Beverly. »Was sie stattdessen entdeckten, war eine neue chemische Waffe. Eine Waffe, die von den Detektionsgeräten des Teams nicht registriert wurde.«
»Meine Güte«, sagte der Präsident und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, »das ist eine erschreckende Entwicklung. Aber zunächst einmal – Peter, ich wusste nicht, dass wir eine verdeckte Operation in Syrien genehmigt haben.«
»Haben wir auch nicht«, sagte Peter und genoss die rosa Flecke, die wieder auf Beverlys Wangen erblühten.
Der Präsident war streng katholisch und benutzte weder unflätige Ausdrücke noch duldete er sie bei seinen Mitarbeitern. Diese Eigenschaft, gepaart mit seinem bekannt zuversichtlichen Auftreten, vermittelte dem Unwissenden den Eindruck, Jorge Gonzales wäre nichts weiter als ein hispanischer Mister Rodgers.
Mit dieser Annahme hätte der uninformierte Beobachter nicht falscher liegen können.
Obwohl Jorge Gonzales’ Gleichmut nicht gespielt war, verbarg sich hinter seiner Freundlichkeit ein Verstand von verblüffender Gewandtheit. Peter hatte erlebt, wie der Präsident mehr als einen arroganten republikanischen Gesetzgeber in Stücke riss, indem er dessen Argumente mit einer Reihe verbaler Erwiderungen zerpflückte und dabei sein engelsgleiches Lächeln beibehielt.
Peter hatte das Gefühl, dass dies einer dieser Momente sein könnte.
»Können Sie das noch einmal wiederholen?«, sagte der Präsident und blickte von Beverly zu Peter. »Ich muss Sie falsch verstanden haben. Es hörte sich an, als hätten Sie gerade gesagt, dass die CIA ohne meine Zustimmung oder mein Wissen eine verdeckte Operation in Syrien durchgeführt hat.«
»Das ist richtig, Sir«, sagte Peter. »Vier Männer und ein Black-Hawk-Hubschrauber gingen dabei verloren.«
Peter gab seine Antwort, ohne eine Miene zu verziehen, aber innerlich jubilierte er.
Der Präsident duldete keine Fehden zwischen seinen Mitarbeitern und jeder, der dabei erwischt wurde, im Unglück eines anderen zu schwelgen, bekam eine Standpauke. Aber Jorge Gonzales war auch nicht so naiv zu glauben, dass diese Hochdruckjobs und die monströsen Egos, die mit ihnen einhergingen, keine Reibungen verursachten. Daher behielt er sich allein das Recht vor, Kurskorrekturen auf seine verheerend wirksame Art vorzunehmen.
»Beverly«, sagte der Präsident und schaute seine CIA-Direktorin mit seinen warmen braunen Augen an, »ist das wahr?«
»Wie vieles von dem, was Peter sagt, ist es zum Teil wahr.«
Peters Hände krampften sich zusammen, aber er stieg nicht darauf ein. Im Gegensatz zu Beverly verstand Peter, wie Jorge vorging, und für den Moment begnügte er sich damit, dass der Präsident das Meeting leitete.
Für den Moment.
»Bitte erklären Sie mir das«, sagte der Präsident.
»Gewiss«, sagte Beverly und öffnete erneut die Mappe, die sie Peter angeboten hatte. Sie blätterte durch die ersten paar Seiten, nahm ein Dokument mit dem Siegel des Präsidenten heraus und schob es über den Tisch.
»Sir«, sagte Beverly, »ich nehme an, Sie erinnern sich daran? Es ist die geheime Direktive, die Sie vor sechs Monaten autorisiert haben. Das Dokument besagt, dass Ihre Administration die Entwicklung einer chemischen Waffe durch eine der Dschihadisten-Organisationen, die derzeit in Syrien operieren, nicht akzeptieren wird.«
»Ich erinnere mich«, sagte Jorge und legte seine Stirn in Falten, als er das Dokument las.
