Willow-Falls-Reihe, Band 2 - Stay With Me in Willow Falls - Greta Milán - E-Book

Willow-Falls-Reihe, Band 2 - Stay With Me in Willow Falls E-Book

Greta Milán

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Beschreibung

When leaves are falling, is the best time to find your home. Paige hat alles, was sie braucht, um glücklich zu sein: ihre Holzwerkstatt in Willow Falls, die Apfelfarm ihrer Familie und ihre Clique. Doch immer öfter sehnt sie sich nach jemand, der ihr Herz schneller schlagen lässt. Da ist es denkbar ungünstig, dass Miles ins Nachbarhaus zieht – der Mann, der das Leben ihres Bruders zerstört und sie selbst in tödliche Gefahr gebracht hat. Paiges Wut auf ihn ist noch immer da, trotzdem spürt sie eine Anziehung, die sie genauso sehr verletzt wie fasziniert. Band 1 der Willow-Falls-Reihe: Take Me Home to Willow Falls

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Seitenzahl: 540

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover for EPUB

Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg © 2025 Ravensburger Verlag GmbH

Text © 202455 Greta Milán Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Covergestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Fotos von Shutterstock (© Kavun Halyna, © dolararts) und Depositphotos (© kjpargeter) Lektorat: Svenja Kopfmann Alle Rechte vorbehalten. Der Nutzung für Text- und Data-Mining wird ausdrücklich widersprochen.

ISBN 978-3-473-51284-3

ravensburger.com/service

Für alle, die sich eine Rückkehr nach Willow Falls gewünscht haben.Dieses Buch ist für euch.

Prolog

Miles

»Ich muss mit dir reden«, verkündete meine Mutter, als ich gerade das Nationale Sportinstitut von Quebec verließ und über den gepflasterten Platz zu den Fahrradständern ging. Trotz der späten Stunde war es noch immer taghell draußen, und die Luft war schwül von der sommerlichen Hitze.

Normalerweise hätte ich einen Abstecher in den angrenzenden Olympiapark gemacht, um von dem stressigen Tag runterzukommen. Aber ich hatte gerade eine Doppelschicht hinter mir und wollte nur noch ins Bett. Daher hoffte ich, dass ich dieses Telefonat hinter mich gebracht hatte, bis ich den Fahrradständer erreichte.

»Was gibt’s?«, fragte ich, keineswegs besorgt über ihren ernsten Tonfall.

Florence Chamberlain war schon immer eine resolute und zielstrebige Frau gewesen, und alles, was sie sagte, schien grundsätzlich Gewicht zu haben. Aber meistens ging es bloß um irgendwelchen Klatsch aus meiner Heimatstadt, in der Mom seit elf Jahren Bürgermeisterin war. Nichts, was mich wirklich interessierte. Schließlich hatte ich dieses Leben kurz nach meinem Highschoolabschluss hinter mir gelassen.

Mom räusperte sich. »Ich bringe es gleich auf den Punkt …«

Diese Ankündigung entlockte mir ein Lachen. Meine Mutter war nämlich auch keine Frau, die lange um den heißen Brei herumredete. »Na, dann schieß mal los.«

Sie holte tief Luft. »Ich möchte, dass du nach Hause kommst.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Was?«

»Bitte komm nach Hause, Miles«, wiederholte sie und schlug nun ganz bewusst einen sanften Ton an.

Mein Herz begann zu rasen. »Bist du krank?«

Denn das war ungelogen der einzige Grund, warum ich es jemals in Erwägung ziehen würde, einen Fuß zurück in dieses Kaff zu setzen.

»Ich nicht.« Sie seufzte schwer. »Aber eine Menge Leute hier sind es, und wir brauchen dringend einen fähigen Therapeuten, der ihnen hilft, wieder auf die Beine zu kommen.«

Das sollte wohl ein Witz sein.

Sie wusste genau, wie ich zu einer Rückkehr nach Willow Falls stand. Wie zur Hölle kam sie auf die Idee, dass ich dort arbeiten würde?

»Sorry, aber ich habe bereits einen Job, Mom.«

»Du bist Trainee«, korrigierte sie mich ungerührt. »Obwohl du einen Master in Sporttherapie hast. Wir wissen beide, dass du für deine aktuelle Anstellung deutlich überqualifiziert bist.«

Genervt verdrehte ich die Augen. Wir hatten diese Diskussion schon unzählige Male geführt. Rational gesehen hatte sie sicherlich recht. Aber dieser Umweg war nun mal notwendig, um die Personalabteilung der populärsten kanadischen Eishockeymannschaft zu beeindrucken – und genau das wollte ich.

»Ich brauche Berufserfahrung, wenn ich es in den Betreuerstab der Habs schaffen will.«

»Die kannst du ebenso gut hier sammeln«, schoss sie zurück und schlug einen heiteren Tonfall an. »Wenn du mich fragst, würde es sich sogar ausgesprochen gut in deinem Lebenslauf machen, wenn du die Physiotherapie in Dr. Bells Praxis übernimmst.«

Ich schüttelte den Kopf, ehe ich meine Füße zwang, sich weiter zu bewegen. »Vergiss es, Mom. Ich werde auf keinen Fall zurückkommen.«

Sie schwieg.

Ich hasste es, wenn sie das tat. Keine Ahnung, wann sie diesen Scheiß gelernt hatte. Früher hatte sie mich stundenlang zugetextet, um irgendwelche Infos aus mir rauszupressen. Da war ich derjenige gewesen, der stoisch geschwiegen hatte. Dass sie den Spieß inzwischen umgedreht hatte, gefiel mir gar nicht.

»Tut mir leid, okay? Ich bin mir sicher, ihr findet jemand anderen und …«

»Das versuchen wir schon seit Wochen«, unterbrach sie mich. Ganz offensichtlich hatte sie ihre Stimme wiedergefunden. »Aber niemand, wirklich niemand ist bereit, Eastons Stelle in der Praxis zu übernehmen, was bedeutet, dass ab September sämtliche Patienten bis nach Mayfield fahren müssen, um ihre Therapien fortzusetzen. Das ist untragbar.«

»Bis nach Mayfield sind es nicht mal zwanzig Minuten«, wandte ich ein und blieb neben meinem Fahrrad stehen.

Meine Mutter schnaubte. »Mit dem Auto vielleicht. Mit dem Bus braucht man fast eine Stunde. Kannst du dir vorstellen, wie beschwerlich das für ältere Damen wie Eloise Burkins ist? Die Ärmste hat sich bis heute nicht von ihrem schlimmen Sturz im letzten Herbst erholt. Sie braucht nach wie vor medizinische Betreuung. Genau wie der kleine Conrad Fishermen, der sich vor ein paar Wochen einen komplizierten Trümmerbruch am Handgelenk zugezogen hat. Ohne die richtige Therapie wird er niemals richtig Schreiben lernen. Und dann wäre da noch …«

»Schon gut«, unterbrach ich sie zähneknirschend. »Ich hab kapiert, worauf du hinauswillst. Aber ich kann dir da wirklich nicht helfen.«

»Natürlich kannst du.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Glaub mir, Miles. Ich habe alles versucht, nachdem Christine mir von dem dramatischen Personalmangel in ihrer Praxis berichtet hat. Schließlich habe ich den Bewohnern dieser Stadt ein Versprechen gegeben. Sie verlassen sich auf mich, und ich … ich will sie nicht enttäuschen. Sie sind alles, was ich noch habe.«

Ich wollte ihr widersprechen, weil sie immer noch mich hatte. Aber die traurige Wahrheit war, dass das nicht stimmte. Seit ich Willow Falls verlassen hatte, hatte ich keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt. Ich konnte es einfach nicht – und Mom hatte das bisher immer respektiert. Sie hatte mir nie Druck gemacht oder versucht, mich unter einem Vorwand zurückzulocken. Stattdessen hatte sie mich an Feiertagen in Montreal besucht, oder wir waren ein paar Tage raus in den Nationalpark gefahren, um Zeit miteinander zu verbringen. Und dann hatten sich unsere Wege wieder getrennt.

»Mir ist vollkommen klar, worum ich dich hier bitte«, fuhr sie leise fort. »Aber es ist acht Jahre her, Miles. Inzwischen hat sich Ryder längst erholt, und auch seiner Schwester geht’s wieder gut. Sie hat sich zu einer bezaubernden jungen Frau entwickelt.«

Trotzdem wären sie beinahe gestorben – und zwar durch meine Schuld.

Bilder schossen durch meinen Kopf.

Eine stockdunkle Auffahrt, gesäumt mit Apfelbäumen.

Ein Mädchen im Scheinwerferlicht.

Entsetzt aufgerissene Augen.

Schreie. Ein Apfelbaum. Ein Krachen.

Und dann … Stille.

Meine Kehle schnürte sich zu, während ich versuchte, die Erinnerung an jene Nacht zu verdrängen. Aber egal, wie sehr ich den Kopf schüttelte oder wie heftig ich blinzelte, diese verdammten Bilder blieben – und absolut nichts würde daran jemals etwas ändern.

Erst recht keine Rückkehr nach Willow Falls.

Kapitel 1

Paige

Es war ein schönes Gefühl, an Carters Hand durch die winzige, aber malerische Innenstadt von Willow Falls zu schlendern. Der September hatte gerade erst begonnen, vom Herbst war jedoch – bis auf die Dämmerung, die sich immer früher über die Stadt legte – noch nichts zu spüren. Auch die Temperatur war angenehm, sodass ich in meinem knielangen Strickkleid und den bequemen Knöchelstiefeletten nicht fror.

