24,99 €
Robert Langdon, Symbolforscher aus Harvard, begleitet seine Freundin Katherine Solomon nach Prag. Katherine bereitet die Veröffentlichung eines Buches vor, das bahnbrechende Entdeckungen über die wahre Natur des menschlichen Bewusstseins offenbart. Doch ein brutaler Mord stürzt die Reise in ein unvorhersehbares Chaos, und Katherine verschwindet plötzlich, ebenso ihr Manuskript. Langdon sieht sich fortan einer mächtigen Organisation gegenüber und wird von einem unheimlichen Angreifer verfolgt, der aus Prags ältester Mythologie entsprungen zu sein scheint und nur ein Ziel verfolgt: gnadenlose Rache.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 958
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Über das Buch
Über Dan Brown
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Fakt
Karte von Prag
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Kapitel 115
Kapitel 116
Kapitel 117
Kapitel 118
Kapitel 119
Kapitel 120
Kapitel 121
Kapitel 122
Kapitel 123
Kapitel 124
Kapitel 125
Kapitel 126
Kapitel 127
Kapitel 128
Kapitel 129
Kapitel 130
Kapitel 131
Kapitel 132
Kapitel 133
Kapitel 134
Kapitel 135
Kapitel 136
Kapitel 137
Kapitel 138
Kapitel 139
Epilog
Danksagungen
Abbildungsverzeichnis und Copyrightvermerke
Robert Langdon, Symbolforscher aus Harvard, begleitet seine Freundin Katherine Solomon nach Prag. Katherine bereitet die Veröffentlichung eines Buches vor, das bahnbrechende Entdeckungen über die wahre Natur des menschlichen Bewusstseins offenbart. Doch ein brutaler Mord stürzt die Reise in ein unvorhersehbares Chaos, und Katherine verschwindet plötzlich, ebenso ihr Manuskript. Langdon sieht sich fortan einer mächtigen Organisation gegenüber und wird von einem unheimlichen Angreifer verfolgt, der aus Prags ältester Mythologie entsprungen zu sein scheint und nur ein Ziel verfolgt: gnadenlose Rache.
Dan Brown, geboren 1964 in Exeter, USA, ist der Autor von weltbekannten Thrillern, darunter SAKRILEG (THE DA VINCI CODE), ein Roman, der mit Tom Hanks verfilmt wurde und in über 40 Ländern erschien. Seine Bücher, die Action, Wissenschaft und Geschichte vereinen, wurden in 54 Sprachen übersetzt und dominierten die Bestsellerlisten. Brown, der in Kunstgeschichte und Sprachen ausgebildet wurde, erschuf die ikonische Figur Robert Langdon. Der Autor lebt in Neuengland.
DANBROWN
THE SECRET OFSECRETS
THRILLER
Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Secret of Secrets«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2025 by Dan Brown
Published by arrangement with Doubleday, a division of
Penguin Random House LLC
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by Bastei Lübbe AG,
Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben
vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training
künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Helmut W. Pesch
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
Umschlagmotiv: © Evgeniyqw / Shutterstock
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-8497-9
luebbe.de
lesejury.de
Meinem Lektor und besten Freund Jason Kaufman,ohne den das Schreiben dieser Romane nahezu unmöglich … und bei Weitem nicht so unterhaltsam wäre.
Sobald die Wissenschaft beginnt, nicht-physische Phänomene zu erforschen, wird sie binnen eines Jahrzehnts größere Fortschritte machen als in allen vorangegangenen Jahrhunderten zusammen.
NIKOLA TESLA
FAKT
Alle Zeichnungen, Artefakte, Symbole und Dokumente in diesem Roman entsprechen der Realität.
Alle Experimente, Technologien und wissenschaftlichen Erkenntnisse sind der Wirklichkeit entnommen.
Alle Organisationen in diesem Roman existieren.
Ich muss gestorben sein, dachte die Frau.
Sie trieb über den Turmspitzen des Hradschin. Unter ihr leuchteten die strahlenden Türme des Veitsdoms auf einem Meer funkelnder Lichter. Mit den Augen, falls sie noch Augen hatte, folgte sie dem sanft abfallenden Burgberg hinunter ins Herz der tschechischen Hauptstadt und zeichnete das Labyrinth der verwinkelten Gassen nach, die von einer frischen Schneedecke verschleiert wurden.
Prag.
Desorientiert versuchte sie zu begreifen, in welcher Lage sie war.
Ich bin Neurowissenschaftlerin, beruhigte sie sich. Ich bin bei Verstand.
Die zweite dieser Feststellungen, erkannte sie, musste in Zweifel gezogen werden.
Mit Sicherheit wusste Dr. Brigita Gessner im Augenblick nur, dass sie über ihrer Heimatstadt Prag schwebte. Ihr Körper war nicht bei ihr. Sie hatte keine Masse, keine Form. Und doch schien der Rest von ihr, ihr wahres Ich – ihre Essenz, ihr Bewusstsein –, recht intakt und wach zu sein, während sie langsam durch die Luft in Richtung Moldau trieb.
Gessner konnte sich an nichts erinnern, was unmittelbar zurücklag, nur an den schwachen Nachhall körperlichen Schmerzes, doch ihr Körper schien nur noch aus der Atmosphäre zu bestehen, in der sie trieb, was sich anders anfühlte als alles, was sie je erlebt hatte. Ihrem intellektuellen Instinkt zum Trotz gelangte Gessner nur zu einer Erklärung.
Ich bin gestorben. Dies ist das Leben nach dem Tod.
Kaum kam der Gedanke auf, wies sie ihn als absurd zurück.
Das Leben nach dem Tod ist ein verbreiteter Irrglaube – erschaffen, um das echte Leben erträglich zu machen.
Als Ärztin war Gessner mit dem Tod und seiner Endgültigkeit nur allzu vertraut. Beim Sezieren menschlicher Gehirne während ihres Studiums war sie zu der Überzeugung gelangt, dass alle persönlichen Attribute, die uns zu dem machen, was wir sind – unsere Hoffnungen, Ängste, Träume und Erinnerungen –, aus nichts anderem bestehen als elektrischen Impulsen, die durch das Zusammenspiel chemischer Stoffe aufrechterhalten werden. Starb ein Mensch, wurde das Gehirn von seiner Energiequelle getrennt, und all jene Chemikalien wurden zu einer inerten Flüssigkeit ohne jede Spur dessen, wer die betreffende Person einmal gewesen war.
Wenn man stirbt, stirbt man.
Punkt.
Während sie über die symmetrisch angelegten Gärten des Palais Waldstein dahintrieb, fühlte sie sich jedoch sehr lebendig. Sie betrachtete den Schnee, der rings um sie herabfiel – oder durch sie hindurch? –, aber seltsamerweise spürte sie überhaupt keine Kälte. Es war, als schwebte ihr Geist einfach im Raum, mit vollkommen intakten Fähigkeiten von Vernunft und Logik.
Ich habe Gehirnfunktion, sagte sie sich. Also muss ich am Leben sein.
Gessner konnte daraus nur den Schluss ziehen, dass sie sich in den Fängen eines Zustands befand, der in der medizinischen Fachliteratur als AKE – außerkörperliche Erfahrung – bezeichnet wurde, eine Halluzination, die auftrat, wenn schwer verletzte Patientinnen und Patienten nach ihrem klinischen Tod reanimiert wurden.
AKE-Phänomene äußerten sich fast immer auf die gleiche Weise – durch den Eindruck, der Geist sei temporär von seiner körperlichen Hülle getrennt und treibe gestaltlos in die Höhe oder schwebe auf der Stelle. Obwohl es sich wie eine reale Erfahrung anfühlte, waren AKEs nichts weiter als imaginäre Reisen, ausgelöst durch die Auswirkungen von extremem Stress und Sauerstoffmangel im Gehirn, manchmal in Verbindung mit in der Katastrophenmedizin verwendeten Anästhetika wie Ketamin.
Ich halluziniere diese Bilder, versicherte sich Gessner und blickte auf den dunklen Bogen der Moldau, die sich durch die Stadt schlängelte. Aber wenn es eine außerkörperliche Erfahrung ist – dann muss ich im Sterben liegen.
Von der eigenen Gelassenheit überrascht, versuchte Gessner sich zu erinnern, was geschehen war.
Ich bin eine gesunde Frau von neunundvierzig Jahren … Warum sollte ich sterben?
Wie ein greller Blitz drang eine erschreckende Erinnerung in ihr Bewusstsein. Ihr wurde klar, wo sich ihre körperliche Hülle zurzeit befand – und, noch schrecklicher, was ihr gerade angetan wurde.
Sie lag auf dem Rücken, festgeschnallt an einer Apparatur, die sie selbst geschaffen hatte. Über sie beugte sich ein Monstrum. Das Geschöpf sah aus wie eine Art Urmensch, der aus der Erde gekrochen war. Sein Gesicht und seinen haarlosen Schädel bedeckte eine dicke Schicht aus schmutzigem Lehm, rissig und zerfurcht wie die Oberfläche des Mondes. Nur seine hasserfüllten Augen waren durch die irdene Maske zu sehen. Drei Buchstaben aus einer fremden Sprache waren in seine Stirn geritzt.
»Warum tust du das?«, hatte Gessner voll Panik geschrien. »Wer bist du?« Was bist du?
»Ich bin ihr Beschützer«, hatte das Ungeheuer geantwortet. Seine Stimme klang hohl und hatte einen vagen russischen Akzent. »Sie hat dir vertraut … und du hast sie verraten.«
»Wen?«, verlangte Gessner zu wissen.