Präsident Gonzales war ein junger 55-Jähriger gewesen, als er gewählt wurde. Vor der Kamera sah er energisch aus, aber er vermittelte trotzdem die ruhige Hand eines erfahrenen Politikers. Seine ruhige, ausgeglichene Persönlichkeit versprach keine hochtrabenden Reden, die nur zu zerschlagenen Hoffnungen und zerbrochenen Träumen führten. Er hatte der Nation außerdem versprochen, dass es keine unbedachten Auslandsabenteuer mehr geben würde, die sich in nie endende Kriege verwandelten.
Stattdessen hatte er versprochen, einer Nation, die sich so verzweifelt danach gesehnt hatte, eine ruhige, kompetente Führung zu geben.
Aber das hieß nicht, dass die letzten vier Jahre nicht ihren Tribut gefordert hätten. Das dichte schwarze Haar des Präsidenten war nun schütter und grau, und die feinen Falten, die einst seine Stirn zierten, hatten sich zu Furchen vertieft.
Ungeachtet seiner sympathischen Art hatte der Präsident einen großen Teil seiner bisherigen Amtszeit in genau dieser Position verbracht – mit besorgter Miene auf Dokumente blickend. Nach Peters Meinung lag ein Großteil dieser Sorge in der nachlässigen Art und Weise begründet, mit der Beverly Castle den wichtigsten Geheimdienst der Nation leitete.
Dieses Fiasko war nur das jüngste Beispiel.
»Gut«, sagte Beverly, ihre Diktion präzise und knapp wie die einer Doktorandin, die ihre Dissertation verteidigt. »Denn der letzte Absatz dieser Direktive weist meine Behörde an, die Entdeckung und Bewertung von feindlichen Chemiewaffenlabors zu unserer obersten Priorität zu machen. In diesem Sinne habe ich alle meine Mittel, einschließlich paramilitärischer Teams der Agency, eingesetzt, um den Stand der Massenvernichtungswaffenprogramme in Syrien festzustellen. Nach den Erkenntnissen, die wir erhalten haben, hat eine terroristische Splitterzelle, die in dem von Assad kontrollierten Gebiet operiert, eine chemische Waffe entwickelt. Eine Waffe, die sie in einem spektakulären Anschlag einsetzen wollte, möglicherweise gegen ein westliches Ziel. Die Informationen wurden uns von den Israelis zugespielt.«
Beverly warf dem Präsidenten einen Blick zu, als sie die letzte Aussage machte, und Peter wusste, warum. Im Gegensatz zu einigen früheren Amtsinhabern im Oval Office hatte der Präsident einen gesunden Respekt vor Israel. Für Jorge Gonzales waren die Israelis in der Region der beherzte Bursche, der sich nicht scheute, sich mit dem Schulhof-Bully anzulegen. Der Präsident war sogar Fan der Daniel-Silva-Romane, die sich um den Mossad-Agenten Gabriel Allon drehten. Falls wirklich die Israelis Beverly die Informationen zugespielt hatten, würde der Präsident sicher nachsichtiger sein.
Aber das war ein großes Falls.
»Meiner Meinung nach«, sagte Beverly, die das Schweigen des Präsidenten offenbar als Einladung zum Fortfahren verstand, »war die Durchführung einer verdeckten Operation in einem mutmaßlichen Waffenlabor Teil des Auftrags, den Sie meiner Behörde erteilt haben.«
»Ihrer Meinung nach?«, sagte Peter und bemühte sich, der selbstgefälligen Frau nicht über den Tisch hinweg an den Hals zu springen. »Haben Sie diese Meinung zufällig mit jemand anderem geteilt?«
»Natürlich nicht«, sagte Beverly und versuchte, die Frage mit ihren schlanken Fingern wegzuwinken. »Ich bin die Direktorin der Central Intelligence Agency. Der Umfang und die Verantwortung dieser Organisation sind nicht unbedeutend. Ich werde den Präsidenten nicht mit jedem operativen Detail behelligen und das sollte man auch nicht von mir erwarten.«
Oberflächlich betrachtet war ihre Antwort plausibel. Der Präsident tat alles, um fähige Leute einzustellen, und er war der Meinung, dass man ihnen den nötigen Spielraum für ihre Arbeit lassen sollte. Doch Beverlys Handlungen brachten diese Philosophie an ihre Grenze.
