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Falling in love is the greatest paradox. Veterinärmedizinerin Emerie ist überglücklich: Sie darf an einer Forschungsreise in die Antarktis teilnehmen. Wenn da nur nicht der Leiter des Teams wäre. Beckett treibt Emerie auf der Polarstation zunehmend in den Wahnsinn. Eigentlich muss sie sich auf ihre Doktorarbeit über Pinguine konzentrieren. Doch je länger sie mit Beckett zusammenarbeitet, desto schwerer fällt es ihr, die Hitze zu ignorieren, die sich trotz arktischer Temperaturen in ihr ausbreitet, wann immer er in ihrer Nähe ist. Weitere winterliche Schmöker: Christmas at Tiffany's von Greta Milán Single All the Way von Stefanie Hasse und Stella Tack Snowflakes All Around Us von Sarah Saxx Make My Wish Come True von Jana Schäfer
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Seitenzahl: 525
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2025 Ravensburger Verlag GmbH Text © 2025 Greta Milán Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Covergestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Bildern von Adobe Stock (© Lana Marcy, © CNuisin, © Pakon und © aksol) und Shutterstock (© dwph) Lektorat: Svenja Kopfmann Alle Rechte vorbehalten. Der Nutzung für Text- und Data-Mining wird ausdrücklich Widersprochen.
978-3-473-51287-4
ravensburger.com/service
Für alle, die sich in der Kälte verirrt haben.Selbst im frostigsten Winter können Herzen zueinanderfinden.
Hypothese I:
Eine hohe Risikobereitschaft untergräbt die Bindungstreue.
Es wird angenommen, dass Adeliepinguine über mehrere Brutzyklen hinweg monogam bleiben. Diese Theorie steht jedoch im Widerspruch zur überdurchschnittlichen Neugier der Tiere, welche bisweilen sogar den Selbsterhaltungstrieb übersteigt.
Zu beweisen ist, dass die Unfähigkeit, Gefahren richtig einzuschätzen und Prioritäten angemessen festzulegen, auch auf die Paarbindung zutrifft.
Mit anderen Worten: Adeliepinguine sind viel zu abenteuerlustig, um dauerhaft treu zu sein.
Persönliche Notizen zur Dissertation »Paarungsverhalten der Adeliepinguine – Evaluierung ethologischer Gründe für den Partnerwechsel und Auswirkungen auf die Entwicklung der Brutkolonie (Sigma) auf der Ross-Insel«
von Emerie HastingsCornell University, Fakultät für VeterinärmedizinAbteilung Forschung und Entwicklung
Emerie
»Emerie!« Professorin Martinez kam mit ausgebreiteten Armen hinter ihrem vollgestopften Schreibtisch hervor. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht und grub tiefe Falten in ihre Augenwinkel. Wie üblich trug sie eine kunterbunt gemusterte Bluse, und ihr dickes, tiefschwarzes Haar, das vereinzelt mit grauen Strähnen durchzogen war, hatte sie zu einem klassischen Dutt auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. Sie sah aus, als wollte sie mich am liebsten an sich ziehen und ganz fest drücken. »Ich habe wunderbare Neuigkeiten!«
Noch vor zwei Jahren, als Professorin Martinez der Betreuung meiner Dissertation zugestimmt hatte, wäre mein Herz bei diesem Satz vor Aufregung gehüpft. Aber mittlerweile wusste ich, dass selbst ein neues Fachbuch in der Unibibliothek ekstatische Begeisterungsstürme bei ihr auslöste.
Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich hatte unheimliches Glück mit ihr gehabt. Es gab wenige Dozenten an der Cornell, die genau so viel Enthusiasmus in die Wissenschaft steckten wie meine Betreuerin. Viele andere Doktoranden hingen permanent in der Luft, weil sie auf Feedback warteten, oder waren frustriert, weil ihre wissenschaftlichen Ansätze in der Luft zerrissen wurden. Professorin Martinez tat das nie. Selbst ihre Kritik verpackte sie in Herzlichkeit und schmückte sie mit Motivation. Ich kannte niemanden, der das Leben so positiv sah. Aber manchmal wünschte ich trotzdem, sie wäre ein bisschen weniger … aufgedreht.
»Was denn für Neuigkeiten?«, fragte ich und ging ihr entgegen, obwohl sich alles in mir sträubte, jemanden in meine Komfortzone zu lassen, was bei dem Tempo, in dem sie ihr kleines, chaotisches Büro durchquerte, in cirka zwei Sekunden der Fall sein dürfte. Jeder Muskel in mir versteifte sich in Erwartung ihrer Umarmung. Körperkontakt war etwas, das mir schwerfiel, selbst wenn es sich um meine sympathische Professorin handelte.
Zum Glück zerrte Professorin Martinez mich aber nicht an sich, sondern packte lediglich meinen Unterarm, mit dem ich einen Stapel Dokumente umklammerte. Ihre braunen Augen funkelten. »Sie werden zur Ross-Insel reisen!«
Vor Schock ließ ich beinahe meine Unterlagen fallen. »Wirklich?«
Sie nickte frenetisch, woraufhin sich einige Haarsträhnen aus ihrem Dutt lösten und ihr rundliches Gesicht umspielten. »Ja!«
»Aber … wie …?«, stammelte ich, weil ich es noch immer nicht ganz begriff.
Einmal im Jahr reiste ein vierköpfiges Team von der Cornell für zwei Monate zur Ross-Insel, wo sich am Cape Evans die Forschungsstation White Star befand. Ganz in der Nähe gab es entlang der Westküste eine kleinere Brutkolonie von Adeliepinguinen, die im Zentrum meiner veterinärmedizinischen Dissertation stand.
Leider waren meine Anträge sowohl im letzten als auch in diesem Jahr abgelehnt worden, weil jemand anderes nach Ansicht der Forschungskommission, die die Zuschläge verteilte, wichtiger war als eine kleine Verhaltensforscherin wie ich.
Beckett Callahan.
Ich hasste diesen Mann mit glühender Leidenschaft.
»Nun ja.« Professorin Martinez zügelte ihre Begeisterung. »Ich habe gerade erfahren, dass sich ein Techie das Bein gebrochen hat und die Reise deshalb absagen musste.«
Bei den Techies handelte es sich um ein interdisziplinäres Team von Bio-Informatikern, Physikern, Veterinärmedizinern und Ingenieuren, angeführt von – Wie sollte es auch anders sein? – Beckett Callahan.
Meine Lippen zuckten verräterisch, weil mich die Vorstellung, dass Beckett mit einem Gips am Bein während der nächsten Wochen über den Campus hüpfte, durchaus amüsierte. Nicht dass ich derart unglückliche Umstände generell guthieß oder sie jemandem wünschte. Aber was ihn betraf, war ich gern bereit, eine Ausnahme zu machen.
»Es ist natürlich sehr schade, dass die Techies so kurzfristig auf einen Kollegen verzichten müssen«, fuhr Professorin Martinez fort und bedachte mich mit einem warmen Lächeln. »Aber Sie haben sich diese Reise mehr als verdient, Emerie.«
Mein Puls begann zu rasen, während ich meine Professorin noch immer vollkommen fassungslos anstarrte. »Dann ist es wirklich wahr?«
»Aber ja!« Sie lachte fröhlich. »Ich habe gerade grünes Licht von der Forschungskommission erhalten. Wenn Sie möchten, kriegen Sie den Platz. Die Abreise ist allerdings schon in zwei Tagen.« Unvermittelt runzelte sie die Stirn. »Ich hoffe, das stellt kein Problem dar?«
Hektisch schüttelte ich den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«
»Wenn ich das richtig im Kopf habe, wird das Team am 21. Dezember zurückreisen. Sie wären also rechtzeitig zu Weihnachten zurück. Ist das in Ordnung?«
Ein atemloses Lachen platzte aus mir heraus. »Auf jeden Fall.«
»Perfekt.« Meine Professorin strahlte. »Dann wäre das ja geklärt.«
Heilige Scheiße!
Ich würde wirklich in die Antarktis reisen. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich mit eigenen Augen sehen, was ich zuvor immer nur auf Bildschirmen hatte beobachten können. Ich würde die beißende Kälte auf meiner Haut spüren und die endlos weiten Schneelandschaften betrachten.
Zugegeben, mich den Pinguinen leibhaftig und nicht nur über Monitore zu nähern, war etwas, worauf ich ganz gut verzichten konnte, denn obwohl sie im Fokus meiner Forschungsarbeit standen, war ich nicht unbedingt ein Fan von ihnen. Aber für die Untermauerung meiner Thesen war diese Expedition trotzdem von unschätzbarem Wert.
Mir schossen Tränen in die Augen, während sich meine Kehle vor lauter Emotionen zuschnürte. »Danke.«
»Gern geschehen, Emerie.« Professorin Martinez tätschelte meinen Arm, ehe sie mich losließ und hinter ihren Schreibtisch zurückkehrte. »Sie haben bisher hervorragende Arbeit in der Verhaltensforschung geleistet und schon einige erstaunliche Beobachtungen gesammelt. Diese Expedition wird Ihnen zu unzähligen neuen Erkenntnissen verhelfen.«
Genau deshalb wollte ich diese Reise ja unbedingt machen. Ich konnte es kaum erwarten – und das Timing hätte gar nicht perfekter sein können.
Adeliepinguine verbrachten den antarktischen Winter im offenen Meer, um Nahrung zu suchen und Energie zu sammeln. Aber sobald der antarktische Frühling im Oktober anbrach, kehrten sie in ihre Heimatkolonien zurück, um sich zu paaren und ihre Nachkommen aufzuziehen.
Auch auf der Ross-Insel waren bereits die ersten Pinguine eingetroffen und schon eifrig mit dem Nestbau beschäftigt. Die Balz würde also bald beginnen und bis Ende Dezember andauern. Und ich wäre live dabei.