Das Ungeheuer sprach einen Frauennamen aus, und Gessner durchfuhr die Panik wie ein Messerstich. Woher kann es denn wissen, was ich getan habe?
Ein eisiges Gewicht materialisierte sich auf ihren Armen, und Gessner begriff, dass das Monstrum den Prozess begonnen hatte. Einen Moment später flammte in ihrem linken Arm ein unerträglicher Schmerz auf, zuerst an einer nur stecknadelkopfgroßen Stelle, der sich dann ihre Ellbogenvene entlang ausbreitete und zu ihrer Schulter durchfraß. »Bitte hör auf«, keuchte sie.
»Erzähl mir alles«, verlangte das Monstrum, als das qualvolle Gefühl ihre Achselgrube erreichte.
»Das werde ich!«, willigte Gessner hektisch ein, und das Ungeheuer stoppte den Zufluss, worauf der Schmerz in ihrer Schulter nachließ, auch wenn das intensive Brennen anhielt.
Von Entsetzen geschüttelt, sprach Gessner mit zusammengebissenen Zähnen, so schnell sie konnte, und enthüllte Geheimnisse, die zu hüten sie geschworen hatte. Sie beantwortete seine Fragen und brachte die verstörende Wahrheit über das ans Licht, was sie und ihre Partner tief unterhalb der Stadt Prag erschaffen hatten.
Das Monstrum starrte sie hinter seiner dicken Lehmmaske an. In seinen kalten Augen blitzte Begreifen auf … und Hass.
»Ihr habt ein unterirdisches Haus des Schreckens errichtet«, wisperte es. »Ihr alle habt den Tod verdient.« Ohne zu zögern, schaltete es die Apparatur wieder ein und ging zur Tür.
»Nein!«, kreischte sie, als der furchtbare Schmerz sie erneut packte und durch ihre Schulter in die Brust eindrang. »Bitte lass mich nicht zurück … Es bringt mich um!«
»Das ist wahr«, sagte das Monstrum über die Schulter hinweg. »Aber der Tod ist nicht das Ende. Ich bin schon oft gestorben.«
Damit verschwand das Ungeheuer, und Gessner war wieder allein. Sie versuchte, um Gnade zu schreien, doch ihre Stimme ging in einem ohrenbetäubenden Donnerschlag unter, mit dem über ihr der Himmel aufzubrechen schien. Sie fühlte sich von einer unsichtbaren Kraft gepackt, einer Art umgekehrter Schwerkraft, die sie nach oben zerrte.
Jahrelang hatte Dr. Brigita Gessner die Berichte ihrer Patienten über Nahtoderfahrungen belächelt. Nun ertappte sie sich dabei, wie sie darum betete, in die Reihen jener raren Seelen treten zu können, die am Rande des Abgrunds gestanden und in den Schlund des Vergessens geblickt hatten und irgendwie an der letzten Schwelle umgekehrt waren und ins Leben zurückgefunden hatten.
Ich darf nicht sterben … Ich muss die anderen warnen!
Aber sie wusste, dass es zu spät war.
Dieses Leben war vorbei.
Robert Langdon erwachte friedlich und freute sich an den sanften Klängen klassischer Musik, die sein Handy auf dem Nachttisch zum Wecken abspielte. Griegs Morgenstimmung war vielleicht eine allzu offensichtliche Wahl, aber er hatte das Stück immer für die perfekten vier Minuten Musik gehalten, um einen Tag zu beginnen. Als die Holzbläser anschwollen, genoss Langdon die Ungewissheit, sich nicht genau erinnern zu können, wo er war.
Ach ja, fiel ihm ein, und er lächelte. Die Stadt der hundert Türme.
Im schwachen Licht betrachtete Langdon das große, mehrfach geteilte Fenster des Zimmers mit der Jugendstil-Kommode und der Lampe aus böhmischem Porzellan daneben. Der dicke, handgeknüpfte Teppich war noch von den Rosenblättern des Gute-Nacht-Services bestreut.
Langdon war drei Tage zuvor nach Prag gekommen und wie bei früheren Besuchen im Four Seasons Hotel abgestiegen. Als der Direktor darauf bestanden hatte, seine Buchung zur Royal Suite hochzustufen, hatte Langdon sich gefragt, ob er dies seiner Stellung als Stammgast zu verdanken habe oder, was wahrscheinlicher war, der Prominenz der Frau, mit der er reiste.
»Unsere prominentesten Gäste verdienen unsere beste Unterbringung«, hatte der Direktor gesagt.
Die Suite umfasste drei Schlafzimmer mit eigenen Bädern, ein Speisezimmer und einen Salon mit Klavier und einem zentralen Erkerfenster, das ein üppiges Bukett aus roten, weißen und blauen Tulpen zierte – ein Willkommensgeschenk der US-Botschaft. Langdons privater Ankleideraum bot ein Paar Flauschpantoffeln mit den Initialen RL.Irgendwas sagt mir, dass das nicht für Ralph Lauren steht, dachte er, von dem persönlichen Touch beeindruckt.
Während er sich nun auf dem Bett räkelte und der Musik seines Weckers lauschte, spürte er, wie ihn eine zarte Hand an der Schulter berührte.
»Robert?«, flüsterte eine leise Stimme.
Langdon drehte sich um, und sein Puls ging schneller. Da war sie, lächelte ihn an, die rauchgrauen Augen noch verschlafen. Die langen schwarzen Haare hingen ihr zerzaust auf die Schultern.
»Guten Morgen, Schönheit«, antwortete er.
Sie streckte die Hand aus und strich ihm über die Wange. Der Duft nach Balade Sauvage haftete noch an ihrem Handgelenk.
Langdon war gebannt von der Eleganz ihrer Züge. Obwohl sie vier Jahre älter war als er, wirkte sie bei jedem Wiedersehen noch umwerfender – die sich vertiefenden Lachfältchen, das leichte Grau in ihrem dunklen Haar, die verspielten Augen und dieser unfassliche Intellekt.
Er kannte die bemerkenswerte Frau seit seiner Zeit in Princeton, wo sie eine junge Dozentin gewesen war und er Student im Grundstudium. Sein stilles, schuljungenhaftes Schwärmen für sie hatte sie entweder nicht bemerkt oder nicht erwidert, aber zwischen ihnen war eine neckische platonische Freundschaft entstanden. Auch nachdem ihre Karriere abgehoben hatte und Langdon ein profilierter, auf der ganzen Welt bekannter Hochschullehrer geworden war, hatten sie stets losen Kontakt gepflegt.
Timing ist alles, erkannte Langdon nun und staunte noch immer, wie rasch sie auf dieser spontanen Vortragsreise zueinandergefunden hatten.
Als das Thema der Morgenstimmung sich zum Crescendo mit der ganzen Klangfülle des Orchesters steigerte, zog er sie mit starkem Arm eng an sich, und sie schmiegte sich an seine Brust. »Gut geschlafen?«, fragte er. »Keine schlimmen Träume mehr?«
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Mir ist das so peinlich. Es war furchtbar.«
In der Nacht war sie voll Angst aus einem besonders lebhaften Albtraum hochgeschreckt, und Langdon hatte sie beinahe eine ganze Stunde lang in den Armen halten müssen, bevor sie wieder einschlafen konnte. Die ungewöhnliche Intensität des Traumes, hatte Langdon ihr versichert, war die Wirkung ihres unvernünftigen Schlummertrunks aus tschechischem Absinth, bei dem Langdon stets gefunden hatte, dass sein Verkauf nur mit einem Warnaufdruck erlaubt sein sollte: Während der Belle Epoque wegen seiner halluzinogenen Eigenschaften beliebt. Auch wenn dies wohl eher auf übermäßigen Genuss zurückzuführen gewesen war.
»Nie wieder«, versicherte sie ihm.
Langdon streckte den Arm aus und schaltete die Musik ab. »Schließ die Augen. Ich bin zum Frühstück wieder hier.«
»Bleib bei mir.« Neckend hielt sie ihn fest. »Du kannst doch mal einen Tag das Schwimmen auslassen.«
»Nicht wenn du willst, dass ich ein junger Mann mit attraktivem Körper bleibe.« Mit einem schiefen Grinsen setzte er sich auf. Langdon war während ihres Aufenthalts jeden Morgen die drei Kilometer bis zum Strahov-Stadion gejoggt, wo er seine Runden schwamm.
»Draußen ist es dunkel«, drängte sie. »Kannst du nicht einfach hier schwimmen?«
»Im Hotel-Pool?«
»Warum nicht? Das ist auch Wasser.«
»Er ist winzig. Kaum drin, und schon bin ich fertig.«
»Darüber könnte ich einen Witz machen, Robert, aber ich will nett sein.«
Langdon grinste. »Mach dich nur über mich lustig. Schlaf noch etwas, und wir treffen uns zum Frühstück.«
Sie schmollte, warf mit einem Kissen nach ihm und drehte sich um.
Langdon zog seinen Harvard-Trainingsanzug über, den er als Lehrkraft erhalten hatte, und ging zur Tür. Er benutzte die Treppe, statt in den engen Privataufzug der Suite zu steigen.
Unten folgte er dem eleganten Wandelgang, der den barocken Uferanbau des Hotels mit dem Foyer des Gebäudes verband. Auf dem Weg kam er an einem schmucken Schaukasten mit einer Reihe von gerahmten Blättern vorbei, die Konzerte, Touren und Vorträge der Woche ankündigten. Der Hochglanzanschlag in der Mitte ließ ihn grinsen.