Zwar wusste Peter, dass Beverly an der Bedrohung durch das Chemiewaffenlabor interessiert war, aber ihr Beweggrund, die Operation ohne die Zustimmung des Präsidenten zu genehmigen, war nicht, eine Frage von nationaler Bedeutung zu beantworten oder den West Wing aus der Schusslinie zu nehmen.
Beverly wollte sich mit ihrer Operation profilieren.
Ihre vereinbarte Amtszeit als Direktorin endete kurz nach der Wiederwahl des Präsidenten und zu diesem Zeitpunkt würde sie sich zweifellos den Vorbereitungen für ihren eigenen Präsidentschaftswahlkampf widmen. Falls die Operation erfolgreich gewesen wäre, hätte sie die Lorbeeren für sich beanspruchen können, indem sie, quasi als anonyme Quelle, einem befreundeten Reporter der Washington Post oder der New York Times eine Reihe von Informationen zugespielt hätte.
Falls nicht, wären die operativen Details im eisernen Tresor der nationalen Sicherheit verschlossen worden und hätten nie das Licht der Welt erblickt. Beverly war Politikerin durch und durch, und diese verpfuschte Mission war nichts anderes als ein Beispiel für die Art von Hinterzimmer-Kungeleien, die Präsident Gonzales zu beenden versprochen hatte.
Schlimmer noch, die Operation war nicht erfolgreich gewesen. Amerikanische Soldaten waren umgekommen, und da die vorzeitigen Stimmabgaben bereits in vollem Gange und die nationalen Medien darauf bedacht waren, den Ausgang des Rennens so spannend wie möglich zu gestalten, würde es an Peter liegen, das von Beverly angerichtete Fiasko in aller Stille zu bereinigen.
So wie immer.
»Ihre Inkompetenz ist atemberaubend«, sagte Peter und ballte die Hände zu Fäusten, während er sich über den Tisch beugte. »Ich hätte fast Lust, Sie …«
»Peter – lassen Sie das.«
Peter fuhr angesichts der unerwarteten Unterbrechung zusammen und blickte ungläubig auf den Präsidenten. Obwohl er nicht laut geworden war, trafen ihn die Worte mit der Wucht einer Peitsche. Die Härte hinter seinem Ton war unverkennbar.
»Sir?«, sagte Peter.
»Sosehr mir die von Miss Castle gewählte Vorgehensweise auch missfällt, wir werden uns nicht gegenseitig verunglimpfen. Nicht solange ich noch Präsident bin. Außerdem glaube ich, dass Beverly in diesem Fall richtig gehandelt hat, ob mit oder ohne offizielle Genehmigung.«
»Mr. President«, sagte Peter, der noch immer nicht recht glauben wollte, seinen Ohren trauen zu können, »bei allem Respekt, wovon reden Sie? Die Umfragen sind im Wesentlichen unentschieden. Was Beverly getan hat …«
»Musste getan werden«, unterbrach der Präsident.
»Die Wahl …«, sagte Peter.
»Wenn die Wähler am Dienstag mit der Nachricht aufwachen, dass Terroristen eine chemische Waffe auf dem Times Square freigesetzt haben, wird meine Wahl nur noch eine Randnotiz sein, und das zu Recht.«
Der Präsident reichte das Dokument an Beverly zurück, bevor er sich Peter zuwandte, eine selten gesehene Härte in seinem freundlichen Blick.
