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Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag erhält Tamara einen mysteriösen Brief aus der Welt der Kobolde. Als Frederick wenig später spurlos verschwindet, überschlagen sich die Ereignisse. Tamara ist fest entschlossen, an der Seite von Millie und Icarus bei der Suche nach dem Chaosprinzen zu helfen. Seine Spur führt in die abgelegene Bergkette über Sinnrik, und schon bald tauchen nicht nur alte Bekannte auf, sondern ebenso viele Fragen wie Monster: Gibt es doch noch Kobolde hier oben? Wurde ein weiterer Fluch ausgesprochen? Und dann ist da noch dieser Kuss im Morgengrauen, der Tamaras Gefühlswelt komplett auf den Kopf stellt …
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über die Autorin
Die Autorin veröffentlicht seit 2020 unter dem Namen Leslie Meilinger düstere Fantasyromane im Selfpublishing. Für ihre humorvollen Kobolde hat sie das offene Pseudonym "Toni Ell" gewählt und ein glückliches zu Hause im Wreaders Verlag gefunden. Beim Schreiben sind ihr Witz, Diversität, originelle Charaktere sowie eine komplexe Handlung wichtig. Mehr Informationen über die Illustratorin und Autorin unter www.lesliemeilinger.de
WREADERS E-BOOK
Band 274
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Bestellung und Vertrieb: epubli, Neopubli GmbH, Berlin"
Umschlaggestaltung: Emily Bähr
Lektorat: Michél Schüler
Korrektorat: Vanessa Janke
Satz: Elci J. Sagittarius
Karte & Illustrationen: Toni Ell
www.wreaders.de
Für alle, die manchmal das Gefühl haben,
den Anschluss an das Abenteuer Freundschaft zu verlieren
Kapitel 1
Tamara schlürfte nachdenklich an ihrem Tee. Die Wärme und das vertraute Minzaroma breiteten sich in ihrem Mund aus. Sie saß auf dem Balkon im ersten Stock, der zur Rückseite des Hauses auf den mit Bäumen umrandeten wilden Garten blicken ließ. Durch die geöffnete Tür in ihrem Rücken drang Mozarts Lacrimosa aus dem Plattenspieler ihrer Eltern, während der Wind durch die Baumwipfel der bunt gemischten Obst- und Tannenbäume rauschte.
Tamara runzelte die Stirn und hielt den Zettel ins schwindende Licht der Abenddämmerung – zum dritten Mal. Doch die Handschrift kam ihr einfach nicht bekannt vor. Als sie den Brief mittags auf der Türmatte entdeckt hatte, hatte sie ihn für eine verspätete Geburtstagskarte gehalten. Vom vielen Auf- und Zufalten war das Papier mittlerweile voller Knicke.
Triff mich heute Abend am Waldrand. Komm allein
oder mit Jimmy.
Die letzten drei Worte waren mit einigem Abstand zum Rest des Texts geschrieben, als wären sie etwas widerwillig hinzugefügt worden. Unterschrieben hatte niemand. Nur der schlichte weiße Umschlag wies eine kleine Spur bezüglich des Absenders oder der Absenderin auf. Sie strich mit ihren Fingern über das eingeprägte Emblem: eine in einem Kreis eingeschlossene Libelle, deren filigrane Flügel leicht aus dem Symbol ragten, als würde das Insekt gleich davonfliegen.
Mittlerweile war es zweieinhalb Monate her, dass Tamara die Welt der Kobolde hinter sich gelassen hatte. Wieder nippte sie an ihrem Tee und rätselte, von welchem ihrer Freunde oder Freundinnen er stammen mochte. Die Buchstaben zogen sich nicht außergewöhnlich verschnörkelt über das Papier oder schienen auffällig krakelig. Der Brief wirkte weder in Eile geschrieben noch besonders gewollt.
Aber die kleine Ergänzung bezüglich ihres Hundes Jim Knopf verriet Tamara etwas, das sie einigermaßen beruhigte: Der Absender oder die Absenderin kannte sie gut.
Die Bodendielen im Inneren des Hauses knarzten, und schnell faltete sie den Zettel zusammen. Ihre Mutter lehnte sich an den Türrahmen und lächelte sie an. »Konnte dieser mysteriöse Brief deine Drei-Tage-Regenwetter-Stimmung etwas aufheitern? Und verrätst du mir, von wem er stammt?«
Tamara verkniff sich ein genervtes Augenrollen. Eigentlich hatte sie geglaubt, die seltsame Wehmut, die sie nach der Rückkehr aus der Welt der Kobolde erfasst hatte, verbergen zu können.
»Von Freunden. Ein kleiner Geburtstagsgruß.«
Ihre Mutter hob wissend die Brauen, ließ es aber darauf beruhen.
»Ich habe dir ein Stück Torte mitgebracht. Die muss endlich aufgegessen werden.« Sie trat auf den Balkon und reichte Tamara ein großes Stück Buttercremetorte auf einem Kuchenteller.
»Danke.«
Tamara ließ den Zettel in ihre Jeanstasche gleiten und griff nach dem Teller.