Es war Samstagabend, und die Läden und Boutiquen, die sich um die Grünanlage mit einer stattlichen Trauerweide im Zentrum zogen, hatten bereits geschlossen, weshalb nicht mehr sonderlich viel los war. Ein paar Teenies lungerten auf einer Parkbank herum, Ms Richards, die die besten Waffeln im Umkreis von fünfzig Meilen machte, führte ihren Cockerspaniel Gassi, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite schloss Mr Harris gerade seinen Supermarkt ab. Sie alle nickten mir freundlich zu, bevor sie Carter mit unverhohlener Neugier musterten, was mich zum Lächeln brachte.

Er war nicht von hier, sondern machte sich seit einem Monat die Mühe, zwei Mal pro Woche extra herzukommen, damit wir uns sehen konnten. Wir hatten uns im Juni auf einem Kunstmarkt in Louistown kennengelernt, wo ich auf der Jagd nach alten Möbeln gewesen war. Ich war gerade dabei gewesen, mit einem Antiquitätenhändler über einen Holztisch zu verhandeln, als Carter sich eingemischt und mich gefragt hatte, ob ich nicht lieber sein handbemaltes Porzellan kaufen wollte.

Unter uns gesagt trafen seine Werke nicht unbedingt meinen persönlichen Geschmack. Aber sein Selbstbewusstsein und sein charmantes Grinsen hatten mich trotzdem genug fasziniert, um ihm meine Nummer zu geben.

Tja, und hier waren wir nun.

»Erklär mir noch mal, wie deine Freunde heißen«, sagte Carter, während er sich eine Strähne seines langen, blonden Haares hinters Ohr strich.

Ich lachte leise, weil ich das für einen Scherz hielt. Schließlich hatte ich ihm schon etliche Male von meiner Clique erzählt, da sie abgesehen von meiner Familie im Zentrum meines gesellschaftlichen Lebens stand. Aber seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, meinte er das absolut ernst.

Ein wenig ernüchtert lenkte ich ihn in Richtung Pint Pub, wo wir die anderen gleich treffen würden. »Lewis ist mein bester Freund seit der Middle School.«

Carter nickte bedächtig. »Das ist der Kerl mit dem Ahornsirup?«

»Äh, nein. Der Besitzer von Moore’s Maples ist Jared. Mit ihm sind wir seit dem letzten Highschooljahr eng befreundet.«

»Und der ist mit der Ärztin zusammen?«

Ich verbiss mir ein Seufzen. »Nein. Jareds Freundin heißt Cassie. Sie arbeitet in dem Blumenladen, an dem wir gerade vorbeigelaufen sind.«

Auf den ich gezeigt hatte mit den Worten: Undhierarbeitet Cassie, eine meiner engsten Freundinnen und Jareds bessere Hälfte. Ich hatte dabei gelacht, obwohl es sogar ein bisschen stimmte. Seit es Cassie vor gut einem Jahr in unser beschauliches Städtchen verschlagen hatte – wenn auch nicht ganz freiwillig –, hatte sie vieles für Jared besser gemacht, was mich wiederum glücklich machte.

»Reese ist die Ärztin«, fuhr ich fort und strich im Vorbeigehen über den zerfurchten Stamm einer alten Kastanie, die mitten auf dem Gehweg wuchs – ein kleiner Tick von mir. »Dann gibt es noch Owen. Er arbeitet ebenfalls bei Moore’s Maples.«

Ich überlegte, ob ich Carter die überaus komplizierte Beziehung zwischen ihm und Reese erklären sollte. Aber da ich sie selbst nicht verstand, ließ ich es lieber bleiben.

»Dann seid ihr also sechs Freunde«, stellte Carter fest.

Nahm er mich gerade auf den Arm? »Sieben. Du hast Alan vergessen.«

Eine tiefe Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. »Wer ist Alan?«

Ernsthaft? Er verscheißerte mich doch, oder?

Ich warf ihm einen verunsicherten Blick zu. »Alan ist Lewis’ Freund. Er arbeitet in der Kanzlei.«

»Ach, richtig«, erwiderte Carter leichthin und verlangsamte seine Schritte, als das Pint Pub in Sichtweite kam. »Also, Jared und Owen gehören zur Ahornfabrik, Reese ist Ärztin, Cassie ist die Blumenfee, und Lewis arbeitet bei …«

»… in einem Geschäft für Angel- und Campingausrüstung«, vollendete ich den Satz, während ich gegen meine wachsende Verärgerung ankämpfte. »Aber ihre Jobs sind sicher nicht alles, was meine Freunde so besonders macht.«

Wobei ich zugeben musste, dass sie alle einen Beruf ausübten, der auch gut zu ihren jeweiligen Persönlichkeiten passte, was in einer Kleinstadt wie Willow Falls durchaus etwas Besonderes war, da man auf einem lokal begrenzten Arbeitsmarkt für gewöhnlich nicht viel Auswahl hatte.

Auch ich hatte vor einigen Jahren meinen Traum verwirklicht und eine Holzwerkstatt namens Woody’s eröffnet, in der ich handgefertigtes Geschirr, Skulpturen, Spielzeuge und Souvenirs herstellte und auch Möbel restaurierte und verkaufte.

Meine Eltern, die ein Stück außerhalb von Willow Falls eine Apfelplantage besaßen und ihren mehrfach preisgekrönten Golden Grove Cidre herstellten, hatten sich anfangs ein wenig schwer damit getan, dass ich nicht in den Familienbetrieb einsteigen, sondern meinen eigenen Weg gehen wollte. Aber inzwischen standen sie voll hinter meiner Entscheidung. Davon abgesehen hatten sie mit meinen drei älteren Brüdern mehr als genug Unterstützung, und falls sie doch mal Hilfe brauchten, war ich ja keine fünf Meilen weit weg.

»Da wären wir«, sagte ich, als wir das Pint Pub erreichten.

Von drinnen erklangen Gelächter und Countrymusik. Abgesehen von zwei weiteren Restaurants war die Bar die einzige Location, in der man einen netten Abend verbringen konnte. Deshalb kamen die meisten Einheimischen und Touristen hierher. Trotzdem war heute kein gewöhnlicher Samstagabend.

Aufregung spülte meinen Frust über Carters Ignoranz fort, und ein Quietschen platzte aus mir heraus. »Okay, jetzt bin ich doch nervös.«

Er lächelte selbstsicher. »Keine Sorge. Ich kann gut mit Leuten.«

Das wusste ich, aber heute ging es ja nicht bloß darum, ihn meinen Freunden vorzustellen. Es sollte ein unvergesslicher Abend werden.

Ich stieß die Tür auf und zog ihn mit mir ins Innere der Bar, während ich nach meinen Freunden Ausschau hielt. Cassie, Jared, Owen und Reese saßen schon an einem runden Tisch in der hinteren Ecke.

Grinsend bahnte ich mir einen Weg durch die Menge und tauschte mit einigen bekannten Gesichtern verschwörerische Blicke. Die meisten Gäste, die sich an den übrigen Tischen und der lang gezogenen Bar auf der rechten Seite verteilten, waren heute Abend nicht zufällig hier.

Cassie winkte uns fröhlich zu. Sie hatte ihr langes Haar zu einem lässigen Zopf geflochten, und ihre braunen Augen leuchteten vor Euphorie. »Da seid ihr ja!«

»Hey, Leute.« Gut gelaunt zog ich meinen Begleiter neben mich. »Das ist Carter.«

Jared, der einen Arm um Cassie gelegt hatte, streckte ihm die andere Hand entgegen. »Schön, dich kennenzulernen, Mann.«

»Freut mich auch«, erwiderte er, bevor ich ihm die Truppe vorstellte.

Reese und Owen saßen mit einigem Abstand zueinander gegenüber von Cassie und Jared. Es schien fast so, als versuchten sie beide verzweifelt, die sexuelle Energie zwischen sich abzuschwächen. Aber es gelang ihnen nicht wirklich.

»Ihr seid spät dran«, sagte Reese, sobald wir uns gesetzt hatten.

»Wieso?« Irritiert schaute ich auf die Uhr. Es war kurz nach halb acht. »Wir haben doch noch eine halbe Stunde Zeit.«

Angespannt zupfte Reese an einer ihren dunklen Locken. »Vielleicht sollten wir den Plan trotzdem noch mal durchgehen.«

Ich lachte. »Entspann dich, Reese. Wir haben das doch tausend Mal besprochen. Es ist alles bereit.«

Sie wirkte nicht überzeugt. »Hat heute Nachmittag auch alles geklappt?«

»Natürlich«, erwiderte ich und tätschelte beruhigend ihren Arm. »Sie waren alle im Woody’s, und ich bin den Ablauf mit jedem ein letztes Mal durchgegangen. Sieh dich doch mal um. Jeder ist auf seinem Platz. Besser könnten wir gar nicht vorbereitet sein.«

Cassie nickte zustimmend. »Es wird klappen.«

Endlich wich die Nervosität aus Reeses Miene, während Carter sich zu mir lehnte. »Wovon redest du überhaupt?«

Ich blinzelte irritiert. »Na, von der Überraschung für Alan und Lewis.«

Verwirrt legte er den Kopf schief. »Welche Überraschung?«

Was zur Hölle …? Ich hatte in den letzten Wochen kaum von etwas anderem gesprochen als von diesem Abend.

