The Return of Ellie Black - Emiko Jean - E-Book

The Return of Ellie Black E-Book

Emiko Jean

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Beschreibung

»Ein atemberaubender Pageturner! Ich bin durch die Seiten geflogen bis zum allerletzten schockierenden Twist.« Stephen King

In einer Frühlingsnacht verlässt die 17-jährige Ellie allein eine Highschool-Party in Coldwell, Washington State. Auf dem Weg wird sie plötzlich von hinten angegriffen. Eine Nadel sticht in ihren Arm, und alles wird schwarz …
Zwei Jahre später erhält Detective Chelsey Calhoun einen unfassbaren Anruf: Ellie wurde in den Wäldern von Washington State gefunden – sie ist vollkommen verstört, aber sie lebt. Ellies Entführung war einer von Chelseys ersten Fällen, der ihr so nahe ging, wie kein anderer. Denn auch ihre große Schwester verschwand im Teenageralter. Chelsey stößt auf Parallelen und hofft, mit Ellies Hilfe endlich den Täter zu finden. Für Ellie, für ihre Schwester – und bevor er erneut zuschlägt. Doch Ellie schweigt …

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MOBI

Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

In einer Frühlingsnacht verlässt die siebzehnjährige Ellie allein eine Highschool-Party in Coldwell, Washington State. Auf dem Weg wird sie plötzlich von hinten angegriffen. Eine Nadel sticht in ihren Arm, und alles wird schwarz …

Zwei Jahre später erhält Detective Chelsey Calhoun einen unfassbaren Anruf: Ellie wurde in den Wäldern von Washington State gefunden – sie ist vollkommen verstört, aber sie lebt. Ellies Entführung war einer von Chelseys ersten Fällen, der ihr so nahe ging, wie kein anderer. Denn auch ihre große Schwester verschwand im Teenageralter. Chelsey stößt auf Parallelen und hofft, mit Ellies Hilfe endlich den Täter zu finden. Für Ellie, für ihre Schwester – und bevor er erneut zuschlägt. Doch Ellie schweigt …

Autorin

Emiko Jean veröffentlichte bereits erfolgreich Jugendbücher, mit denen sie es auf die New-York-Times-Bestsellerliste schaffte. »The Return of Ellie Black« ist ihr erster Thriller für Erwachsene. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Washington.

EMIKO JEAN

The RETURNof ELLIE BLACK

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Anne Fröhlich

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Return of Ellie Black« bei Simon and Schuster, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe August 2025

Copyright © 2024 by Emiko Jean

Copyright © dieser Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Collage unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Undrey, Nik Merkulov, n_n Chothip, FamiDu)

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

ES · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32308-0V002

www.goldmann-verlag.de

Für G & MDanke.Ich bin erschüttert, aber ich glaube noch.

Prolog

So fängt es an:

Mit einem Mädchen, das durch einen Wald rennt. Adrenalin rauscht durch ihre Adern, sie atmet flach und stoßweise. Sie hat Dreck unter den Fingernägeln, feuchten Schlamm an ihren Jeans, Blut auf dem Sweatshirt, ihr Atem riecht nach Erbrochenem.

Gleich.

Gleich ist sie zu Hause.

Bilder tauchen auf. Die einzige Ampel an der Main Street. Die abgesplitterten grünen Fensterläden an ihrem Elternhaus. Der verwitterte Boden im Fischkutter ihres Vaters.

In der Ferne dröhnt eine Hupe, und das Mädchen duckt sich, hält sich die Ohren zu, als das Geräusch durch ihren Schädel schneidet wie ein Angstschrei. Die Welt schrumpft zusammen und wird zu etwas Abstraktem, zu bunt und zu hell. Das Hupen verklingt, und die Bäume nehmen wieder Form an.

Sie zählt ihre Atemzüge, während ihr Herzschlag sich beruhigt. Eins. Zwei. Drei. Dann zählt sie ihre Schritte. Vier. Fünf. Sechs. Wie viele wird es brauchen, bis jemand sie findet? Sieben. Acht. Neun. Ihre Glieder sind schwer, die Füße müde. Sie hat einen weiten Weg zurückgelegt. Ihr Schatten liegt vor ihr, als würde sie ihn jagen – komm und fang mich. Zehn. Elf. Sie taumelt. Vielleicht sollte sie sich hinsetzen. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Sie zwingt sich, weiterzulaufen. Die Sonne hinter den grauen Wolken steigt höher. Die Luft riecht nach Kiefern und Harz. Nach Wasser und Moos. Nach Leben.

»Hey! Alles in Ordnung mit Ihnen?« Zwei Wanderer – Vater und Sohn – tauchen auf dem Pfad auf, biegen um die Kurve. Sie tragen vollgestopfte Rucksäcke, obendrauf zusammengerollte Schlafsäcke, an einem hängt ein Topf, an dem anderen baumeln zwei Blechtassen. Das Mädchen wird langsamer, als sie sich ihnen nähert.

Sechzehn. Siebzehn. Achtzehn.

Der Vater streckt den Arm aus, um seinen Sohn von ihr abzuschirmen, und sie zögert, gefangen im Würgegriff ihrer Blicke. Der Sohn hat braune Augen mit winzigen goldenen Einsprengseln, sie erinnern sie an jemanden, den sie einmal gekannt hat. Ihre Gedanken wandern zurück in die Vergangenheit.

Sag mir, was würdest du für jemanden tun, den du liebst?

Alles. Ich würde alles tun.

Der Vater räuspert sich. »Miss, alles in Ordnung?« Er mustert sie aufmerksam.

Sie stellt sich vor, was er sieht. Verdreckte Haut. Verfilztes Haar. Einen knochigen Körper. Ein Sweatshirt mit roten Flecken. Ein Wesen, das die Welt zerkaut und ausgespuckt hat.

Der Sohn rümpft die Nase.

»Miss?«, wiederholt der Vater mit Nachdruck und macht einen vorsichtigen Schritt auf sie zu.

Das Mädchen leckt sich über die trockenen, aufgesprungenen Lippen und bemüht sich um eine ruhige Stimme. »Ja?«

»Geht es Ihnen gut?«, fragt der Vater erneut.

Das Mädchen blinzelt. Schüttelt den Kopf. Starrt ins Leere. »Nein, ich glaube nicht.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Mein Name?« Wer ist sie? Was ist aus ihr geworden? Ein Gefäß. Zum Tragen. Aufbewahren. Füllen.

»Ja, wie heißen Sie?«, sagt der Vater langsam und deutlich.

Das Mädchen zögert. Der Name steckt irgendwo in ihr fest. In der tiefen, tiefen Dunkelheit, in der sie ihn versteckt hat. Um sicher zu sein. Erinnere dich nicht. Vergiss nie. Sie strafft die Schultern und greift danach.

»Elizabeth«, stößt sie in einem Atemzug hervor.

Sie hat diese vier Silben schon ewig nicht mehr ausgesprochen. Ihren Namen. Ihren echten Namen. Den Namen, den ihre Mutter ausgesucht hat, weil er klassisch und königlich war und alle Hoffnungen und Träume für das Leben ihrer Tochter enthielt. College, Karriere, Familie, Glück. Früher einmal hat das Mädchen diesen Namen mit Stolz getragen, wie eine Krone. Früher einmal gab es Menschen, die ihn ihr zärtlich zuflüsterten.

Mit einer letzten Anstrengung entringt sich das Mädchen ihren gesamten Namen. »Ich heiße Elizabeth Black. Ich glaube, ich werde vermisst.«

Eins

Chelsey wacht auf, weil ihr Telefon klingelt.

»Oh nein«, stöhnt Noah, ihr Mann. »Stell das ab.« Die Matratzenfedern quietschen, als er sich von ihr wegdreht.

Chelsey stützt sich auf einen Ellbogen und tastet nach dem Handy auf ihrem Nachttisch. Es ist kurz nach Mitternacht. Sie stellt den Ton aus und schaut auf das Display. »Die Arbeit.«

»Wehe, es geht nicht mindestens um Leben und Tod«, murmelt Noah.

Chelsey lächelt über Noahs trockenen Humor. Sie ist Polizistin, Kriminalbeamtin. Da ist es nicht unwahrscheinlich, dass es um Leben und Tod geht.