»Ist es dir nicht zu kalt hier draußen?«, hakte ihre Mutter nach, während Tamara das erste Stück cremigen Genusses auf die Kuchengabel beförderte.
Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, wie gern ich den Herbst mag. Ich gehe auch gleich noch mit Jimmy spazieren.«
Denn Tamara würde der geheimnisvollen Einladung nicht widerstehen können.
»Aber zieh dir eine vernünftige Jacke an!«, rief ihre Mutter, bevor sie im Bad verschwand.
Mit gerunzelter Stirn führte Tamara die nächste Gabel zum Mund. Der Wind rauschte mit einem Mal so heftig durch die Bäume, dass die Äste knarzten. Nun fröstelte sie doch.
Ob Millie den Brief geschrieben hatte? Schließlich hielten Tamara und die Koboldin der Stadtwache den Kontakt durch wöchentliche Briefe aufrecht. Allerdings schrieb ihre rothaarige Freundin deutlich längere Nachrichten und hatte stets unterschrieben. Ihr nächster Verdacht fiel auf Frederick. Doch weshalb sollte er einen geheimnisvollen Brief verfassen, wenn er auch einfach in ihrem Zimmer auftauchen konnte? Mit Förmlichkeiten hielt sich der Koboldprinz eher selten auf. Indira und Lias schieden aufgrund der eingeprägten Libelle aus, denn sie hätten sicher eine Motte benutzt – das Wappentier der Inny.
Schnell verspeiste Tamara ihr Tortenstück, stieg ins Erdgeschoss hinab und räumte Teller und Gabel in die Spülmaschine. Dann rief sie nach Jimmy, der sich mäßig bereitwillig von seinem Kissen erhob. Unter dem strengen Blick ihrer Mutter streifte sie ihren gefütterten Parka über und leinte den betagten Basset an.
»Bis gleich!«
»Nimm die Taschenlampe mit, es wird gleich dunkel.«
Tamara verdrehte die Augen, griff aber nach der Lampe, die ihre Mutter ihr entgegenstreckte. Obwohl Tamara nun achtzehn Jahre alt war – bis sie aus ihrem Elternhaus auszog, würde sich an ihrem Zusammenleben wohl nicht viel ändern.
Kaum war sie aus der Haustür getreten, öffnete sie den Verschluss ihrer Jacke. Der Spätherbst war dieses Jahr auch Anfang November noch mild. Eine leichte Brise wirbelte Blätter über den Bordstein, im Nachbarsgarten zockelte ein Igel durch das Gras, und über ihr zog lautstark ein Schwarm Zugvögel entlang. Sie atmete tief ein und ließ die klare Luft in ihre Lunge strömen, ehe sie einige Schritte die Straße hinabschlenderte.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie hielt abrupt inne und schaute sich den Blätterhaufen im Nachbarsgarten etwas genauer an. Der Igel verschwand gerade hinter einem Baumstamm, doch das Laub zitterte. Als würde sich etwas durch die niedergefallenen Blätter wühlen. Plötzlich sprang eine kleine Gestalt daraus hervor, und Tamara schnappte lautstarkt nach Luft. Der Kobold warf einen Blick über die Schulter – dorthin, wo der Igel verschwunden war. Dann sprintete er los. Im selben Moment streckte der Igel seine Nasenspitze hinter dem Schuppen hervor. Erstaunlich schnell setzte er sich in Bewegung – dem Eindringling dicht auf den Fersen. Der Kobold stieß einen kurzen Schrei aus und schlug einen Haken. Er sauste um einen Gartenzwerg mit erhobener Schaufel und lief auf Tamara zu. Die schaute mit offenem Mund zu, wie der Igel immer schneller wurde. Ohne Vorwarnung schoss der Kobold auf seine menschliche Größe in die Höhe. Der Igel bremste abrupt und stieß ein Fiepsen aus. Dann wendete er auf dem Absatz und sprintete zurück in den Schutz des Gartenhäuschens.
»Uiuiui«, kam es von Frederick, der dem Igel nachsah. »Zum Glück bist du endlich da.« Bevor Tamara etwas erwidern konnte, grinste er, breitete die Arme aus und zog sie über den Gartenzaun hinweg in eine Umarmung.
»Frederick, wie schön«, brachte sie ein wenig überrumpelt hervor. Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn, als er sie losließ. »Aber was machst du hier?«
»Dir zum Geburtstag gratulieren«, erwiderte er munter und schob eine Hand in seine Manteltasche. »Wenn auch etwas später als geplant.«
Während er etwas zu suchen schien, musterte Tamara den rothaarigen Koboldprinzen und spürte ihre Mundwinkel zucken. Über seinen Anzug mit den schwarz-weißen Längsstreifen trug er einen knöchellangen, senfgelben Mantel mit Stehkragen und weiten Ärmeln. Obwohl ihn das Gelb wie eine Glühbirne leuchten ließ und sich deutlich mit seinen Haaren und den Anzugstreifen biss, trug er das Outfit mit unvergleichlicher Souveränität.