Meine Fassungslosigkeit stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn plötzlich riss er die Augen auf. »Oh. Das ist heute?«

»Ja, das hab ich dir doch …«

»Oh, fuck!«, stieß Owen plötzlich aus. »Da ist Alan.«

»Was?« Ich wirbelte herum, und tatsächlich kam unser Freund eilig auf uns zu. Er trug ein schickes weißes Hemd, eine schwarze Stoffhose und Chinos. Sein hellblondes Haar war ordentlich frisiert, und eine Wolke schweren Parfums umhüllte ihn. Leider sah er aus, als müsste er gleich kotzen.

Erschrocken schoss ich von meinem Stuhl hoch. »Alan! Was hast du denn?«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Sein Mund klappte auf, aber er brachte keinen Ton hervor.

Scheiße! Damit hatte ich nicht gerechnet. Sonst war Alan immer die Ruhe selbst. Aber ausgerechnet heute schien er sämtliche Nerven zu verlieren.

Ich legte ihm die Hände auf die Schultern und zwang ihn, mich anzusehen. »Jetzt atme erst mal tief durch, okay?«

Alan nickte steif, während Reese und Cassie neben ihn traten. Sogleich schaltete Reese in den Doktormodus und prüfte seinen Puls am Handgelenk.

Unterdessen rieb Cassie ihm in sanften Kreisen über den Rücken. »Es ist alles gut, Alan. Keine Panik.«

Reese seufzte. »Ich hab’s geahnt.«

Ich warf ihr einen scharfen Blick zu. »Nicht hilfreich.«

Sie zuckte bloß mit den Schultern, bevor sie sich wieder zum Tisch umdrehte, wo Owen ihr bereits ein Glas mit einer braunen Flüssigkeit entgegenhielt. Ohne ein Wort nahm sie es entgegen und hielt es Alan hin. »Hier. Trink das.«

Alan schnitt eine Grimasse. »Ich hasse Scotch.«

Sie verdrehte die Augen. »Als würde ich dir was Hochprozentiges verabreichen, um dich zu beruhigen.«

Das war angesichts Reeses Job in der Tat ziemlich unrealistisch. Neugierig beäugte ich das Glas. »Was ist da drin?«

»Lavendeltee mit Minze.« Sie grinste. »Macht auch einen guten Kuss-Atem.«

Oh, na dann …

Diese Ansage sorgte zumindest dafür, dass ein wenig Farbe in Alans Wangen zurückkehrte. Er schnappte sich das Glas und stürzte den Inhalt in mehreren gierigen Schlucken herunter.

»Braver Junge«, lobte Reese, nahm ihm das Glas ab und musterte ihn prüfend. »Alles wieder okay?«

Alan starrte sie an.

»Du wirst sehen, es wird alles gut gehen«, versicherte ich ihm und schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln, ehe ich ihm einen sanften Schubs gab. »Und jetzt ab auf deinen Posten.«

Er nickte steif und stakste davon, während Cassie erleichtert ausatmete.

»Das war knapp«, sagte sie, sobald er außer Hörweite war.

Ich winkte ab. »Ach was. Wir hätten noch mindestens fünf Minuten für einen ausgewachsenen Ohnmachtsanfall gehabt.«

»Beschrei es nicht«, murmelte Reese, bevor sie sich wieder neben Owen auf ihren Stuhl fallen ließ.

Cassie rutschte auf Jareds Schoß, legte die Arme um seinen Nacken und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das ihn zum Lachen brachte.

Mir wurde ganz warm in der Brust, während ich mich neben Carter setzte und die beiden beobachtete. Ihre Beziehung hatte ziemlich turbulent angefangen, aber dafür schien sie inzwischen umso inniger zu sein, und obwohl ich mich wahnsinnig für die beiden freute, konnte ich nichts gegen den Funken Neid tun, der kurz durch meine Brust zuckte.

Objektiv betrachtet hatte ich alles, was sich eine Frau nur wünschen konnte. Ich war unabhängig, ging voll in meiner kreativen Arbeit auf und hatte einen tollen Familien- und Freundeskreis. Trotzdem konnte ich deutlich spüren, dass mir etwas fehlte, und ich wusste auch genau, was das war: Ich wollte endlich auch einen Partner an meiner Seite haben, mich verlieben.

So richtig mit Leib und Seele. Mit Kribbeln und Leidenschaft.

Das volle Glückshormonprogramm eben.

Mein Blick schweifte zu Carter, der inzwischen mit Owen über seine Porzellankunst sprach, was er sehr häufig und sehr ausgiebig tat.

Mir gefiel sein Selbstbewusstsein. Zum einen, weil ich grundsätzlich nicht viel mit falscher Bescheidenheit anfangen konnte, und zum anderen, weil ich insgeheim hoffte, dass sich seine Begeisterung früher oder später auch auf unsere Beziehung ausweiten würde.

Leider hatte er sich bisher zurückgehalten. Vor allem, was den intimen Aspekt betraf. Abgesehen von ein paar Küssen und Händchenhalten war noch nicht viel gelaufen, und ich musste zugeben, dass mich das störte, denn ich wollte nicht immer diejenige sein, die die Initiative ergriff. Andererseits tat ich ihm womöglich Unrecht mit meiner Ungeduld. Vielleicht wollte er einfach rücksichtsvoll sein und sich Zeit lassen, bis wir uns absolut sicher waren, was unsere Gefühle füreinander betraf.

Im Moment empfand ich hauptsächlich Vorfreude, wenn unser Wiedersehen kurz bevorstand, und ein oder zwei Mal waren auch kleine Schmetterlinge durch meinen Magen geflattert, wenn unsere Lippen aufeinandergetroffen waren. Insofern bestand durchaus Anlass zur Hoffnung, dass aus meiner zarten Zuneigung etwas Größeres werden könnte.

Vorausgesetzt, wir würden es bald mal auf die zweite Base schaffen.

Plötzlich richtete Cassie sich auf. »Lewis ist da.«

Diesmal ging mein Puls praktisch durch die Decke, als ich erneut aufstand. Ich suchte Honeys Blick, die hinter der Bar stand, und nickte ihr kurz zu. Dann lief ich Lewis entgegen.

Er sah höchst alarmiert aus, weshalb er die übrigen Gäste um uns herum gar nicht zur Kenntnis nahm. Mit zittrigen Fingern rückte er die Hornbrille auf seiner Nase zurecht. »Ist Alan schon hier? Er hat mir eine Nachricht geschickt, dass er noch was erledigen muss. Aber er wollte mir nicht sagen, was. Irgendwas stimmt nicht, Woody. Er ist seit Tagen völlig neben der Spur. Weißt du, was mit ihm los ist?«

Natürlich wusste ich das – und die Liebe und Sorge in Lewis’ Augen bestätigten, dass es für Alan absolut keinen Grund gab, nervös zu sein. Trotzdem spielte ich die Ahnungslose.

»Jetzt komm und setz dich erst mal«, sagte ich und führte ihn zu dem Stuhl, der seitlich neben dem Tisch stand.

Sichtlich abgelenkt grüßte Lewis in die Runde und nahm Platz. Er wollte den Stuhl näher an den Tisch heranrücken. Doch ich blieb so dicht vor ihm stehen, dass das unmöglich war, wenn er mir nicht die Beine wegkicken wollte.

Lewis runzelte die Stirn. »Was …«

Er verstummte, als der Countrysong plötzlich in Justin Timberlakes Can’t Stop That Feeling überging und ich aus heiterem Himmel begann, mit den Hüften zu wackeln. Meine Bewegungen fühlten sich ein wenig steif und ungelenk an, weil ich mir der plötzlichen Aufmerksamkeit aller Anwesenden durchaus bewusst war. Aber ich machte weiter und tanzte ein paar Schritte zurück, während Lewis immer verwirrter dreinschaute.

Cassie und Reese standen auf und traten neben mich, woraufhin wir begannen, eine von langer Hand geplante Choreografie vorzuführen. Sie war nicht sonderlich komplex. Das war in der engen Bar gar nicht möglich, und wir waren auch alle keine geborenen Tänzerinnen. Aber dafür kam diese Aktion von Herzen.

Jared und Owen kamen zu uns und zogen Cassie und Reese in einen Paartanz. Carter dagegen blieb hinter Lewis sitzen.

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, weil wir eigentlich etwas anderes besprochen hatten. Aber offensichtlich hatte er seine Meinung geändert und wollte doch nicht mehr mein Tanzpartner sein.

Das war okay, schätze ich. Schließlich war das alles hier neu für ihn. Trotzdem spürte ich, wie meine Wangen in Flammen aufgingen, weil ich einmal mehr allein dastand beziehungsweise tanzte, während die beiden Paare, die mich flankierten, fröhlich ihre Pirouetten drehten.

Zum Glück endete die erste Strophe gleich darauf, und die Gruppe ganz hinten an der Wand erhob sich.

Lewis riss die Augen auf. »Mom? Dad?«

Ja, sie waren auch hier. Genau wie seine Schwester und Alans Familie aus Ottawa. Bisher hatten sie sich alle hinter aufgeklappten Speisekarten versteckt. Aber jetzt folgten sie der Choreo, die wir vorgaben.

Mit der nächsten Strophe traten die Gäste am Tisch links neben uns in Aktion. Das war Lewis’ Team aus dem Campingladen. Danach kamen Alans Kollegen aus Ms Plummers Kanzlei, gefolgt von weiteren Freunden aus Willow Falls. Sogar Eloise Burkins, die gutmütige, betagte Besitzerin des Blumenladens, und Ms Pratchett, Cassies Vermieterin, waren da und machten mit, bis irgendwann niemand mehr auf seinem Stuhl saß und alle Leute in der Bar einer gemeinsamen Choreografie folgten.