»In normalen Zeiten würde ich Ihnen zustimmen, was Miss Castles bequeme Missachtung der Befehlskette angeht«, sagte Jorge. »Aber dies sind keine normalen Zeiten. Ich erwarte jedoch, dass ich informiert werde, bevor weitere verdeckte Operationen eingeleitet werden. Wenn Ihnen das nicht klar genug ist, Miss Castle, sagen Sie es mir jetzt, und wir werden Ihren Rücktritt innerhalb einer Stunde bekannt geben.«
Das triumphierende Lächeln, das sich auf Beverlys Gesicht ausgebreitet hatte, verschwand. Leider hatte Peter keine Zeit, sich an der Schelte seiner Rivalin zu ergötzen, denn der Präsident hatte sich wieder zu ihm umgewandt.
»Peter, ich weiß, dass Sie nur mein Bestes wollen, aber wir können es uns nicht leisten, halbe Sachen zu machen. Nicht jetzt. Ich werde noch heute Morgen eine neue Direktive autorisieren.«
»Die da lautet?«, fragte Peter.
»Dass alle Mitglieder des Geheimdienstes hiermit angewiesen werden, der Bestimmung der Art dieser neuen chemischen Waffe oberste Priorität einzuräumen. Ich erwarte, dass die Aktionspläne der Direktoren aller zuständigen Behörden bis Dienstschluss auf meinem Schreibtisch liegen. Das gilt auch für Sie, Direktorin Castle.«
»Gewiss, Sir«, sagte Beverly in respektvollem Ton, aber ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als sie einen Blick auf Peter warf. »Meine besten Leute sind schon dabei.«
»Da bin ich mir sicher«, sagte der Präsident und ließ einen Hauch von Sarkasmus in seine Worte einfließen. »Nur Pläne, Ms. Castle. Wenn eine weitere Operation ohne meine Zustimmung gestartet wird, wird es Ihre letzte sein.«
»Sir«, sagte Peter, der verzweifelt versuchte, den Zug aufzuhalten, den der Präsident in Gang gesetzt hatte, »ich muss Sie über die Initiative informieren, an der ich mit Senator Kime arbeite. Wenn Sie mir nur eine Minute einräumen würden …«
»Peter, ich weiß, dass ich ohne Sie nicht hier wäre. Sie haben mir versprochen, dass ich im Oval Office landen würde, wenn ich auf Sie höre, und Sie hatten recht, aber jetzt ist nicht die Zeit für Politik. Auf die eine oder andere Weise werde ich die Präsidentschaft abgeben – hoffentlich erst in vier Jahren, vielleicht aber auch in vier Tagen. So oder so werde ich dafür sorgen, dass es noch eine Nation gibt, in die ich zurückkehren kann, wenn es an der Zeit ist, wieder ein Privatmann zu werden. Beverly, tun Sie, was Sie tun müssen. Peter wird sich um die Konsequenzen kümmern. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss eine Pressekonferenz geben.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Präsident Gonzales und verließ den Raum so abrupt, wie er ihn betreten hatte. Ausnahmsweise blieb Peter nicht stehen, als sein langjähriger Freund durch die Tür schritt.
Vielleicht weil er sich nicht mehr sicher war, ob seine Beine ihn tragen würden.
5
WASHINGTON, D. C.
Etwas mehr als vier Stunden später stand ich vor einem schiefergrauen Gebäude, das die Defense Intelligence Agency perfekt verkörperte. Obwohl die Nachmittagssonne von einem Oktoberhimmel strahlte, der so blau war, dass er die Hauptrolle in einem Disney-Film hätte spielen können, verströmte das mehrstöckige Hauptquartier den Charme eines deutschen Bunkers mit Blick auf die Küste der Normandie.
Während unsere Cousins von der CIA ein ikonisches Gebäude in Langley besaßen, das von mehreren Hektar Wald umgeben war, hatte die DIA einen Unterstand neben einem Fischteich.
Alles, was man über die ewige Rivalität zwischen den führenden Geheimdiensten der Nation wissen musste, ließ sich aus einer Begutachtung ihrer jeweiligen Immobilien ablesen. Die von Bäumen gesäumte CIA-Zentrale im vornehmen alten Virginia war wie der kultivierte, weithin bekannte ältere Spross, während der Standort der DIA am Ostufer des Potomac der oft ignorierte kleine Bruder war, der ständig bemüht ist, die Anerkennung der Eltern zu gewinnen.