»Eben war es noch da …«, murmelte er, während er nun die Brusttaschen, dann die Innenseiten des Mantels abklopfte. Schließlich eilte er durch den Garten und tauchte die Arme tief in den Laubhaufen ein. »Aha!«
Triumphierend kehrte er zurück und reichte ihr einen länglichen, mehrfach in Zeitungspapier eingeschlagenen Gegenstand.
»Danke«, erwiderte Tamara mit hüpfender Stimme und wickelte das Geschenk sofort aus.
Frederick schwang die langen Beine über den Zaun und antwortete: »Es ist von mir, Rufus und Helena.«
Ein schwerer, metallischer Gegenstand rutschte ihr in die Hand. Jimmy, der bis zu diesem Moment geduldig gewartet hatte, machte mit einem kurzen Kläffen auf sich aufmerksam. Er wedelte mit dem Schwanz und schaute zu dem Kobold auf.
»Na, mein Freund?«
Frederick ging in die Knie, um den Hund zu streicheln, während Tamara ihr Geschenk bewunderte. Was auch immer es war – sie liebte diesen Gegenstand mit seinen Kratzern, Schrauben und dem dunklen Lederband auf Anhieb. Erst hielt sie ihn für ein sehr klobiges Taschenmesser, denn sie erkannte an den Seiten zwei ausklappbare Vorrichtungen. Tamara zupfte eine Lederkappe vom Ende der seltsamen Röhre und offenbarte eine Glaslinse.
»Wow!«, brachte sie hervor, dann hob sie das Fernrohr an ihre Augen. »Es ist … fantastisch!«
Durch das Glas sah sie nichts als absolute Schwärze. Sie ertastete auch kein Rädchen, um die Schärfe einzustellen. Ihr Großvater war Jäger gewesen – ein Beruf, den Tamara mit sehr gemischten Gefühlen betrachtete. Nur seine Ferngläser hatte sie gemocht und kannte sich daher ein wenig mit der Justierung solcher Geräte aus.
»Ich habe es in einem Antiquitätengeschäft gekauft, und Rufus hat ein wenig daran herumgebastelt. Helena und die Kinder haben es eingepackt«, erklärte Frederick stolz, zupfte ihr das Fernrohr aus der Hand und klappte die Vorrichtung auf der rechten Seite aus. Zum Vorschein kam eine Lupe. »Zugegeben, damit kannst du nicht so viel anfangen, da du keine Magie wirken kannst. Aber die Vorrichtung war schon vorhanden, und Rufus sammelt Lupengläser, also hat er dir eines geschenkt.«
»Das ist sehr lieb von ihm«, sagte Tamara mit einem Grinsen. Immerhin funktionierte die Lupe im Gegensatz zum Fernrohr und vergrößerte zuverlässig Jimmys Nase, der an dem mysteriösen Gegenstand schnüffelte.
»Und sieh mal hier.« Frederick klappte ein dünnes Metallgestell auf der linken Seite aus, das einen kleinen Stein umfasste. Sie stupste ihn mit der Fingerspitze an. Sofort breitete sich bräunliches, warmes Licht um sie herum aus, und Tamara schnappte nach Luft.
»Wie großartig! Der erste Stein, den du mir geschenkt hast, ist mir in einem Schornstein heruntergefallen.«
Frederick grinste und nickte. »Dieses Fernrohr geht vielleicht nicht so schnell verloren.«
Tamara klappte die beiden Vorrichtungen wieder ein und presste das Geschenk an sich. »Auf keinen Fall. Ich werde gut darauf aufpassen.«
Bei der Vorstellung, wie die Kobolde sich Gedanken gemacht und ein Geschenk für sie gebastelt hatten, brannten Tränen in ihren Augen. »Danke.«
»Haben wir gern gemacht«, erwiderte Frederick und fügte hinzu: »Vielleicht könntest du uns mal besuchen kommen? Wir könnten in Sinnrik nachfeiern.«
Tamara nickte eifrig. »So gern!«
Ihr Herz schlug schnell und flutete ihren Körper mit heftiger Vorfreude. Tamaras beste Freundin, die sie vor Jahren in einem Feriencamp kennengelernt hatte, lebte zweieinhalb Stunden entfernt, und mit ihren beiden Kindheitsfreundinnen schrieb sie zwar regelmäßig, doch in den letzten Jahren hatten sich deutliche Differenzen in ihren Interessen gezeigt. Treffen waren seltener geworden. Zu ihrem Geburtstag hatte sie deshalb Sprachnachrichten und Pakete bekommen. Trotzdem hatte sie Millie oder Frederick nicht um einen Besuch bitten wollen. Sinnrik haderte noch immer mit den Folgen des Krieges und eines schweren Verrates durch die eigene Königin. Eine menschliche Touristin war also nicht unbedingt das, was die Kobolde jetzt noch gebrauchen konnten. Aber diese direkte Einladung konnte Tamara unmöglich ablehnen.
»Hast du mir deshalb den Brief geschrieben?«, wollte sie von Frederick wissen.