KOLLOQUIUMSREIHE AN DER KARLS-UNIVERSITÄT
HEISST AUF DER PRAGER BURG
DIE INTERNATIONAL GEFEIERTE
NOETISCHE WISSENSCHAFTLERIN
DR. KATHERINE SOLOMON
WILLKOMMEN
Guten Morgen, Schönheit, dachte er versonnen und lächelte das Porträtfoto der Frau an, die er vorhin oben geküsst hatte.
Katherines Vortrag am vergangenen Abend war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen, keine geringe Leistung, wenn man bedachte, dass sie im legendären Vladislavsaal der Prager Burg gesprochen hatte – einem riesigen Gewölbe, das während der Renaissance nicht nur für die Wahl des böhmischen Königs, sondern auch als Turnierhalle gedient hatte, in der vollgerüstete Ritter zu Pferd mit eingelegten Lanzen gegeneinander angetreten waren.
Die Kolloquien im Vladislavsaal gehörten zu den angesehensten Vortragsreihen Europas und zogen stets fähige Dozenten und begeistertes Publikum aus der ganzen Welt an. Der gestrige Abend hatte keine Ausnahme gebildet, und der voll besetzte Saal hatte lautstark applaudiert, nachdem Katherine vorgestellt worden war.
»Ich danke Ihnen allen«, sagte Katherine und trat mit selbstbewusster Ruhe aufs Podium. Sie trug einen weißen Kaschmir-Sweater und Designer-Slacks, die perfekt dazu passten. »Heute Abend würde ich gern beginnen, indem ich eine Frage beantworte, die mir beinahe täglich gestellt wird.« Grinsend nahm sie das Mikrofon von seinem Stativ. »Was, zur Hölle, ist Noetische Wissenschaft?«
Eine Welle des Gelächters ging durch den Saal. Das Publikum begann sich wohlzufühlen.
»Einfach ausgedrückt«, fuhr Katherine fort, »ist Noetik die Wissenschaft vom menschlichen Bewusstsein. Im Gegensatz zu dem, was einige denken, ist Bewusstseinsforschung keine neue Disziplin – tatsächlich handelt es sich bei ihr um die älteste Wissenschaft auf Erden. Seit dem Morgengrauen der Geschichte haben wir Antworten auf die hartnäckigen Geheimnisse des menschlichen Geistes gesucht – die Natur des Bewusstseins und der Seele. Und jahrhundertelang haben wir diese Fragen vor allem durch die Linse der Religion betrachtet.«
Katherine trat von der Bühne und näherte sich der ersten Zuschauerreihe. »Und da wir schon von Religion sprechen, meine Damen und Herren, ich kam nicht umhin zu bemerken, dass unter Ihnen heute Abend ein weltbekannter Experte für religiöse Symbolforschung sitzt, Professor Robert Langdon.«
Langdon vernahm aufgeregtes Gemurmel aus der Menge. Was soll das denn jetzt?
Mit einem Lächeln baute sie sich vor ihm auf. »Professor, ich frage mich, ob wir kurz auf Ihre Expertise zurückgreifen dürfen? Würden Sie bitte aufstehen?«
Langdon erhob sich höflich und bedachte sie mit einem Blick, der Dafür wirst du bezahlen verhieß.
»Ich bin neugierig, Professor: Was ist das auf der Erde verbreitetste religiöse Symbol?«
Die Antwort war einfach, und entweder hatte Katherine seinen Artikel über das Thema gelesen und wusste, was kommen würde, oder sie würde sehr stark enttäuscht werden.
Langdon nahm das Mikrofon und wandte sich dem Meer aus gespannten Gesichtern zu, die von Kronleuchtern an alten Eisenketten schwach beschienen wurden. »Guten Abend«, sagte er. Sein tiefer Bariton dröhnte aus den Lautsprechern. »Und vielen Dank an Dr. Solomon, mich ohne jede Warnung ins Rampenlicht zu holen.«
Das Publikum applaudierte.
»Also gut«, sagte er. »Das häufigste religiöse Symbol der Welt? Hat jemand eine Idee?«
Ein Dutzend Hände wurden gehoben.
»Ausgezeichnet«, sagte Langdon. »Irgendwelche Vorschläge, die kein Kruzifix sind?«
Überall sah man Hände sinken.
»Der Halbmond!«, rief einer.
Langdon lachte stillvergnügt und schüttelte den Kopf. »Zwar stimmt es, dass Kreuz und Halbmond sehr verbreitet sind, aber es sind nur Symbole einzelner Religionen. Es gibt jedoch ein universelles Symbol, das in der Kunst jeder Religion der Welt auftaucht.«
Die Zuhörer tauschten verwirrte Blicke.
»Sie haben es alle schon oft gesehen«, redete Langdon den Leuten zu. »Vielleicht an der ägyptischen Ra-Horakhty-Stele im Louvre?« Er schwieg kurz. »Was ist mit dem Kanishka-Reliquiar, einer der ältesten Darstellungen Buddhas? Oder dem berühmten Christus Pantokrator vom Katharinenkloster auf dem Sinai?«
Schweigen. Starre Blicke.
Oh, Junge, dachte Langdon. Definitiv ein Haufen Naturwissenschaftler.
»Es erscheint auch auf zahlreichen der berühmtesten Renaissance-Gemälde – Fra Angelicos Verkündigung Mariä in Florenz, Giottos Beweinung Christi in Padua, Raffaels Sixtinische Madonna im Vatikan, Leonardo da Vincis Felsgrottenmadonna in London …?«
Noch immer nichts.
»Das Symbol, das ich meine«, sagte er, »ist der Heiligenschein.«
Katherine lächelte. Offensichtlich hatte sie gewusst, dass er diese Antwort geben würde.
»Der Heiligenschein oder Halo«, fuhr Langdon fort, »ist die Scheibe aus Licht, die über dem Kopf eines erleuchteten Wesens erscheint. Im Christentum schweben Heiligenscheine über Jesus, Maria und den Heiligen. Gehen wir weiter zurück, schwebte eine Sonnenscheibe über dem altägyptischen Gott Ra, und in fernöstlichen Religionen erscheint ein Nimbus über dem Buddha und den Hindugöttern.«
»Wunderbar, Professor, vielen Dank.« Katherine griff nach dem Mikrofon, doch Langdon ignorierte sie und drehte sich geschickt weg. Rache ist süß.Stelle einem Historiker niemals eine Frage, die du nicht zur Gänze beantwortet haben möchtest.
»Ich sollte hinzufügen«, fuhr Langdon fort, während die Menge anerkennend lachte, »dass Heiligenscheine in allen Größen, Formen und künstlerischen Darstellungen daherkommen. Manche sind solide Goldscheiben, andere transparent, manche nur ein goldener Reif, der über dem Kopf schwebt, und einige sind sogar quadratisch. Alte jüdische Schriften beschreiben Moses’ Kopf als von einer hila umgeben – dem hebräischen Wort für Halo oder Ausstrahlung von Licht. Bestimmte spezialisierte Formen von Heiligenscheinen zeigen Lichtstrahlen, die von ihnen ausgehen … leuchtende Stacheln, die radial in alle Richtungen zeigen.«
Langdon wandte sich mit einem verschmitzten Lächeln wieder Katherine zu. »Vielleicht weiß Dr. Solomon, wie dieser Typ von Heiligenschein genannt wird?« Er neigte das Mikrofon zu ihr.
»Eine Strahlenkrone«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
Jemand hat sich eingelesen. Langdon hielt sich das Mikrofon erneut vor die Lippen. »Richtig, die Strahlenkrone ist ein besonders bedeutsames Symbol. Im Laufe der Geschichte schmückt sie die Köpfe von Horus, Helios, Ptolemäus, Caesar … und sogar des gewaltigen Kolosses von Rhodos.« Langdon lächelte die Menge verschwörerisch an. »Nur wenigen ist es bewusst, aber das am häufigsten fotografierte Motiv in ganz New York City ist … eine Strahlenkrone.«
Selbst Katherine sah ihn nun verwirrt an.
»Hat jemand eine Idee?«, fragte er. »Niemand von Ihnen hat jemals die Strahlenkrone über dem Hafen von New York fotografiert?«
»Die Freiheitsstatue!«, rief jemand.
»Genau«, sagte Langdon. »Die Freiheitsstatue trägt eine Strahlenkrone – einen antiken Heiligenschein, jenes universelle Symbol, das in der gesamten Geschichte der Kunst dazu diente, besondere Individuen hervorzuheben, von denen wir glauben, sie hätten göttliche Erleuchtung erfahren … oder einen fortgeschrittenen Zustand des Bewusstseins.«
Als Langdon das Mikrofon wieder an Katherine übergab, strahlte sie ihn an. Danke, hauchte sie ihm zu, während er unter Applaus an seinen Platz zurückkehrte.
Katherine ging auf das Podium zurück. »Wie Professor Langdon gerade so wortgewaltig ausgeführt hat, haben die Menschen schon sehr lange über das Bewusstsein gerätselt. Aber selbst heute, mit fortschrittlicher Wissenschaft, haben wir Mühe, es zu definieren. Viele Wissenschaftler fürchten sich sogar davor, über das Bewusstsein zu diskutieren.« Katherine sah sich um und flüsterte: »Sie nennen es das B-Wort.«
Vereinzeltes Lachen lief erneut durch den Saal.