Mein ehemaliger Chef hatte zwar ein paar FBI-Agenten dazu bringen können, mich in ein wartendes Privatflugzeug zu bugsieren, aber mit diesem Monstrum aus Stahl und Glas konnte es selbst der ehrwürdige James Glass nicht aufnehmen.
Doch wenn die unschuldig klingende Nachricht, die James mir über Agent Rawlings’ Telefon übermittelt hatte, das bedeutete, was ich vermutete, hatte er jetzt vielleicht das Druckmittel, um diesen Ort dem Erdboden gleichzumachen und es noch einmal zu versuchen.
Einstein ist aktiv.
Diese drei Worte bargen unermessliches Potenzial in sich.
Einstein war der Codename, den wir einem pakistanischen Waffenforscher gegeben hatten, der seine Dienste in den letzten fünf Jahren an den Meistbietenden verkauft hatte. Analog zu den berüchtigten Khan-Labors, in denen Pakistans staatlich gefördertes Atomprogramm entstanden war und dann an Kunden in aller Welt exportiert wurde, begann Einstein seine Laufbahn im noch jungen Chemiewaffenprogramm seines Landes. Als diese unbedacht ins Leben gerufene Initiative aufgrund des massiven Drucks der USA auf Eis gelegt wurde, bot Einstein seine Expertise kurzerhand auf dem freien Markt feil.
Vor etwa 18 Monaten tauchte er auf unserem Radar auf, nachdem ein DIA-Agent innerhalb der pakistanischen Regierung berichtet hatte, dass Einstein seine Dienste in der aktuellen Syrien-Krise an jemanden verkaufen wollte. Obwohl von Geburt sunnitischer Muslim, war Einstein eher Kapitalist als religiöser Ideologe. Er war bereit, sein Fachwissen derjenigen Partei zur Verfügung zu stellen, die sein beträchtliches Honorar zahlte, seien es die Schiiten, die in Assads Regierung das Sagen hatten, die sunnitischen Rebellen, die gegen sie kämpften, oder sogar das wahhabitisch geprägte ISIS-Kalifat.
Ich hatte dafür plädiert, ihn sofort zu töten, bevor er mitten in einem Bürgerkrieg, der schätzungsweise bereits eine halbe Million Menschenleben gefordert hatte, die Büchse der Pandora öffnete.
James hatte sich meiner Empfehlung angeschlossen, aber General Hartwright, der Direktor der DIA, hatte andere Pläne. Nach Hartwrights Einschätzung stellte Einstein eine einmalige Gelegenheit zur Rekrutierung dar. Ihn in einen Agenten zu verwandeln würde der DIA Einblick in eine Reihe der bösartigsten terroristischen Organisationen und repressiven Regime der Welt verschaffen.
Statt ihn zu töten, würden wir ihn rekrutieren, und ich war als Anwerber vorgesehen.
Oberflächlich betrachtet war der Vorschlag des Direktors durchaus vernünftig, aber die zynische Seite in mir fragte sich, ob hinter seiner Entscheidung mehr steckte, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Die CIA und die DIA kämpften ständig um die Finanzierung. Ein Rekrut von Einsteins Format wäre ein großer Pluspunkt für General Hartwright, wenn er vor dem Kongress um das Budget für das nächste Jahr streiten würde.
Ganz zu schweigen von Hartwrights undurchsichtigen persönlichen Beweggründen. Seine Amtszeit als Direktor würde mit den Präsidentschaftswahlen enden. Obwohl er ein mit drei Sternen ausgezeichneter Armeegeneral war, war Hartwright längst auf der Suche nach seinem nächsten Gig. Es verstand sich von selbst, dass die erfolgreiche Rekrutierung eines berüchtigten Waffenforschers sich in Hartwrights postmilitärischem Lebenslauf ziemlich gut machen würde.