Allmählich schien Lewis zu begreifen, was hier passierte, denn ein wunderschönes Lächeln erschien in seinem Gesicht.

Das Lied endete, und nun erklang die vertraute Melodie von Marry You von Bruno Mars, womit wohl auch die letzten Zweifel über den Sinn dieser Aktion ausgeräumt sein dürften.

Lewis’ Augen füllten sich mich Tränen, während seine Familienmitglieder jeweils eine rote Rose unter dem Tisch hervorholten. Mit den Blumen in der Hand tanzten sie auf ihn zu, während sich unsere Clique zurückzog, um ihnen Platz zu machen.

Sichtlich gerührt beugte Lewis’ Mutter sich hinab, küsste ihren Sohn auf die Stirn und überreichte ihm eine Rose. Als Nächstes kam sein Dad, dann seine Schwester, gefolgt von Alans Eltern.

Da Lewis abgelenkt war, eilte ich zu Carter, der sich inzwischen zur Bar vorgearbeitet hatte. Dort überreichte mir Honey schnell eine rote Rose. Anschließend hielt sie Carter eine weitere entgegen, doch er schüttelte den Kopf.

Meine Mundwinkel fielen herab. »Willst du doch nicht mitmachen?«

»Lieber nicht.« Er warf mir ein beruhigendes Lächeln zu und deutete in die Ecke am anderen Ende der Bar. »Das ist euer großer Abend. Ich sehe mir die Show von dort hinten aus an. Wir reden nachher, ja?«

»Na gut, wenn dir das lieber ist«, erwiderte ich und gab mir alle Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich hatte ich ihn etliche Male gefragt, ob er bei dieser Aktion mein Wingman sein wollte.

Dass er mich gerade zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten hängen ließ, fand ich offen gestanden ziemlich ätzend. Aber ich weigerte mich, zuzulassen, dass dieser besondere Moment von negativen Gefühlen vergiftet wurde. Vielleicht hatte Carter die Situation vorher einfach falsch eingeschätzt oder ich hatte das geplante Spektakel nur unzureichend beschrieben. So oder so ging es jetzt nicht um mich und meine Wünsche, sondern ausschließlich um Alan und Lewis.

Also stellte ich mich hinter Cassie und Jared in die Reihe vor der Bar und wartete auf meinen finalen Einsatz.

Unsere Clique hatte die Aufführung begonnen und beendete sie auch. Owen schmatzte Lewis einen Kuss auf die Wange, Reese und Cassie umarmten ihn herzlich, Jared flüsterte ihm ein paar Worte zu, und schließlich gebührte mir die Ehre, meinem besten Freund die vorletzte Rose zu überreichen.

Ich lächelte Lewis an. »Hab dich lieb, Rocky.«

Schniefend legte er meine Rose auf den anderen ab. »Ich dich auch, Woody.«

Und dann machte ich den Weg frei für Alan, der mit feierlicher Miene durch die Menge schwebte. Er trug jetzt einen Smoking über seinem weißen Hemd und eine Fliege um den Hals. Vor Lewis angekommen sank er auf ein Knie und hielt ihm seine letzte Rose entgegen, während das Lied verstummte und sich eine gespannte Stille über die Bar senkte.

»Mein Liebster«, sagte Alan mit rauer Stimme, und in seinem Blick lag so viel Hingabe, dass mir ganz warm ums Herz wurde. »Vor zwei Jahren hat unsere Geschichte mit einer Rose begonnen. Aber verrückt nach dir war ich schon sehr viel länger.« Er schmunzelte. »Wie wohl alle hier wissen.«

Gekicher erklang, denn inzwischen kannte jeder die Story von dem schüchternen Anwaltsgehilfen, der Lewis monatelang aus der Ferne angeschmachtet hatte und sich einfach nicht dazu durchringen konnte, ihn um ein Date zu bitten.

Also hatte Eloise Burkins kurzerhand Amor gespielt.

Alan räusperte sich. »Seit diesem Tag hast du mein Leben schöner, strahlender und bedeutungsvoller gemacht. Du bringst mich zum Lachen, gibst mir Halt und motivierst mich, das Beste aus mir herauszuholen. Für dich bin ich nicht nur zum Romantiker geworden, ich mache sogar Sport.«

Lewis gluckste, und auch wir anderen konnten unsere Belustigung nicht verbergen, denn eigentlich war Alan ein bescheidener, bodenständiger Typ, der gern Bücher las und das Rampenlicht mied. Aber Lewis liebte große Shows, NHL-Spiele und Ausflüge in die Natur. Die beiden waren voller Gegensätze, und doch kannte ich kein Paar, dass sich so perfekt vervollständigte, wie die beiden.

Mit zitternden Fingern griff Alan in seine Smokingtasche, holte eine kleine Schachtel hervor und klappte den Deckel auf. In einem blauen Samtkissen steckte ein wunderschöner schlichter Platinring. Alan schluckte schwer. »Für dich will ich auf den Mount Logan klettern, einen Marathon laufen und im Yukon campen. Ich will dir Suppe kochen, wenn du krank bist, dich auffangen, wenn du traurig bist, und dir mitten in der Nacht Popcorn holen, wenn du Nervennahrung brauchst. Ich will kleine und große Abenteuer mit dir erleben und alles tun, um dich genauso glücklich zu machen wie du mich.« Er holte tief Luft und streckte Lewis voller Hoffnung die Ringschachtel entgegen. »Ich verspreche dir, ich werde dir treu sein und dich für alle Zeit lieben und ehren. Bitte heirate mich. Ich meine … möchtest du?«

Ein Schluchzen platzte aus Lewis heraus, bevor er vor Alan auf den Boden rutschte. »Natürlich möchte ich!«

Ohrenbetäubender Jubel brach im Pint Pub aus, während das glückliche Paar einen innigen Kuss teilte. Sie zitterten beide, lachten und weinten, als Alan seinem Zukünftigen den Verlobungsring ansteckte.

Honey drehte die Musik auf – und natürlich hatten wir auch hier den passenden Song vorbereitet: All You Need Is Love von den Beatles.

Überglücklich drückte Alan seinem Verlobten einen weiteren Kuss auf den Mund, bevor sie sich vom Boden aufrappelten und die ersten Glückwünsche ihrer Familie entgegennahmen.

Kichernd wischte sich Cassie über die Wangen, und auch unsere toughe Reese schniefte verstohlen. Jared und Owen umarmten erst Alan, dann Lewis. Gefüllte Champagnergläser wanderten über den Tresen, und ich fühlte mich, als würde ich vor Glück auf Wolken schweben.

Genau so musste Liebe sein.

Kapitel 2

Paige

Lewis strahlte mich an. »Ich werde heiraten, Woody!«

»Jepp, hab ich mitgekriegt.« Belustigt zog ich ihn in eine Umarmung. »Ich freue mich wahnsinnig für euch. Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke.« Er machte eine ausschweifende Geste. »Für das alles hier. Ich werde diesen Moment niemals vergessen.«

»Oh, das war allein Alans Idee.« Ich wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Der Mann weiß eben, wie er dich glücklich macht.«

Lewis grinste wie eine fette, zufriedene Miezekatze. »O ja, das weiß er ganz genau.«

Lachend schlug ich ihm auf den Arm. »Genießt euren Abend. Ich werde mal nach Carter sehen.«

Sofort reckte Lewis den Kopf. »Ach, er ist auch hier?«

Ich nahm es ihm nicht übel, dass er Carters Anwesenheit vorhin am Tisch nicht bemerkt hatte. Schließlich war er bei seiner Ankunft im Pint Pub total durch den Wind gewesen, und danach hatten wir ja direkt mit der Show losgelegt. »Ja, er ist irgendwo da hinten an der Bar.«

Zumindest hatte ich ihn dort zuletzt gesehen.

Lewis, der von innen heraus zu leuchten schien, tätschelte meinen Arm. »Dann hol ihn her. Ich will den Mann unbedingt kennenlernen, für den du Jack aus deinem Bett geschmissen hast.«

Jack war ein riesiger Plüschpinguin, den ich beim letzten Falls Festival an einer Losbude gewonnen hatte. Er schlief nicht wirklich in meinem Bett, sondern hockte daneben auf dem Boden, weil er einfach riesig war. Aber im Laufe des letzten Jahres war Jack trotzdem zu einem Running Gag geworden. Nach jedem miesen Date – und davon hatte ich vor Carter einige gehabt – hatte ich verkündet, dass Jack seinen Platz behalten durfte. Aber bei Carter hatte ich das nicht gesagt, und meine Freunde kannten mich gut genug, um zu wissen, was das bedeutete.

Ich lächelte Lewis an, und diesmal hüpfte mein Herz nicht nur, weil ich mich so sehr für ihn freute. »Ich hole ihn.«

Lewis nickte eifrig, bevor ich mich umdrehte und mir einen Weg durch die aufgekratzte Gästeschar suchte. Er dauerte einen Moment, dann hatte ich Carter neben der Eingangstür gefunden.