Katherine nickte einer bebrillten Frau in der ersten Reihe zu. »Ma’am, wie würden Sie Bewusstsein definieren?«
Die Frau überlegte kurz. »Ich glaube … die Wahrnehmung der eigenen Existenz?«
»Perfekt«, sagte Katherine. »Und woher kommt diese Wahrnehmung?«
»Aus meinem Gehirn, würde ich sagen. Meine Gedanken, Ideen, Fantasien … die Hirnaktivität, die mich zu dem macht, der ich bin.«
»Sehr gut ausgedrückt, ich danke Ihnen.« Katherine hob den Blick wieder zum Publikum. »Können wir also damit beginnen, dass wir uns auf das Grundsätzliche einigen? Bewusstsein wird vom Gehirn geschaffen – dem drei Pfund schweren Bündel aus sechsundachtzig Milliarden Neuronen in Ihrem Kopf –, und daher ist das Bewusstsein in unserem Kopf lokalisiert.«
Allseitiges Nicken.
»Wunderbar«, sagte Katherine. »Wir haben uns soeben auf das gegenwärtig akzeptierte Modell des menschlichen Bewusstseins geeinigt.« Nach einem Herzschlag seufzte sie schwer. »Das Problem ist nur … das gegenwärtig akzeptierte Modell ist völlig falsch. Ihr Bewusstsein wird nicht von Ihrem Gehirn erschaffen. Tatsächlich ist Ihr Bewusstsein nicht einmal in Ihrem Kopf lokalisiert.«
Verdutztes Schweigen setzte ein.
Die bebrillte Frau in der vordersten Reihe fragte: »Aber wenn mein Bewusstsein nicht in meinem Kopf ist – wo ist es dann?«
»Ich bin so froh, dass Sie das fragen.« Katherine hatte die Zuhörerschaft angelächelt. »Machen Sie es sich bequem. Wir haben heute Abend eine lange Fahrt vor uns.«
Ein Rockstar, dachte Langdon auf dem Weg zur Hotellobby. Die stehenden Ovationen, die Katherine erhalten hatte, klangen ihm noch in den Ohren. Ihr Vortrag war eine überwältigende Tour de Force gewesen, die das Publikum in ihren Bann geschlagen und hungrig auf mehr gemacht hatte. Als jemand Katherine nach ihrer aktuellen Arbeit gefragt hatte, hatte sie erklärt, dass sie gerade den letzten Schliff an ein Buch gelegt hatte, von dem sie hoffte, dass es das gegenwärtige Paradigma des Bewusstseins neu definieren helfe.
Langdon hatte Katherine zu einem Verlagsvertrag verholfen, ihr Manuskript hatte er allerdings noch nicht gelesen. Sie hatte genug von seinem Inhalt angedeutet, um Langdon zu fesseln und der Lektüre erwartungsvoll entgegenzusehen, aber ihr war anzumerken gewesen, dass sie die schockierendsten Enthüllungen für sich behalten hatte. Katherine Solomon ist nie um Überraschungen verlegen.
Als er sich dem Foyer näherte, fiel ihm wieder ein, dass Katherine um acht Uhr mit Dr. Brigita Gessner verabredet war, der angesehenen tschechischen Neurowissenschaftlerin, die Katherine zu dem Vortrag eingeladen hatte. So großzügig Gessners Einladung gewesen war – nachdem er die Frau am Vorabend nach dem Vortrag kennengelernt und unerträglich gefunden hatte, hoffte Langdon insgeheim, dass Katherine verschlafen und sich lieber für ein Frühstück mit ihm entscheiden würde.
Er verdrängte die Vorstellung aus seinen Gedanken, betrat das Foyer und erfreute sich am Duft der aufwendigen Rosenbuketts, die stets den Haupteingang zierten. Der Anblick, der sich ihm im Foyer bot, war allerdings weniger einladend.
Zwei dunkelblau uniformierte Polizeibeamte gingen langsam durch die Halle, jeder mit einem Schäferhund. Die Tiere trugen schusssichere Westen mit dem Schriftzug POLICIE und witterten, als suchten sie … etwas.
Das sieht nicht gut aus. Langdon ging zur Rezeption. »Ist alles in Ordnung?«
»Oh ja, Mr Langdon!« Der makellos gekleidete Hoteldirektor verbeugte sich beinahe, als er herbeieilte, um Langdon zu begrüßen. »Alles ist in bester Ordnung, Professor. Eine Bagatelle in der Nacht, aber ein falscher Alarm«, versicherte er und schüttelte wegwerfend den Kopf. »Reine Vorsichtsmaßnahmen, Sie verstehen? Wie Sie wissen, schreiben wir Sicherheit hier im Four Seasons Prag ganz groß.«
Langdon sah zu den Polizeibeamten. Bagatelle? Die beiden sahen nicht nach einer Bagatelle aus.
»Wollen Sie zum Schwimmbad, Sir?«, fragte der Direktor. »Soll ich Ihnen einen Wagen rufen?«
»Nein, danke.« Langdon schlug den Weg zur Tür ein. »Ich laufe hinüber. Ich mag die frische Luft.«
»Aber es schneit!«
Langdon sah nach draußen. Der gebürtige Neuengländer musterte die wenigen Schneeflocken, die durch die Luft trieben, und bedachte den Hoteldirektor mit einem Lächeln. »Wenn ich in einer Stunde nicht wieder da bin, können Sie ja einen der Hunde schicken, damit er mich ausgräbt.«
Der Golem humpelte die Straße entlang und schleifte den Saum seines langen schwarzen Mantels durch den schmutzigen Schneematsch, der die Kaprova bedeckte. Die klobigen Plateaustiefel unter dem Umhang fühlten sich so schwer an, dass er kaum imstande war, die Beine zu heben. In der kalten Luft verfestigte sich auf seinem Gesicht und seinem Schädel eine dicke Schicht aus Lehm.
Ich muss nach Hause.
Der Äther wird stärker.
Aus Furcht, der Äther könnte ihn übermannen, griff der Golem in die Tasche und umschloss den kleinen Metallstab, den er die ganze Zeit bei sich trug. Er hob ihn an seinen Kopf, drückte ihn fest gegen den Scheitel seines Schädels und rieb ihn mit kleinen kreisenden Bewegungen über den getrockneten Lehm.
Noch nicht, psalmodierte er lautlos und schloss die Augen.
Der Äther verflog, wenigstens vorerst, und er steckte den Stab in die Tasche zurück und ging weiter.
Noch ein paar Häuserblocks, und ich kann loslassen.
Der alte Marktplatz der Stadt, der Altstädter Ring – in Prag als Staroměstské náměsti bekannt –, war an diesem dunklen Morgen menschenleer, von einem Touristenpärchen abgesehen, das zur berühmten astronomischen Rathausuhr hochschaute. Zu jeder Stunde zeigte das mittelalterliche Uhrwerk seinen »Gang der Apostel«, eine ruckelnde Prozession von Heiligenfiguren, die sich durch zwei kleine Fenster im Ziffernblatt mechanisch in Sicht drehten und wieder verschwanden.
Seit dem fünfzehnten Jahrhundert gehen sie ziellos im Kreis, dachte der Golem, und noch immer lockt das Schauspiel Schafe an, die es begaffen wollen.
Als der Golem an dem Pärchen vorbeiging, sahen sie zu ihm hinüber, keuchten spontan auf und wichen einen Schritt zurück. Ihre Reaktion rief ihm in Erinnerung, dass er eine physische Form besaß, auch wenn sie nicht erkennen konnten, was er in Wahrheit war.
Ich bin der Golem.
Ich bin nicht von eurer Welt.
Gelegentlich fühlte sich der Golem losgelöst, so als könnte er davontreiben, und er genoss es, seine sterbliche Hülle in schwere Gewänder zu kleiden. Das Gewicht des Umhangs und der Plateaustiefel betonte den Zug der Schwerkraft, die ihn an der Erde verankerte. Sein lehmbeschmierter Kopf und der Kapuzenmantel machten ihn zu einer furchteinflößenden Absonderlichkeit, selbst in Prag, wo nächtliche Kostümierung nichts Ungewöhnliches war.
Was den Golem jedoch zu einem wahrhaft fesselnden Anblick machte, waren die drei Schriftzeichen auf seiner Stirn, die mit einem Palettenmesser in den feuchten Lehm geritzt worden waren.
אמת
Die drei hebräischen Buchstaben – Aleph, Mem und Taw – ergaben von rechts nach links gelesen das Wort EMET.
Wahrheit.
Wahrheit hatte den Golem nach Prag gebracht. Und Wahrheit war, was er in der Nacht aus Dr. Gessner herausbekommen hatte: ein detailliertes Geständnis der Gräuel, die von ihr und ihren Mittätern tief unterhalb von Prag verübt worden waren. So abstoßend ihre Verbrechen wirkten, verblassten sie doch im Vergleich mit dem, was für die nahe Zukunft geplant war.
Ich werde das alles vernichten, sagte er sich. Es in Schutt und Asche legen.
Der Golem stellte sich ihre finstere Schöpfung vor … zertrümmert … eine rauchende Grube in der Erde. Auch wenn es eine beängstigende Aufgabe darstellte, war der Golem voll Zuversicht, dass er sie erfüllen konnte. Dr. Gessner hatte ihm alles enthüllt, was er zu wissen brauchte.
Ich muss rasch handeln. Das Zeitfenster ist eng, sagte er sich. In seinen Gedanken kristallisierte sich bereits ein Plan heraus.
Der Golem wandte sich nach Südosten, entfernte sich von dem Platz und betrat die enge, gewundene Gasse, die zu seiner Wohnung führte. Die Prager Altstadt war ein Labyrinth aus schmalen Sträßchen, das für sein pulsierendes Nachtleben in ihren markanten Gasthäusern bekannt war – dem Lesecafé Týnská für Schriftsteller und Intellektuelle, der Anonymous Bar für Hacker und Verschwörungstheoretiker, der Hemingway Bar für Kenner und Cocktailexperten. Auch das Sex Machines Museum war noch geöffnet und zog bis in die Nacht Scharen von Schaulustigen an.