Wahnsinn!
Professorin Martinez setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und tippte auf ihrer Tastatur herum. »Ich sage Beckett schnell Bescheid, dass Sie sich seinem Team anschließen werden. Er mailt Ihnen die Reisedaten dann so bald wie möglich zu.«
Meine Mundwinkel fielen herab.
Professorin Martinez, die genau in diesem Moment von ihrem Monitor aufschaute, stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. »Emerie.«
»Keine Sorge.« Mit betont gleichmütigem Gesichtsausdruck trat ich vor ihren Schreibtisch und setzte mich auf den linken der beiden Stühle. »Wir werden uns schon vertragen.«
Eigentlich hatten wir uns nie gestritten. Trotzdem hatte inzwischen jeder am Campus mitgekriegt, dass sich meine Begeisterung für diesen Mann stark in Grenzen hielt. Schließlich ging ich ihm aus dem Weg, wo immer ich konnte. Was auf der Forschungsstation allerdings eher schwierig werden dürfte, wie mir gerade klar wurde.
Professorin Martinez musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Ich kann Ihre Aversion gegen Beckett wirklich nicht nachvollziehen.«
Natürlich nicht. Schließlich war die gesamte Uni verrückt nach Beckett. Sie nannten ihn Mr Sexy Brain, weil er nicht nur unverschämt gut aussah, sondern obendrein als Genie galt. Unter seiner Führung hatte sein Team bahnbrechende Tracking- und Monitoring-Methoden entwickelt, die etliche nationale und internationale Innovationspreise abgeräumt hatten. Und die Forschungsgelder, die er für die veterinärmedizinische Abteilung an Land zog, waren so hoch, dass mir ganz schwindelig wurde.
Leider war sein Ego mindestens genauso groß.
Mir entwich ein Schnaufen. »Vielleicht könnte ich mich für ihn erwärmen, wenn er mir seine Erfolge nicht jedes Mal unter die Nase reiben würde.«
»Er hat schließlich nicht ganz unrecht«, wandte Professorin Martinez schmunzelnd ein und erinnerte mich damit leider an die schwer zu leugnende Tatsache, dass ich ihm einen Großteil meiner Fortschritte zu verdanken hatte. »Ohne seine TrakTags wäre es Ihnen längst nicht möglich, die Tiere so präzise zu observieren.«
»Ich weiß«, gab ich reichlich widerwillig zu. Immerhin konnte ich mithilfe der Sender, die Becketts Team entwickelt hatte, sämtliche High Resolution Cams auf dem Brutplatz und entlang des Küstenstreifens ansteuern. So hatte ich während der letzten Paarungssaison auch aus der Ferne erstaunliche Erkenntnisse über die sechzig Pinguinpärchen gewinnen können, deren Paarungsverhalten ich untersuchte. Außerdem konnte ich auch nach der Brutzeit über das Satellitentracking verfolgen, wie lange die Paare zusammenblieben und wo sie sich aufhielten. Dennoch klang ich zu meiner eigenen Beschämung wie ein bockiges Kind, als ich weitersprach. »Aber deswegen hätte er sich trotzdem nicht in meine Vorarbeit einmischen müssen.«
Professorin Martinez lachte. »Nehmen Sie es ihm etwa immer noch übel, dass er sich erlaubt hat, den Pinguinen einen Namen zu geben?«
Allerdings.
Ich hatte die Brutkolonie in sechs Cluster aufgeteilt, und in jedem gab es zehn Pinguinpaare, die ich mit eindeutigen und vor allem neutralen Identifikationsnummern versehen hatte. Aber Beckett hatte sie alle umbenannt. Ich wollte jedes Mal vor Frust schreien, wenn ich sie auf dem Monitor las: Adonis & Abigail, Bertram & Bertie, Carlos & Cordelia und so weiter. Es war, als wäre ich in einem Seniorenclub gelandet – und das in einem der innovativsten Forschungszentren der Welt.
Selbst vor den Clustern hatte dieser Mann keinen haltgemacht und meine vormalige Gruppierung nach griechischen Buchstaben in die Namen der Avengers umgewandelt, weshalb es jetzt Familie Stark (Iron Man), Familie Rogers (Captain America), Familie Odinson (Thor), Familie Romanoff (Black Widow), Familie Banner (Hulk) und Familie Barton (Hawkeye) gab. Es war einfach lächerlich.
Ich knirschte mit den Zähnen. »Ich habe ihn nicht darum gebeten.«
»Nun ja, zumindest zeugt es doch von großem Engagement, allen einhundertzwanzig Tieren einen Namen zu geben«, erwiderte meine Professorin in beschwichtigendem Tonfall.
Doch meine Entrüstung kochte bereits wieder hoch. Wahrscheinlich hatte sich dieser selbstgerechte Idiot tagelang über seinen blöden Streich schlapp gelacht. Ein Mann wie er verstand eben nicht, welche Macht Namen besaßen.
Professorin Martinez warf mir einen ungewohnt strengen Blick zu. »Die Cornell hat einen Ruf zu verlieren, Emerie. Also begraben Sie Ihren Ärger, und zeigen Sie Ihre Teamfähigkeit. Andernfalls gefährden Sie den Erfolg der gesamten Expedition.«
Mir war klar, dass sie recht hatte. Auch wenn ich Beckett Callahan nicht ausstehen konnte, musste ich trotzdem professionell bleiben. Deshalb nickte ich folgsam, bevor ich das Thema wechselte und eine Tabellenübersicht aus meinem Stapel fischte. »Nach heutigem Stand sind einunddreißig markierte Pinguine zur Brutkolonie zurückgekehrt, darunter haben sich vier Paare aus dem vergangenen Jahr erneut zusammengetan. Das entspricht einer Untreuequote von 74,2 Prozent. Wenn sich diese Tendenz hält, sollte die Datenerhebung repräsentativ genug sein, um neue Rückschlüsse auf die Bindungstreue der Tiere zu ziehen.«
Und ich würde das hautnah erleben.
Mein Magen flatterte, während sich Professorin Martinez in ihrem Stuhl zurücklehnte und mich aufmerksam betrachtete. »Sie sind also immer noch überzeugt davon, dass die bisherigen Annahmen falsch sind?«
Ich nickte voller Überzeugung. »Absolut.«
Treue war ein Mythos.
Auch unter Adeliepinguinen, die mittlerweile weltberühmt dafür waren, dass sie angeblich immer wieder denselben Brutplatz und Partner wählten. Ich nahm an, dass einfach jemand Profit aus veralteten Publikationen schlagen wollte, indem er ein unrealistisches Bild von niedlichen, verliebten Pinguinen zeichnete. Aber ich wusste es besser – und das würde ich auch bald beweisen.
Ein siegesgewisses Lächeln hob meine Lippen. »Ich habe bereits Gründe eruiert, warum sich die Männchen aus der Bindung lösen und einem anderen Weibchen zuwenden …«
Ich blätterte zu meinem Notizzettel und setzte an, meine Thesen vorzutragen, doch Professorin Martinez brummte.
Was nie ein gutes Zeichen war.
Angespannt schaute ich auf.
»Was ist mit den Weibchen?«, fragte sie nachdenklich.
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
Sie legte den Kopf schief. »Sollte sich Ihre Theorie bewahrheiten und die bisher beobachtete Paarbindung bei einigen Tieren zu falschen Schlussfolgerungen geführt haben, müssen Sie auch untersuchen, warum sich die Weibchen einem neuen Partner zuwenden.«
»Äh, ja, natürlich«, stammelte ich, weil sie natürlich absolut recht hatte. Ich musste das Ganze objektiv betrachten, auch wenn mich die Erfahrung gelehrt hatte, dass es hauptsächlich die Männchen waren, die sich von ihren Partnerinnen abwandten.
Wir vertieften uns in eine Diskussion über die Fragestellungen, die meiner Professorin noch nicht präzise genug formuliert waren, und ich schrieb eifrig mit, bis uns nach gut einer Stunde das Telefon meiner Dozentin unterbrach.
Sie warf einen Blick auf das Display, und ihre Augen leuchteten auf. »Das ist mein Mann.«
Weil ich nicht wusste, was ich auf diese Information erwidern sollte, lächelte ich nur und wartete ab, während sie den Anruf annahm. Sie sprach in schnellem Spanisch, bevor ein heiseres Lachen von ihren Lippen rollte und sich ihre Wangen verdunkelten. Dann schaute sie mich an. »Das könnte noch eine Weile dauern.«
»Kein Problem«, antwortete ich gelassen. Ich verstand ja eh kein Wort. Außerdem rauchte mir inzwischen der Kopf, und ich kämpfte mit einem Krampf in der Hand, weil ich so schnell geschrieben hatte. Insofern war mir eine kurze Verschnaufpause durchaus willkommen.
»Sie müssen nicht extra warten, Emerie. Die guten Neuigkeiten habe ich Ihnen ja bereits überbracht. Nehmen Sie sich morgen frei, um Ihre Abreise vorzubereiten. Mailen Sie mir den aktualisierten Katalog mit Ihren Forschungsfragen, und melden Sie sich, sobald Sie sich auf der White Star eingelebt haben.« Sie zwinkerte mir zu. »Ich wünsche Ihnen ein unvergessliches Abenteuer.«
Erneut hüpfte mein Magen. Ich würde wirklich in die Antarktis reisen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Allerdings sorgte das Adrenalin dafür, dass ich sogleich von meinem Stuhl hochschoss. »Vielen, vielen Dank!«
»Liebend gern, Emerie.« Sie winkte mir zu, war aber ihrem versonnenen Lächeln nach mit ihrer Aufmerksamkeit schon wieder bei ihrem Mann.