»Detective Calhoun«, meldet sie sich, knipst das Licht an und rutscht an den Rand der Matratze. Ein Frösteln läuft ihr über den Rücken, der Frühling in Coldwell Beach ist immer kühl. Der Sommer auch. Wenn es ein paar Tage gibt, an denen die Temperaturen über achtzehn Grad steigen, können die Einheimischen froh sein. Dieser Küstenabschnitt in Washington liegt zwischen Felsklippen und ist bekannt für sein unbeständiges Wetter. Lewis und Clark haben ihn auf ihrer Karte als »unbewohnbar« markiert.

»Chelsey.« Es ist ihr Chef, Sergeant Abbott. Inzwischen zuckt sie mit keiner Wimper mehr, wenn er sie mit ihrem Vornamen anredet. Es spielt keine Rolle, dass er ihre männlichen Kollegen mit Nachnamen und Sie anspricht. Gar keine Rolle. »Hab einen Anruf bekommen. Man hat ein Mädchen gefunden.« Sergeant Abbott macht eine kurze Pause. »Sie hat sich selbst als Elizabeth Black zu erkennen gegeben.«

Jetzt zuckt Chelsea doch mit der Wimper. Ellie Black. Am Leben? Es ist zwei Jahre her. Sie steht abrupt auf und stellt das Telefon auf laut.

Noah macht seine Nachttischlampe an. Er trägt eine Goldkette mit zwei Anhängern um den Hals, eine Einundzwanzig, seine alte Basketball-Nummer, und ein Medaillon mit einem Heiligen, Chelsey hat vergessen, welcher es ist, irgendein spiritueller Held im Kampf gegen das Böse. »Was ist?« Noah setzt sich auf und kratzt sich am Bart.

Sie legt den Finger an die Lippen, dann fischt sie ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Nachttischschublade, während Abbott seine Informationen herunterspult. Wanderer im Capitol State Forest haben Ellie Black gefunden. Er gibt Telefonnummern durch. Ellie ist ins Legacy Memorial Hospital gebracht worden. Chelsey googelt den Namen. Es ist in Olympia, zwei Stunden von East Coldwell entfernt.

»Ich will, dass du ins Krankenhaus fährst.«

»Bin schon unterwegs.« Sie schlüpft in ihre Jeans.

»Ich hab Douglas zu dem Wanderweg geschickt, auf dem sie aufgetaucht ist.«

Eine unangenehme Pause. Douglas. Sergeant Abbotts Sohn. Sie kennt ihn, seit sie Kinder waren. Ihre Väter waren beide Polizisten. Der von Chelsey hatte eine höhere Position, er war Hauptkommissar. Und Dougs Vater war noch kein Sergeant, nicht Chelseys Vorgesetzter, so wie heute. Doug ist etwas älter als sie. Er hat ein paar Jahre herumgegammelt, bevor er in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist. Abbott hat ihn vor Kurzem zum Detective befördert, wie Chelsey, die allerdings mehr Stunden dafür abgeleistet hatte. Sie hat kein Problem damit. Wirklich nicht. Doug und sie haben ohnehin nicht viel miteinander zu tun. Sie arbeitet beim Familien- und Jugenddezernat, er bei der Drogenfahndung.

Sie muss an eins der früheren Betriebsfeste auf dem Polizeirevier denken, es war ein Gartenfest. Als sie noch Kinder waren. Als Lydia, Chelseys Schwester, noch lebte. Doug machte sich mit einer Gruppe von Jungs über Chelsey lustig. Fragte sie, ob sie in einer Bento Box geliefert worden sei. Chelsey war ein Adoptivkind, ihre leiblichen Eltern Japaner. Der Rest der Familie war blond und hellhäutig. Selbst jetzt, über dreißig Jahre später, sitzt die Erinnerung noch tief: Sie spürt förmlich die Wassermelone, die in ihrem Magen gärt, sieht, wie die Sonne hinter Wolken verschwindet. Hört ihr eigenes Lachen, das erstirbt und dann unter einer Eiche stummen Tränen Platz macht. Danach lief Chelsey immer mit gesenktem Kopf herum, den Blick zu Boden gerichtet. Später hat sich einer ihrer festen Freunde einmal darüber lustig gemacht, ihren gebückten Gang imitiert. Inzwischen hat Chelsey viel erreicht, aber sie muss immer noch daran denken – an Doug, an ihren Ex-Freund, an andere Menschen wie diese beiden in ihrem Leben. Die Erinnerung ist wie ein Arm, der versucht, sie herabzuziehen.

»Chelsey, bist du noch da?«

Sie schluckt zweimal. »Ja, bin ich.«

»Wenn es Ellie Black ist, will ich, dass der Verantwortliche gefunden wird. Ich will eine Verhaftung und zwar bald.«

Der Befehlston widerstrebt Chelsey, aber sie verdrängt das Gefühl. »Verstanden.« Sie schlüpft in ihr T-Shirt, das Telefon in der Hand.

»Die Medien werden sich darauf stürzen«, fährt er fort. »Alle werden genau hinsehen. Ich auch. Keine Fehler.«

»Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

»Tu das«, sagt er.

Chelsey beendet den Anruf, zieht sich fertig an und bindet sich das Haar zu einem tiefsitzenden Pferdeschwanz. Schuhe. Wo sind ihre Schuhe?

»Hab ich richtig gehört? Ellie Black ist gefunden worden?« Noah folgt ihr durch die Wohnung. Es ist ein hübsches Apartment. Gemietet und befristet. Die Wände sind weiß, die Decke rau verputzt. Ein Sofa, ein Esstisch. Das meiste gehört Noah, auch die beiden gerahmten Battlestar-Galactica-Poster. Das eine zeigt eine gereckte Faust mit den Worten So say we all darunter, auf dem anderen ist die Silhouette einer schönen Frau zu sehen, mit Robotermenschen im Hintergrund, ganz oben der Schriftzug Never forget who the enemy is. Chelsey und Noah sind beide Science-Fiction-Fans.

»Ist noch nicht bestätigt«, erwidert sie.

Es passiert nicht oft, aber ein- oder zweimal ist es während Chelseys Karriere schon vorgekommen, dass jemand sich gemeldet und behauptet hat, ein vermisstes Kind zu sein, mit der Absicht, die gramerfüllten Eltern um Geld zu betrügen. Ellies Eltern haben ein paar Wochen, nachdem ihre Tochter verschwunden war, ihr Haus verpfändet, um eine Belohnung von 50 000 Dollar aussetzen zu können. Aber in diesem Fall ist ein solcher Betrugsversuch unwahrscheinlich, denn Ellie ist noch nicht so lange verschwunden, dass man sie nicht wiedererkennen würde. Zwei Jahre und zwei Wochen, um genau zu sein. Chelsey hat das Datum in ihren Kalender eingetragen.

»O Gott, und wie stehen die Chancen?« Noah bleibt vor dem Kamin stehen. Auf dem Sims stehen gerahmte Fotos – Noah mit Doktorhut und Talar, bei der Feier seines Masterabschlusses in Erziehungswissenschaften. Er und seine Familie bei einem Rodeo – die Eltern und alle sechs Kinder in Jeans und mit Cowboyhüten. Ein Hochzeitsfoto aus dem Standesamt, wo er und Chelsey heimlich geheiratet haben. Und schließlich Chelsey im Teenageralter, von Kopf bis Fuß in Tarnkleidung, ein Gewehr über der Schulter, ein toter Hirsch zu ihren Füßen – ihre erste Beute. Ihre Jahre an der Coldwell High School waren geprägt von Schrotkugeln, Tiere häuten und Versuchen, mithilfe eines Kompasses nach Hause zu finden.

Chelsey durchquert den Raum und geht in die Küche, wo es noch nach dem Curry riecht, das sie zu Abend gegessen haben. Auf dem Tresen befindet sich ein Safe. Sie dreht die Wählscheibe; ihre Pistole und ihr Holster liegen darin. Noah reibt sich den Nacken. Schusswaffen sind ihm nicht geheuer. Obwohl er auf einer Farm aufgewachsen ist und an den Wochenenden Kojoten schießen musste. Obwohl er mit einer Detective verheiratet ist.

»Dann werden wir vermutlich morgen nicht nach Häusern schauen.« Er nimmt ihren Schlüsselbund vom Tresen und reicht ihn ihr.

Sie umschließt die Schlüssel mit der Faust. »Tut mir leid.« Ihre Entschuldigung ist halbherzig. Sie sind seit zwei Jahren zusammen, verheiratet seit sechs Monaten. Seitdem suchen sie ein Haus. Einen Ort, an dem sie sich niederlassen können. Chelsey hatte bisher an jedem etwas auszusetzen.