Während der Golem sich durch das Gassengewirr bewegte, stellte er fest, dass er weder über die Qualen nachdachte, die er gerade Dr. Brigita Gessner zugefügt, noch über die schockierenden Informationen, die er ihr abgepresst hatte – vielmehr dachte er an sie.
Er dachte immer an sie.
Ich bin ihr Beschützer.
Sie und ich, wir sind zwei verschränkte Partikel, auf immer miteinander verflochten.
Sein einziger Zweck auf dieser Erde war es, sie zu behüten, und doch wusste sie nichts von seiner Existenz. Dennoch, seine Zeit in ihren Diensten war ihm eine Ehre gewesen. Die Bürde eines anderen zu tragen war die edelste aller Berufungen; doch es unerkannt zu tun, ohne irgendwelche Anerkennung zu erhalten – das durfte er einen wahrhaft selbstlosen Liebesdienst nennen.
Schutzengel nehmen viele Gestalten an.
Sie war ein vertrauensseliger Mensch, der unwissentlich in eine Welt der dunklen Wissenschaft verstrickt war. Sie sah die Haie nicht, die sie umkreisten. Der Golem hatte in dieser Nacht einen solchen Hai getötet, doch nun war Blut im Wasser. Mächtige Kräfte würden bald aus der Tiefe an die Oberfläche steigen, um herauszufinden, was geschehen war – und um sicherzustellen, dass ihr Geheimnis nicht ans Tageslicht kam.
Ihr werdet zu spät kommen, dachte er. Ihr unterirdisches Haus des Schreckens würde bald unter dem Gewicht der eigenen Sünden in sich zusammenstürzen – ein Opfer ihrer eigenen unheiligen Technik.
Als er weiter durch die verschneiten Sträßchen stapfte, spürte der Golem, wie der Äther zurückkehrte und sich um ihn verdichtete. Erneut rieb er mit dem Metallstab gegen seinen Kopf.
Bald, gelobte er.
In London schritt ein Amerikaner namens Mr Finch in seinem luxuriösen Büro auf und ab und putzte dabei eine Panthère-Brille von Cartier. Seine Ungeduld war in tiefe Sorge umgeschlagen.
Wo, zum Teufel, ist Gessner? Wieso kann ich sie nicht erreichen?
Er wusste, dass die tschechische Neurowissenschaftlerin am vergangenen Abend den Vortrag Katherine Solomons auf der Prager Burg besucht hatte, und danach hatte sie Finch eine alarmierende Nachricht über das Buch gesandt, das Solomon demnächst zu veröffentlichen gedachte. Das war keine gute Neuigkeit. Gessner hatte versprochen, Finch anzurufen, sobald sie etwas Neues in Erfahrung bringen sollte.
Bisher hatte Finch kein Wort gehört, und es war beinahe Morgen. Er hatte ihr eine Nachricht nach der anderen geschickt und wiederholt versucht, sie anzurufen, aber vergeblich.
Sechs Stunden sind es nun … Gessner ist akribisch – das passt überhaupt nicht zu ihr.
Mr Finch hatte es an die Spitze seines Feldes geschafft, indem er auf sein Bauchgefühl hörte, und er war es gewohnt, seiner Intuition zu folgen. Leider sagten seine Instinkte ihm nun, dass in Prag etwas ganz gefährlich aus dem Ruder gelaufen war.
Die Winterluft fühlte sich frisch und belebend an, als Robert Langdon die Křižovnická in südlicher Richtung entlanglief. Seine langen Schritte hinterließen eine einsame Spur aus Fußabdrücken in der dünnen Schneedecke auf dem Bürgersteig.
Prag kam Langdon immer wie eine verzauberte Stadt vor. Oft wirkte sie wie aus der Zeit gefallen. Im Zweiten Weltkrieg war sie erheblich weniger beschädigt worden als andere europäische Großstädte, und die Hauptstadt des historischen Böhmen zeigte eine umwerfende Skyline aus nach wie vor originalen Bauwerken – eine einzigartig vielfältige und unberührte Mischung aus romanischer, gotischer, barocker, neoklassizistischer und Jugendstil-Architektur.
Der Beiname der Stadt – Stověžatá – bedeutete wörtlich »mit hundert Türmen«, auch wenn die Gesamtzahl aller Türmchen in Prag eher an die siebenhundert reichte. Während des Sommers beleuchtete die Stadt sie gelegentlich mit einem Meer aus grünen Flutlichtern; der Ehrfurcht gebietende Anblick sollte angeblich Hollywood zu der Darstellung der Smaragdstadt in Der Zauberer von Oz angeregt haben – einem mystischen Reiseziel, in dem wie in Prag die Magie möglich zu sein schien.
Während Langdon die Platnéřská entlangjoggte, kam es ihm vor, als liefe er durch die Seiten eines Geschichtsbuchs. Die kolossale Fassade des Prager Clementinums ragte zu seiner Linken auf. Das alte Jesuitenkolleg nahm zwei Hektar ein und umfasste den Astronomischen Turm, den die Sternenforscher Tycho Brahe und Johannes Kepler genutzt hatten, sowie einen exquisiten barocken Bibliothekssaal mit mehr als zwanzigtausend antiken Bänden über Theologie. Diese Bibliothek war Langdons Lieblingsort in Prag und womöglich in ganz Europa. Erst am Vortag hatte er mit Katherine die neueste Ausstellung besucht.
Als er an der Kreuzherrenkirche des Heiligen Franziskus von Assisi nach rechts bog, sah er gleich vor sich den Osteingang zu einer der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt vor sich, beschienen durch das Bernsteinleuchten der unvergleichlichen Prager Gaslaternen. Karlův most – die Karlsbrücke – wurde oftmals als romantischste Brücke der ganzen Welt bezeichnet. Sie bestand aus böhmischem Sandstein, und auf beiden Seiten säumten sie dreißig Statuen christlicher Heiliger. Auf mehr als einem halben Kilometer überspannte sie die ruhige Moldau. An beiden Enden durch gewaltige Wachttürme geschützt, war die Brücke einst Bestandteil einer lebenswichtigen Handelsroute zwischen West- und Osteuropa gewesen.
Langdon joggte durch den Torbogen im Ostturm, und als er herauskam, sah er eine unberührte Schneedecke, die sich vor ihm ausbreitete. Die Brücke war nur für Fußgänger zugänglich, und dennoch entdeckte er zu dieser Stunde keinen einzigen Fußabdruck.
Ich bin allein auf der Karlsbrücke, dachte Langdon. Ein Moment fürs Leben. Einmal war er im Louvre mit der Mona Lisa ähnlich allein gewesen, allerdings unter weit weniger angenehmen Umständen.
Langdon machte längere Schritte, als er in sein Tempo fiel, und als er das andere Ufer des Flusses erreichte, rannte er leicht und mühelos. Zu seiner Rechten, hoch angestrahlt vor der dunklen Skyline, leuchtete das meistgeliebte funkelnde Juwel der ganzen Stadt.
Die Prager Burg.
Bei ihr handelte es sich um die größte geschlossene Burganlage der Welt. Sie nahm eine Fläche von fast siebzigtausend Quadratmetern ein und erstreckte sich dabei mehr als einen halben Kilometer weit vom Westtor zum St.-Wenzels-Weinberg an der östlichen Spitze. Die Außenmauern umschlossen sechs Gärten, vier verschiedene Paläste und vier Kirchen, darunter den prächtigen Veitsdom, in dem die böhmischen Kronjuwelen aufbewahrt wurden, einschließlich der Wenzelskrone, die Karl IV. dem heiligen Wenzeslaus gewidmet hatte, dem Heiligen, der in dem bekannten englischen Weihnachtslied »Good King Wenceslas« besungen wurde.
Als Langdon den Westturm der Karlsbrücke durchquerte, lachte er vor sich hin, weil er an den Vortrag auf der Prager Burg am Vorabend denken musste.
Katherine kann ganz schön hartnäckig sein.
»Komm mit zu meinem Vortrag, Robert!«, das waren ihre Worte gewesen, als sie ihn zwei Wochen zuvor angerufen hatte, um ihn nach Prag zu locken. »Er liegt perfekt – du hast Winterferien. Ich lade dich ein.«
Langdon dachte über ihr verlockendes Angebot nach. Sie hatten von jeher ein Verhältnis, das von platonischen Flirts und gegenseitigem Respekt bestimmt war, und er war geneigt, die Vorsicht in den Wind zu schlagen und ihre spontane Einladung anzunehmen.
»Ich bin in Versuchung, Katherine. Prag ist zauberhaft, aber ehrlich gesagt –«
»Lass mich gleich auf den springenden Punkt kommen«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich brauche Begleitung, okay? Da, ich habe es ausgesprochen. Ich brauche jemanden, der mich zu meinem eigenen Vortrag begleitet.«
Langdon lachte auf. »Deshalb rufst du an? Eine weltberühmte Wissenschaftlerin – und du brauchst einen Chaperone?«
»Für den festlichen Rahmen, Robert. Es gibt ein großes Diner für die Sponsoren, und dann trage ich in irgend so einem berühmten Saal vor … Vlad sowieso.«
»Im Vladislavsaal? Auf der Prager Burg?«
»Ja, genau.«
Langdon war beeindruckt. Die vierteljährlichen Kolloquien an der Karls-Universität gehörten zu den angesehensten Vorträgen in der Welt der europäischen Wissenschaft, aber sie waren offensichtlich noch prestigeträchtiger, als er gedacht hatte.