Eilig huschte ich aus dem Büro. Ich überlegte, Amber anzurufen und ihr die Wahnsinnsneuigkeiten gleich zu überbringen. Aber es gab eine Person, der ich noch dringender davon erzählen wollte. Daher rannte ich praktisch durch den Korridor des Universitätsgebäudes.
Links reihten sich die Hörsäle aneinander, die im Moment noch gut gefüllt waren, weil die Vorlesungen erst in einer halben Stunde endeten. Die rechte Seite des Ganges war komplett verglast und gewährte mir perfekte Sicht nach draußen, wo gerade ein Herbststurm wütete und Regen und braune Blätter gegen die Fenster schleuderte. Der Himmel war in trostloses Grau getaucht.
Ich rümpfte die Nase. Von allen Jahreszeiten verabscheute ich den Herbst am meisten. Für mich gab es einfach nichts Schönes an diesen tristen Monaten, in denen alles Leben verblühte. Noch ein Grund, warum ich es kaum erwarten konnte, schon bald in eine schneebedeckte Landschaft einzutauchen. Streng genommen war die Antarktis zwar auch nicht bunt, aber es lag ein besonderer Zauber darin, wenn das reine Weiß in der Sonne glitzerte wie Diamanten. Der Gedanke daran sorgte dafür, dass ich die Düsterkeit da draußen vergaß und mein Lächeln zurückkehrte.
Das Hightech-Labor, in dem ich seit Beginn meiner Dissertation etwa achtzig Prozent meiner Lebenszeit verbrachte, lag eine Etage tiefer. Ich nahm die breite Treppe nach unten, nickte ein paar Leuten höflich zu und zog kurz darauf die schwere Tür auf.
Schon betrat ich einen ganz eigenen Mikrokosmos.
Eigentlich handelte es sich bei dem Labor um ein Großraumbüro, das zwanzig Arbeitsplätze bot und in mehrere Abschnitte unterteilt war. Rechts befand sich die Werkstätte der Techies mit Platz zum Löten, Schrauben oder was diese Leute sonst so trieben. Durch die Glaswand, die diesen Teil akustisch abgrenzte, sah ich Sienna Wilson mit zwei ihrer Kollegen heftig diskutieren, bevor sie sich abrupt zu einem der Regale umdrehte, in denen Kisten mit Drähten, Kabeln und Platinen lagerten. Hinter ihrem Rücken verdrehte einer der Techies genervt die Augen, der andere glotzte ihr auf den Hintern.
Idioten!
Ich überlegte, Sienna später einen kleinen Hinweis zu geben. Zwar kannten wir uns nicht besonders gut, aber wir Frauen mussten schließlich zusammenhalten. Oder nicht? Andererseits kam sie sicher auch ohne meine Hilfe mit den Techies klar.
Ein tiefes Lachen drang vom gegenüberliegenden Pausenbereich zu mir, und meine Nackenhaare stellten sich auf. Automatisch beschleunigte ich meine Schritte, denn ich hatte jetzt sicher keine Nerven für Beckett Callahan.
Ich huschte durch den schmalen Gang, der nur von künstlichem Licht erhellt wurde, vorbei an einzelnen Nischen, die durch dünne Pappwände voneinander getrennt waren.
Mein Arbeitsbereich befand sich ganz am Ende auf der linken Seite. Er war so winzig, dass ich mich darin kaum um die eigene Achse drehen konnte. Es reichte gerade mal für einen Schreibtisch mit zwei Monitoren, einen Drehstuhl und einen Aktenschrank. Glücklicherweise neigte ich nicht zu Platzangst.
Ich legte meine Unterlagen und Notizen auf meinen Schreibtisch, bevor ich mich setzte und an meinem Laptop in das College-Netzwerk einloggte. Anschließend warf ich einen Blick auf die digitale Wanduhr über meinem Schreibtisch, die verschiedene Zeitzonen anzeigte. Bei mir war es inzwischen kurz nach vier am Nachmittag, was hieß, dass es auf der Ross-Insel bereits neun Uhr morgens war.
Cooper war also sicher schon wach.
Ich hatte in meinem Leben nie besonders viele Freunde gehabt. Aber Coop zählte definitiv dazu. Er hatte am Imperial College in London seinen Masterabschluss in Informatik gemacht und sich anschließend für ein integratives Förderprogramm beworben. Er arbeitete seit gut einem Vierteljahr auf der White Star und kümmerte sich um sämtliche administrativen IT-Aufgaben. Ich mochte ihn sehr. Nicht nur, weil er immer zur Stelle war, wenn ich Probleme mit der Technik hatte (was seit seiner Ankunft wesentlich seltener der Fall war als früher), sondern auch, weil er immer gute Laune hatte.
Normalerweise chatteten wir, weil er gehörlos war. Aber da ich auch Gebärdensprache beherrschte und unbedingt seine Reaktion sehen wollte, entschied ich mich für einen Videoanruf.
Meine Finger zitterten vor Aufregung, als ich das Kommunikationstool öffnete, meine Kontaktliste aufrief und seinen Namen anklickte. Dann wartete ich ungeduldig darauf, dass er meinen Videoanruf entgegennahm.
»Komm schon, Coop«, murmelte ich, während ich mir einen Bleistift schnappte und damit die lästigen Strähnen, die mir ins Gesicht fielen, auf dem Hinterkopf zu einem Dutt zusammendrehte. Anschließend rückte ich meine Brille gerade.
Es dauerte einen Moment, dann baute sich ein Video auf. Sekunden später erschien Cooper mit einer Kaffeetasse in der Hand auf dem Bildschirm. Er trug einen Hoodie, auf dem in großen Buchstaben Lasst mich durch. Ich bin Admin! stand. Eilig trank er einen Schluck, bevor er die Tasse wegstellte und sich sein dunkles, kinnlanges Haar hinter die Ohren strich. Wie üblich leuchteten seine braunen Augen und setzten sein schiefes Grinsen perfekt in Szene.
Strahlend winkte ich ihm zu.
Da es ungewöhnlich war, dass ich um diese Zeit eine Videokonferenz startete, bekam sein Gesicht sogleich einen fragenden Ausdruck. Er hob die Hände und gebärdete: »Alles gut bei dir?«
Ich nickte eifrig und antwortete in Gebärden – wenn auch nicht ganz so geschmeidig wie Cooper. »Super. Du glaubst nicht, was passiert ist.«
Neugierig legte er den Kopf schief. »Was denn?«
Ich atmete tief durch. »Ich darf zur White Star reisen.«
Eine tiefe Falte erschien zwischen seinen Brauen, als wäre er nicht ganz sicher, ob er mich richtig verstanden hatte. Konzentriert lehnte er sich weiter vor. »Noch mal.«
Kichernd wiederholte ich die Gesten und ergänzte: »Meine Professorin hat es mir gerade mitgeteilt. Ist das nicht unglaublich?«
Cooper nutzte seine Mimik immer mit, um seine Gebärden klarer auszudrücken. Aber nun wurden seine Augen riesengroß. »Du kommst hierher?«
»Ja!«, rief ich laut, gestikulierte und nickte gleichzeitig.
Er griff sich an den Kopf und riss mit gespreizten Fingern die Hände weg, bevor er weitere Gesten der Freude gebärdete. Dabei stieß er raue Laute hervor, um seine Begeisterung sogar akustisch zu betonen.
Seine Reaktion brachte mich zum Lachen. »Ich bin total aufgeregt.«
Er zügelte seine Euphorie und schenkte mir ein mildes Lächeln. »Das glaube ich dir.«
»Was soll ich dir mitbringen?«, fragte ich als Nächstes.
Abermals leuchteten seine Augen auf. »Kann ich dir eine Liste schicken?«
»Natürlich.«
Ich setzte an, ihm zu gebärden, dass ich ihm alles besorgen würde, was er sich wünschte, als hinter mir plötzlich ein leises Lachen erklang. »Du weißt schon, dass er dein Angebot gnadenlos ausnutzen wird, oder?«
Erschrocken wirbelte ich herum.
Beckett stand in all seiner unerträglichen Lässigkeit im Eingang meiner Nische. Als wäre seine Attraktivität in Kombination mit seinem messerscharfen Verstand nicht schon schlimm genug gewesen, trug er eine tief sitzende Jeans und ein himmelblaues Hemd, das die Farbe seiner Augen betonte. Der Stoff spannte sich straff um seine breiten Schultern, und die Ärmel waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, weshalb mir obendrein das zweifelhafte Vergnügen zuteilwurde, einen Blick auf seine muskulösen Unterarme zu erhaschen. Sein dunkelbraunes Haar war oben etwas länger als an den Seiten und fiel ihm teilweise in die Stirn. Und diese furchtbaren Lippen, die ich wirklich zutiefst verabscheute, grinsten schief.
»Ich wusste gar nicht, dass du Gebärdensprache kannst«, meinte er.
Was im Umkehrschluss bedeutete, dass er die Sprache ebenfalls beherrschte. Sonst hätte er Cooper wohl kaum verstanden.
»Was ist los, Hastings?«, fragte er, weil ich nicht reagierte. »Keine bissige Erwiderung heute? Mein Anblick hat dir doch nicht etwa die Sprache verschlagen.«
Mein Gesicht wurde augenblicklich kochheiß. Genervt von mir selbst, weil ich ihn tatsächlich wie ein Reh im Scheinwerferlicht angeglotzt hatte, wandte ich mich wieder ab. »Sicher nicht.«
Cooper war offenbar schon dabei, seine Wunschliste zusammenzustellen, denn seine Hände flogen geschwind über die Tastatur. Als er bemerkte, dass ich mich wieder zu ihm umgedreht hatte, hielt er inne.
»Alles okay?«, gebärdete er und signalisierte mir mit einer besorgten Geste, dass ich offenbar sehr finster dreinschaute.