»Ist in Ordnung, ich verstehe das schon.« In seinen Augen liegt Enttäuschung. Wenn du mit einem Cop verheiratet bist, sind Hunderte von Menschen an eurer Beziehung beteiligt. Du, er und alle Personen aus seinen Fällen samt Angehörigen, hat Chelseys Mom immer gesagt.

»Ich weiß nicht, wann ich wieder fest planen kann«, sagt sie.

Er reibt sich die Stirn. »Mach dir keine Gedanken.« Wieder flackert sein Blick. Hat er langsam genug von diesem Tanz? Immer, wenn er einen Schritt nach vorne macht, tritt Chelsey einen zurück. Schon als sie sich kennengelernt haben, war das so. Noah lief hinter Chelsey her.

Bei Peet’s war es brechend voll an dem Abend vor zwei Jahren. Es war der Abend nach Chelseys Beförderung zum Detective und vor Ellie Blacks Verschwinden. Kollegen klopften ihr auf die Schulter, gratulierten ihr, wollten ihr ein Bier ausgeben, was sie ablehnte – sie sei ohnehin schon zu lange hier. Noah näherte sich der Bar, quetschte sich neben Chelsey. Ich bin Noah, stellte er sich vor. Ich hab gerade meinen Master in Erziehungswissenschaften gemacht. Zurzeit habe ich einen Vertretungsjob an der Highschool, suche aber nach einer Vollzeitstelle.

Chelsey war immer misstrauisch gegenüber Leuten, die zu viel preisgaben.

Ich möchte Sport unterrichten, schrie er gegen den Lärm an.

Chelsey machte Tim, dem Barkeeper, ein Zeichen, ihr die Rechnung zu bringen.

Noah presste sich eine Hand auf die Brust, als wäre er schwer getroffen. Du gehst schon? Hast du was gegen Sportlehrer?

Nee, nichts gegen Lehrer, sagte Chelsey, während sie ihren Namen auf den Kreditkartenbeleg kritzelte. Tim stellte eine Plastikbox mit Essen zum Mitnehmen vor sie auf den Tresen.

Bestell dem Chef einen schönen Gruß, sagte er mit einem Seitenblick auf Noah.

Sie bedankte sich bei Tim und sah Noah an. Ich muss meinem Dad das Abendessen bringen. Ihr Vater steckte mitten in einer Chemotherapie, und es ging ihm hundsmiserabel. Er war launischer als ein Esel. Beinahe alles schmeckte für ihn metallisch, nur Chicken Wings und saure Fruchtgummis konnte er ertragen. Sie drängte sich zwischen all den Körpern hindurch, Noah auf den Fersen.

Lass mich mitkommen, sagte er draußen, die Hände in den Hosentaschen, Atemwolken vor dem Mund in der abendlichen Frühlingsluft.

Sie schwieg einen Moment und fixierte ihn mit starrem Blick. Ich fühle mich geehrt, aber zurzeit bin ich nicht interessiert an einem Date. Ich habe einen anstrengenden Job. Mein Vater hat Krebs … Sie wartete darauf, dass das K-Wort Wirkung zeigte. Noah abschreckte.

Aber er lächelte sie an. Lass mich mitkommen, wiederholte er. Ich helfe dir.

Sie schnaubte. Sehe ich aus, als wäre das nötig?

Nee. Aber das sind oft die Leute, die am meisten Hilfe brauchen.

Sie wollte ihn nicht mögen. Hast du irgend so ein merkwürdiges Helfersyndrom?

Nur, wenn es um schöne Frauen geht. Und dann grinste er, und weiße Zähne blitzten in seinem bärtigen Gesicht.

Gut. Sie erlaubte ihm, mitzukommen. Bestand darauf, dass er sein Auto stehen ließ und bei ihr mitfuhr. Sorgte dafür, dass er ihre Waffe sehen konnte. Er pfiff durch die Zähne, als er das Haus sah. Hübsch, sagte er und blickte zu dem Satteldach hinauf.

Komm mit. Sie schloss die Tür auf. Ihr Dad lag auf der Couch, im Fernsehen lief Homeland.

Wer zum Teufel bist du?, krächzte ihr Vater heiser, als er Noah sah. Er hatte alle Haare verloren, seine Wangen waren eingefallen, die Haut war fahl. Eine Sauerstoffflasche stand neben ihm, die Nasenkanüle lag auf einem der rosafarbenen Sofapolster. Ihre Mutter hatte diese Couch geliebt.

Dad, sagte Chelsey tadelnd. Du sollst die doch tragen. Sie legte den Schlauch wieder um seinen Kopf.

Ich hab dich was gefragt, presste ihr Vater hervor.

Das ist Noah. Er ist mir nach Hause gefolgt.

Ihr Vater schüttelte Noah nicht die Hand.

Krebs also?, sagte Noah und ließ seinen ausgestreckten Arm wieder sinken. Auf der Farm, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir ein krebskrankes Pferd. Das mochte diese Cannabis-Pillen, die der Tierarzt ihm verschrieben hatte. Vielleicht helfen die.

Du vergleichst mich mit einem Pferd, Junge?

Chelsey mischte sich nicht ein. Sie wartete ab, wie Noah zurechtkam. Ob er sie gleich darum bitten würde, ihn zurück zur Bar zu fahren. Sie ließ ihren Mantel gleich an.

Nein, Sir, antwortete Noah stoisch und mit unbewegter Miene. Das Pferd war viel netter.

Chelseys Dad lachte überrascht auf, hustete etwas Blut und bot Noah an, sich zu setzen.

Chelsey blinzelt, um die Erinnerung an jenen Abend zu verscheuchen, die Schlüssel in der Hand. »Ich muss los.«

Noah küsst sie flüchtig auf die Wange. »Pass auf dich auf.« Das sagt er immer. Es ist eine nutzlose Bitte. Als ob sie eine Pistolenkugel, einen Fausthieb oder ein Auto mit einem schwerfälligen Betrunkenen hinter dem Steuer aufhalten könnte.

Sie steigt schnell in ihre Schuhe und rennt die Stufen hinunter, hinaus in die kühle Nacht. Noah wartet oben, an den Türpfosten gelehnt. Sie hat ihn im Blick, während sie ins Auto steigt, einen Oldsmobile, den sie von ihrem Vater geerbt hat. Auf der Heckscheibe ist ein Firefly-Aufkleber. Den hat ihr Noah geschenkt, bei ihrem dritten Date. Da hat sie ihm während des Essens erklärt, was es bedeutet, Polizistin zu sein. Sie hat ihm ihr Herz ausgeschüttet.

Was von dem Essen übrig war, brachten sie ihrem Vater mit. Dann, während Dad schlief, benebelt von Schmerzmedikamenten, brachte sie Noah zu seinem Wagen. Dort küsste er sie. Die Nacht war still und ruhig, samtig schwarz. Sie öffnete ihre Bluse, er die Autotür. Sie stiegen ein, streiften ihre Kleider ab, die Hüften aneinandergepresst.

Sie hat sich schnell in ihn verliebt.

Im Grunde genommen erzählt sie Noah alles. Er weiß von Lydia, ihrer toten Schwester. Er weiß über die Scheidung ihrer Eltern Bescheid. Er weiß, dass ihre Mutter am Tag nach Chelseys achtzehntem Geburtstag nach Scottsdale abgehauen ist. Und er weiß vom Tod ihres Vaters, weil er dabei war, an ihrer Seite stand, als der Krebs ihn holte. Und Noah kennt das Haus, das sie nach Dads Tod geerbt hat und das voll ist mit altmodischen Möbeln und schlimmen Erinnerungen.

Aber er weiß nicht alles.

Als sie am Steuer sitzt, winkt sie ihm zu und schluckt gegen ihr Schuldgefühl und gegen die Angst an. Diese schleichende Furcht. Sie will Noah nicht verlieren, aber sie kann ihn nicht festhalten, ohne etwas anderes loszulassen. Sie startet den Motor, legt den Rückwärtsgang ein und setzt zurück, Noah gefangen im Lichtkegel ihrer Scheinwerfer.