Mein Lächeln erstarb. »Wo willst du denn hin?«

Ertappt verzog er das Gesicht. »Oh, ich … Na ja, ich denke, es ist besser, wenn ich gehe.«

»Aber wieso?«, fragte ich verständnislos. »Ich bin nicht sauer, weil du auf den Tanz und die Rose verzichtet hast, falls du das denkst.«

War ich enttäuscht? Definitiv. Aber vielleicht hatte ich da auch einfach ein bisschen zu viel von ihm erwartet …

»Darum geht’s nicht«, erwiderte er und rieb sich unbehaglich über die Stirn.

Ich verschränkte die Arme. »Worum dann?«

Er seufzte. »Sei nicht sauer, okay? Du bist eine tolle Frau, aber ich bin einfach nicht gemacht für das hier.«

Ratlos legte ich den Kopf schief. »Ist dir der Trubel zu viel?«

»Nein.« Mit einem Seufzen schüttelte er den Kopf. »Der Trubel ist nicht das Problem …«

Ich war es.

Er sprach es nicht aus, aber es war offensichtlich.

Mein Magen verkrampfte sich. »Was hab ich falsch gemacht?«

»Gar nichts«, versicherte er mir eilig. »Mir ist bloß klar geworden, dass wir beide komplett unterschiedliche Dinge wollen. Du suchst einen Alan, einen Mann, der alles tun würde, um dich glücklich zu machen. Aber ich will mich für niemanden verbiegen.«

»Das möchte ich doch auch nicht«, widersprach ich sofort, weil sich das wirklich total falsch anhörte.

Carter lachte. »Komm schon, Paige. Ich hab deinen Gesichtsausdruck bei seinem Antrag gesehen. Also gib es doch einfach zu. Du willst absolute Hingabe. Sicherheit, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung, Leidenschaft und wilden Sex. Du willst jemanden, der dich auf Händen trägt und dich gleichzeitig herausfordert, über dich selbst hinauszuwachsen. Aber so ticke ich einfach nicht.«

Er sagte das, als wären all diese Dinge etwas Schlechtes. Dabei sollten sie doch eigentlich selbstverständlich sein, wenn man eine Beziehung führte, oder nicht? Davon abgesehen wünschte ich mir ja nichts, was ich nicht selbst auch zu geben bereit war.

Nachdenklich sah ich ihn an. »Wie tickst du dann?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab einfach keinen Bock, mich andauernd abzustrampeln oder mich zu beweisen, und ich will auch nicht ständig darüber nachdenken müssen, ob ich deinen hohen Ansprüchen genüge.«

Frust ballte sich in meinem Magen zusammen. Mir war gar nicht klar gewesen, dass das, was ich wollte, wirklich derart kompliziert war. »Ich habe nie erwartet, dass du der Einzige bist, der sich in unsere Beziehung einbringt.«

»Trotzdem fühlt es sich für mich jetzt schon wie Arbeit an. Dabei hatten wir gerade mal ein paar Dates.«

Wow. So brutal war ich lange nicht mehr abserviert worden.

Und es war nicht nur die Zurückweisung, die schmerzte, sondern vor allem die Botschaft zwischen den Zeilen. Offenbar war ich in meiner gesamten Persönlichkeit zu anstrengend, zu fordernd und viel zu anspruchsvoll.

Ein unangenehmer Druck legte sich auf meine Brust und schien mein Herz innerlich zu zerquetschen. Was, wenn er recht hatte? Was, wenn ich tatsächlich zu viel wollte? Wenn ich etwas wollte, das unmöglich war?

»Sorry, Paige«, sagte Carter und griff nach der Türklinke. Bevor er ging, hielt er jedoch noch einmal inne und schenkte mir ein gönnerhaftes Lächeln. »Ich hoffe, eines Tages findest du jemanden, der von Anfang an alles für dich sein will. Aber ich bin definitiv nicht dieser Jemand. Also, mach’s gut.«

Wie festgewachsen stand ich da, während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Ich fühlte mich innerlich vollkommen ausgehöhlt, und obwohl Carter mir nicht das Herz gebrochen hatte, war ich außerstande, mich wieder umzudrehen und zurück ins Partygetümmel zu stürzen. Schließlich hätten meine Freunde sofort kapiert, dass etwas nicht stimmte – und das Letzte, was ich wollte, war es, Lewis und Alan die Verlobungsparty zu versauen, weil ich bei einem Typen wieder mal ins Klo gegriffen hatte. Also zählte ich langsam bis zehn, bevor ich hinter Carter aus dem Pint Pub schlüpfte.

Ich ließ mir Zeit damit, die kurze Strecke nach Hause zurückzulegen, weil Carter seinen Wagen gleich in der Nähe geparkt hatte und ich ihm sicher nicht noch einmal begegnen wollte. Ich fühlte mich auch so schon wie der letzte Dreck.

Über mir funkelten die Sterne am wolkenlosen Nachthimmel, und das sanfte Licht der Straßenlaternen und die gedimmte Beleuchtung in den Schaufenstern verströmten Wärme und Behaglichkeit. Vereinzelt hatten sich die ersten Blätter an den Bäumen bunt verfärbt und waren vom Wind auf die Straße geweht worden. Sie waren meine einzigen Begleiter auf meinem stillen Weg.

Frustriert zog ich mein Handy aus der Seitentasche meines Strickkleides und öffnete den Chat mit Lewis, damit er sich wegen meines plötzlichen Verschwindens keine Sorgen machte. Er war manchmal ein bisschen überfürsorglich.

Hey, bin schon auf dem Heimweg. Nicht böse sein, ja?

Alles klar. Viel Spaß mit Carter. Tu nichts, was ich nicht auch tun würde …

Oh, ich würde ganz sicher nichts von den Dingen tun, die Lewis heute Nacht noch tun würde. Ich würde nicht vor Glück auf Wolken schweben, würde nicht von meiner Traumhochzeit schwärmen – und wundervollen Sex würde ich auch nicht haben. Wenn das so weiterging, würde ich irgendwann als einsame Schachtel mit einem grummeligen Kater und drei Frettchen enden.

Ich stieß ein bitteres Schnaufen aus und verdrängte meine Gewissensbisse, weil ich Lewis bewusst in die Irre geführt hatte. Aber ich wollte, dass er diesen Abend in vollen Zügen genoss. Wenn ich ihm jetzt schon verriet, wie unschön meine Beziehung mit Carter geendet hatte, würde er es glatt fertigbringen, den armen Alan mitten auf ihrer Verlobungsfeier sitzen zu lassen.

Habt noch viel Spaß heute Abend.

Danke! Ich bin so glücklich, Woody. Mein Herz zerspringt fast vor Liebe zu diesem Mann.

Ich freue mich riesig für euch. Wir telefonieren morgen, ja?

Definitiv.

Seufzend steckte ich mein Handy weg. Meine Brust schmerzte, während ich an den hübschen Läden vorbeitrottete, die Willow Falls ihren besonderen Charme verliehen. Dieser Abend sollte romantisch und unvergesslich werden. Stattdessen hallten Carters Worte in mir nach und ließen mich alles hinterfragen, was ich mir sehnsüchtig wünschte.

Unter anderen Umständen hätte mich sein Korb sicher nicht derart aus der Fassung gebracht. Schließlich war es nicht so, dass ich allein nicht klarkam oder jemand anderen brauchte, um meinen Selbstwert zu definieren. Ich wusste, dass ich geliebt und respektiert wurde. Das Problem war, dass mir die Einsamkeit in letzter Zeit zunehmend zu schaffen machte. Ich wusste nicht genau, woran das lag.

Vielleicht waren ja die vielen scheißglücklichen Paare in meiner Umgebung schuld.

Alan und Lewis waren jetzt verlobt. Cassie und Jared schwebten seit einem Jahr auf Wolke sieben, und selbst zwischen Owen und Reese knisterte es so gewaltig, dass man nur vom Zusehen einen Schlag bekam, obwohl die beiden sich die meiste Zeit gegen ihre Gefühle wehrten.

In meiner Familie sah es nicht anders aus. Meine Eltern waren seit zweiunddreißig Jahren glücklich verheiratet. Mein ältester Bruder Devon war inzwischen zweifacher Vater und sprühte nur so vor Energie und Lebensfreude. Mein zweitältester Bruder Scott und seine Frau hatten im Frühling einen zuckersüßen Sohn bekommen. Sie beklagten sich ständig über den Schlafmangel, aber das Leuchten in ihren Augen strafte ihre Worte Lügen. Sogar Ryder, der bloß ein Jahr älter war als ich, hatte ständig eine neue Freundin.

Ich gönnte ihnen allen ihr Glück von Herzen. Aber manchmal hatte ich das Gefühl, die einzige alleinstehende Frau von Willow Falls zu sein.

Natürlich war das Schwachsinn. Auch in unserem beschaulichen Städtchen gab es einige Singles. Aber keiner von ihnen kam für mich als Partner infrage, und umgekehrt interessierte sich auch niemand auf diese Art für mich.

Deshalb war ich ja so froh gewesen, als Carter in mein Leben getreten war. Ja, er war nicht perfekt. Sein Selbstbewusstsein grenzte an Narzissmus, er war eher ein durchschnittlicher Küsser, und er hatte es in dreieinhalb Monaten nicht auf die Kette gekriegt, sich den Namen meiner besten Freunde zu merken. Aber ich hatte auch meine Ecken und Kanten. Daher war ich bereit gewesen, über diese kleinen Schwächen hinwegzusehen und es wenigstens auf einen Versuch ankommen zu lassen. Ich war gewillt gewesen, mich um diese Beziehung zu bemühen.

Umgekehrt war das aber offensichtlich zu viel Aufwand.