Ich winkte ab. »Ich muss noch ein paar Sachen erledigen. Wir reden später, okay?«
Cooper salutierte und beendete die Übertragung, während ich mich innerlich wappnete. Dann drehte ich mich wieder zu Beckett um, äußerst bemüht um einen neutralen Gesichtsausdruck. Schließlich sollte er unter keinen Umständen merken, wie sehr mich seine Anwesenheit aufwühlte.
Beckett
Mein Tag hatte schon beschissen angefangen, als ich heute Morgen die Nachricht erhielt, dass Miller einen Unfall gehabt hatte. Betrunken, wie ich hinzufügen möchte. Ich war natürlich froh, dass er sich keine gravierenden Verletzungen zugezogen hatte. Aber wer bitte war so dämlich, sich zwei Tage vor einer Expedition in die Antarktis derart abzuschießen, dass er sein Fahrrad um einen Laternenmast wickelte? Das ging mir immer noch nicht in den Kopf.
Noch unverständlicher war mir allerdings, wieso Martinez meine Vorschläge für einen geeigneten Ersatz komplett ignoriert hatte und ihre Wahl stattdessen auf Emerie Hastings gefallen war. Was zum Teufel sollte das?
Jeder am Campus wusste, dass Emerie und ich einander nicht sonderlich zugetan waren. Und das war noch freundlich ausgedrückt.
Zu meiner Verteidigung: Ich hatte nicht mit diesem Mist angefangen.
Als ich Emerie vor gut zwei Jahren zum ersten Mal begegnet war, war sie mir direkt in die Arme gelaufen. Ich hatte sie aufgefangen und über ihr Missgeschick gelacht – aber sie war vor mir zurückgewichen, als wäre ich eine Reinkarnation des Teufels. Seither zischte sie mich entweder an, oder sie mied mich, als hätte ich eine hoch infektiöse Krankheit. Je nachdem, wie das werte Befinden war.
Was mich offen gestanden ziemlich ankotzte.
Ich war es nicht gewohnt, dass mir jemand ohne ersichtlichen Grund die kalte Schulter zeigte und auch nicht mit der Sprache herausrückte, wo eigentlich das verdammte Problem lag. Anfangs hatte ich noch geglaubt, sie hätte bei unserem Zusammenprall einfach einen miesen Tag gehabt. Aber seit wir zusammen in diesem Labor arbeiteten, hatte sie kein einziges nettes Wort mit mir gewechselt. Deshalb war ich inzwischen dazu übergegangen, sie mit blöden Sprüchen zu nerven, wann immer sich eine günstige Gelegenheit ergab, denn erstens erfüllte es mich mit perfider Genugtuung, sie aus der Reserve zu locken, und zweitens wollte ich ihr wenigstens einen nachvollziehbaren Grund liefern, wenn sie mich schon mit ihren smaragdgrünen Augen erdolchte.
Leider fiel mir in diesem Moment auf, wie kontraproduktiv mein Verhalten war. Immerhin gehörte sie jetzt zum Team. Da sollte ich wohl wenigstens versuchen, das Eis zwischen uns zu brechen, anstatt einen weiteren Blizzard heraufzubeschwören.
»Das war bloß ein Scherz«, stellte ich klar. Sie konnte doch nicht wirklich glauben, dass ich diesen Bullshit gerade ernst gemeint hatte und mich für derart hübsch hielt, dass sie kein Wort mehr herausbrachte.
Ein süßliches Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Natürlich.«
Okay, offenbar glaubte sie es doch.
Fantastisch.
Ich hatte echt keinen Schimmer, was Martinez sich dabei gedacht hatte, ausgerechnet Emerie in mein Team zu stecken, denn mal abgesehen von der zwischenmenschlichen Komponente brauchte ich einen technisch versierten Veterinär sehr viel dringender als eine Tierärztin, die einem Pinguin wer weiß was für Motive andichtete, nur weil er sich am Hintern kratzte.
Ich stand auf Daten und Fakten – Emerie hingegen verbrachte Stunden ihrer Lebenszeit damit, auf ihre Monitore zu starren und zu versuchen, aus dem Gebaren der Tiere schlau zu werden. Ich wusste nur grob, worum es in ihrer Dissertation ging. Aber ich bezweifelte, dass eine Verhaltensforscherin das technische Verständnis mitbrachte, das nötig war, um die nächste Generation der TrakTags, die wir in den letzten Monaten entwickelt hatten, sauber in Betrieb zu nehmen.
Natürlich war das nicht ihre Schuld. Aber – fuck! – ich wünschte wirklich, Martinez hätte meine Wünsche berücksichtigt.
In unserer Forschungsabteilung gab es noch vier Tiermediziner, die das nötige Grundwissen hatten – und obwohl sich zwei von ihnen auf Meeresbiologie spezialisiert hatten, wäre mir einer von denen tausendmal lieber gewesen.
Als hätte Emerie meine Gedanken erraten, reckte sie trotzig ihr Kinn vor. »Ich nehme an, du hast Professorin Martinez’ Mail schon erhalten, dass ich ebenfalls an der Expedition teilnehme.«
»Deshalb bin ich hier«, erwiderte ich, während ich sie nachdenklich musterte.
Es war mir unbegreiflich, wie jemand, der sich offensichtlich keinerlei Gedanken um seine eigene Außenwirkung machte, Rückschlüsse auf andere – und seien es auch nur Pinguine – ziehen konnte.
Eigentlich war Emerie ganz süß. Objektiv betrachtet. Aber sie machte rein gar nichts aus sich. Sie trug überwiegend potthässliche, unförmige Wollpullover über Jeans- oder Kordröcken und blickdichte Strumpfhosen. Make-up benutzte sie nur äußerst sparsam. Ihr dunkelblondes Haar reichte ihr bis zu den Schultern, doch sie drehte es meistens mit einem Bleistift am Hinterkopf zusammen. Und auf ihrer mit Sommersprossen bedeckten Stupsnase saß eine große, runde Brille mit einem schmalen, schwarzen Rand, die die Hälfte ihres Gesichts einnahm.
»Du hättest mir die Reisedaten auch einfach mailen können«, gab sie zurück und verschränkte die Arme, als würde sie gegen die Versuchung ankämpfen, mich aus ihrem Heiligtum zu schubsen.
Ärger regte sich in mir. »Tja, ganz so einfach ist es nicht. Ich habe ein paar Dokumente und Fragebögen, die du bitte noch bis heute Abend durchgehen musst.«
»Wieso?«
Ein Pochen setzte in meiner Schläfe ein. »Weil ich als Teamleiter sichergehen muss, dass du in guter physischer Verfassung bist. Immerhin stellt diese Expedition eine enorme körperliche Herausforderung dar. Du wirst an Grenzen stoßen, die dir jetzt noch gar nicht bewusst sind.«
»Mir ist klar, dass es sich bei dieser Expedition nicht um einen Ausflug in ein Skicamp handelt«, erwiderte sie kühl. »Ich kann dir versichern, dass mein letzter Gesundheitscheck noch nicht lange her ist und keinerlei Auffälligkeiten angezeigt hat.«
»Was ist mit deiner psychischen Verfassung?«, fragte ich weiter, obwohl ich diesbezüglich keine Bedenken hatte. Ich mochte kein Fan von ihrem Forschungsgebiet sein, aber mir war durchaus bewusst, dass sie fleißig, klug und diszipliniert war. Sie würde diesen Trip mental gut meistern.
Sie schnaubte. »Mit mir ist alles bestens.«
Als ich ihren schnippischen Tonfall vernahm, schrumpfte mein guter Vorsatz sofort in sich zusammen.
»Auf der White Star sind wir wochenlang abgeschnitten von der Außenwelt«, erklärte ich und warf ihr ein schmales Lächeln zu. »Wir leben und arbeiten mit vier weiteren Forschern aus Europa auf engstem Raum. Du wirst permanent frieren, kaum eine ruhige Minute für dich haben und eine Stresssituation nach der anderen erleben. Bist du sicher, dass du dem gewachsen bist? Ich will nicht, dass du plötzlich losrennst und irgendwas Verrücktes tust, wie zum Beispiel nackt im Schnee zu tanzen oder so.«
Sie schnappte empört nach Luft. »Ich werde definitiv nicht nackt im Schnee tanzen.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Mein Tonfall war knochentrocken. Allerdings brauchte ich verstörend lange, um dieses Bild wieder aus meinem Kopf zu vertreiben. »Ich schicke dir auch gleich noch den Antarktisvertrag mit den Umweltschutzbestimmungen und Rahmenbedingungen für Forschungsarbeiten, dazu die üblichen Sicherheitsvorkehrungen, eine Packliste mit deiner persönlichen Ausrüstung und ein Handout über die White Star. Außerdem wäre es gut, wenn du deine Vita aktualisierst, eine Zusammenfassung deiner Dissertation für das Update auf der Webseite schreibst und ein Konzept für deinen Expeditionsreport erstellst.«
Unbeeindruckt sah sie mich an. »Ist das schon alles?«
Plötzlich musste ich mir ein Grinsen verkneifen. »Wenn du willst, kannst du auch schon einen Blick auf die Baupläne und Hinweise zur Inbetriebnahme der TrakTags werfen.«
Eine tiefe Falte erschien auf ihrer Stirn. »Was soll ich damit?«
Sie machte hoffentlich Witze. »Wir werden einhundert weitere Tiere für eine neue Langzeitstudie mit der zweiten Generation bestücken. Eigentlich hat sich Miller in den letzten Wochen darauf vorbereitet, sich den Tieren zu nähern und die Sender anzubringen. Jetzt fällt diese Aufgabe dir zu.«
»Was?« Sie riss die Augen auf. »Davon hat Professorin Martinez kein Wort gesagt.«
Hatte sie ernsthaft geglaubt, sie würde in den nächsten Wochen mit einem Fernglas im Schnee hocken und einfach bloß Pinguine beobachten?