Was auch immer die Logik des Direktors sein mochte, das Endergebnis war dasselbe: Ich sollte mich an Einstein heranmachen. Ich hatte vor der Flagge salutiert und Befehle befolgt, aber zum ersten Mal in meiner fünfjährigen Laufbahn als Case Officer der DIA hatte mich ein Rekrutierungsziel abblitzen lassen. Doch jetzt hatte Einstein, sofern ich James’ Nachricht richtig interpretierte, einen Sinneswandel durchgemacht. Er hatte Kontakt aufgenommen. Das bedeutete, dass ich als sein potenzieller Handler aus der Kälte kommen und mich um meinen neuesten Agenten kümmern musste.
Oder doch nicht?
Ein Strom von Regierungsangestellten passierte die Drehkreuze vor mir und steuerte auf den Parkplatz zu meiner Linken zu. Um kurz nach fünf an einem Freitag war ihre Schicht, in der sie die Welt für die Demokratie sicherer machten, vorbei. Jetzt war es an der Zeit, dem Verkehr in Washington zu trotzen.
Diejenigen, die jung genug waren, um mit drei Mitbewohnern in einer winzigen Klitsche zu hausen, hatten wahrscheinlich eine 30-minütige Fahrt zu einer Wohnung im District vor sich. Auf die älteren Angestellten mit Familien, die die geräumigeren und erschwinglicheren Vororte in Nord-Virginia oder Süd-Maryland bevorzugten, wartete eine gut einstündige bis anderthalbstündige nervenaufreibende Ochsentour.
Laila und ich waren irgendwo dazwischen gelandet. Eine Wohnung in Old Town Alexandria war als Eigentum unerschwinglich, aber zur Miete bezahlbar. Mit den kombinierten Gehältern eines Regierungsangestellten und einer Wirtschaftsprüferin auf dem Weg zur Partnerschaft hatten wir uns ein Stadthaus am Wasser leisten können.
Der Arbeitsweg war nicht schlimm. 20 Minuten zur DIA-Zentrale für mich und weniger als zehn Minuten für Laila zu ihrem De-facto-Büro – dem Ronald Reagan Washington National Airport. Eigentlich hätte Laila jetzt schon in unserer Wohnung sein sollen, ein Glas Wein in der Hand, während sie im neuesten John-Dixon-Roman blätterte.
Ich war seit sechs Wochen nicht mehr zu Hause gewesen. Nicht mehr seit der Nacht, in der ich schweißgebadet aus unserem Schlafzimmer getaumelt war, überzeugt davon, dass meine syrischen Dämonen endlich gekommen waren, um mich zu holen. Bis dahin war das Zittern ein bloßes Ärgernis gewesen – ein zufälliges Zucken hier und da, das ich als Muskelkrampf abgetan hatte. Schließlich erholte ich mich gerade von einer Schusswunde am Bein. Aber in jener Nacht war alles anders.
Nach einem besonders schlechten Traum war ich aufgewacht und hatte eine Gestalt neben dem Nachttisch stehen sehen.
Abir.
Ich hatte mich aufgesetzt und zu Laila umgedreht, aber es war nicht meine Frau, die neben mir lag. Stattdessen teilte ich mein Bett mit Abirs Mutter.
In diesem Moment begann das Zittern ernsthaft, es breitete sich von meinen Fingern bis zu meinen Armen aus. Ich stolperte aus unserem Schlafzimmer und die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Mein Herz fühlte sich an, als würde es aus meiner Brust herausplatzen, und meine Augen brannten vom Schweiß, der mir von der Stirn tropfte. In meinem verzweifelten Versuch, lähmender Panik zu entgehen, bemerkte ich die verbeulte Gibson-Nachbildung, die an der Wand lehnte.