Zwei

Erst nach einer halben Stunde auf dem Weg nach Olympia lockert sich Chelseys Griff um das Lenkrad. Es herrscht kaum Verkehr, abgesehen von vereinzelten Lkws. Die zweispurige Straße ist nur spärlich beleuchtet. Sie stellt das Fernlicht an und lehnt sich in ihrem Sitz zurück. Diese schmale Landzunge ist die einzige Verbindung von und nach Coldwell. Auf der einen Seite dunkle Bäume und graue Felsen, die im silbrigen Mondlicht schimmern, auf der anderen der Ozean mit weißen Wellenkronen, dazwischen nur eine dünne Metallplanke. Irgendwann wird ein Tsunami die Straße wegspülen, dann ist Coldwell abgeschnitten. Sie holt tief Luft. Den Weg kennt sie auswendig, jetzt kann sie sich erlauben, nachzudenken. Loszulassen. Sich in Erinnerungen zu verlieren.

Ellie Black.

Sie denkt an den Funkruf, mit dem vor zwei Jahren alles begann, einen Tag, nachdem sie Noah kennengelernt hatte. Das Knistern des Funkgeräts, dann die krächzende Stimme des Dispatchers, der meldete, ein siebzehnjähriges Mädchen sei nach der Übernachtung bei einer Freundin nicht nach Hause gekommen.

Chelsey machte auf der Main Street einen U-Turn und fuhr zum Haus der Blacks, schlängelte sich durch das ausgemergelte Coldwell. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann die Stadt angefangen hatte, sich zu verändern. Sie wurde langsam abgetragen, wie ein Felsen, der vom Wasser ausgehöhlt wird. Zuerst hatte man das Personal an den Schulen um dreißig Prozent reduziert. Dann die Bibliothek geschlossen. Danach das Freizeitzentrum – früher, in Chelseys Kindheit, war dort viel los gewesen. Im Sommer gingen die Kinder zum Schwimmen dorthin, im Herbst zum Fußball-, im Winter zum Basketballspielen. Zum Basteln im Frühling. Jetzt war das Gebäude verrammelt und erlag nach und nach Stürmen und Salzwasser. Und die Kinder? Die mussten ins Internet gehen oder in den Wald.

Die Blacks wohnten auf der Nordseite, wo die Familien vor allem von der Fischerei lebten oder von der Arbeit in der Konservenfabrik. Die Häuser duckten sich hinter verwilderten Wacholderhecken, braunen Rasenflächen und Maschendrahtzäunen.

Die Eingangsterrasse war nass und der Boden glitschig, als Chelsey bei den Blacks klopfte. Doug öffnete ihr die Tür. Damals trug er noch Uniform, war noch nicht zum Detective befördert worden. Hey. Er lächelte breit, jung und dumm und übereifrig wegen des Falls. Weil er als Erster vor Ort war. Ich hab schon angefangen, die Aussagen aufzunehmen.

Du hättest auf mich warten sollen, sagte Chelsey.

Seine Wangen färbten sich lachsrosa. Tut mir leid.

Jimmy, Ellies Vater, erschien, und ging an Doug vorbei, um ihr die Hand zu schütteln und sich vorzustellen. Jimmy Black.

Detective Calhoun, Polizei Coldwell.

Jimmy sah sie misstrauisch an. Wie lange arbeiten Sie schon bei der Polizei?

Chelseys Gesicht arbeitete gegen sie. Faltenlos und ungewöhnlich asiatisch. Sie sah ihm seine Zweifel an, seine Frage, ob sie nicht zu jung sei, zu ausländisch. Sprach sie überhaupt Englisch? Seit beinahe zehn Jahren, antwortete sie, den Kopf gesenkt, dann erst blickte sie hoch. Ich möchte, dass Sie sich auf Elizabeth konzentrieren. Unterhalten wir uns ein bisschen über sie? Später beglückwünschte sie sich selbst. Sie war cool geblieben. Fokussiert. Obwohl es ihr erster Fall als Detective war. Obwohl ihr Herz beunruhigend schnell geschlagen hatte. Manchmal wunderte sie sich darüber, wie klein sie sich fühlte. Was hatte sie so geformt, so abgenutzt?

Damit schien Jimmy sich zufriedenzugeben. Er ließ sie eintreten. Danke, dass Sie gekommen sind, Detective.

Nennen Sie mich Chelsey, sagte sie, während sie ins Wohnzimmer gingen. Dort saß Kat, Ellies Mutter, auf einer verblichenen blauen Couch, einen nicht angerührten Kaffeebecher in den Händen. Jimmy ließ sich neben seine Frau sinken, nahe genug, um sie zu berühren, aber ohne es zu tun. Beide saßen so steif da, als wappneten sie sich gegen einen herannahenden Sturm.

Chelsey setzte sich in einen abgewetzten karierten Sessel den beiden gegenüber. Erzählen Sie mir, was passiert ist, sagte sie. Die Zentrale meldet, Ihre Tochter sei nicht nach Hause gekommen.

Doug stellte sich neben die Tür, die Hände am Gürtel, breitbeinig und mit gereckter Brust.

Kat starrte in ihren Kaffeebecher. Ich hab versucht, Ellie zu erreichen, erklärte sie, und an ihrer tonlosen Stimme erkannte Chelsey, dass sie unter Schock stand. Man dachte immer, solche Dinge passierten nur anderen. Dann habe ich India angerufen.

Chelsey konnte in die Küche blicken, wo eine Wertstofftonne stand, die von leeren Flaschen überquoll – Wein, Whisky, Tequila. Und einer der Küchenschränke war zertrümmert, wie mit der Faust zerschlagen. Chelsey zeigte mit einem Nicken auf den Schaden. Was ist mit Ihren Schränken passiert?

Hab ein Loch reingehauen, sagte Jimmy ruhig. Zu ruhig? War sauer.

Bevor oder nachdem Ellie verschwunden ist? Die Luft im Raum schien zu erstarren und dann zu pulsieren. Kat senkte den Kopf. Vor Verlegenheit? Scham? Angst?

Davor, antwortete Jimmy leise. Ich hab nichts zu verbergen. Wollen Sie Fingerabdrücke? Eine Hausdurchsuchung? Nur zu!

Schon gut. Ich möchte mich mal umsehen. Vor allem in Ellies Zimmer, aber das kann noch warten, sagte Chelsey. Sie setzte Jimmy ganz weit unten auf die Liste der Verdächtigen und wandte sich wieder an Kat. Wer ist India?

Kat schluckte. Ich kenne sie nicht gut. Ellie hat nicht viele Freunde. Erst vor einer Woche hab ich den Namen zum ersten Mal gehört. Zum Glück habe ich darauf bestanden, dass sie mir ihre Telefonnummer gibt. Sie wollte bei ihr übernachten. Aber India hat gesagt, sie hätte Ellie das letzte Mal in irgendeinem Motel gesehen. Bei einer Party. Kat stellte ihre Tasse mit einem dumpfen Knall auf den Couchtisch. Ich komme mir vor, als wäre ich in einem Paralleluniversum. Wie kann das alles sein?

Es gab viele Dinge, die jemanden fortziehen konnten. Aber das behielt Chelsey für sich. Viel mehr Informationen hatte Kat nicht, und Jimmy war beruflich unterwegs gewesen.

Ich bin mir sicher, Ellie taucht wieder auf. Sie wissen doch, wie Mädchen sind, mischte Doug sich ein. Haben dauernd verrückte Ideen und hauen ab.

Chelsey spürte, dass ihre Lippen zuckten. Sie hasste die stillschweigende Annahme, als Frau geboren zu sein, mache einen automatisch schuldig.

Jimmy stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. Er war ein großer Kerl und hatte einen Baseballschläger neben der Tür stehen. So ist sie nicht. Nicht meine Tochter. Er trat auf Doug zu. Ellie würde nie einfach weglaufen.

Chelsey ging schnell dazwischen, hielt mit ihrer geringen Körpergröße die beiden Männer auseinander. Gleichzeitig versuchte sie einzuschätzen, wie viele Schritte Jimmy brauchen würde, um zu dem Schläger zu gelangen – drei, vielleicht auch nur zwei. Officer Abbott, sagte sie, warum machen Sie nicht einen kleinen Spaziergang. Es war keine Frage.

Es … tut mir leid, stammelte Doug und hob die Hände. Wollte niemanden beleidigen. Er ging zur Tür hinaus und lungerte dann draußen auf dem Rasen herum, den Blick auf sein Handy gerichtet. Doug machte gern Videos und postete sie in den sozialen Medien. Herr im Himmel. Ein typisches Sandwichkind, immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit.