»Bist du sicher, dass du in diesem Rahmen einen Symbolologen im Frack am Arm haben möchtest, nur so als Dekoration?«
»Clooney habe ich schon gefragt, aber sein Anzug ist in der Reinigung.«
Langdon stöhnte. »Sind denn alle Noetikerinnen so sturköpfig?«
»Nur die guten«, sagte sie. »Und ich nehme das als Ja.«
Was für einen Unterschied zwei Wochen bedeuten können, dachte Langdon. Er lächelte noch immer, als er das andere Ende der Karlsbrücke erreichte. Die Stadt Prag war ihrem Ruf, zauberkräftig zu sein, gewiss gerecht geworden … ein Katalysator mit uralten Kräften. Etwas ist hier geschehen …
Langdon würde niemals seinen ersten Tag mit Katherine an diesem mystischen Ort vergessen – wie sie sich in einem Gewirr aus kopfsteingepflasterten Sträßchen verloren … Hand in Hand durch einen Nieselregen eilten … sich in einem Torbogen des Kinský-Palais am Altstädter Ring unterstellten … und dort, atemlos, im Schatten des Turms mit der Rathausuhr … ihr erster Kuss, der sich nach jahrzehntelanger Freundschaft überraschend mühelos angefühlt hatte.
Ob es an Prag gelegen hatte, an dem perfekten Zeitpunkt oder an einer Führung durch eine unsichtbare Hand, doch der Kuss hatte zwischen ihnen eine unerwartete Alchemie entfacht, die mit jedem verstreichenden Tag stärker wurde.
Woanders in der Stadt bog der Golem um die letzte Ecke und erreichte müde das Haus, in dem er wohnte. Er schloss die Tür zur Straße auf und trat in den schäbigen Flur.
Dort war es dunkel, doch er entschied sich, das Licht nicht einzuschalten. Stattdessen schlüpfte er durch einen engen Zugang in ein verborgenes Treppenhaus, dessen Stufen er im Dunkeln erklomm. Das Geländer nutzte er zur Orientierung. Ihm schmerzten die Beine, sie protestierten gegen jeden Schritt in die Höhe, und er war dankbar, als er endlich seine Wohnungstür erreichte. Nachdem er sich sorgsam den Schnee von den Schuhen getreten hatte, schloss der Golem die Tür auf und trat ein.
Die Wohnung war in völlige Dunkelheit gehüllt.
Genau wie ich sie geschaffen habe. Die Innenwände und die Decken waren durchgehend schwarz gestrichen, die Fenster mit schweren Vorhängen verhüllt. Der Lack der Fußböden war stumpf und schmutzig und warf keinen Lichtschimmer zurück, und es gab so gut wie keine Möbel.
Der Golem legte einen Hauptschalter um, und ein Dutzend Schwarzlichtlampen erleuchteten die Wohnung. Alles, was von heller Färbung war, umgaben sie mit einem weichen purpurstichigen Schein. Sein Zuhause war eine Landschaft wie von einer anderen Welt – vergänglich und lumineszierend –, und er entspannte sich sofort. Sich durch diesen Raum zu bewegen verlieh ihm das Gefühl, durch eine weite Leere zu driften … von einem schimmernden Objekt zum nächsten zu schweben.
Das Fehlen eines breiten Spektrums von Licht schuf eine »zeitneutrale« Umgebung – eine Welt, in der seine physische Gestalt keine tagesrhythmischen Impulse erhielt. Seine Aufgaben erforderten, dass der Golem zu unregelmäßigen Zeiten wach war, und der Mangel an Licht befreite seinen Biorhythmus von den Einflüssen konventioneller Zeitmessung. Ein vorhersehbarer Tagesablauf war ein Luxus, der schlichteren Seelen vorbehalten war – unbelasteten Seelen.
Meine Dienste werden von ihr zu unerwarteten Stunden benötigt – Tag und Nacht.
Er bewegte sich durch die gespenstische Dunkelheit, betrat seinen Ankleideraum und legte Umhang und Stiefel ab. Wie er vom Hals abwärts nackt dastand, schimmerte seine Haut blass im Schwarzlicht, aber er vermied es, sie anzusehen. In seiner Zuflucht gab es mit Vorbedacht keine Spiegel, bis auf den winzigen Handspiegel, den er benutzte, wenn er den Lehm auf sein Gesicht auftrug.
Der Anblick seines eigenen Körpers verstörte ihn jedes Mal.
Dies ist nicht mein Körper.
Ich habe mich nur in ihm manifestiert.
Der Golem stapfte barfuß ins Bad, drehte die Dusche auf und trat hinein. Nachdem er seine lehmverkrustete Scheitelkappe abgezogen hatte, schloss er die Augen und hob das Gesicht in den warmen Guss. Das Wasser fühlte sich reinigend an, und der getrocknete Lehm löste sich in dunkle Sturzbäche auf, die seinen Körper hinunterliefen und spiralartig in den Abfluss flossen.
Als der Golem sicher war, alle Spuren seiner Aktivitäten der vergangenen Nacht beseitigt zu haben, trat er aus der Duschkabine und trocknete sich ab.
Der Äther zog jetzt stärker an ihm, aber er griff nicht nach dem Stab.
Es ist Zeit.
Noch immer nackt, durchquerte der Golem die Dunkelheit zu seiner svatyně – dem besonderen Raum, den er geschaffen hatte, um seine Gabe zu empfangen.
In völliger Schwärze ging er zu der Hanfmatratze, die exakt mitten im Raum auf dem Boden lag. Respektvoll legte er sich nieder und positionierte sich ins genaue Zentrum der Unterlage.
Dann befestigte er den perforierten Chengbaobaby-Ball aus Silikon in seinem Mund … und ließ los.
Hier bin ich auch der Erste, dachte Langdon, als er das Strahov-Stadion erreichte, wo der Bademeister gerade erst aufschloss. Langdon kannte nur wenige Dinge, die noch angenehmer waren, als ein Fünfundzwanzig-Meter-Becken komplett für sich allein zu haben. Er ging an den Spind, den er gemietet hatte, schlüpfte in seine Speedo-Badehose, duschte sich rasch ab, nahm seine Vanquisher-Schwimmbrille und ging zum Becken.
Die Leuchtstofflampen unter der Decke heizten sich gerade auf, und die Halle war noch weitgehend dunkel. Langdon stellte sich an den Beckenrand, die Zehen über der Kante, und blickte auf die glatte Wasserfläche, die einem riesigen schwarzen Spiegel glich.
Der Tempel der Athene, sann er und dachte daran, wie die alten Griechen Katoptromantie betrieben hatten, indem sie in dunklen Wasserflächen nach einem Blick in ihre Zukunft suchten. Er stellte sich Katherine schlafend in ihrem Hotelzimmer vor und fragte sich, ob etwa sie seine Zukunft sei. Für einen eingefleischten Junggesellen war dieser Gedanke beunruhigend und erregend zugleich.
Langdon zog die Schwimmbrille über die Augen, holte tief Luft und stürzte sich ins Wasser. Er durchschnitt die Oberfläche, glitt zwei Sekunden lang darunter hinweg und schwamm dann zehn Meter weit Delfin, bevor er in Freistil überging.
Ganz auf die Kadenz seines Atems konzentriert, verfiel Langdon in den halb meditativen Zustand, in den ihn das Schwimmen stets versetzte. Seine Muskulatur entspannte sich, sein Körper wurde stromlinienförmig und geschmeidig und preschte mit einer für einen Mann in den Fünfzigern beeindruckenden Geschwindigkeit durch die Dunkelheit.
Gewöhnlich machte das Schwimmen Langdon vollständig den Kopf frei, aber an diesem Morgen war sein Geist auch nach vier Bahnen noch beschäftigt und wiederholte schlaglichtartig Fragmente aus dem mitreißenden Vortrag, den Katherine am Abend zuvor gehalten hatte. »Ihr Bewusstsein wird nicht von Ihrem Gehirn erschaffen. Tatsächlich ist Ihr Bewusstsein nicht einmal in Ihrem Kopf lokalisiert.«
Mit diesen Worten hatte sie die Neugier aller Anwesenden geweckt, und doch wusste Langdon, dass ihr Vortrag nicht einmal an der Oberfläche dessen gekratzt hatte, was sie in ihrem nächsten Buch darlegen würde.
Sie behauptet, etwas Unglaubliches entdeckt zu haben.
Katherines Entdeckung – worin immer sie bestehen mochte – war ein Geheimnis. Sie hatte es noch niemandem mitgeteilt, auch Langdon nicht, aber in den letzten Tagen hatte sie mehrmals Andeutungen gemacht und ihm anvertraut, dass die Recherchen für ihr Buch zu einem atemberaubenden Durchbruch geführt hätten. Nach ihrem Vortrag am vergangenen Abend beschlich Langdon immer mehr das Gefühl, dass Katherines neues Buch ein geradezu explosives Potenzial haben könnte.
Sie scheut nicht vor der Kontroverse zurück, überlegte Langdon, der es genossen hatte zuzusehen, wie die Traditionalisten im Publikum sich aufgeplustert hatten.