Die Gitarre war eine College-Laune gewesen und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen, geschweige denn gespielt hatte. Aber aus irgendeinem Grund ergriff ich den abgenutzten Hals, setzte das rissige Holz auf meinen Schoß und begann zu klimpern. Im Laufe von einem oder zwei Songs ließen das Zittern und der damit verbundene Wahnsinn allmählich nach. Zum ersten Mal seit ich aus dem Rettungsflieger aus Syrien gehumpelt war, konnte ich an etwas anderes denken als an mein schreckliches Versagen – den Fehler, der drei Menschen das Leben gekostet und meinen besten Freund zum Krüppel gemacht hatte.
Aber der unerwartete Friede hatte seinen Preis gehabt. Dort in der Dunkelheit, die nur hin und wieder von einem Paar Scheinwerfer erhellt wurde, das über die Wand huschte, sah ich, wohin das alles führen würde. In dieser Nacht war das Zittern weit über ein einfaches Zucken der Muskeln hinausgegangen. In dieser Nacht hatte ich ein totes kleines Mädchen gesehen und meine Frau mit ihrer Mutter verwechselt.
Was würde ich morgen sehen?
Oder tun?
Das war die Frage, die mir die Augen öffnete. Im Einsatz für das Militär und als Case Officer hatte ich mehr als ein Jahrzehnt lang an vorderster Front gekämpft. Ich hatte viel Schreckliches erlebt und die Zahl der Freunde, die ich in diesem nicht enden wollenden Krieg gegen den Terror verloren hatte, näherte sich unaufhaltsam dem zweistelligen Bereich.
Aber das hier war anders.
Bisher hatte ich meine Reaktionen kontrollieren können, aber was in dieser Nacht geschah, war Neuland für mich. Was, wenn es nicht Abirs Mutter gewesen wäre? Was, wenn ich stattdessen den Mann gesehen hätte, der sie getötet hatte?
Was wäre dann passiert?
Ich wusste es nicht und das war inakzeptabel. Die Liebe meines Lebens war nicht mehr sicher in ihrem eigenen Haus.
Meinetwegen.
Ich hatte Laila neun Monate, nachdem ich sie kennengelernt hatte, geheiratet. Sechs Jahre später liebte ich sie auf eine Weise, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie möglich war. Meine Frau war erstaunlich, aber sie war nicht perfekt. Sie besaß eine Sturheit, die einen Pitbull nachsichtig aussehen ließ. Sie würde mich nie aufgeben, egal was ich sagte oder tat. Ihre Eltern hatten den typischen Kampf der Immigranten durchgemacht. Sie waren mit nichts in dieses Land gekommen und hatten Laila ihre grenzenlose Entschlossenheit vererbt.
Nein, Laila würde mich niemals aufgeben, selbst wenn es unser beider Untergang bedeuten würde. Und das war ein Szenario, das ich einfach nicht ertragen konnte.
Also beschützte ich sie auf die einzige Art und Weise, die mir einfiel. Da ich mir nicht zutraute, in unser Schlafzimmer zurückzukehren, hinterließ ich eine Nachricht, in der ich erklärte, dass ich für eine fiktive Operation aktiviert worden war, schnappte mir die alte Gitarre und ging.
Wie Laila war auch ich mit wenig aufgewachsen. Meine Eltern waren zwar keine Immigranten, aber sie lebten auf einem trostlosen Stück Land in Utah, das sie optimistisch als Ranch bezeichneten. Wir hatten nicht viel Geld, was bedeutete, dass Tierarztbesuche Problemen vorbehalten waren, die Dad nicht mit einem Hausmittel beheben konnte. Ein anschauliches Beispiel war eine mögliche Tollwutinfektion. Wenn Dad den Verdacht hatte, dass ein Tier infiziert war, stellte er es unter Quarantäne und wartete ab. Wenn das Tier nach 30 Tagen keine Symptome zeigte, atmete er erleichtert auf und entließ es wieder in die Herde. Wenn das Tier jedoch die verräterischen Symptome der Tollwut zeigte, zog er es aus dem Verkehr.
Basta.