Stimmt das, was er gesagt hat? Hoffnung flackerte in Kats Augen. Passiert so was wirklich andauernd?

In solchen Situationen waren Statistiken Chelseys beste Freunde. In Elizabeths Altersgruppe, also bei den Sechzehn- bis Einundzwanzigjährigen, kommen sie in einundachtzig Prozent der Fälle zurück. Sie erwähnte nicht, dass die Wahrscheinlichkeit nach vierundzwanzig Stunden auf ein halbes Prozent sank, ließ es lieber so stehen. Also, erzählen Sie mir mehr von Elizabeth.

Kat zählte ein paar unwesentliche Fakten auf: Ellie ist eigensinnig. Manchmal sogar dickköpfig. Sie hat keine besonders guten Noten, dabei ist sie so intelligent. Jimmy, weißt du noch, wie gut sie in der fünften Klasse bei der Schreibprüfung abgeschnitten hat?Sie hat nicht viele Freunde, aber einen festen Freund, Danny, der sie anbetet.

Alle diese Details, die zeigen sollten, wie besonders Ellie war. Beweisen, dass sie es verdiente, dass man sie suchte und fand. Kat konnte nicht wissen, dass jedem Vermisstenfall ein Geldbetrag zugeordnet wurde, multipliziert mit dem Vermögen der Eltern, dann geteilt durch ethnische Zugehörigkeit und Religion – es war eine sorgfältige Rechnung. Je ärmer ein Mädchen war und je dunkler ihre Hautfarbe, desto weniger Mittel und Zeit standen zu ihrer Rettung zur Verfügung – schließlich ist die Öffentlichkeit immer etwas weniger empört, wenn dieser Typ Mädchen verschwindet. Vielleicht konnte Ellies Mom spüren, dass manche Töchter mehr wert waren als andere. Das war kein Standpunkt, den Chelsey teilte, aber leider die Realität.

Chelsey durchsuchte Ellies Zimmer, dann ging sie, nachdem sie versprochen hatte, sich zu melden, sobald sie mehr Informationen hätte. Es war kein Notfall. Noch nicht. Noch hatte man nicht Ellies Schuhe, ihr Handy, ihr Blut gefunden. Kat hatte noch nicht richtig geweint, nicht mit diesem Heulen und Schluchzen, das den ganzen Körper durchschüttelt. Die Existenz der Familie Black hatte sich noch nicht darauf reduziert, von einem Tag auf den anderen zu leben.

Dennoch durchlief Chelsey zügig das Standardverfahren, befragte alle, die Elizabeth zuletzt gesehen hatten. Mit India fing sie an.

Hören Sie, Ellie und ich haben nur ein paarmal zusammen abgehangen, hatten Spaß zusammen. Aber wir sind nicht eng befreundet, hatte India durch eine klapperige Fliegengittertür hindurch gesagt. Sie hatte gewöhnliches hellblondes Haar und einen winzigen silbernen Nasenring, der im Licht aufblitzte. Chelsey nahm den Geruch von Alkohol wahr, nicht frisch, aber er strömte dem Mädchen aus den Poren. India hatte einen Kater. Das alles war sowieso Ellies Idee, fuhr sie fort.

Was?, hakte Chelsey nach. Eine Möwe landete kreischend im Vorgarten.

Die Party. Ich bin nur gefahren, mehr nicht. Bin ja nicht ihre Aufpasserin.

Kapiert. India dachte mehr daran, dass sie selbst Ärger bekommen könnte, als an Ellie. Die Party ist mir egal. Oder ob du was getrunken oder Drogen genommen hast, versicherte Chelsey dem Mädchen. Ich will nur Ellie finden. Das reichte, um India so weit zu beruhigen, dass sie ihr Fotos von der Party schickte. Mit Hilfe dieser Fotos konnte Chelsey den Zeitablauf zum Teil rekonstruieren. Um 23:31 Uhr war Ellie zum letzten Mal auf einem Foto im Motelzimmer zu sehen. Um 23:39 Uhr war sie verschwunden. Plötzlich nicht mehr da, wie ein fortgewehter Schmetterling.

Als Nächstes befragte Chelsey Daniel Partridge, Ellies Freund. Ich war zu Hause und hab geschlafen, behauptete er und wippte dabei nervös mit dem Fuß. Sie waren bei ihm im Haus und saßen auf Holzbänken mit geschnitzten Weizenähren an einem kleinen Einbautisch.

Gibt es jemanden, der das bezeugen kann? Chelsey starrte ihn an, ohne zu blinzeln. Lydia, ihre Schwester, hatte das immer ihr Fuchsgesicht genannt. Die meisten Verbrechen wurden von jemandem begangen, den das Opfer kannte. Danny wirkte nett, aber es waren immer die Netten, auf die man besonders achtgeben musste. Die fiesen Typen trugen ihre Verbrechen offen vor sich her, schleppten sie zusammen mit ihren ganzen emotionalen Problemen mit sich herum. Bei den Netten lagen die Dinge tief vergraben.

Daniels Fuß hielt still. Seine Augen wurden schmal. Meine Leute waren bei der Arbeit, aber meine Mom hat was zum Abendessen vorbeigebracht. Seine Eltern besaßen eine Bar mit Restaurant in der Main Street. Chelsey erinnerte sich, dass das Fishtrap vor ein paar Monaten Ziel von Vandalismus geworden war – jemand hatte Rothaut und Ab ins Reservat in Neonorange an die Fensterfront geschmiert. Die Partridges waren Chinooks. Sie hatten die Schrift entfernt, Videokameras installiert und die Flagge ihrer indigenen Gemeinschaft ins Fenster gehängt.

Ich würde deine Mutter gerne anrufen, wenn es dir nichts ausmacht, sagte Chelsey. Um deine Geschichte zu überprüfen.

Danny sprang auf und riss Küchenschubladen auf, bis er ein Stück Papier und einen Stift mit dem Aufdruck eines lokalen Angelgeschäfts gefunden hatte. Er kritzelte Namen und Telefonnummer seiner Mutter auf das Papier und warf es Chelsey hin wie einen Fehdehandschuh. Hier!

Chelsey hatte ihn gekränkt. Aber jeder war verdächtig. Sie hatte sogar Kat und Jim beobachtet. Wie sie ihre Tassen hielten. Zu fest? Oder zu lässig? Was für Informationen gaben sie preis? Zu detailliert oder zu vage? Die Wahrheit bewegte sich stets auf einem schmalen Grat.

Wie sich herausstellte, hatte Dannys abwehrende Haltung einen Grund. Anders, als er behauptet hatte, war er nicht die ganze Nacht zu Hause gewesen. Er hatte gelogen und seine Empörung vorgetäuscht.

Danach befragte sie die Kids von der Party und die Lehrkräfte an Ellies Schule. Die Berichte über Ellie waren einer schlimmer als der andere. Sie war so falsch, hat immer so getan, als ob sie reich wäre, sagte ein Mitschüler. Dieses Mädchen? Ich dachte immer, sie würde eines Tages draufgehen, sagte ein Lehrer in einem so selbstgerechten Ton, dass Chelsey Brechreiz bekam.

Regen prasselt auf die Windschutzscheibe und holt Chelsey zurück in die Gegenwart. Sie stellt die Scheibenwischer an. Sie ist jetzt nicht mehr weit von Olympia entfernt, näher an Ellie. In einer halben Stunde wird sie das Krankenhaus erreichen. Dieses Wissen schnürt ihr die Brust zusammen wie ein Lasso. Die Autobahn teilt sich jetzt in drei Fahrspuren. Mehr Autos und Sattelschlepper sind jetzt unterwegs, und es gibt Fast Food Restaurants, Motels, Tankstellen … Sie wirft einen Blick auf ihr Handy, das sie auf den Beifahrersitz geworfen hat. Sie sollte Jimmy und Kat anrufen.

Jimmy ist mit Chelsey in Verbindung geblieben. Das letzte Mal hat sie ihn vor fünf Monaten gesehen. Er hat sich angewöhnt, ab und zu auf dem Revier vorbeizukommen. Hereinzuschlendern, wenn sie gerade aufgemacht haben, eine Kanne Kaffee und ein Dutzend Donuts aus der Cottage Bakery in den schwieligen Händen. Beim letzten Mal hatte er Suzette am Empfangstisch schon etwas angeboten und plauderte mit ihr, fragte sie nach Mann und Enkelkindern. Als Chelsey kam, richtete er sich auf und ließ sich von ihr in einen leeren Raum führen. Sie schloss die Tür, sie setzten sich einander gegenüber an einen Tisch und begannen mit ihrem Ritual.