Er ging mit gerunzelter Stirn in die Knie, um Jimmys lange Ohren zu kraulen. »Was für einen Brief?«
»Er wurde heute Morgen unter unserer Haustür durchgeschoben … Dann stammt er also nicht von dir?«
»Nein.«
»Ich habe mich schon gewundert, weshalb du in einem Laubhaufen auf mich gewartet hast. In der Nachricht steht etwas von Waldrand.«
Frederick zog die Augenbrauen noch etwas dichter zusammen und richtete sich auf. »Darf ich den Brief mal sehen?«
»Sicher«, antwortete Tamara und zupfte den Brief aus ihrer Jeanstasche. »Er ist nicht sonderlich spektakulär.«
Frederick warf nur einen kurzen Blick auf das Papier, dann strafften sich seine Schultern. Er reichte ihr das Schriftstück zurück und wandte sich von Tamara ab. Sein Blick huschte in die Ferne, als versuchte er, von hier aus den Waldrand auszumachen.
»Er ist von Icarus.« Die Stimme des Kobolds klang reserviert.
Tamara runzelte die Stirn.
»Hm«, machte sie einigermaßen ratlos. »Bist du dir sicher? Was könnte er denn wollen?«
Frederick warf ihr einen ungewohnt strengen Blick zu. »Hattest du etwa vor, dieser Einladung nachzukommen? Obwohl du nicht mal wusstest, von wem sie stammt?«
Tamara verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn. »Doch, ich wollte hingehen. Mein Spazierweg führt sowieso am Waldrand vorbei, und ich bin mit einer sehr robusten Taschenlampe bewaffnet. Also … hast du eine Idee, warum Icarus mich treffen will?«
»Hm.« Fredericks Brauen schoben sich ein wenig dichter zusammen. »Hat er dir vorher schon mal geschrieben oder sich mit dir verabredet?«
»Nein«, erwiderte Tamara verblüfft. »Ich stand nur mit dir und Millie in Kontakt.«
»Dann habe ich keine Ahnung. Aber ich finde, wir sollten es herausfinden.«
»Du willst mitkommen?«
»Wenn es dir nichts ausmacht? Ich finde seine Nachricht ein wenig seltsam, ehrlich gesagt.«
Tamara zögerte kurz.
»Es macht mir nichts aus«, erklärte sie dann. Im Gegenteil. Nun, wo sie dem Treffen nicht mehr nur in Begleitung von Jimmy entgegensah, der zwar sehr tapfer, aber auch schon sehr alt war, fühlte sie sich gleich wohler.
Obwohl sie sich seit zwei Monaten nicht mehr gesehen und Frederick den Briefkontakt eher sporadisch aufrechterhalten hatte, schwiegen sie, während sie die letzten Häuserreihen hinter sich ließen. Über einen kleinen Feldweg gingen sie auf den naheliegenden Wald zu. Vermutlich zerbrach sich Frederick genau wie Tamara den Kopf darüber, was Icarus für ein Anliegen haben könnte. Dass er sich dabei mit Mutmaßungen zurückhielt, kam ihr allerdings fast so verdächtig vor wie der Brief selbst. Ob er doch eine Ahnung hatte, worum es ging? Es wurmte sie, dass der sonst unvorsichtige und offene Kobold zugleich ein echter Geheimniskrämer war. Damit war er in seiner Familie allerdings nicht allein.
Als das Schweigen irgendwann doch überdeutlich wurde und Jimmy stehen blieb, um das Bein an seinem liebsten Mülleimer zu heben, räusperte sich Tamara. »Wer regiert Sinnrik im Moment?«
»Noch niemand. Der Rat betreut momentan die wichtigsten Angelegenheiten, doch eigentlich soll Icarus Madettas Platz einnehmen. Er hat bereits zugesagt, lässt sich aber in letzter Zeit selten in der Stadt blicken. Dort herrscht ein mittelschweres Chaos. Angefangen bei verstopften Schornsteinen und der überarbeiteten Stadtwache bis hin zur magischen Unterversorgung unserer Laternen. Manche leuchten gar nicht mehr, andere hingegen flackern, dass einem beim Zusehen schwindelig wird. Es muss sich dringend etwas ändern. Und Icarus«, Frederick holte tief Luft, »geht mir aus dem Weg.«
»Ah, verstehe«, behauptete Tamara und ließ das Gesagte für einen Moment auf sich wirken. »Du willst also die Gelegenheit nutzen, um Icarus zur Rede zu stellen, damit du nicht an seiner Stelle das Zepter übernehmen musst.«
Im Schein ihrer Taschenlampe konnte sie Fredericks verblüfften Gesichtsausdruck nur zu gut erkennen. Er warf den Kopf zurück und lachte. »Wie hast du mich nur so schnell durchschaut?«
»Es ist nicht schwer, wenn man dich ein bisschen kennt.«
»Du hast mir wirklich gefehlt.« Er lächelte und tätschelte kurz ihre Hand. »Außerdem hast du natürlich recht. Ich kann kaum noch irgendwohin gehen, ohne dass mir ein Ratsmitglied hinterherläuft und mich anfleht, bei der Organisation zu helfen. Ausgerechnet mich.«
Tamara grinste breit. In Sinnrik musste es wirklich drunter und drüber gehen, wenn selbst der vom Unglück verfolgte Frederick gebeten wurde, die Regierung eines ganzen Volkes an sich zu nehmen.