Ich zog eine Braue hoch. »Ich nehme an, da du eine ausgebildete Tierärztin bist, hat sie darin kein Problem gesehen.«
»Aber ich muss mich um meine eigene Forschung kümmern. Kannst du das nicht selbst machen?«
»Das könnte ich schon.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann müsstest du nur die Kommunikation zwischen den Sendern und dem Sattelitensystem herstellen und falls nötig ein paar Parameter im Quellcode der Applikation anpassen. Vermutlich eine Kleinigkeit für dich.«
Sie verzog das Gesicht. »Und jemand anderes im Team?«
Langsam wurde ich ungeduldig. »Ich brauche Sienna und Luan bei den Antennen. Außerdem kriegen die beiden keine Genehmigung, sich den Tieren zu nähern, du hingegen schon. Aber falls du dir das nicht zutraust, kann ich gern einen Ersatz …«
»Nein!«, unterbrach sie mich schnell. Ihre Finger zitterten, als sie sich ihre übergroße Brille höher auf die Nase schob. »Ich mach das.«
»Sicher?«, fragte ich, denn sie war ziemlich blass geworden. »Du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen.«
Sie biss so fest die Zähne aufeinander, dass ich meinte, ihren Kiefer knirschen zu hören. »Ich kriege das hin.«
Offen gestanden hatte ich da gerade meine Zweifel. Aber da unser Flieger in weniger als achtundvierzig Stunden abhob, konnte ich nur das Beste hoffen.
Was die Expedition betraf.
Und unser neustes Teammitglied.
Emerie
Hey Hastings,
hier habe ich noch einen Mitarbeiterfragebogen (Priorität 1) für dich. Ich brauche ihn bitte schnellstmöglich zurück.
Danke!
B.
PS: Such schon mal ein paar gescheite Namen für die Identifizierung raus. Sonst übernehme ich das wieder. Glaub mir, ich habe noch mehr als genug Ideen …
»Der will mich wohl verarschen«, knurrte ich, nachdem ich Becketts E-Mail überflogen hatte. Als hätte ich gerade nichts Besseres zu tun, als mir irgendwelche dämlichen Kosenamen für hundert Pinguine auszudenken. Was stimmte eigentlich nicht mit diesem Kerl?
Verärgert öffnete ich den Anhang der Mail und scrollte die Fragen durch, nur um gleich darauf erneut zu fluchen.
Inzwischen war es fast Mitternacht, was hieß, dass ich seit Stunden wie ein kopfloses Huhn in meinem winzigen Apartment herumrannte, um allen möglichen Kram zusammenzusuchen, und gleichzeitig eine Liste mit der Ausrüstung erstellte, die ich morgen noch besorgen musste.
Ich brauchte Wein. Und zwar in rauen Mengen.
Aufgebracht stakste ich über den chaotischen Fußboden, auf dem sich Klamotten und Bücher stapelten. Es waren bloß ein paar Schritte bis zu der kleinen Küchenzeile. Im letzten Frühling hatte ich die tristen, grauen Fronten in einem satten Türkis gestrichen, und die offenen Regale, in denen sich bunte, nicht zueinander passende Teller, Tassen und Müslischalen türmten, mit einem Rot versehen. Zugegeben, wirklich harmonisch war die Kombination nicht. Aber ich hatte weder die Zeit noch die Geduld gehabt, das kleine Farbdestaster zu korrigieren, und inzwischen hatte ich mich ohnehin daran gewöhnt.
Eilig schnappte ich mir ein Glas aus dem Schrank und riss die Kühlschranktür auf. Abgesehen von einer Flasche Chardonnay, einem Glas Essiggurken und einem abgelaufenen Joghurt begrüßte mich gähnende Leere. Was vermutlich gut war, da ich so wenigstens nichts wegschmeißen musste.
Nicht dass sich ohne die geplante Expedition etwas an dem bedauernswerten Zustand meines Kühlschranks geändert hätte. Es gab Leute, die liebten es, durch einen Supermarkt zu flanieren und ihren Einkaufswagen mit den leckersten Lebensmitteln zu füllen. Ich zählte nicht dazu. Wenn ich spätabends einen Supermarkt ansteuerte, dann nur, weil mir die Tampons oder die Cheerios ausgegangen waren. Ich aß hauptsächlich in der Mensa und trank Kaffee aus dem Vollautomaten im Pausenraum des Forschungslabors.
Während ich die Flasche entkorkte und mir etwas Chardonnay einschenkte, ging ich in Gedanken meine restlichen To-dos für den Abend durch. Die wichtigsten Dokumente – allen voran den Antarktisvertrag und ein paar weitere Anträge – hatte ich noch im Labor quergelesen und digital unterzeichnet. Alle notwendigen Unterlagen für meine Dissertation befanden sich entweder auf meinem Laptop oder ausgedruckt auf meinem Sofatisch. Die Texte für die Universitäts-Website und den Expeditionsreport hatte Beckett gnädigerweise mit Priorität 2 versehen. Also reichte es sicher, wenn ich diese und die Baupläne der Sender auf dem zwanzigstündigen Flug nach Sydney anging.
Schon wieder wurde mir flau im Magen. Ich schnappte mir das Glas, lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und trank einen Schluck des kühlen Weins. Sofort wurde meine Zunge mit einer herrlich fruchtigen Süße überzogen, begleitet von einer ausgewogenen Säure, die an meinem Gaumen prickelte. Aber so köstlich der Wein auch war, er linderte meine Anspannung nicht im Geringsten. Die Vorstellung, nicht nur auf einer winzigen Forschungsstation mit Beckett festzuhängen, sondern auch noch tagtäglich eng mit ihm zusammenarbeiten zu müssen, löste regelrechte Beklemmungen in mir aus.
Ich wusste selbst nicht genau, warum ich so heftig auf ihn reagierte. Vielleicht, weil sämtliche Alarmglocken in meinem System losschrillten, wenn es um diesen Mann ging. Allein an diesem Campus hatte er schon etlichen Frauen das Herz gebrochen.
Na gut, vielleicht nicht etlichen. Das wäre etwas übertrieben. Aber von vier Frauen wusste ich es mit Sicherheit: Maureen (eine bezaubernde Physikerin, die nach ihrer gemeinsamen Expedition im letzten Jahr schlagartig die Uni verlassen hatte), Daisy (eine Buchhalterin, die Beckett gedatet hatte und die ihn heute noch aus der Ferne anschmachtete), Tonja (eine Jura-Dozentin, mit der er sich wochenlang vergnügt hatte, nur um sie abzuservieren, sobald er keine Lust mehr auf sie gehabt hatte), und dann wäre da noch Amber (meine Freundin, die ihm nach einer unvergesslichen Nacht – ihre Worte, nicht meine – monatelang hinterhergelaufen war, nur um sich eine Abfuhr nach der nächsten einzuhandeln, bis nichts mehr von ihrem Stolz übrig geblieben war).
Bis heute hatte keine der Frauen ihre Enttäuschung verwunden. Das wusste ich mit absoluter Sicherheit. Es spielte keine Rolle, ob ich das Verhalten von Menschen oder Tieren beobachtete und analysierte, die Muster waren überall gleich. Becketts Verflossene einte der sehnsüchtige Blick, das traurige Lächeln, die Hingabe und die Hoffnung, wann immer er ihren Weg kreuzte.
Allein der Gedanke an diese armen Seelen reichte aus, um meine Antipathie für diesen Mann zu schüren. Ich trank einen weiteren Schluck Wein, während ich den aufgeklappten Laptop drüben auf meinem Sofatisch fixierte, als würde mich Beckett persönlich daraus höhnisch angrinsen.
Dieser Mistkerl hatte mir über einhundert Fragen geschickt, und alles in mir sträubte sich, sie zu beantworten und private Informationen mit ihm zu teilen. Es fühlte sich an, als würde ich ihm die Munition zu meiner eigenen Hinrichtung liefern. Mussten die anderen Teammitglieder diesen Quatsch auch machen?
Ich wollte gern auf Nummer sicher gehen und Sienna oder Luan fragen. Aber es war mitten in der Nacht, und meine Skepsis könnte bei den beiden ein bisschen fragwürdig rüberkommen. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie mich für paranoid hielten, nur weil ich Beckett Callahan alles zutraute.
Missmutig schnappte ich mir die Weinflasche, bevor ich in den chaotischen Wohnbereich zurückkehrte und es mir auf dem Sofa bequem machte. Ich legte die Füße auf den Couchtisch, schob ein paar Kissen zurecht und zog meinen Laptop auf meinen Schoß. Dann scrollte ich abermals durch den Fragenkatalog.
Das alles zu beantworten würde wahrscheinlich bis zum Morgengrauen dauern. Vielleicht sollte ich einfach meinen Laptop zuklappen und ins Bett gehen. Der Tag war schließlich aufregend genug gewesen. Andererseits rechnete Beckett sicher nicht mit meiner pünktlichen Abgabe.
Irgendetwas in mir drängte mich, ihm zu beweisen, dass ich mich von den tausend Dokumenten, die er mir seit unserem Gespräch geschickt hatte, nicht kleinkriegen ließ. Also trank ich einen weiteren Schluck Wein und legte los.
Allein für die erste Seite, die sich vorrangig mit meiner Arbeitseinstellung befasste, brauchte ich fast eine halbe Stunde, was weniger an der Textmenge lag, sondern viel mehr daran, dass ich versuchte, so knapp und neutral wie nur möglich zu antworten, um Beckett ja keine Angriffsfläche zu bieten.
Wie gehen Sie mit Stress um?
– Yoga
Wie würden Sie Ihren Arbeitsstil beschreiben?
– zielorientiert
Was zeichnet für Sie ein gutes Team aus?