Es fing immer mit Small Talk an.

Wie geht es Ihnen, Jim?

Ganz gut.

Und Kat?

Oh, wissen Sie, sie hat gute und schlechte Tage. Sam und ihre Familie ziehen bald hierher, das heitert sie ein wenig auf.

Ellie hatte eine ältere Schwester, Sam. Die beiden waren zehn Jahre auseinander und standen sich nicht sehr nahe. Nicht so, wie Chelsey und Lydia einander nahegestanden haben. Ihr seid wie Zwillinge, hatte ihre Mutter immer gesagt.

Das ist schön, sagte Chelsey.

Was ist mit Ihnen? Wie geht’s Ihrem Mann? Ich hab neulich was in der Zeitung über ihn gelesen, als er sein Team zu den Landesmeisterschaften begleitet hat. Noah hatte sein erstes Jahr als Lehrer und Basketball-Coach an der Ilwaco High School abgeschlossen und sein Team bis zur Teilnahme an den Wettkämpfen trainiert. Er war untröstlich gewesen, als sie verloren, und mit seinen Brüdern zur Blockhütte seiner Eltern gefahren, um sich davon zu erholen.

Noah geht’s gut. Chelsey hielt inne, denn sie wusste, welche Frage Jimmy hergeführt hatte. Warum es nicht gleich hinter sich bringen. Mit diesen Gesprächen war es, wie wenn man einen alten Hund einschläfern lassen musste. Warum es hinauszögern? Es gibt keine neuen Hinweise, Jim, sagte sie sanft. Sie wissen, dass ich Sie sonst angerufen hätte.

Jimmy seufzte und nahm seine Baseballkappe ab. Seine Haare standen in braunen und grauen Büscheln ab. Kann ich es sehen?

Natürlich. Chelsey stand auf und holte den Pappkarton mit den Beweismitteln. Sie stellte ihn auf den Tisch und erinnerte Jimmy daran, dass er die Plastikbeutel nicht öffnen durfte. Es ist immer noch ein offener Fall.

Jimmy nickte. Er kannte die Regeln. Es war immer dasselbe. Zuerst las er den Polizeibericht. Dann die Zeugenaussagen. Suchte nach irgendetwas, das Chelsey entgangen sein mochte. Jeder Informationsschnipsel konnte der Schlüssel sein, um Ellies Fall aufzuklären. Schließlich betrachtete er die Beweisgegenstände, behandelte jedes Stück wie eine zerfallende Reliquie – einen von Ellies Schuhen, ihr Handy mit dem gesprungenen Display, Kieselsteine mit Blut daran, Fotos von den Überwachungskameras aus dem Motel und der Kirche der Pfingstgemeinde daneben –, alle zeigten den Parkplatz, auf dem Ellies Sachen gefunden worden waren. Sattelschlepper und vereinzelt geparkte Autos hatten jede Sicht auf Ellie versperrt. Chelsey hatte die Fahrzeughalter von allen Nummernschildern, die sie entziffern konnte, ausfindig gemacht. Niemand hatte irgendetwas gesehen.

Sagen Sie mir nur, dass Sie immer noch glauben, dass sie irgendwo da draußen ist.

Chelsey fing an, den Karton wieder einzuräumen. Waren das die letzten Gegenstände, die Ellie berührt hatte? Was würden sie erzählen, wenn sie reden könnten? Welche Geheimnisse würden sie ihnen zuflüstern?

Der Fall ist immer noch offen. Ich werde nicht aufhören, bis Ellie gefunden ist, versprach sie, weil sie das wirklich glaubte – vielleicht war es dumm, aber sie musste es glauben. Der letzte Funken Hoffnung hielt sie aufrecht.

Jimmy nickte düster und zitterte leicht, als er sich verabschiedete. Chelsey ließ ihn ohne ein weiteres Wort gehen. Sie wusste, dass Jimmy Black, wie die meisten Männer, für sich sein musste, wenn er die Fassung verlor.

Chelsey holt tief Luft, um sich von den Erinnerungen zu befreien, während sie an einer roten Ampel hält. An der Kreuzung steht ein Wegweiser zum Legacy Memorial Hospital. Es ist an der Zeit. Sie nimmt ihr Handy und ruft die Nummer der Blacks auf. Es klingelt und klingelt.

Zwei Jahre. Zwei Wochen. Ein Tag.

Seit Ellies Verschwinden hat Chelsey sich freiwillig für jeden Fall gemeldet, der mit Gewalt gegen Frauen zu tun hatte. Sie hat immer viel zu tun. All diese verletzten, geschlagenen, verstümmelten Frauen empfängt sie mit offenen Armen. Es ist eine Art Wiedergutmachung, das ist ihr klar. Sie hat Lydia nicht retten, Ellies Fall nicht aufklären können.

Das Freizeichen verstummt, als jemand drangeht.

»Hallo«, nuschelt Jimmy. Im Hintergrund läuft ein Fernseher, aber seine Stimme klingt verschlafen.

»Hey Jim, hier ist Chelsey. Ist Kat in der Nähe? Ich habe Neuigkeiten.« Während sie wartet, bis Jim seine Frau geweckt hat, denkt sie an die Tochter der beiden. Sieht Ellie verschwommen vor ihrem inneren Auge. Da steht sie, in einer leeren, schattigen Straße, schweigend. Sie wartet darauf, zu reden.

Ja, es ist an der Zeit.

i

Ich war besessen von Geschichten über verschwundene Mädchen.

Die Schlagzeilen waren immer so provokant, man konnte ihnen nicht widerstehen. Wie ein Autounfall in Slow-Motion. Ich betrachtete diese Mädchen damals nicht als echt. Nicht als lebende, atmende Menschen, die gequält wurden, bis sie völlig am Ende waren. Niemals hätte ich an ihrer Stelle sein können. Nie. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, wie arrogant ein kleiner, geheimer Teil von mir war. Ich habe mich für unbesiegbar gehalten.

Aber dann habe ich dazugelernt. Ich habe gelernt, dass ich keine Ketten und Handschellen brauchte, um gefangen zu sein. Alles, was dazu nötig war, waren vier Wände aus unberührtem Wald. Und Angst. Angst, die in dir gärt und schwelt und dich schüttelt. Die besten Gefängnisse sind die selbst ausgedachten.

Wenn ein Kind verschwindet, sind die ersten achtundvierzig Stunden entscheidend. Auf die Zeit kommt es an. Fakten werden gesammelt und in einem Bericht festgehalten. Wo ist das Kind hingegangen? Wer hat es gesehen? Was hat das Kind getan?

Machen wir es nicht unnötig kompliziert. Hier ist die Chronik meiner Entführung. Wahrscheinlich das, was Sie schon wissen.

Der Tag begann wie jeder andere. Gegen 7:00 Uhr morgens holte India mich zur Schule ab. Ich war in der Küche, aß Frühstücksflocken im Stehen, und eine Hupe schallte durch das Viertel. Ich schob mir einen letzten Löffel voll bunter Kringel in den Mund.

Mom kam in die Küche. Sie sah verschlafen und klein aus in einem Sweatshirt von Dad und einer Schlafanzughose mit kleinen Weihnachtskränzen darauf. Es war Mai. Sie lehnte sich an den Küchentresen und stützte den Kopf auf die Hände. Am Tag zuvor hatte sie mich zu ihrer Arbeit mitgenommen. Nach Feierabend hatte ich noch bleiben müssen, während sie mit ihren Freundinnen etwas trank. Danach war sie beschwipst, und ich musste sie nach Hause fahren. Jetzt rieb sie sich über das Gesicht und betrachtete stirnrunzelnd meine untere Körperhälfte. »O Gott, Ellie.«

Ich hatte meine Jeans mit Filzstift vollgekritzelt – Sternschnuppen, mit einem Pfeil durchbohrte Herzen, einen menschlichen Körper mit Pferdekopf. »Was?«

»Was heißt hier was? Das sind nagelneue Jeans! Die habe ich dir gerade erst gekauft.«

Mom machte sich immer Gedanken ums Geld. Darum, was Sachen kosteten, was ich kostete. Manchmal fragte ich mich, ob ich sie hasste. Der Gedanke tat weh. Dann fragte ich mich, ob sie mich hasste, und der Gedanke tat noch mehr weh. »Meine nächsten Jeans besorge ich mir selber.« Außerdem hatte ich vor, mir ein neues Smartphone zu kaufen. Damit hat alles angefangen. Mit einem Handy. Das, was ich benutzte, war alt und musste ungefähr alle zwei Stunden aufgeladen werden. Ich hatte es von Mom geerbt. Ich war ein Mädchen, das alles tat, um zu bekommen, was es wollte.