»Aber du könntest wenigstens helfen«, betonte Tamara.
»Ich habe versucht, bei der Regulierung der Straßenlaternen zu helfen. Dreimal darfst du raten, wem an diesem Abend eine Glühbirne auf den Kopf gefallen ist.« Frederick hob die Arme und ließ sie kraftlos wieder sinken. Mittlerweile hatten sie den Waldrand erreicht. »Icarus wurde jahrelang auf die Organisation Sinnriks vorbereitet, ich nicht. Ich habe weder mit Politik noch mit Magie etwas am Hut, und es gibt genug Personen, die dafür besser geeignet wären. Nur irgendwie«, wieder hob er die Arme, diesmal in einer verzweifelt wirkenden Geste, »sehen die Leute trotzdem zu mir als Prinz auf. Obwohl ich kaum etwas beitrage.«
Seine Worte brachten Tamara zum Schmunzeln. »Sie wissen eben, dass sie dir wichtig sind. Und du bist ihnen wichtig.«
Daraufhin schwieg Frederick, während sie ihr Tempo verlangsamten. Prüfend ließ Tamara den Lichtkegel der Taschenlampe über den Laubboden und die Baumstämme gleiten. Sie dachte an den Trockenwald bei Innyrik, und die Erinnerung an das uralte, tote Unterholz jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Hier, in ihrem Heimatwald, standen die schmalen Stämme der Laubbäume weit auseinander und ließen tief in die abendliche Dunkelheit des Waldes blicken. So dauerte es nicht lange, bis der Lichtstrahl auf ein Paar nachtblaue, schnabelförmige Stiefel fiel.
Kapitel 2
Icarus sah seinen Cousin und Tamara mit versteinertem Gesicht an. Ein bisschen so, als hätte er auf ein Karamellbonbon gebissen, das ihm nun hartnäckig die Zähne verklebte. Er schwieg, bis Frederick ihm direkt gegenüberstand.
Dieser stemmte die Hände in die Seiten. »Wie nett, dich zu treffen«, begann er mit kühlem Unterton. »Ich dachte schon, ein Monster hätte dich gefressen.«
Tamara runzelte die Stirn. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn nach Indiras Rückkehr und Madettas Verhaftung etwas Frieden und Vertrauen in die Beziehung der Cousins zurückgekehrt wäre.
»Was machst du hier?«, kam es beinahe grollend von Icarus, ohne die geringste Regung in seiner Mimik.
»Das sollten wir wohl eher dich fragen«, antwortete Tamara, bevor Frederick zu einer Erwiderung ansetzen konnte.
Obwohl sie ihm einen warnenden Blick zuwarf, fügte dieser hinzu: »Ich wundere mich ein wenig, dass du die Zeit findest, Tamara zu einem nächtlichen Treffen aufzufordern, aber nicht, dich um die Angelegenheiten von Sinnrik zu kümmern.«
Tamara spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und warf Frederick einen empörten Blick zu. So streitlustig kannte sie ihn gar nicht.
Icarus rümpfte die Nase und es dauerte, bis er sich zu einer Antwort herabließ. Er atmete tief aus. »Ich brauche deine Hilfe.«
Nur ein kurzer Blick in ihre Richtung verriet, dass diese Worte Tamara und nicht Frederick galten. Verblüfft hob sie die Augenbrauen.
»Meine Hilfe?« Sie hätte weiter nachgehakt, doch Jimmy zerrte laut schnüffelnd und mit gesenktem Kopf an der Leine. Tamara musste sich mit einem uneleganten Ausfallschritt vor einem Sturz retten.
»Was meinst du damit?«, kam es von Frederick, und eine Falte trat auf seine Stirn.
»Halt dich da raus, Fred.«
Der rothaarige Kobold holte tief Luft.
»Bist du deshalb nicht mehr in Sinnrik gewesen und hast niemandem erzählt, dass du Kontakt zu Tamara aufnimmst? Du willst dieses Vorhaben geheim halten? Ist es etwa gefährlich?«
»Vorhaben?«, echote Tamara und schaute mit alarmiertem Blick abwechselnd die beiden Kobolde an.
Icarus stöhnte resigniert und verschränkte die Arme vor der Brust. »So schlimm ist es nicht. Du drückst das wirklich sehr dramatisch aus.«
Frederick deutete anklagend auf seinen Cousin. »Halt Tamara da raus.«
»Kannst du wenigstens kurz die Klappe halten, Fred? Ich will es doch gerade erklären«, fuhr Icarus ihn an.
Frederick presste mit herausforderndem Blick die Lippen zusammen.