Frustriert blieb ich stehen und spähte in die schmale Seitenstraße, in der ich lebte. Carters Wagen war zum Glück schon weg, und ich konnte meinen Weg unbehelligt fortsetzen.

Die Gebäude hier gingen nahtlos ineinander über und verfügten über drei Stockwerke. Im Erdgeschoss wurde das Woody’s flankiert von einem Delikatessengeschäft und einer eleganten Lingerie. Direkt gegenüber lag Dr. Bells Arztpraxis mit angeschlossenen Therapieräumen. Letztere waren allerdings seit zwei Wochen geschlossen, nachdem Easton, der einzige Physiotherapeut der Stadt, zu seiner Tochter nach Quebec gezogen war.

Zwischen dem Delikatessengeschäft und meinem Laden gab es eine schmale Einfahrt, die in einem wunderschönen Hinterhof mündete. Von dort aus gelangte ich durch eine Hintertür in meine Werkstatt, und es war auch der einzige Weg zu Eastons ehemaligem Apartment.

Normalerweise war das Tor zwischen Einfahrt und Hinterhof zu. Aber heute parkte dort ein SUV, und das Tor stand sperrangelweit offen. Wie es schien, hatte Mr Baxter das Apartment bereits neu vermietet und vergessen, ihm oder ihr Bescheid zu sagen, dass das Tor immer geschlossen bleiben musste.

Also zwängte ich mich an dem dicken SUV vorbei und pflasterte mir mein schönstes Lächeln ins Gesicht, um meinen neuen Nachbarn oder meine Nachbarin zu begrüßen und ihn oder sie darauf hinzuweisen, wie wichtig die Angelegenheit mit dem Tor war.

Der Hinterhof gehörte mit zu meinem Grundstück und war so etwas wie mein persönliches Outdoor-Atelier. Im Zentrum stand ein Apfelbaum, den Dad und Devon nach meinem Einzug gepflanzt hatten, damit ich immer einen Blick auf mein Zuhause hatte. Natürlich hatte ich die beiden ausgelacht, als sie mit dem Teil angekommen waren, weil wir ja immer noch in derselben Stadt lebten. Aber inzwischen liebte ich meinen sechs Meter hohen Baum sehr. Ich hatte im Frühling Hunderte Lichterketten in die Baumkrone gebastelt, die den ganzen Hof in ein zauberhaftes Licht tauchten. Gleich darunter stand eine Holzbank, die ich selbst gebaut hatte.

Links befand sich gleich vor meiner Werkstatt ein größerer Arbeitsbereich mit einem schweren Holztisch, auf dem ich normalerweise Skulpturen und Geschirr herstellte. Dazu gab es in einem großen Gatter einen ganzen Berg zerstückelter Baumstämme in ihrer Rohform. Da ich das Arbeiten mit feuchtem Holz bevorzugte, musste ich mir im Moment noch keine Gedanken um Regenschutz machen. Nur meine Werkzeuge ließ ich niemals draußen liegen, denn erstens waren sie sehr empfindlich und zweitens scheißteuer. Und ich wollte nicht, dass sie kaputtgingen.

Auf der rechten Seite befand sich Eastons ehemaliges Apartment. Die Eingangstür stand offen, und das Licht war eingeschaltet. Aber noch konnte ich nicht erkennen, wer dort eingezogen war.

Ein Fiepsen lenkte meine Aufmerksamkeit wieder weg von dem Apartment und hin zu dem begehbaren Gehege, das sich im hinteren Teil des Innenhofs erstreckte. Es wurde von drei Hauswänden und einem Metallzaun begrenzt und war fast drei Meter hoch. Der Boden war vollständig mit Sägespänen bedeckt. Auf die linke Seite hatte ich ein mehrstöckiges Holzhaus gebaut, das zahlreiche Rückzugsorte und Schutz vor der Kälte bot. Im restlichen Außenbereich zog sich ein größeres Klettergerüst quer durch das Gehege. Außerdem gab es ein Tunnelsystem, Kletterseile, Spielzeuge, Futternäpfe und Hängematten. Eben alles, was meine drei Lieblinge so brauchten.

Lächelnd trat ich neben den gemütlichen gepolsterten Korbsessel vor das Gehege, um das Frettchen-Trio zu begrüßen, das seit zwei Jahren hier lebte. Ich hatte sie als Welpen in einer Box neben einer Landstraße gefunden, wo sie irgendein Vollidiot ausgesetzt hatte. Es war nie mein Plan gewesen, sie zu behalten. Aber sie waren einfach so verdammt niedlich, dass ich sie nicht mehr hergeben konnte.

Cherry war eine kuschelbesessene, rotbraune Fähe mit einer rosa Nase. Ihre Brüder Chestnut und Birch hatten beide dunkleres Fell, besaßen aber komplett unterschiedliche Charaktere. Chestnut war neugierig und verspielt, Birch hingegen furchtbar ängstlich. Er kam nur selten aus dem Gehege, obwohl ich die drei immer im Hinterhof herumstromern ließ, während ich arbeitete. Auch jetzt schien ihn die Ankunft des neuen Mieters sehr zu stressen, denn im Gegensatz zu Cherry und Chestnut kam er nicht aus seiner Höhle gekrochen.

»Na, meine Süßen«, murmelte ich, während die beiden quietschvergnügt über das Klettergerüst flitzten. Ihr Anblick sorgte dafür, dass mir ein wenig leichter ums Herz wurde und die Trennung von Carter in den Hintergrund rückte – wobei Trennung im Grunde zu viel gesagt war. Wir waren ja nicht einmal richtig zusammen gewesen. Ich stieß eine Mischung aus Schnaufen und Lachen aus. »Sieht aus, als hättet ihr heute Abend wesentlich mehr Spaß gehabt als ich.«

Etwas Flauschiges strich um meine Kniekehlen und schickte ein sanftes Brummen durch meine Haut. Murphy, mein zwölf Jahre alter, überaus griesgrämiger pechschwarzer Maine Coon Kater, schien meine miese Stimmung ebenfalls zu spüren. Zum Glück liebte er mich heiß und innig und kam daher nicht mal auf die Idee, durch das offene Tor abzuhauen.

Ich warf einen Blick über die Schulter, um nach dem neuen Mieter zu schauen, aber er oder sie schien immer noch im Apartment beschäftigt zu sein.

Cherry fiepste erneut, woraufhin ich mich wieder zu ihr umdrehte. Sie wand sich um einen dicken Ast, sauste auf mich zu und kletterte am Gatter hoch, bis sie auf Höhe meines Gesichts war. Ihre braunen Knopfaugen musterten mich forschend, während ihre Nase zuckte. Sie sah aus, als würde sie mir im Geiste eine Kopfnuss verpassen.

Belustigt legte ich meine Hand auf das Metallgatter, woraufhin sie sanft an meiner Fingerspitze knabberte.

»Du hast vollkommen recht. Lewis hat Ja gesagt. Alan und er sind überglücklich, und ich freue mich für die beiden. Ich werde nicht zulassen, dass Carter mir das kaputt macht. Er glaubt, ich bin es nicht wert …« Vorsichtig strich ich mit dem Zeigefinger über Cherrys Stirn. »Aber er liegt falsch. Er hat mich nicht verdient.«

Murphy fauchte. Da er das ziemlich oft tat, wertete ich das zunächst als Zustimmung. Doch dann ließ Cherry plötzlich von mir ab und sauste davon, während Chestnut auf ein Tunnelloch zuschoss. Er war gerade abgetaucht, als Murphy ein tiefes Knurren von sich gab.

Irritiert senkte ich den Blick zu meinem Kater, der jemanden hinter mir fixierte. Sein ohnehin schon plüschiger Schwanz hatte sich aufgeplustert, und dank des Buckels, den er machte, sah er nun aus wie ein schwarzer, explodierter Wattebausch.

»Das ist aber nicht sehr gastfreundlich«, tadelte ich meinen Kater und tätschelte kurz seinen Kopf, ehe ich mich umdrehte.

Ein Mann stand gleich neben der Eingangstür. Da er vom Licht des Apartments angestrahlt wurde, konnte ich zunächst nur seinen Umriss erkennen: breite Schultern, das typische V eines durchtrainierten Oberkörpers, schmale Hüften, lange Beine in tiefsitzenden Jeans.

Ich war kein oberflächlicher Mensch, aber ganz objektiv betrachtet schien mein neuer Nachbar überaus gut gebaut zu sein.

Positiv überrascht ging ich auf ihn zu. Mein Lächeln war absolut echt. »Hi, mein Name ist …«

»Paige.«

Irritiert hielt ich inne. Ich war mir absolut sicher, dass ich diese Stimme nicht kannte. Sie war auffallend tief und ein wenig rau. Irgendwie sexy. »Ja, woher weißt du das?«

Anstelle einer Antwort rieb er sich fluchend über das Gesicht, und jeder Muskel in mir erstarrte zu Eis.

Zugegeben, ich war in meinem Leben noch nicht so viel rumgekommen. Aber ich kannte einige Leute – und niemand sagte Fudge!

Niemand, bis auf eine Person.

Mein Magen verkrampfte sich so heftig, dass mir schlagartig kotzübel wurde. »Miles?«

Er machte einen Schritt auf mich zu, woraufhin der Schein der Lichterkette auf ihn fiel. Sein Haar war an den Seiten kürzer. Einige Strähnen fielen ihm tief in die Stirn und überdeckten seine dunklen Brauen, unter denen mich stahlgraue Augen aufmerksam musterten. Seine Züge waren scharf gezeichnet und erinnerten nur noch entfernt an den großspurigen Achtzehnjährigen, den ich einmal gekannt hatte.