»Die Wissenschaft ist gekennzeichnet von einer langen Reihe fehlerhafter Modelle«, hatte sie verkündet. Ihre Stimme war im Vladislavsaal widergehallt. »Die Vorstellung von der flachen Erde, das geozentrische Weltbild, die Steady-State-Theorie … sie alle sind falsch, obwohl sie einmal ernst genommen und für wahr gehalten wurden. Glücklicherweise entwickeln sich unsere Anschauungen weiter, wenn sie mit genügend Anomalien konfrontiert werden, die sie nicht erklären können.«
Katherine nahm eine Fernbedienung in die Hand, und der Bildschirm hinter ihr erwachte zum Leben und zeigte ein mittelalterliches astronomisches Modell – das Sonnensystem mit der Erde im Zentrum. »Jahrhundertelang galt dieses geozentrische Modell als absolute Tatsache. Aber mit der Zeit bemerkten Astronomen Planetenbewegungen, die mit diesem Modell nicht vereinbar waren. Die Abweichungen wurden so zahlreich und offensichtlich, dass wir …« – sie klickte erneut – »… ein anderes Modell entwickelten.« Der Bildschirm zeigte nun eine moderne Darstellung des Sonnensystems mit der Sonne im Zentrum. »Dieses neue Modell erklärte alle anomalen Phänomene, und heute ist das heliozentrische System unsere akzeptierte Realität.«
Die Zuhörer saßen mucksmäuschenstill, als Katherine an den vorderen Rand der Bühne trat.
»In ähnlicher Weise«, sagte sie, »gab es eine Zeit, in der die Vorstellung einer kugelförmigen Erde lachhaft war – eine wissenschaftliche Häresie sogar. Denn wenn die Erde rund wäre, würden dann nicht die Meere von ihr hinunterlaufen? Würden dann nicht viele von uns mit dem Kopf nach unten gehen? Doch Stück für Stück entdeckten wir Phänomene, die mit dem Modell einer scheibenförmigen Erde nicht vereinbar waren – der gekrümmte Erdschatten bei einer Mondfinsternis, abfahrende Schiffe, die vom Kiel zu den Mastspitzen hinter dem Horizont verschwanden, und dann natürlich Magellans Weltumsegelung.« Sie lächelte. »Ups. Zeit für ein neues Modell.«
Allgemein belustigt nickte die Zuhörerschaft.
»Meine Damen und Herren«, fuhr sie in ernstem Ton fort, »ich glaube, eine ähnliche Entwicklung ereignet sich momentan auf dem Gebiet des menschlichen Bewusstseins. Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel bei unserem Verständnis der Funktionsweise des Gehirns, der Natur des Bewusstseins und tatsächlich auch … der Natur der Realität an sich.«
Es geht doch nichts über ein hochgestecktes Ziel, dachte Langdon.
»Wie bei allen überholten Annahmen«, sagte sie, »sieht sich das heute akzeptierte Modell des menschlichen Bewusstseins durch eine wachsende Flut von Phänomenen herausgefordert, die es schlichtweg nicht erklären kann … Phänomene, die von noetischen Instituten auf der ganzen Welt gewissenhaft dokumentiert wurden und die seit Jahrhunderten von Menschen beobachtet worden sind. Dennoch weigert sich die traditionalistische Wissenschaft weiterhin, sich mit der Existenz dieser Phänomene zu befassen oder auch nur zu akzeptieren, dass sie real sind. Stattdessen trivialisiert man sie als Zufallserscheinungen oder Ausreißer, die man in die Kategorie des Paranormalen einsortiert, was zum Kürzel für ›überhaupt keine Wissenschaft‹ geworden ist.«
Ihr Kommentar löste ein Raunen in den hinteren Reihen des Auditoriums aus, aber Katherine fuhr unbeirrt fort.
»Tatsächlich sind Sie alle durchaus vertraut mit paranormalen Phänomenen«, verkündete sie. »Sie laufen unter Begriffen wie ESP … Präkognition … Telepathie … Hellsehen … außerkörperliche Erfahrungen. Obwohl sie als ›para‹-normal gelten, sind sie tatsächlich vollkommen normal. Sie ereignen sich jeden Tag, sowohl in wissenschaftlichen Laboren mit sorgsam kontrollierten Experimenten … als auch im täglichen Leben.«
Im Raum war es vollständig still geworden.
»Die Frage ist nicht, ob diese Phänomene real sind«, sagte Katherine. »Die Wissenschaft hat bereits bewiesen, dass sie es sind. Die Frage ist: Wieso sind so viele von uns weiterhin blind dafür?«
Sie drückte einen Knopf, und auf dem Schirm hinter ihr erschien ein neues Bild.
Das Hermann-Gitter. Langdon erkannte die bekannte optische Täuschung, bei der schwarze Punkte erscheinen oder verschwinden, je nachdem, wohin im Gitter man schaut.
Das Publikum erlebte den Effekt, und ein überraschtes Gemurmel breitete sich im Saal aus.
»Ich zeige Ihnen dies aus einem einfachen Grund – um daran zu erinnern, dass die menschliche Wahrnehmung durchsetzt ist von blinden Flecken«, fuhr Katherine fort. »Manchmal sind wir so sehr damit beschäftigt, in die falsche Richtung zu blicken … dass wir nicht sehen, was direkt vor unseren Augen ist.«
Der Morgenhimmel war noch immer pechschwarz, als Langdon das Hallenbad verließ und sich den Hügel hinunter auf den Rückweg machte. Seine dreißigminütige Meditation im Wasser hatte ihn in einen Zustand innerer Ruhe versetzt, und der einsame Spaziergang zurück zum Hotel wurde so immer mehr zu einem der Lieblingsmomente seines Tages. Als er sich dem Fluss näherte, zeigte die Digitaluhr am Fremdenverkehrszentrum 6.52 Uhr an.
Noch viel Zeit, sagte sich Langdon, der hoffte, wieder zu Katherine ins Bett kriechen und sie überreden zu können, das für acht Uhr angesetzte Treffen mit Brigita Gessner abzusagen. Die Neurowissenschaftlerin hatte Katherine geradezu bedrängt, an diesem Morgen ihr Labor zu besichtigen, und Katherine war zu höflich gewesen, um abzulehnen.
Als Langdon die Karlsbrücke erreichte, war die glatte Schneedecke nicht mehr unberührt, sondern mit den Fußabdrücken anderer Frühaufsteher gesprenkelt. Von der Brücke aus konnte er zu seiner Rechten den Judithturm sehen, den auffälligsten Überrest der ursprünglichen mittelalterlichen Steinbrücke aus dem 12. Jahrhundert. Auf der anderen Seite erhob sich der »neue« Wachtturm aus dem 14. Jahrhundert, an dem früher abgeschlagene Köpfe auf Pflöcken zur Schau gestellt worden waren, als Warnung an jeden, der die Herrschaft der Habsburger infrage zu stellen gedachte.
Es heißt, man kann noch immer ihre Schmerzenslaute hören, wenn man vorbeigeht.
Das Wort »Prag« bedeutet wörtlich »Schwelle«, und Langdon kam es stets so vor, als überschreite er eine solche, wenn er hierherkam. Jahrhundertelang war diese magische Stadt von Mystizismus, Gespenstern und Geistern durchdrungen gewesen. Selbst heute sagten Reiseführer ihr eine übernatürliche Aura nach, die jeder spüren könne, der dafür offen sei.
Ich gehöre vermutlich nicht dazu, sagte sich Langdon, auch wenn er zugeben musste, dass die Karlsbrücke, auf welcher der fallende Schnee jede einzelne Gaslaterne mit einem Halo umgab, an diesem Morgen auf ihn wirkte wie aus einer anderen Welt.
Jahrhundertelang war Prag das europäische Zentrum des Okkulten gewesen. Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, König von Böhmen und Ungarn und Erzherzog von Österreich, hatte sich in seinem unterirdischen Speculum Alchemiae mit Astrologie, Alchemie und anderen okkulten Praktiken befasst. Die Hellseher John Dee und Edward Kelley waren nach Prag gereist, um Geister zu beschwören und mit Engeln zu konversieren. Der geheimnisvolle jüdische Schriftsteller Franz Kafka war in Prag geboren worden und hatte hier gewirkt und seine düstere, surreale Erzählung Die Verwandlung verfasst.
Als Langdon die Brücke weiter entlangging, fiel sein Blick auf das Four Seasons Hotel mit dem barocken Anbau in der Ferne, der sich direkt am Ufer befand, wo die tiefe Moldau gegen seine Grundmauern schlug.
Über der schimmernden Wasserfläche waren die Fenster ihrer Suite im zweiten Stock dunkel. Katherine schläft noch, dachte er, was ihn nicht allzu sehr verwunderte, wenn man bedachte, dass der Albtraum sie einen großen Teil der Nacht wach gehalten hatte.
Nach etwa einem Drittel des Weges über die kolossale Brücke erreichte Langdon die Bronzestatue des heiligen Johannes von Nepomuk. An genau dieser Stelle wurde er ermordet, dachte er mit einem Schauder. Als der König von dem Priester verlangt hatte, das Beichtgeheimnis zu brechen und ihm zu berichten, was die Königin ihm anvertraut hatte, hatte der Geistliche sich geweigert. Auf Befehl des Königs war er gefoltert und von der Brücke in die Moldau geworfen worden.
Langdon war ganz in seine Gedanken versunken, als vor ihm ein ungewöhnlicher Anblick seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Etwa in der Mitte der Brücke näherte sich eine ganz in Schwarz gekleidete Frau. Langdon vermutete, dass sie von einer Kostümparty käme, denn sie trug einen obskuren Kopfputz – eine Art Tiara mit einem halben Dutzend schlanker schwarzer Stacheln, die ihr direkt aus dem Schädel zu ragen schienen, sich nach oben und außen ausbreiteten und ihren Kopf umgaben mit …
Langdon verspürte ein Frösteln. Einer schwarzen Strahlenkrone?