– gegenseitiges Verständnis
Ich kämpfte mich durch drei weitere Seiten mit klassischen Mitarbeiterfragen über meine Motivation und Arbeitsmoral. Ab Seite fünf wurde es dann deutlich persönlicher.
Der Chardonnay war mittlerweile von der Flasche in mein Glas und weiter in meinen Magen gewandert, weshalb mir ein bisschen schwummrig war. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen, aber inzwischen war ich immerhin so gut gelaunt, dass ich weit weniger mit meinen Worten geizte.
Welche Werte sind Ihnen besonders wichtig?
– Authentizität, Mitgefühl, Integrität (sicher alles Fremdwörter für Beckett Callahan)
Welche Rolle fällt Ihrer Familie zu?
– Liebe, Zusammenhalt, gegenseitige Unterstützung, Aufopferungsbereitschaft, Loyalität (okay, das war gegoogelt, aber wird schon passen)
Was ist Ihr größter Wunsch?
– meine Dissertation fertigstellen (und Beckett nackt im Schnee tanzen zu sehen, wäre sicher auch ein bemerkenswerter Anblick)
Was war die größte Herausforderung, die Sie bisher gemeistert haben?
– Ich habe Plummersfield hinter mir gelassen. (Und kein feuchtes Höschen gekriegt, nur weil Beckett mich bei unserer ersten Begegnung angelächelt hat – allerdings könnte es sein, dass ich an der Vorstellung von ihm nackt im Schnee gerade kläglich scheitere. Auch wenn er ein Arschloch ist!)
***
Der Ithaca Thompkins International Airport hatte nur eine Handvoll Gates, weshalb der Check-in-Schalter nicht allzu schwer zu finden sein dürfte. Trotzdem verharrte ich reglos auf dem Beifahrersitz und starrte auf die Eingangstür.
»Bist du bereit?«, fragte Amber, die mich netterweise gefahren hatte. Aufregung schwang in ihrer Stimme mit. Ich wusste, dass sie sich ehrlich für mich freute.
Doch meine Freude war wie weggeblasen. Stattdessen hatte Panik meinen Magen auf Erbsengröße zusammenschrumpfen lassen. Plötzlich war mir so übel wie gestern Morgen, als ich mit einem ordentlichen Kater zwischen den Klamottenstapeln auf meinem Wohnzimmerboden aufgewacht war. Ich konnte mich noch vage daran erinnern, dass ich gegen fünf Uhr morgens diesen nervigen Fragebogen an Beckett gemailt hatte, doch danach musste meine Euphorie schnell in Erschöpfung umgeschlagen sein, wenn ich es nicht mal mehr in mein Bett geschafft hatte.
Ein paar Stunden später war ich mit einem steifen Nacken und hämmernden Kopfschmerzen zu mir gekommen. Aber ich hatte mich trotzdem durch diverse Einkaufs- und Packlisten gekämpft, mein Apartment auf Vordermann gebracht und meine restlichen Sachen gepackt.
Jetzt war Donnerstagmittag – und ich würde in wenigen Augenblicken die Reise meines Lebens antreten. Aber war ich wirklich bereit dafür? Mir brach der Schweiß aus.
Amber warf den Kopf in den Nacken und lachte, woraufhin ihre feuerroten Locken in alle Richtungen flogen. »Gott, Emerie! Du siehst aus, als würdest du dir gleich in die Hose machen.«
»Ich versau mir doch nicht die teure Merinowolle«, murmelte ich, obwohl meine Freundin mit ihrer Einschätzung goldrichtig lag.
Bisher hatte ich noch keine Zeit gehabt, mir Sorgen zu machen. Aber plötzlich drehte ich fast durch vor Angst. Ich fürchtete nicht die körperlichen und mentalen Anstrengungen, die diese Expedition mit sich brachte, sondern vor allem, dass ich trotz der unmittelbaren Nähe zu den Tieren nur unzureichende Beobachtungen zusammentrug. Was, wenn meine Dissertation stagnierte? Wenn meine Erkenntnisse nicht aussagekräftig genug wären und ich Professorin Martinez enttäuschte? Ich konnte es mir nicht leisten, noch ein weiteres Jahr dranzuhängen und auch noch den nächsten Brutzyklus abzuwarten, um meine Theorien zu beweisen. Mein Stipendium lief im Sommer aus.
Shit! Was, wenn ich es versaute und zwei Jahre meines Lebens in den Sand gesetzt hatte?
»Hey«, sagte Amber sanft und riss mich aus der Panik, die mich nun komplett zu überwältigen drohte. Sie legte mir eine Hand aufs Knie, die ich durch meine gefütterte Thermoleggins kaum spürte. Sonst wäre ich vermutlich zusammengezuckt. »Atme, Süße.«
Gute Idee. Krampfhaft versuchte ich, Sauerstoff in meine Lunge zu saugen, während Amber zuversichtlich lächelte.
»Du schaffst das.«
»Ja«, kiekste ich, leider immer noch recht wenig überzeugend.
Mit einem wehmütigen Seufzen tätschelte Amber meinen Oberschenkel. »Ich wünschte, ich könnte dich begleiten.«
Ich lächelte zittrig. »Ich auch.«
Tatsächlich würde ich mich wesentlich wohler fühlen, sie an meiner Seite zu wissen. Leider war sie Verwaltungsassistentin im administrativen Bereich. Sie hatte keine Ahnung von Pinguinen. Aber wenigstens hatte ich noch Cooper.
»Sieh es mal positiv«, meinte Amber und nickte vielsagend in Richtung Eingangshalle des Flughafens. Durch die große Scheibe entdeckte ich Beckett, Luan und Sienna, die von voll bepackten Kofferwagen umgeben waren und sich gut gelaunt unterhielten. »Du wirst in den nächsten Wochen sehr viel Zeit mit einem gewissen Mr Sexy Brain verbringen.«
Tja, nun, das trug nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei.
»Warum sollte mich das freuen?« Ich warf meiner Freundin einen ungläubigen Blick zu. »Er hat dich furchtbar behandelt.«
»Das ist doch gar nicht wahr.« Ein mir allzu bekannter, verträumter Glanz erschien in Ambers Augen, während sie den Kopf gegen die Nackenstütze fallen ließ. »Er war in jener Nacht einfach nur wundervoll zu mir.«
Nicht schon wieder. »Und danach hat er dich nie wieder angerufen.«
Amber zuckte mit den Schultern. »Er ist eben ein viel beschäftigter Mann.«
Klassischer Fall von Wahrheitsverdrehung. »Für die wichtigen Dinge nimmt man sich Zeit, Amber.«
So kurz vor meiner Abreise stieß ich meine Freundin wirklich nicht gern vor den Kopf. Aber es war nun mal die Wahrheit. Es war immer eine Frage der Priorität. Das hatte ich auf die harte Tour gelernt.
Doch Amber wischte meinen Einwand mit einer ungeduldigen Geste beiseite. »Das mit uns sollte eben nicht sein. Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Genieß jeden Moment mit ihm.«
Entgeistert sah ich sie an. »Ist das dein Ernst?«
»Hallo?« Amber kicherte. »Hast du dir den Kerl mal angesehen? Ich würde ihn am liebsten von oben bis unten ablecken. Sollte sich also irgendeine Chance für dich ergeben, erwarte ich, dass du sie für uns beide nutzt.«
O mein Gott!
»Du brauchst dringend Urlaub«, teilte ich ihr mit, öffnete die Wagentür und stieg aus.
Ambers Lachen folgte mir. »Da könnte was dran sein.«
Wenigstens war meine Panik verflogen.
Ich schlug die Beifahrertür zu und öffnete die Hintertür, um meinen riesigen Koffer von der Rückbank auf den Bürgersteig zu wuchten.
Unterdessen holte Amber einen weiteren, deutlich kleineren Koffer und meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Als sie vor mich trat, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie war sehr nah am Wasser gebaut. »Ich werde dich schrecklich vermissen.«
»Äh, ja, ich dich auch«, stammelte ich leicht überfordert, während ich meinen Rucksack entgegennahm und ihn schulterte. Ich hasste Abschiednehmen und wäre am liebsten direkt ins Gebäude geflüchtet, obwohl mich dort der Teufel persönlich erwartete. Aber da Amber so nett gewesen war, mich herzubringen, konnte ich sie ja nicht einfach stehen lassen.
Schon breitete sie die Arme aus und zog mich mit einem Ruck an sich. Ihr süßes Parfüm stieg mir in die Nase, und ich musste den Drang unterdrücken, zu niesen.
Unbeholfen tätschelte ich ihren Rücken. »Danke fürs Herbringen.«
Amber schniefte. »Melde dich, wenn ihr angekommen seid, ja?«
»Okay.« Ich löste mich von ihr und lächelte sie an. »Danke, dass du mein Apartment im Auge behältst.«
»Mach ich gern.«
Es war mir schwergefallen, sie darum zu bitten. Mein Apartment mochte winzig sein, aber es war mein Reich, in das ich sonst niemanden hineinließ. Ich hatte ein kleines Geschenk für Amber auf den Sofatisch gelegt, mit der klaren Anweisung, es nicht vor Weihnachten zu öffnen. Wahrscheinlich würde sie das ignorieren und das Päckchen gleich aufreißen, weshalb ich überlegte, sie darauf hinzuweisen. Aber ich wollte ihr die Überraschung nicht verderben.
»Also«, sagte ich gedehnt. »Dann sehen wir uns in zwei Monaten.«
»Okay.« Hastig wischte sie sich über die Wangen, bevor sie mir einen kleinen Schubs gab. »Jetzt ab mit dir. Bring die Antarktis zum Kochen.«
Eine Mischung aus Lachen und Schnaufen platzte aus mir heraus, bevor ich mit jeder Hand einen Koffergriff packte und die beiden sperrigen Teile hinter mir her zerrte. Mit gesenktem Kopf trat ich durch die automatische Schiebetür in die Eingangshalle.