Mein Gott! Er war es wirklich. Miles Chamberlain, der einstmals beste Freund meines Bruders.

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Was zur Hölle machst du hier?«

Er deutete hinter sich. »Ich ziehe hier ein.«

»Das sehe ich selbst«, fauchte ich, während ich gegen eine ganze Flut von unliebsamen Erinnerungen ankämpfte. Zum ersten Mal seit Jahren überkam mich das Bedürfnis, die Finger in mein Haar zu schieben und die wulstige Narbe über meinem linken Ohr nachzufahren. Früher hatte ich das ständig getan, wenn ich unsicher oder nervös gewesen war. Inzwischen hatte ich diesen Tick allerdings überwunden, und ich würde wegen Miles sicher nicht in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Stattdessen ballte ich die Fäuste. »Ich meine, was machst du in Willow Falls?«

»Ich übernehme die Physiotherapie in Dr. Bells Praxis«, erklärte er tonlos.

Oh, nein. Verdammt noch mal! Das durfte doch nicht wahr sein.

Mein Entsetzen stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Miles verschränkte angespannt die Arme. »Es ist nur für ein paar Wochen, bis meine Mutter jemanden gefunden hat, der den Job dauerhaft macht. Danach verschwinde ich sofort wieder aus der Stadt.«

Wenigstens ein kleiner Silberstreif am pechschwarzen Horizont.

Trotzdem wollte ich heulen. Ich wusste von Reese, wie dringend sie und Dr. Bell nach einem Ersatz für Easton suchten, um auch in Zukunft die Versorgung der Patienten sicherzustellen. Aber letzte Woche hatten sie immer noch keinen passenden Therapeuten gefunden, obwohl Easton bereits weggezogen war.

Und nun stand ich hier vor dem Mann, der vor acht Jahren das Leben meines Bruders zerstört und meins beinahe komplett beendet hätte. Ich konnte ihn nicht wegschicken, sondern musste einfach hinnehmen, dass wir ab sofort Nachbarn waren.

Mir schossen Tränen in die Augen. Normalerweise war ich nicht nah am Wasser gebaut, aber das … das war mir echt zu viel. Erst der Scheiß mit Carter, und jetzt tauchte auch noch dieser … dieser Trigger hier auf und versetzte mich zurück an den schlimmsten Tag meines Lebens.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und marschierte auf meine Werkstatt zu.

»Peach!«

Ich versteifte mich, als ich den vertrauten Spitznamen aus seinem Mund hörte. Als kleiner Junge hatte Ryder meinen echten Namen nie richtig ausgesprochen, und natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis mich auch der Rest meiner Familie so genannt hatte. Irgendwann hatte Miles diese Angewohnheit einfach übernommen.

Aufgebracht wirbelte ich herum. »Nenn mich nie wieder so!«

Er nickte knapp. »Tut mir leid.«

Plötzlich brach ein hysterisches Lachen aus mir heraus. »Ach, auf einmal kannst du dich entschuldigen?«

Er zögerte. »Das wollte ich damit nicht sagen.«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich hart, wobei meine Stimme vor Sarkasmus nur so triefte. »Das hast du ja noch nie getan. Warum solltest du dich auch entschuldigen, nachdem du mich beinahe überfahren hättest, weil du rotzbesoffen in dein Auto gestiegen bist? Du hast mich ja nicht erwischt, nicht wahr? Du konntest nichts dafür, dass ich vor lauter Panik so blöd war, zur Seite zu hechten und mit dem Kopf voran gegen diesen dämlichen Feldstein zu donnern.« Mit einem zynischen Grinsen reckte ich das Kinn vor. »Und natürlich war es auch nicht deine Schuld, dass sich mein Bruder mehrere Rippen gebrochen hat, als du mir heldenhaft ausgewichen und in diesen verdammten Apfelbaum gekracht bist. Du hast absolut nichts falsch gemacht, richtig? Warum also solltest du dich nach acht Jahren verdammt noch mal entschuldigen?«

Meine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden und hallte zum Schluss so laut von den Wänden wider, dass Murphy grummelnd durch die Katzenklappe in der Werkstatttür verschwand.

Miles starrte mich an. »Ich habe mich nie entschuldigt, weil ich keine Vergebung für das verdiene, was ich dir und deiner Familie angetan habe.«

Vor lauter Wut löste sich eine Träne aus meinem Auge und rollte über meine Wange. Hastig wischte ich sie weg. »Wag es ja nicht, hier die Opferrolle zu spielen, Chamberlain. Ryder war dein bester Freund – und du hättest uns beide beinahe umgebracht!«

»Ich weiß«, erwiderte er ohne jedes Gefühl in der Stimme. Da war auch keine Reue in seinen rauchgrauen Augen, nur Leere. »Kann ich irgendwas tun, um meinen Aufenthalt hier für dich angenehmer zu machen.«

Nun, da musste ich sicher nicht zweimal überlegen. »Zieh gleich wieder aus.«

Langsam schüttelte er den Kopf. »Das geht nicht. Meine Mutter hat unser Haus vor ein paar Jahren verkauft und wohnt jetzt mit einer Freundin zusammen. Dort ist kein Platz für mich.«

»Dann such dir halt was anderes.«

Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. »Du weißt selbst, dass es keine freien Apartments in dieser Stadt gibt.«

»Nicht mein Problem.« Ich warf ihm ein kühles Lächeln zu. »Von mir aus kannst du auch unter einer Brücke pennen.«

Seine Augen flackerten auf. Es war das erste Anzeichen einer Emotion, das ich bei ihm sah. Allerdings konnte ich nicht einschätzen, welches Gefühl mein Kommentar in ihm auslöste. Und offen gestanden war es mir auch egal.

»Ich bleibe.«

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Die Vorstellung, dass ich ihm ab sofort tagtäglich begegnen könnte, war mehr, als ich gerade ertragen konnte. Aber ich weigerte mich, ihn noch länger sehen zu lassen, wie sehr mir seine Anwesenheit zusetzte.

»Tja, wenn das so ist …« Ich warf ihm einen herablassenden Blick zu. »Dann lass mich in Zukunft wenigstens in Ruhe. Sprich nicht mit mir. Sieh mich nicht an. Tu einfach das, was du die letzten Jahre getan hast: Absolut gar nichts.«

Kapitel 3

Miles

Schuld und Scham waren in den letzten Jahren meine ständigen Begleiter gewesen. Aber selten hatten sie meinen Brustkorb so brutal torpediert wie in dem Moment, in dem mir Paige Montgomery den Rücken zuwandte und im gegenüberliegenden Gebäude verschwand.

Frustriert rieb ich mir über das Gesicht.

Na, das war ja großartig gelaufen. Einfach ganz toll.

Nur fürs Protokoll: Ich war kein totaler Idiot. Natürlich war mir klar gewesen, dass wir uns in einer winzigen Stadt wie Willow Falls früher oder später begegnen würden. Aber ich hatte sicher nicht damit gerechnet, sie unmittelbar nach meiner Ankunft zu treffen und dann auch noch zu erfahren, dass wir jetzt Nachbarn waren. Unser Wiedersehen hatte mich eiskalt erwischt. Vor allem, weil ich keinen verdammten Schimmer hatte, was ich ihr sagen sollte. Schließlich hatte sie mit jedem einzelnen Vorwurf recht.

Ich hatte mich nach dem Unfall nie bei ihr gemeldet und es Moms Anwalt überlassen, den ganzen rechtlichen Scheiß mit den Montgomerys zu klären, weil ich einfach nicht wusste, wie ich dieser Familie noch in die Augen sehen sollte.

Seit ich mit Ryder in den Kindergarten gegangen war, hatten Bowen und Glenda mich wie einen vierten Sohn behandelt. Sie hatten mich bei jedem Eishockeyspiel angefeuert, mir Dampf gemacht, wenn ich zu rebellisch wurde, und mich mit Zuneigung und Wärme überschüttet. Wie sagte man solchen Menschen, wie sehr man es bedauerte, dass man für die schweren Kopfverletzung ihrer einzigen Tochter und die Rippenbrüche ihres jüngsten Sohnes verantwortlich war? Wie sagte man ihren beiden älteren Brüdern, die einem stets den Rücken freigehalten hatten, wie sehr man sich wünschte, dass man nach der Highschoolabschiedsparty nicht in sein verdammtes Auto gestiegen wäre?

Als ich damals erfahren hatte, wie schwerwiegend die Verletzungen von Paige und Ryder gewesen waren, hatte ich mir stundenlang die Seele aus dem Leib gekotzt.

Meine Mutter hatte versucht, mich dazu zu bewegen, in das vierzig Meilen entfernte Krankenhaus zu fahren, um mit den Montgomerys persönlich zu sprechen. Aber ich hatte Ryder lediglich einen Brief geschrieben und war abgehauen.

Wir hatten uns erst ein paar Monate später bei der Gerichtsverhandlung wiedergesehen, aber auch dort kein Wort miteinander geredet. Seine Rippenverletzungen waren zu dieser Zeit wieder verheilt, und er studierte im ersten Semester an der University of Alberta in Edmonton, an der er dank seiner herausragenden Eishockeyleistungen ein Vollstipendium erhalten hatte. Paige dagegen war nicht bei Gericht erschienen.

Ich hatte sie heute zum ersten Mal seit jener Nacht wieder gesehen.