»Also.« Icarus räusperte sich, während Tamara über seinen Gesichtsausdruck rätselte und Jimmys Leine sortierte. Seiner angespannten Haltung nach zu urteilen, schien ihm die Situation recht unangenehm zu sein. »Das klingt vielleicht seltsam und auch ein kleines bisschen verstörend, aber … ich brauch etwas von deinem Blut.«
Tamara klappte der Mund auf. Ein Seitenblick zu Frederick zeigte ein ähnliches Bild – er starrte seinen Cousin fassungslos an.
»Um das etwas genauer zu erklären«, setzte Icarus an und hob einen am Boden liegenden Ast mit seiner Stiefelspitze an, wahrscheinlich, um den anderen beiden nicht in die Augen sehen zu müssen. »Ich möchte mithilfe eines Zaubers herausfinden, warum sich die Monster in den letzten Jahrzehnten so weit in unserer Welt ausbreiten konnten, dass drei von fünf Koboldvölkern vernichtet wurden und die ursprünglichen Insekten verschwunden sind. Allein schon, um zu verhindern, dass es den Sinn und Inny auch so ergeht. Um diesen Zauber auszuführen, benötige ich dein Blut.«
»Warum ausgerechnet Tamaras Blut?«, kam es von Frederick, während sie noch immer mit geöffnetem Mund vor sich hinstarrte.
Dass Icarus nicht sofort auf diese Frage antworten wollte, ließ ein flaues Gefühl in Tamaras Magen aufsteigen. »Ich glaube …«, setzte er an, schüttelte dann aber den Kopf. »Nachdem wir Indira zurückverwandelt hatten, habe ich mich gefragt, ob manche der anderen Monster vielleicht auch irgendwann einmal Kobolde gewesen sind.«
»Was für ein Unsinn, Icarus«, antwortete Frederick erzürnt. »Du glaubst, jemand da draußen hat jeden einzelnen Kobold in ein Monster verwandelt? Das müsste tausendmal geschehen sein! Außerdem ist es wahrscheinlich ein sehr komplizierter Vorgang, oder? Und selbst wenn jemand so böse wie Madetta ist, müssten diese Verwandlungen über Generationen hinweg durchgeführt worden sein. Überall müssten Fluchschlüssel herumliegen. Und das wäre sicher aufgefallen, meinst du nicht?«
»Ich weiß nicht, was ich glaube«, erwiderte Icarus beinahe trotzig und gestikulierte in Tamaras Richtung, »aber es ließe sich vielleicht überprüfen. Sie kam schon mit dem Fluch in Kontakt und könnte daher als Referenz dienen.«
Tamara starrte Icarus an, unsicher, was sie von seinen Worten halten sollte. Er fing ihren Blick auf, und zum ersten Mal sah er ihr richtig in die Augen. »Ein oder zwei Blutstropfen würden schon genügen. Es ist keine große Sache, versprochen.«
»Unter keinen Umständen!«, fauchte Frederick. »Ich verstehe nicht viel von Magie, aber ich nehme an, es hat einen Grund, weshalb du sonst niemanden eingeweiht hast und diesen Plan hinter meinem Rücken durchführen wolltest, oder?«
»Es ist allein ihre Entscheidung«, erwiderte Icarus mit verengten Augen. »Mir war schon klar, dass du unnötiges Drama veranstalten würdest.«
»Und wie rechtfertigst du die Tatsache, dass du keinen Magier eingeweiht hast? Zum Beispiel Rufus?«
Icarus verdrehte die Augen. »Rufus traut sich nicht mal, seinen Teekessel zu verzaubern.«
»Er hätte dir sofort hiervon abgeraten. Es ist gefährlich, habe ich recht?«
»Aufhören«, fuhr Tamara dazwischen, bevor Icarus antworten konnte. »Mal abgesehen davon, dass das alles nicht sonderlich überzeugend klingt – warum hast du nicht Indira um Hilfe gebeten? Sie kam viel länger mit dem Fluch in Kontakt als ich.«
Beide Kobolde schwiegen. Nur Jimmys Pfoten auf dem Laub waren zu hören. Dann hob er das Bein und pinkelte einen Fliegenpilz an.
Tamara fragte: »Oder habe ich das falsch verstanden mit der Referenz für den Verwandlungsfluch?«
»Nein, hast du nicht«, erwiderte Icarus und sah sie eindringlich an. »Ich habe Indira gefragt, aber sie antwortet mir nicht. Ich habe jetzt zwei Wochen gewartet, sonst hätte ich das Ganze nicht so lange hinausgezögert … Ich weiß, dass der Rat in Sinnrik auf mich wartet.« Den letzten Satz fügte er an Frederick gewandt hinzu.
Sein Cousin schwieg mit nachdenklich gerunzelter Stirn.