Das war meine Überlegung, als ich ging. Vielleicht war das, was ich hatte, heilbar. Vielleicht musste ich aus dem Verkehr gezogen werden. Der einzige Weg, um sicher zu sein, ohne dabei Laila zu gefährden, war, meine eigene Form der Quarantäne durchzuführen.
Ich hatte mit einem Army-Stipendium an der University of Texas studiert und mich in die Stadt Austin verliebt. Da ich also nirgendwo sonst hinkonnte und anonym bleiben wollte, hatte ich James per E-Mail mein Kündigungsschreiben geschickt, ihm per FedEx mein sicheres Telefon und meine Agency-Ausweise zukommen lassen und war in die Stadt zurückgekehrt, in der ich aufs College gegangen war.
Um mich zu beschäftigen, nahm ich Gitarrenunterricht und arbeitete als Barkeeper. Vor anderthalb Monaten hatte ich ein Flugticket nach D. C. gekauft in der Hoffnung, Laila auf ihrem Weg nach Austin zu überraschen. Aber statt das schöne Gesicht meiner Frau zu sehen, wurde ich mit einer toten syrischen Frau konfrontiert. Erschüttert, aber entschlossen buchte ich das unbenutzte Ticket um und versuchte es erneut. Und noch einmal. Und immer wieder. Aber das Ergebnis war immer das gleiche. Meine Frau war für mich verloren.
Vielleicht war es an der Zeit, mir einzugestehen, dass meine Quarantäne ein Fehlschlag war. Abirs Manifestationen wurden immer häufiger und das Zittern immer heftiger. In diesem Moment war Laila nur eine 20-minütige Uber-Fahrt entfernt. Vielleicht war es an der Zeit, die DIA endgültig zu verlassen und alles auf Lailas unbeirrbare Beharrlichkeit zu setzen.
Aber kaum war der Gedanke in meinem Kopf, verwarf ich ihn wieder. Vielleicht konnte ich James, Einstein und meiner Arbeit den Rücken kehren. Wenn mich meine Zeit in der Armee etwas gelehrt hatte, dann, dass niemand wirklich unersetzlich war. James mochte schreien und brüllen, aber sicherlich hatte die DIA einen anderen Case Officer, der Einstein anleiten konnte. Trotzdem gab es noch eine Person, der ich niemals den Rücken kehren konnte.
Als ob meine Gedanken ihn herbeigerufen hätten, öffneten sich die Glastüren des Gebäudes und gaben den Blick auf die gebrochene Gestalt meines besten Freundes frei. Als er auf mich zuhumpelte, kam ich nicht umhin zu denken, dass Abir das leichtere Los erwischt hatte. Obwohl das Mädchen einen schrecklichen Tod gestorben war, hatte ihr Leiden ein Ende.
Das von Frodo hatte gerade erst begonnen.
6
In letzter Zeit schien mein Leben aus zwei unterschiedlichen Teilen zu bestehen – vorher und nachher. Vorher war gleichbedeutend mit dem Mann, der ich gewesen war, und dem Leben, das ich vor Syrien geführt hatte. Nachher war alles andere. Meistens konnte nur ich diesen Unterschied sehen. Für Laila, James und alle anderen sah ich aus wie derselbe Mann. Wahrscheinlich verhielt ich mich sogar die meiste Zeit wie er.
Aber ich wusste, dass ich mich verändert hatte.
Als ich nach Hause gekommen war, hatte ich mir gewünscht, dass der Unterschied deutlicher zu erkennen gewesen wäre. Dass es außer der Schusswunde an meinem Bein etwas noch Auffälligeres gegeben hätte, das meine Freunde und Familie auf die unsichtbaren Veränderungen aufmerksam gemacht hätte. Dann hatte ich Frodo zum ersten Mal nachher gesehen und mir wurde klar, wie egoistisch mein Wunsch war. Frodos Veränderung war nur allzu offensichtlich, selbst für Leute, die ihn vorher nicht gekannt hatten. Und das war eine Tragödie, denn vor Syrien war Frodo einer der gefährlichsten Menschen auf dem Planeten gewesen.