»Ah, da ist sie ja«, hörte ich Sienna sagen.
Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, schaute ich auf, nur um gleich darauf Becketts Blick zu begegnen. Es irritierte mich ein wenig, dass er nicht wie sonst spöttisch grinste. Stattdessen lag ein unleserlicher Ausdruck auf seinem Gesicht.
Ich bekam eine Gänsehaut.
Sienna winkte mir zu, als wären sie und die anderen in der überschaubaren Eingangshalle schwer zu übersehen. Ihr langes, blondes Haar war zu einem modischen Zopf zusammengebunden, und sie trug eine eng anliegende Jeans und einen rosa Pullover, der ihre Wahnsinnsfigur betonte. Eine Lederjacke und ein gemustertes Halstuch rundeten ihr stylisches Outfit ab. »Hi, Hastings.«
»Hey.« Mein Herz klopfte wild in meiner Brust, als ich auf die kleine Truppe zuging. Dabei konnte ich Becketts Blick immer noch auf mir spüren. Aber ich versuchte, ihn zu ignorieren. »Entschuldigt die Verspätung.«
»Nicht schlimm«, gab Sienna zurück, obwohl ich streng genommen pünktlich am Flughafen eingetroffen war. »Wir haben noch ein paar Minuten bis zum Check-in.«
Neben ihrer strahlenden Persönlichkeit und Beckett, der in seinen lässigen Jeans und dem grauen Pullover leider genauso umwerfend wie immer aussah, kam ich mir in meiner Thermoleggins und dem Oversize-Pullover wahnsinnig plump vor.
Wenigstens Luan trug eine Jogginghose und einen Hoodie. Sein schwarzes Haar war frisch geschnitten, als hätte er sich kurz vor unserer Abreise noch einen Friseurbesuch gegönnt. Riesige Kopfhörer baumelten um seinen Hals. Er gluckste leise, bevor er hinter mich zeigte. »Gehört die zu dir?«
Irritiert drehte ich mich um. Amber stand vor der Scheibe und formte ein Herz mit ihren Händen, während sie gleichzeitig lachte und ihr dicke Tränen über die Wangen liefen.
Ein bisschen fassungslos starrte ich sie an. »Ja.«
Ihre Aufmerksamkeit wanderte an mir vorbei, und ihre Wangen wurden feuerrot.
»Ist das nicht Amber?«, fragte Beckett hinter mir, als wäre er sich nicht ganz sicher.
Er hatte die Nacht mit ihr verbracht und konnte sich nicht mal richtig an ihren Namen erinnern? Was war denn bloß los mit diesem Typen?
Entrüstet fuhr ich zu ihm herum, doch ich kam nicht mehr dazu, ihm einen Vorwurf ins Gesicht zu schleudern, da der Check-in-Schalter in diesem Moment geöffnet wurde.
Sofort kam Bewegung in die Truppe, und jeder schnappte sich, was er tragen oder ziehen konnte.
»Was dagegen, wenn ich am Fenster sitze?«, fragte Sienna, während sie einen Kofferwagen mit lauter Transportboxen vor sich her schob.
Mir war alles recht. Hauptsache, ich saß nicht neben diesem ignoranten Idioten. Sonst konnte ich für nichts mehr garantieren.
Emerie
Während des einstündigen Fluges nach New York saß ich zum Glück zwischen Sienna und Luan, die beide genauso aufgeregt waren wie ich. Auch sie reisten zum ersten Mal in die Antarktis, und wir vertrieben uns die Zeit damit, uns besser kennenzulernen.
Ich erfuhr, dass Luan schon seit einigen Jahren als Lehrassistent an der Cornell arbeitete und jede freie Minute im Forschungslabor verbrachte, wo er als Bio-Ingenieur an der Entwicklung der TrakTags beteiligt war. Er liebte Junkfood, Indiepop und Actionfilme. Außerdem brüstete er sich damit, Becketts rechte Hand zu sein, woraufhin Sienna herzlich lachte.
Sie war Physikerin, und ihr Schwerpunkt lag in der Elektrotechnik. Sie liebte den Duft von Lötfett und Kupferkabeln, was ich zu gleichen Teilen befremdlich und sympathisch fand. Außerdem veröffentlichte sie regelmäßig Fachbeiträge, die so populär waren, dass sie gleich nach unserer Rückkehr für einen Auftritt in der Sendung »Beyond Physics« beim Discovery Channel gebucht war. Sie war völlig aus dem Häuschen deswegen.
Beckett, der auf der anderen Seite des Ganges saß, beteiligte sich nicht an unserer Unterhaltung, sondern war in seinen Laptop vertieft. Trotzdem war ich mir sicher, dass er uns mit einem Ohr zuhörte. Deshalb bemühte ich mich, die Aufmerksamkeit bei meinen anderen beiden Teammitgliedern zu halten. Immerhin hatte ich dank des blöden Fragebogens schon genug über mich preisgegeben.
Wir landeten pünktlich am JFK, wo wir gerade noch Zeit hatten, einen Kaffee und ein paar Snacks zu besorgen, bevor wir in eine gigantische Boeing stiegen, um unseren Langstreckenflug nach Sydney anzutreten.
Hier verließ mich mein Glück.
Das Flugzeug war so groß, dass es zwei Gänge hatte. In der Mitte befanden sich vier Sitze, an den Fenstern jeweils zwei – und ich landete neben Beckett, während Sienna und Luan auf der anderen Seite der Maschine saßen.
Shit!
»Möchtest du lieber ans Fenster?«, fragte Beckett und trat so dicht hinter mich, dass ich seine Wärme in meinem Rücken spüren konnte.
Beklommen starrte ich auf die beiden Plätze. Eigentlich hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, ein bisschen in die Wolken zu starren, aber dann müsste ich jedes Mal über Becketts lange Beine steigen, wenn ich aufstehen wollte – und wir wussten ja alle, wie so etwas in der Regel ausging.
Deshalb schüttelte ich angespannt den Kopf. »Ich nehme den Gang.«
»Alles klar.« Beckett schob sich an mir vorbei und streifte dabei versehentlich meinen Bauch mit dem Ellenbogen.
Mein Puls schoss in die Höhe, und ich wich zurück, als hätte ich einen elektrischen Schlag abbekommen.
Beckett versteifte sich. »Sorry.«
»Schon gut«, murmelte ich, weil ich trotz aller Abneigung eingestehen musste, dass das keine Absicht gewesen war.
»Entschuldigung, Miss?« Mit einem entschuldigenden Lächeln deutete ein älterer Herr auf den Sitz hinter mir. »Dürfte ich bitte vorbei?«
»Natürlich.« Ich schlüpfte auf meinen Platz, damit ich nicht länger im Weg rumstand.
Neben mir war Beckett bereits damit beschäftigt, seine Laptoptasche unter seinem Sitz zu verstauen, wie es die Sicherheitsanweisung üblicherweise vorschrieb.
Schweigend packte ich meinen Rucksack ebenfalls weg. Anschließend schnallte ich mich an, verschränkte meine Finger und starrte konzentriert auf den kleinen Monitor, der direkt vor meiner Nase am Vordersitz montiert war.
Wie mir die kleine Digitaluhr oben rechts in der Ecke verriet, war es inzwischen fast sechs Uhr, und die geplante Ankunftszeit in Sydney lag aufgrund der Zeitverschiebung bei Freitag, sechs Uhr morgens. Trotzdem hing ich fast einen Tag unmittelbar neben Beckett fest und hatte keine Ahnung, wie ich die Zeit bis zur Landung totschlagen sollte. Ich konnte mich ja schlecht zwanzig Stunden schlafend stellen, nur um einer Unterhaltung mit ihm auszuweichen.
Im Geiste sah ich bereits vor mir, wie Professorin Martinez unzufrieden die Lippen schürzte, weil das nicht unbedingt ein mustergültiges Verhalten war, wenn man einem Team angehören wollte.
Scheiße! Und nun?
Ich warf Beckett, der mir den Rücken zugewandt hatte und aus dem Fenster schaute, einen verstohlenen Blick zu. Der Mann hatte sogar einen hübschen Hinterkopf, von seinen breiten Schultern ganz zu schweigen.
Ein Schnauben platzte aus meiner Kehle, woraufhin er sich zu mir umdrehte. Zum ersten Mal, seit ich diese Reise angetreten hatte, wich ich diesen irrsinnig blauen Augen nicht aus. Deshalb fiel mir jetzt erst auf, dass das spöttische Funkeln darin völlig fehlte. Stattdessen war sein Blick kühl.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, er wäre sauer auf mich. Aber das ergab keinen Sinn. Ich hatte alle Aufgaben, die er mit Priorität 1 markiert hatte, pünktlich abgegeben. Oder hatte ich vielleicht etwas übersehen?
Beckett wandte sich wieder zum Fenster, und mir wurde flau im Magen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Beckett mich für inkompetent hielt. Denn das war ich nicht. Ich war verdammt gut in dem, was ich tat.
Trotzdem ging ich im Geiste noch einmal meine Liste durch, während sich die Boeing mit einem Ruck in Bewegung setzte. Als wir die Startbahn erreichten, fiel mir auf, dass Becketts Hände inzwischen auf den Armlehnen lagen. Seine Fingerknöchel waren weiß, weil er so fest zupackte.
Ich schaute hoch in sein Gesicht und riss ungläubig die Augen auf.
Er war aschfahl. Schweiß bedeckte seine Stirn, und er hatte Lippen und Lider zusammengepresst, während er stocksteif in seinem Sitz saß. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt noch atmete.
»Beckett?«, fragte ich im selben Moment, in dem die Motoren aufheulten.