Der bizarre Zufall, an diesem Morgen eine Strahlenkrone zu sehen, erschreckte ihn und beunruhigte ihn ein wenig, doch Langdon rief sich in Erinnerung, dass makabre Kostümspiele in Prag gang und gäbe waren.
Doch je näher sie kam, desto seltsamer wurde die Szene. Die Frau mit dem stachligen Heiligenschein wirkte wie in Trance, ging wie halb tot; leer stierten ihre Rehaugen vor sich hin. Langdon wollte sie gerade fragen, ob alles in Ordnung mit ihr sei, als ihm auffiel, was sie in der Hand hielt.
Der Anblick ließ ihn stocken.
Aber das ist unmöglich!
In der Hand hielt die Frau einen silbernen Speer.
Genau wie in Katherines Albtraum …
Langdon betrachtete die spitze Waffe und fragte sich augenblicklich, ob nun etwa er träume. Als die Frau auf gleicher Höhe mit ihm war, merkte er, dass er wie gelähmt vor Staunen stehen geblieben war. Er schüttelte die Benommenheit ab, wandte sich um und sprach die Frau laut an, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Verzeihen Sie!«, stieß er hervor. »Miss?«
Sie hielt nicht inne, als wäre sie nicht in der Lage, ihn zu hören.
»Hallo!«, rief Langdon. Er stand still, aber die Frau schwebte einfach an ihm vorbei wie eine Erscheinung … ein blinder Geist, der von einer unsichtbaren Kraft über die Brücke gezogen wurde.
Langdon wollte ihr nachsetzen, aber er kam nur zwei Schritte weit, bevor er wieder stehen blieb. Diesmal stoppte ihn ein widerlicher Gestank.
Die Erscheinung hinterließ einen unverkennbaren Geruch.
Den Geruch nach … Tod.
Der Gestank hatte eine unmittelbare Auswirkung auf Langdon: Angst überkam ihn.
Mein Gott, nein … Katherine!
Aus dem Impuls heraus fuhr Langdon herum, rannte los und kramte hektisch in der Tasche nach seinem Handy, während er die Karlsbrücke so schnell entlangsprintete, wie er nur konnte. Er hielt sich das Telefon vor den Mund und rief: »Hey, Siri, rufe eins-eins-zwo an!«
Als der Anruf durchgestellt worden war, hatte Langdon die Brücke bereits hinter sich gelassen und die Křižovnická erreicht.
»Notrufzentrale«, verkündete eine Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«
»Das Four Seasons Prag!«, rief Langdon, bog nach links und sprintete den dunklen Bürgersteig entlang auf das Hotel zu. »Sie müssen es räumen! Sofort!«
»Entschuldigung, wie war bitte Ihr Name?«
»Robert Langdon, ich bin Am–«
Vor ihm verließ ein Taxi eine Tiefgarage, und er prallte hart gegen die Wagenseite. Sein Handy fiel auf die verschneite Straße. Er hob es auf und rannte weiter, aber der Anruf war unterbrochen. Es spielte keine Rolle; der Eingang zum Hotel war gleich vor ihm.
Atemlos platzte er ins Foyer, entdeckte den Hoteldirektor und brüllte ihn an: »Alle müssen raus aus dem Hotel!«
Die Polizisten waren weg, aber eine Handvoll Gäste, die gerade ihren Morgenkaffee tranken, hoben verwundert die Köpfe.
»Alle sind in Gefahr!«, rief Langdon dem Direktor zu. »Alle raus!«
Der Mann kam mit entsetztem Gesicht zu ihm. »Professor, ich bitte Sie! Was ist denn los?«
Langdon rannte bereits zum Feuermelder an der Wand. Ohne zu zögern, schlug er die Scheibe ein und zog den Hebel.
Sofort ging der Alarm los.
Langdon preschte aus dem Foyer und hetzte den langen Flur entlang zu dem Anbau, in dem sich ihre Suite befand. An der Rückseite des Hotels verzichtete er auf den Aufzug und rannte die zwei Stockwerke zum Privatfoyer hinauf, schloss die Royal Suite auf, stürmte hinein und rief laut in die Dunkelheit: »Katherine! Wach auf! Der Traum, den du hattest …!«
Er knipste das Licht an und rannte ins Schlafzimmer. Das Bett war leer. Wo ist sie? Er rannte ins Bad. Nichts. Verzweifelt durchsuchte er den Rest der Suite. Sie ist nicht hier?
In diesem Moment begann die Glocke einer nahegelegenen Kirche traurig zu schlagen.
Das Läuten erfüllte Langdon mit einem überwältigenden Entsetzen. Etwas sagte ihm, dass er es niemals rechtzeitig aus dem Hotel schaffen würde. Um sein Leben fürchtend, das Blut voller Adrenalin, sprang er zum Erkerfenster und blickte hinunter auf das tiefe Wasser der Moldau. Die glatte, dunkle Oberfläche des Flusses lag direkt unter ihm.
Die Glocke läutete lauter.
Er versuchte nachzudenken, aber es gab keinen Gedanken, nur einen überwältigenden menschlichen Instinkt: überleben.
Ohne Zögern riss Langdon das Fenster auf und stieg auf die Fensterbank. Die Böe aus kalter Luft und Schnee, die ihn traf, vermochte seine Panik kein bisschen zu lindern.
Dir bleibt keine Wahl.
Er trat an den Rand des Fensters, holte tief Luft und stürzte sich hinaus in die Finsternis.
Robert Langdon schnappte keuchend nach Luft.
Das eisige Wasser der Moldau hatte seinen Organismus so sehr geschockt, dass er beinahe gelähmt war, und als er darum kämpfte, an der Oberfläche zu bleiben, spürte er, wie das Gewicht seiner nassen Kleidung ihn in die Tiefe zu ziehen drohte.
Katherine …
Langdon sah zu dem Fenster im zweiten Stock hoch, aus dem er gesprungen war. Die Explosion, die er befürchtet hatte … sie war nicht eingetreten. Das Four Seasons stand noch, völlig unversehrt.
Im grellen Schein der Notbeleuchtung verließen Gäste das Gebäude durch den Seitenausgang auf eine große Terrasse, von der aus man auf den Bootsanleger des Hotels blickte, der in den Fluss ragte.
Während er sich mühte, Wasser zu treten, bemerkte Langdon plötzlich, dass die Strömung ihn davontrug; der Anleger des Hotels wäre seine einzige Chance, aus dem Wasser zu steigen, bevor er flussabwärts getrieben wurde.
Er tat sein Bestes, um nicht wieder in Panik zu geraten, und versuchte, den Steg kraulend zu erreichen, doch er konnte kaum die Arme heben. Sein durchtränktes Sweatshirt zog an ihm wie ein Anker. Das kalte Wasser verengte bereits seine Adern, und mit dem Schmerz, der ihm durch Hand- und Fußgelenke schoss, spürte Langdon erste Warnzeichen einer Unterkühlung.
Schwimm, Robert …
Mit einem unbeholfenen Brustzug stemmte er sich gegen die Strömung und versuchte, näher an den Steg des Hotels heranzukommen. Er sah daran vorbei und fürchtete, flussabwärts über das nahe Wehr gezogen zu werden – auch wenn er wusste, dass er vermutlich bereits vorher bewusstlos untergegangen wäre.
Mach schon, verdammt!
Während seine Arme ihn durch das Wasser zogen, brannte in Langdons Gedanken das Bild der gespenstischen Frau mit dem schwarzen Strahlenkranz. Der Kopfputz hätte ein erstaunlicher Zufall sein können … aber ihr Speer? Und der Geruch nach Tod?
Unmöglich.
Unerklärlich.
Einen Moment lang fragte Langdon sich, ob er noch schlief, gefangen in einem lebhaften Albtraum, wie ihn Katherine in dieser Nacht durchlitten hatte. Nein. Die beißende Kälte und das heftige Pochen seines Herzens bestätigten ihm, dass er wach war. Wie jeder, der schon einmal in eiskaltem Wasser geschwommen war, bestätigen konnte, führte das Einsetzen der Unterkühlung zu einer einzigartigen Abfolge mentaler Zustände – Schock, Panik, Erkenntnis und schließlich Akzeptanz.
Nutze die Panik, ermahnte er sich. Schwimm schneller.
Unbeholfen bewegte sich Langdon diagonal zur Strömung in Richtung Anleger und versuchte, die immer stärker werdenden Schmerzen zu ignorieren. Mit jeder Anstrengung wurden sie schlimmer, während das Schrillen des Feueralarms im Hotel mit jedem Zug lauter zu klingen schien. Näher. Das eiskalte Wasser brannte ihm in den Augen, und seine Sicht wurde immer verschwommener.
Die Landungsbrücke war jetzt dicht vor ihm, eine dunkle Masse im grellen Schein der Notbeleuchtung, und Langdon drängte sich, weiter auf sie zuzuschwimmen. Nur noch einen Zug. Als er mit der Hand etwas Festes berührte, waren seine tauben Finger kaum noch fähig, das raue Holz zu ertasten, geschweige denn, es zu packen. Hand über Hand zog er sich am Dock entlang zu der kleinen Stahlleiter, die dort angebracht war. Mit letzter Kraft stieg er sie hoch und fiel wie ein totes Gewicht auf die Bretter. Seine klitschnasse Kleidung verspritzte Wasser in alle Richtungen.
Reglos lag Langdon da, zitternd und ausgelaugt, obwohl ihm bewusst war, dass er noch immer in großer Gefahr schwebte.
Hier draußen erfriere ich ganz schnell. Ich muss ins Warme.