Sie lehnte sich an den Tresen, direkt unter dem Hängeschrank, den mein Vater vor einer Woche zertrümmert hatte. Er war wütend auf mich gewesen. »Mit welchem Geld? Ellie … darum geht es nicht.«

Tut. Tuut. Tuuuut.

Mom hielt sich die Ohren zu. »O Gott«, wiederholte sie. »Ist das Danny? Bitte sag ihm, er soll die Hupe in Ruhe lassen.«

Ich verdrehte die Augen und knallte Schale und Löffel in die Spüle, dass es schepperte. Mom zuckte zusammen. Das alte Porzellanspülbecken gehörte zur Originalausstattung des Hauses, und wir hatten schon mehr Geschirr darin zerbrochen als gespült. Aber die Schale zerbrach nicht, und ich weiß noch, dass ich dachte: Heute ist mein Glückstag. Jetzt fühle ich mich wie eine verdammte Idiotin.

Ich schnappte mir meinen Rucksack. »Es ist nicht Danny. Es ist India. Ich übernachte heute bei ihr.« Die Lüge ging mir leicht über die Lippen. Ich hatte etwas Größeres geplant, als bei India zu übernachten. Die Wahrheit zu verdrehen, war ein besonderes Talent von mir. Sag etwas mit genügend Überzeugung, dann glaubst du es sogar selbst. »Weißt du nicht mehr?«, forderte ich meine Mom heraus. »Ich hab’s dir gestern Abend erzählt.«

»Oh, stimmt. Ich sollte sie irgendwann mal kennenlernen. Schickst du mir ihre Nummer, bitte?«

»Klar«, versprach ich, während ich die Küche verließ.

»Komm rechtzeitig nach Hause!«, rief Mom mir nach, als ich auf die Haustür zulief. »Wir gehen morgen mit Sam einkaufen, für ihre Schwangerschaft.«

India hupte wieder. »Ja!«, brüllte ich zurück. »Ich kann’s kaum erwarten.« Mom versuchte ständig, uns zusammenzubringen, Sam und mich, in der Hoffnung, wir würden beste Freundinnen werden. Aber wir hatten nichts gemeinsam, vor allem das Alter nicht. Ich fand, dass Sam mich wie ein Baby behandelte, und Sam fand, dass ich mich wie eins benahm. Bei unserer letzten Begegnung hatte sie mich beschuldigt, ihren Ausweis gestohlen zu haben. Ich kann nicht glauben, dass du an so etwas auch nur denkst, hatte ich gesagt und mich zutiefst empört gezeigt.

Sam hatte die Arme über ihrem gewölbten Bauch verschränkt. Als ich gestern Abend kam, war er in meiner Brieftasche, und jetzt ist er nicht mehr da. Er hat sich nicht in Luft aufgelöst, Ellie. Dann wurde ihr Blick weicher. Wenn du ihn mir zurückgibst, verrate ich Mom nichts, okay?

Aber ich war dabei geblieben, dass ich ihn nicht hatte.

Draußen stand Indias Kombi mit laufendem Motor am Bordstein. Ich stieg vorne ein und schob meinen Rucksack in den Fußraum. David Bowie schallte aus den Lautsprechern. Indias hellblondes Haar leuchtete förmlich im Morgenlicht. In ihrem Auto stank es – nach Staub, Nelkenzigaretten und abgestandenem Kaffee. Ich klappte die Sonnenblende runter und trug Eyeliner auf. Wir düsten davon, lachend, sorglos und frei, ohne zu wissen, wie wenig Zeit ich noch hatte.

Um 7:24 Uhr kamen wir an der Schule an, nur eine Minute zu früh. Die Unterrichtsstunden verschwammen ineinander. Biologie. Englisch. Sport. Ich ging in alle Kurse. Jeremy Davis, Lindsay Jackson und Steven Laurier erinnern sich vielleicht sogar noch daran, dass sie mir in den Pausen Zwanziger zugesteckt haben.

Um 12:09 Uhr verdrückte ich auf der Schultreppe ein Sandwich aus dem Automaten. Auf die Stufen war in gelber Schrift Sicherheit, Verantwortung und Respekt gemalt. Plötzlich schreckte ich hoch und fuhr herum.

»El.«

Da war er. Dunkle Haut, ein kindliches Gesicht, zärtliche Augen von der Sorte, die Gefühle nicht sonderlich gut verbergen können. Dunkles, glänzendes Haar bis zu den Schultern. Danny. Fester Freund. Bester Freund. Liebe meines Lebens. Haben Sie schon mal so für jemanden empfunden? Als ob Sie beide die Liebe erfunden hätten?

Danny blickte grinsend auf mein halb aufgegessenes Sandwich. »Eiersalat aus dem Automaten. Tapferes Mädchen.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich mag das Risiko.«

»Das weiß ich. Wie fühlt es sich an, wieder in Freiheit zu sein?«

Hab ich schon erwähnt, dass ich in der Woche davor suspendiert worden war? Wegen des Besitzes von illegalen Substanzen auf dem Schulgelände. Ich hatte ein winziges bisschen Gras in meinem Spind. In Washington legal, aber ich war noch minderjährig. Die Polizei wurde gerufen. Ich bekam Hausarrest, deshalb hatte ich am Tag zuvor Mom zu ihrer Arbeit begleiten müssen.

»Großartig.« Ich tat, als würde ich salutieren. »Bin völlig geläutert. Bereit, auf dem Pfad der Tugend zu wandeln.«

»Wie nervig. Ich stehe auf böse Mädchen.«

Wir küssten uns. Direkt an der Tür. Die Schulklingel ertönte, und Danny und ich lösten uns voneinander. »Du kommst doch heute Abend?«, fragte ich. Eine Rolle Zwanziger und der Ausweis meiner Schwester lagen schwer in meinem Rucksack.

Dannys Lippen zuckten. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. »Äh, ja, das wollte ich dir noch sagen. Ich kann nicht. Ich muss morgen früh im Restaurant arbeiten und brauche etwas Schlaf. Muss früh aufstehen.«

»Ernsthaft?«, stieß ich hervor.

»Ach komm, El.«

»Ach komm, Dan. Es ist wichtig.«

Eigentlich war es das nicht. Ich wollte ein neues Smartphone. Ich hatte Sams Ausweis gestohlen, eine Motel-Party geplant und den Kids jeweils zwanzig Mäuse dafür abgeknöpft, dass sie so viel trinken konnten, wie sie wollten. Das Projekt hatte eine gute Gewinnspanne, würde genug abwerfen, um ein aufgearbeitetes Gebrauchthandy zu kaufen. Ich wollte, dass Danny in dieser Nacht bei mir war. Wieder dieses Wort. Wollte. War das das Problem? Wollte ich zu viel? Ich denke oft darüber nach, wie viel von dem, was passiert ist, mein eigener Fehler war.

»Es tut mir leid, ich kann nicht«, sagte er. Der Flur leerte sich. Klassenzimmertüren fielen zu. Danny lehnte seine Stirn an meine. »Ich liebe dich.«

Ich erwiderte seine Worte nicht. Liebesentzug war ein Machtspiel. Ich hatte wirklich einen fiesen Charakter.

Danny seufzte. »Wollen wir uns wirklich darüber streiten?«

»Kommt auf dich an, schätze ich.«

Ich sah ihn finster an. Er küsste mich auf den Mundwinkel. Es war unser letzter Kuss. Ich wünschte, ich hätte das gewusst. Dann hätte ich mich an ihn geschmiegt. Hätte seine Hand ein bisschen fester gehalten. Hätte mich von ihm verabschiedet.