Er zuckte zusammen. Ob vor Überraschung, weil ich ihn ansprach, oder wegen des Starts würde ich wohl nie erfahren. Aber der sonst so coole Mr Sexy Brain sah derart jämmerlich aus, dass er mir augenblicklich leidtat. Bei unserem vorangegangenen Flug war ich so damit beschäftigt gewesen, ihn nicht zu beachten, dass mir seine Aerophobie vollkommen entgangen war.
Ängste waren etwas Furchtbares, und niemand sollte sie allein durchstehen müssen. Bevor ich also lange darüber nachdenken konnte, streckte ich meine rechte Hand aus und legte sie auf seinen eiskalten Handrücken. Sofort ließ er die Armlehne los und verschränkte unsere Finger.
Adrenalin schoss durch meine Blutbahn, während das Flugzeug beschleunigte und wir in die Sitze gedrückt wurden.
Beckett gab ein raues Stöhnen von sich. Er klang wie ein verwundetes Tier.
»Wusstest du, dass Adeliepinguine Kleptomanen sind?«, fragte ich, weil Ablenkung eine beliebte Strategie war, um jemandem über seine Ängste hinwegzuhelfen.
Beckett blinzelte, als hätte ich ihn aus einem Albtraum gerissen – was vermutlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Langsam drehte er den Kopf und schaute mich an. Die Furcht war noch nicht aus seinen betörend blauen Augen gewichen, aber zumindest hatte sich ein Hauch von Neugier daruntergemischt. »Wie bitte?«
»Adeliepinguine sind Kleptomanen«, wiederholte ich, während ich mich fragte, ob ihm überhaupt bewusst war, dass er meine Hand hielt.
Es schien eher nicht der Fall zu sein. »Was klauen sie denn?«
Ich hob die Schultern. »Steine.«
Eine kleine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. »Warum?«
»Die Männchen werben damit um die Weibchen«, erklärte ich, in gewisser Weise froh darüber, dass wir über ein Thema sprachen, bei dem ich mich auskannte. »Sie signalisieren ihre Paarungsbereitschaft, indem sie die Steine als Geschenke darbieten oder ihre Sammlung gut sichtbar in einem Nest präsentieren, um ihr Engagement und ihre Fitness zu demonstrieren.«
Becketts Mundwinkel zuckten. »Die Männchen wollen die Weibchen also beeindrucken?«
Seine warme Stimme sickerte in mein Inneres und sandte ein Kribbeln durch meinen Magen. Ich räusperte mich angestrengt. »Könnte man so sagen.«
»Und dafür werden sie sogar kriminell?«, hakte Beckett nach, während er mich interessiert musterte.
Wir waren inzwischen in der Luft, und obwohl wir unsere Flughöhe längst nicht erreicht hatten, hatte seine Panik merklich nachgelassen. Wahrscheinlich konzentrierte sich seine Aerophobie primär auf Start und Landung.
Mein Blick flackerte zu unseren Fingern, die immer noch verschlungen waren. »Steine sind kostbar in der Antarktis.«
»Dann ist es ja gut, dass es keine Pinguinpolizei gibt, was?«
Ich runzelte die Stirn, als dieses alberne Bild in meinem Kopf Gestalt annahm.
Beckett lachte leise – und mir stellten sich sämtliche Nackenhärchen auf. Denn ich kannte dieses Lachen nur allzu gut. Es war jenes Lachen, bei dem in den Augen seiner Gesprächspartnerinnen stets kleine Herzchen erschienen. Weil es so ehrlich und warmherzig klang. Es war betörend – und gefährlich.
Vorsichtig löste ich meine Hand aus seiner und schob sie unter meinen Oberschenkel, woraufhin das belustigte Funkeln aus Becketts Miene schwand und die angespannte Stimmung zwischen uns zurückkehrte.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor vor mir. Die Anschnallzeichen waren noch nicht erloschen. Also würde ich mich wohl noch etwas gedulden müssen, bis ich meinen Laptop herausholen und mich in meine Arbeit vertiefen konnte, um dem peinlichen Schweigen zwischen uns zu entgehen.
»Was ist mit den Weibchen?«, fragte Beckett unvermittelt. »Klauen sie auch?«
Erneut schaute ich ihn an. Da lag die unausgesprochene Bitte nach weiterer Ablenkung in seinen Augen, und abermals regte sich mein Mitgefühl. Vor allem, weil er gerade alles andere als selbstgefällig war.
»Ja«, antwortete ich. »Aber sie stehlen die Steine nicht, um den Männchen zu imponieren, sondern um ein sicheres, stabiles Nest für die Eier zu bauen.«
Seine Brauen schossen in die Höhe. »Das klingt, als findest du dieses Verhalten bei Weibchen in Ordnung.«
»Nun ja, hier geht es schließlich um den Bruterfolg.«
»An dem die Männchen ebenfalls ein Interesse haben.« Beckett lehnte sich in seinem Sitz zurück, bevor er mir einen vielsagenden Blick zuwarf. »Immerhin beteiligen sie sich auch am Nestbau und ziehen ihre Nachkommen gemeinsam mit den Weibchen groß, oder nicht?«
Da war er wieder: der provokative Mistkerl, den ich kannte.
Ich knirschte mit den Zähnen. »Du weißt schon, dass ich in diesem Flieger sitze, weil ich das Verhalten von Pinguinen erforsche, und es daher nicht nötig ist, mir solche Dinge zu erklären, oder?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er aalglatt. »Wo wir gerade davon sprechen: warum ausgerechnet Pinguine?«
Es gelang mir nur knapp, nicht zusammenzuzucken. »Weil sie faszinierend sind.«
»Das sind andere Tiere auch«, schoss er unbeeindruckt zurück.
Ich atmete tief durch. »Aber Pinguine spielen eine besondere Rolle im antarktischen Ökosystem. Ihre Erforschung bringt der Wissenschaft wichtige Erkenntnisse über die Veränderung ihres Lebensraums, die Auswirkungen des Klimawandels und die Gesundheit der Meeresumwelt. Sie hilft auch, grundlegende Fragen im Hinblick auf die Evolution von Vögeln und marinen Wirbeltieren zu gewinnen. Nicht zuletzt sind sie natürlich sehr beliebt, um für das Thema Umweltschutz zu sensibilisieren.«
Beckett grinste. »Hast du diesen Text auswendig gelernt?«
Meine Wangen wurden heiß. »Nein.«
»Ganz sicher?«, fragte Beckett scheinheilig. »Ich könnte schwören, dass du dein Interesse an der Pinguinforschung gerade exakt im selben Wortlaut wiedergegeben hast wie in deinem Interview im Veterinary Journal.«
O Mann! Woher wusste er das? Ich hatte diesen Artikel mit keinem Wort erwähnt. Nicht einmal Professorin Martinez war darüber im Bilde. Stattdessen hatte ich mich im Stillen über die Publikation in einem so beliebten Magazin gefreut.
»Mir war nicht klar, dass du ein Fan von meinen Fachbeiträgen bist.«
»Ich bin eben gern über meine Teammitglieder informiert.« Er musterte mich nachdenklich. »Das sind alles gute Argumente für die Pinguinforschung. Aber es steckt doch sicher noch mehr dahinter.«
Er war eine Feststellung, keine Frage, was mich zutiefst verunsicherte. Normalerweise gaben sich die Leute mit meiner detaillierten Erklärung zufrieden, aber Beckett nicht. Er wollte wissen, wo meine persönliche Motivation lag. Aber eher würde ich nackt in der Antarktis tanzen, als ihm meine Seele offenzulegen.
Gleichmütig erwiderte ich seinen Blick. »Ich hoffe, meine Forschungsergebnisse leisten einen wichtigen Beitrag, um das Verhalten von Pinguinen besser zu verstehen.«
Er klappte den Mund auf, zweifellos, um die nächste Salve von Fragen auf mich abzufeuern.
Doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Was ist mit dir?«, fragte ich herausfordernd, während wir durch eine weiße Wattewolkendecke brachen. »Wie kommt es, dass du Hightech-Tracker für eine kleine Pinguinkolonie in der Antarktis baust?«
»Es war Zufall.« Beckett schaute ebenfalls kurz aus dem Fenster, wandte sich aber gleich wieder ab. »Nach meinem Collegeabschluss habe ich mich an unterschiedlichen Universitäten beworben, um meine Baupläne für die TrakTags umzusetzen. Die Cornell hatte das beste Angebot. Also bin ich in Ithaca gelandet.«
»Also war es eine Frage des Geldes.«
»Damit hatte es nichts zu tun«, erwiderte Beckett leichthin. »Mir war es wichtig, die Geräte während der Konstruktionsphase nach meinem eigenen Ermessen zu modifizieren, ohne dass mir jemand reinquatscht. Schließlich ist das Letzte, was ich will, einem Tier Leid zuzufügen, nur weil ich einen Fehler gemacht habe.«
»Was denn für Fehler?«, fragte ich, nicht nur ein wenig überrascht, weil er so freimütig zugab, auch nicht perfekt zu sein.
Er grinste schief. »Zum Beispiel bei der Berechnung des Bruttogewichts oder bei der Stromlinienform der Geräte. Wir haben während der Konstruktion noch etliche Optimierungen vorgenommen, um mögliche Gefahren auf ein Minimum zu beschränken.«
Entgeistert starrte ich ihn an. Soweit ich wusste, waren die TrakTags schon in der ersten Generation die kleinsten, unauffälligsten und effektivsten Sender, die je gebaut worden waren. Aber dass Beckett zuvor ein lukrativeres Angebot abgelehnt hatte, weil ihm der Tierschutz wichtiger war, schockierte mich bis ins Mark. Damit waren seine Motive wesentlich ehrenhafter als meine eigenen.
Glücklicherweise erloschen in diesem Moment endlich die Anschnallzeichen und bewahrten mich davor, noch länger über die verwirrende Erkenntnis nachzugrübeln, dass Beckett Callahan offenbar ein Herz hatte. Zumindest für Tiere.