Obwohl sie für mich nie mehr als Ryders kleine Schwester gewesen war, hatte ich schon damals registriert, wie hübsch sie war. Aber inzwischen war sie regelrecht atemberaubend. Ihr langes blondes Haar und ihre großen blauen Augen ließen sie auf den ersten Blick wie einen süßen Unschuldsengel erscheinen, doch ihre üppigen Kurven waren nun deutlich ausgeprägter und heiß wie die Hölle. Diese Frau war die pure Versuchung; ein echter Hauptgewinn, der offensichtlich auch charakterlich etwas zu bieten hatte, denn Paige war klug, sanftmütig (zumindest den Tieren gegenüber) und schmerzhaft ehrlich und direkt.

Wer immer dieser Carter war, über den Paige mit ihren Tieren gesprochen und der ihr anscheinend das Gefühl gegeben hatte, wertlos zu sein, war offenbar ein blinder Vollpfosten. Aber meine Meinung in dieser Sache war sicher das Letzte, was Paige von mir hören wollte.

Genau genommen wollte sie gar nichts von mir hören.

Beklommen rieb ich mir über die Brust, bevor ich zu meinem SUV ging und noch ein paar Lebensmittel aus dem Kofferraum holte. Anschließend kehrte ich in das möblierte Apartment zurück, das Mom mir für die Dauer meines Aufenthalts organisiert hatte. Es war nicht besonders groß, reichte aber für meine Bedürfnisse vollkommen aus. Außerdem war die Miete so gering, dass ich mein Apartment in Montreal nicht extra hatte kündigen müssen.

Gleich rechts neben der Eingangstür befand sich das Schlafzimmer mit einem hochwertigen Boxspringbett. Vermutlich hatte es meine Mutter neu gekauft. Dahinter lag ein kleines Badezimmer. Der Rest des Apartments besaß ein offenes Raumkonzept. Links gab es eine voll ausgestattete Küchenzeile, die durch einen erhöhten Küchentresen mit Barhockern optisch vom Wohnbereich abgetrennt wurde. In diesem stand lediglich ein blaues Sofa und ein recht ungewöhnlicher Couchtisch aus Holz. Dazu verteilten sich ein paar Kommoden im Raum.

Meine Mutter war gerade dabei, ein paar meiner Fachbücher in einem Regal zu arrangieren. Sie trug eine schicke Stoffhose und einen Wollpullover, ihr braunes Haar hatte sie zu einem Knoten auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. Obwohl sie mich zweifellos bemerkt hatte, schaute sie mich nicht an.

Ich wusste, dass sie mein Gespräch mit Paige eben belauscht hatte – und sie wusste, dass ich es wusste.

Schweigend stellte ich die Einkaufstüten auf den Küchentresen, bevor ich ein paar Lebensmittel in den Kühlschrank packte.

Hinter mir stieß Mom ein Seufzen aus. »Ich hätte dich vorwarnen sollen, dass Paige gegenüber wohnt.«

O ja, das hätte sie allerdings.

Ich schloss die Kühlschranktür und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen die Anrichte. »Was du nicht sagst.«

»Tut mir leid, Schatz.« Mit zerknirschter Miene richtete sie sich auf und kam auf mich zu. »Ich hatte Angst, dass du einen Rückzieher machst, wenn ich dir davon erzähle.«

»Hätte ich nicht«, erwiderte ich tonlos.

Ich hatte lange mit mir gehadert, ob ich wirklich nach Willow Falls zurückkehren sollte. Aber als mich meine Mutter noch drei weitere Male angerufen und immer verzweifelter geklungen hatte, hatte mein schlechtes Gewissen doch gesiegt. Nach allem, was passiert war, war ich es ihr einfach schuldig, ihr zumindest bei dieser Herzensangelegenheit zu helfen. Deshalb hatte ich letztlich doch zugestimmt, den Job für eine Weile zu übernehmen.

»Na ja, jetzt bist du hier.« Mom verschränkte ebenfalls die Arme. »Du könntest ebenso gut versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen.«

Ich warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Hat dieses Gespräch mit Paige auf dich so gewirkt, als hätte ich auch nur die geringste Chance auf ihre Vergebung?«

»Nun …« Sie zog eine Braue hoch. »Bisher hast du noch nicht besonders viel getan, um dir ihre Vergebung zu verdienen.«

»Tja, ich bezweifle, dass ein paar Blumen oder ein Obstkorb die Sache aus der Welt schaffen würden.«

Mom runzelte die Stirn. »Dann willst du also gar nichts unternehmen?«

Mein Magen verkrampfte sich erneut. »Paige will, dass ich sie in Ruhe lasse. Also werde ich genau das machen.«

»Und was ist mit Ryder?«, hakte sie sichtlich unzufrieden nach. »Jetzt, wo du wieder hier bist, könntet ihr eure Freundschaft vielleicht kitten und …«

»Da gibt es nichts zu kitten, Mom. Dieser Unfall hat Ry seine Profisportkarriere gekostet. Er konnte nicht mal sein Studium beenden, weil seine Lunge nicht mehr mitgemacht hat.«

Das wusste ich, weil mich meine Mutter über die Jahre hinweg immer auf dem Laufenden gehalten und mich regelmäßig mit Infos versorgt hatte. Selbst wenn ich sie gar nicht hören wollte.

Trotzig reckte sie das Kinn vor. »Dass Ryder sein Sportstipendium verloren hat, weil er nicht mehr die erforderlichen Leistungen erbringen konnte, war sehr bedauerlich. Aber er hätte sein Studium deshalb nicht ganz abbrechen müssen. Er hätte trotzdem einen guten Abschluss machen und einen alternativen Karriereweg im Sport einschlagen können. Diese Entscheidung hat er ganz allein getroffen.«

Angespannt schüttelte ich den Kopf. »Er wollte aber selbst aufs Eis.«

»Das wolltest du auch«, schoss sie ungerührt zurück.

Ich knirschte mit den Zähnen. Manchmal war es einfach nur anstrengend, mit einer Frau zu diskutieren, die den ganzen Tag nichts anderes machte. Sie hatte einfach immer ein passendes Gegenargument.

Dabei konnte man Ryder und mich in dieser Hinsicht wirklich nicht vergleichen. Er war das große Ausnahmetalent gewesen, der Junge mit dem perfekten Puckhandling, der überdurchschnittlichen Agilität und der herausragenden Spielintelligenz. Die Colleges hatten sich um ihn gerissen. Ich dagegen hatte kein einziges Angebot erhalten, was mich offen gestanden nicht einmal sonderlich überrascht hatte. Ich liebte Eishockey. Das tat ich heute noch. Aber ich hatte als Teenager einfach nicht genug Ehrgeiz gehabt, um jede Minute auf dem Eis zu verbringen. Stattdessen war ich lieber feiern gegangen oder hatte Zeit mit einem Mädchen verbracht.

Inzwischen war das anders. Ich wusste ganz genau, wohin mich mein Weg führen sollte.

»Nun, Ryder lebt wieder bei seinen Eltern auf der Apfelplantage«, warf meine Mutter ein, bevor sie nach ihrer Handtasche auf der Anrichte griff. »Ich finde, du solltest ihm mal einen Besuch abstatten.«

Ich warf ihr einen scharfen Blick zu. »Und ich finde, du solltest aufhören, auf diesem Thema rumzureiten.«

Sie ließ sich von meinem schroffen Tonfall nicht beirren. »Denk wenigstens darüber nach. Vielleicht schafft ihr es ja, endlich mit diesem schrecklichen Unfall abzuschließen.«

Ich wollte erwidern, dass ich längst damit abgeschlossen hatte. Aber es wäre eine Lüge gewesen, die meine Mutter mühelos durchschaut hätte. Also schwieg ich.

Sie lächelte. Zweifellos glaubte sie, mit ihrer Argumentation etwas bewirkt zu haben. Aber ihre Hoffnung war vergebens.

»Wollen wir morgen zusammen frühstücken?«

Als würde ich mich freiwillig öfter als nötig in der Innenstadt blicken lassen.

Ich schüttelte den Kopf. »Dr. Bells Assistenzärztin hat mir vorhin eine Mail geschrieben. Sie will sich morgen Vormittag mit mir in der Praxis treffen, um mir in Ruhe alles zu zeigen, den Papierkram zu erledigen und ein paar Patientenakten durchzugehen. Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird.«

Moms Miene hellte sich auf. »Nun, dann möchte ich dir und Ms Holloway nicht im Weg stehen.« Sie zwinkerte mir zu. »Sie ist übrigens Single.«

Okay, was immer meine Mutter hier andeutete, würde unter keinen Umständen passieren. Ich würde meinen Job in der Praxis erledigen und wieder verschwinden, sobald sie einen Ersatz für mich gefunden hatte. Aber da ich ihrer Euphorie nicht gleich wieder einen Dämpfer verpassen wollte, nickte ihr nur und begleitete sie hinaus.

»Oh, eins noch«, sagte sie, als sie über die Schwelle trat. »Paige lässt ihre drei Frettchen täglich raus. Deshalb muss das Tor zum Hinterhof immer geschlossen bleiben.«

»Alles klar.« Mein Blick huschte zu dem riesigen Gehege.

Paige hatte Tiere schon immer geliebt und ständig welche zur Plantage geschleppt – sehr zum Leidwesen ihrer Eltern, die ihr dann erklären mussten, dass wilde Waschbären kein geeignetes Haustier waren. Nur bei dem Kater war die ganze Familie schwach geworden.