»Ich möchte diese Frage gern klären, bevor ich mich in die Übernahme der Regierung stürze. Ich muss wissen, ob meine Mutter … vielleicht noch viel schlimmere Dinge getan hat, als nur Indira zu verfluchen. Wenn es so ist, kann ich unmöglich der König dieses Volkes sein. Es verdient die Wahrheit.«
Tamara huschte ein Lächeln über die Lippen, obwohl sie noch immer mehr als froh über den Sicherheitsabstand zwischen ihr und Icarus war. »Bevor ich meine Entscheidung treffe, möchte ich gern, dass ihr euch vertragt. Ihr wollt beide nur das Beste für alle Kobolde. Also hört doch bitte endlich auf, euch derartig zu misstrauen.«
»Du hast eben gehört, dass es gute Gründe gibt, um Icarus zu misstrauen, Tamara.«
»Und ausgerechnet du willst mir erzählen, dass du keine Geheimnisse hütest?«, konterte Icarus und musterte seinen Cousin vielsagend.
»Ich plane jedenfalls nicht, mir das Blut unschuldiger Personen anzueignen, um damit potenziell gefährliche Zauber zu wirken.«
»Nein, du machst mir nur Vorwürfe, dass ich mich verdächtig verhalte. Aber bist du wirklich besser? Wann hast du das letzte Mal Kontakt zu Lias gehabt?«
Etwas flackerte in Fredericks Blick auf, bevor er auf seine Stiefel schaute. »Nicht, dass es dich etwas angeht, aber es ist schon eine Weile her.«
»Sag bloß, ihr habt euch getrennt?«, entfuhr es Tamara. Sie war optimistisch gewesen, dass zumindest Frederick und Lias auf einem guten Weg waren, das Trauma des Krieges und die zahlreichen Vertrauensbrüche gemeinsam zu bewältigen.
»Nein, haben wir nicht. Aber …« Frederick zuckte mit den Schultern. »Er meldet sich in letzter Zeit nur sehr unregelmäßig.«
Das passte nicht zu dem Lias, den Tamara kennengelernt hatte. Sie holte tief Luft und deutete erst anklagend auf Frederick, dann auf Icarus. »Lias und Indira melden sich also nicht bei euch? Ich glaube, ihr habt ein ganz anderes Problem als gefährliche Blutflüche!«
Wieder legte sich ein unangenehmes Schweigen über den dunkler werdenden Wald. Tamara trat unruhig von einem Bein aufs andere. So langsam kroch ihr die fortschreitende Kälte des Abends in die Beine, und auch Jimmy blickte sie bittend an. Er wollte nach Hause in sein warmes Körbchen.
»Also, ich glaube, ihr solltet dringend nach Sinnrik zurückkehren und klären, warum sich niemand aus Innyrik meldet. Icarus kann mit Rufus über diesen Fluch sprechen, und wenn er mir bestätigt, dass ich mich nicht in ein Häufchen Asche verwandle, werde ich eventuell zwei Tropfen Blut spenden. Aber nicht, bevor ihr euch nicht zusammengerissen habt.«
»Ich schätze, wir alle wissen, warum aus Innyrik nur Schweigen kommt, Tamara. Es ist Misstrauen. Es ist Zorn. Madetta hat immerhin ihre Prinzessin verflucht. Und dass ihr Prinz ausgerechnet mit einem Sinn zusammen ist, gefällt ihnen sicher auch nicht. Deshalb hält Frederick die Beziehung auch weiterhin vor der Bevölkerung Sinnriks geheim«, antwortete Icarus. »Die Wahrheit ist, dass der Graben zwischen Sinn und Inny so tief ist wie kaum je zuvor.«
Verzweifelt hob Tamara die Arme. »Ist das wirklich wahr, Frederick? Das ist schrecklich! Und warum könnt ihr nicht sehen, dass wenigstens ihr beide jetzt zusammenhalten müsstet, wenn ihr schon nicht zu euren Freunden stehen könnt?« Vielleicht war der letzte Satzteil nicht fair, denn eigentlich wusste Tamara zu wenig über Fredericks Situation. Aber die Vorstellung, er könnte seinen Freund verleugnen, passte einfach nicht zu ihm. Was war hier nur los?
Er wich ihrem Blick aus und erwiderte nichts. Jimmy winselte leise. Ein Windstoß fuhr mit einem Heulen durch den Wald und blies die eisige Luft direkt in ihr Gesicht.
»Ich gehe jetzt zurück«, murmelte sie in ihren Kragen. Es wäre ihr so viel lieber gewesen, einen ungezwungenen Ausflug nach Sinnrik zu unternehmen oder einfach mit den beiden zu plaudern. Stattdessen war sie sich einmal mehr bewusst geworden, dass sie nicht dazugehörte. Nicht wirklich.
Sie schluckte die Frustration und das plötzliche Gefühl der Einsamkeit herunter und zwang sich zu einem kurzen Lächeln. Die beiden mussten wichtige Dinge klären, und Tamara durfte sie nicht davon ablenken. »Ich kann euch leider keine Hilfe sein, wünsche euch aber viel Glück.«
Frederick lächelte, auch wenn sein Gesichtsausdruck angestrengt wirkte. »Du hast mit vielen Dingen recht, Tamara. Ich werde mich bei dir melden.«
Sie nickte, wollte ihre Dankbarkeit zeigen, sah sich aber genötigt, stattdessen zu betonen: »Sinnrik geht vor.«
Dann schnalzte sie nach Jimmy, der sofort an ihre Seite sprang, und leuchtete sich den Weg nach Hause. Vermutlich würde sie dort aus Frust noch das letzte Stück Torte essen.