Um 13:03 Uhr, 14:30 Uhr und 14:55 Uhr flogen Textnachrichten zwischen Danny und mir hin und her. Ihr Inhalt ist beschämend, es reicht wohl zu sagen, dass ich es darauf anlegte, dass sich mein Freund wie ein Stück Scheiße fühlte, weil er arbeitete und mich im Stich ließ. Es gibt viele Momente, auf die ich nicht stolz bin. Das ist einer davon. Aber ich war egoistisch. Ein Mädchen, das andere dazu überredete – insbesondere Danny –, Dinge zu tun, die sie lieber nicht tun sollten. Ich hätte ihm vielmehr sagen sollen, dass ich ihn vermissen würde. Mach dir keine Gedanken, es war eine dumme Idee. Ein Handy ist nicht so wichtig. Lass uns stattdessen lieber ins Kino gehen. Aber ich war stur. Egoistisch. Vermessen.

Gegen 15:07 Uhr war ich wieder zu spät dran, aber diesmal war es nicht mein Fehler. Unser Vertretungslehrer in Englisch hielt die ganze Klasse nach dem Klingeln der Schulglocke noch zwei Minuten auf, um ein Gedicht über einen Schneemann und eine Heide zu Ende zu bringen.

India wartete im Auto auf mich. Wir fuhren gleichzeitig mit dem letzten Bus vom Schulparkplatz, gegen 15:20 Uhr.

Um 15:45 Uhr hatten wir Coldwell hinter uns gelassen. Ich tippte eine Nachricht an meine Mom: Nicht vergessen, übernachte heute bei India, und hängte Indias Nummer an. Dann eine Nachricht an Danny: Will Gunner kommt auch. Es war ein letzter verzweifelter Versuch, Danny dazu zu bringen, zum Motel zu kommen. Mit Will war ich vor Danny zusammen gewesen. Er hatte im vorigen Jahr seinen Abschluss gemacht, ging jetzt mit einem Teilstipendium für Baseball aufs College. Er kam in den Pausen oft vorbei und versuchte, wieder was mit mir anzufangen.

»Willst du eine?« India hielt mir ihre Nelkenzigaretten hin. Ich rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. Sie zuckte die Achseln, schüttelte eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich zwischen die Lippen. Die eine Hand am Lenkrad, zündete sie mit der anderen die Zigarette an, und es sah erstaunlich graziös aus. »Hey«, sagte sie und tätschelte meinen Oberschenkel. »Kopf hoch, Süße. Danny wird schon kommen.«

Ich hatte India alles erzählt. Nur, dass Danny arbeiten musste, hatte ich ausgelassen. Dafür hatte ich ergänzt, dass er zu müde sei. Vielleicht hatte ich ihn ein Weichei genannt. Was machte es schon, wenn ich mich selbst in ein besseres Licht stellte? Jede Geschichte braucht ihren Bösewicht. Ich checkte mein Telefon. Keine Nachricht von Danny. Sei morgen früh wieder zu Hause, hatte meine Mom mir zurückgeschrieben. Denk dran, es ist Sams Tag.

India gähnte, und ich steckte ihr meinen Finger in den Mund. Das Auto schwenkte abrupt zur Seite, dann wieder in die Mitte der Spur. Hinter uns wurde gehupt. Eine Limousine zog vorbei. India hielt sich den Bauch und lachte, während sie den Wagen wieder gerade ausrichtete.

Wir fuhren eine Weile, über eine Brücke und nach Astoria hinein, während wir einen Song hörten, der davon handelte, wie einem die Nacht das Herz brechen kann. India bog auf den Parkplatz des Riverbend Motels ein und hielt direkt unter dem Werbeschild, das die Stunden- und Nachttarife anzeigte. »Gut?«

»Perfekt«, sagte ich.

India verschickte schon Nachrichten mit der Adresse. Sie drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher. »Also dann, tun wir’s.«

Die Nacht würde lang werden, es konnte viel passieren. Ich mietete mit Sams Ausweis ein Zimmer, dann fuhren India und ich zu einem Lebensmittelladen mit einer gut sortierten Spirituosenabteilung, und ich räumte die Regale leer. Die Flaschen klirrten in Plastiktüten, als ich aus dem Laden kam. India wartete im Auto hinter dem Steuer auf mich.

»Hey!«, rief mir eine Frau zu. Ich blieb stehen. Sie war hübsch, hatte dunkles, langes Haar, einen offenen Blick und große, leicht schrägstehende Augen. Ihre Wangen waren vom Wind leicht gerötet. »Könntest du mir kurz helfen?«

Sie stand an der Tür ihres ramponierten SUVs, beladen mit einer Babyschale und einer Einkaufstasche.

»Ja, klar.« Ich stellte meine Plastiktüten ab und öffnete ihr die Tür.

»Danke.« Sie lächelte strahlend, ließ den Babysitz in der Halterung einrasten und stellte ihre Einkaufstasche daneben. Das Baby gluckste, und sie schlug die Tür zu. Dann kramte sie in ihrem Portemonnaie. »Hier«, sagte sie und hielt mir einen Fünf-Dollar-Schein hin.

Ich hob abwehrend die Hände. »Nein, schon gut.« Dann fügte ich hinzu: »Meine Schwester bekommt auch ein Baby.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte.

Sie lächelte noch breiter und steckte den Geldschein wieder ein. »Na, dann herzlichen Glückwunsch.«

Ich stammelte ein Danke, nahm meine Tüten und huschte zurück zum Auto. India lachte und nannte mich eine Streberin. Ich öffnete eine Flasche Wodka und trank gleich auf dem Beifahrersitz daraus.

Im Motel lungerte ein Mann mit kleinen Zähnen im Gang neben unserem Zimmer herum.

»Ihr Mädels schmeißt ’ne Party?« Er steckte sich seine Zigarette zwischen die Lippen und inhalierte. Seine Fingernägel waren abgenagt und blutig.

India straffte die Schultern. »Nur ein paar Freunde.«

Er pfiff leise und grinste. »Ja, ja. Wenn es zu eng wird, könnt ihr die Feier auf mein Zimmer ausdehnen.«

India streckte ihm die Hand entgegen. »India.«

»Brett.« Er nahm ihre Hand und sah mich an.

»Ellie«, sagte ich.

»Ellie und India«, wiederholte er und schnippte seine Zigarette weg. »Ihr Mädels habt es drauf.« Er ging zurück in sein Zimmer, und wir stolperten kichernd in unseres.

»Verdammter Spinner«, sagte India.

Es dauerte nicht lange, bis ein paar Kids auftauchten. Noch mehr Geld wechselte den Besitzer.

Um 23:01 Uhr war die Party in vollem Gange, mit vierzig Leuten, die sich in unser Motelzimmer quetschten. Während ich an einem Wein-Cocktail nippte, ging ich in Richtung Badezimmer. Die Tür war verschlossen. Will Gunner lehnte daneben an der Wand. »Hey«, sagte er. »Nick und Lindsay sind seit zwanzig Minuten da drinnen. Bestimmt machen sie rum. Oder sie kotzen. Soll ich dich zur Tankstelle begleiten? Dann kannst du dort auf die Toilette gehen. Und wir könnten was nachholen.« Er leckte sich die Lippen.

Ich lachte spöttisch, während ich Will eine Abfuhr erteilte. »Nein, alles cool. Ich gehe alleine.«

Ich sah keinen Grund, irgendjemandem zu sagen, wohin ich wollte, denn ich fühlte mich sicher. Unantastbar. Als ob ich alle Zeit der Welt hätte.

Ich ging hinaus. Die Luft war kalt und brannte in meiner Lunge. Brett, unser Motel-Nachbar mit den kleinen Zähnen, streckte den Kopf aus seiner Zimmertür.

»Ist das schlau?« Er kratzte sich im Gesicht. Ich eilte davon, vorbei an den Snack-Automaten mit den aufgeklebten Plakaten: Sind Sie ein Opfer von Menschenhandel? Unter dieser kostenfreien Rufnummer finden Sie Hilfe.

Es fällt mir schwer, mir nicht die Schuld für das zu geben, was als Nächstes geschah. Ich wünschte, ich würde es nicht. Ich wünschte, dies wäre keine Warnung für Mädchen – davor, allein im Dunkeln herumzulaufen. Damit sie lernen, dass es überall böse Menschen gibt. Und dass diese Menschen in Wahrheit keine Fremden sind, sondern die Männer, mit denen du schläfst, mit denen du arbeitest, die du großziehst. Ich wünschte, es würde etwas anderes bedeuten, eine Frau zu sein. Aber für uns lautet die Frage nicht, ob uns etwas Schlimmes passiert, sondern nur, wann.

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