Kapitel 3
Die nächste Woche verbrachte Tamara mit Schniefnase lesend unter ihrer Bettdecke gekuschelt. Auch an diesem Abend las sie, bis ihre Lider schwer wurden und sie im Minutentakt gähnen musste. Noch kämpfte sie gegen die Müdigkeit an – das Buch war einfach zu spannend. Doch sie wusste, dass sie sich schon bald nicht mehr auf die Zusammenhänge der Handlung würde konzentrieren können.
Widerwillig schwang Tamara die Beine aus dem Bett. Sie bereute es, nicht direkt nach dem Abendessen Zähne geputzt zu haben und nun die behagliche Wärme ihrer Bettdecke verlassen zu müssen. Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch eines Fernsehprogrammes, und sie konnte die Stimmen ihrer Eltern hören, die angeregt miteinander plauderten.
Tamara beeilte sich im Bad und schlüpfte zurück in ihr Zimmer – wo sie wie angewurzelt stehen blieb. Geistesgegenwärtig zog sie die Zimmertür hinter sich zu und starrte mit offenem Mund den Kobold an, der gerade durch ihr Zimmerfenster stieg. Sein lederner Schwertgurt verhakte sich am Fenstergriff. Er blinzelte sie schief auf einem Bein stehend an und versuchte, das Gleichgewicht zu behalten.
»Icarus?«, entkam es Tamara alarmiert und verblüfft zugleich.
Eilig wandte er den Blick ab und tastete über seiner Schulter nach dem Gurt. »Warum trägst du keine Hose?«, wollte er einigermaßen verlegen wissen. Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und befreite sich mit einem Ruck.
»Ich trage eine Hose!«, empörte sich Tamara, wurde aber rot.
Die kurzen Schlafshorts waren unter ihrem ausgewaschenen oversized T-Shirt wohl nicht zu erkennen. Unwillkürlich fuhr sie sich durch das verstrubbelte Haar und zupfte anschließend den Saum des Oberteils so nah an ihre entblößten Knie, wie es der Stoff erlaubte. Um ein wenig Würde zurückzugewinnen, griff sie nach ihrer Brille, setzte sie auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Argwöhnisch beäugte sie den Koboldprinzen. Auch er zupfte an seinem dunkelblauen Anzug herum, obwohl dieser tadellos saß.
»Was soll das werden? In ein Zimmer einzubrechen, ist Hausfriedensbruch und obendrein ziemlich unanständig.«
Er verschränkte ebenfalls die Arme, schaute aber demonstrativ von ihr weg. »Ich habe den ganzen Abend draußen auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen.«
»Oh.« Aufgrund ihres Lesemarathons war ihr Vater heute Abend mit Jimmy spazieren gegangen. »Sag bloß, du hast da draußen in einem Laubhaufen gesessen.«
»Mehrere Stunden«, bestätigte er knapp, und nun huschte sein Blick doch zu ihr. »Ich habe keine besonders guten Neuigkeiten.«
Tamara kam einen Schritt näher. »Ist etwas passiert?«
»Nach unserem Gespräch mit Frederick …« Icarus, unterbrach sich und seufzte. Er rieb sich über die Schläfe. »Ich hatte gute Gründe, ihn nicht sofort in meine Vermutungen einzubeziehen, weißt du? Es ist nicht so, als würde ich ihm misstrauen, aber ich kenne Fred. Und ich wusste, er würde etwas Unbesonnenes anstellen, wenn er von meinen Theorien bezüglich der Monster erfahren würde.«
»Ist er verletzt worden?«, fragte sie mit wachsender Sorge.
»Das weiß ich nicht. Er ist verschwunden.«
Tamara schnappte nach Luft. »Was? Bist du dir sicher? Seit wann?«
Icarus hob die Hände, um ihren Schwall an Fragen zu unterbrechen, und sie erinnerte sich selbst daran, dass ihre Eltern im Wohnzimmer waren – nur durch die Essküche von ihrem Zimmer getrennt. Tamara ging noch einen Schritt auf den Kobold zu.
»Er hat mir einen Brief geschrieben und gemeint, dass er einen Ausflug in die Berge unternehmen würde. Allerdings wollte er nur eine Nacht wegbleiben. Das war vor fünf Tagen.«
»Vor fünf Tagen?«, echote Tamara empört, aber mit gedämpfter Stimme. »Was hast du unternommen?«
»Nichts. Ich war beschäftigt«, antwortete Icarus knapp, dann verdrehte er die Augen und fügte hinzu: »Ich beteilige mich an der Arbeit des Rates, und momentan versuchen sie mich zu einer baldigen Krönung zu zwingen. Ich war recht eingespannt, wie befürchtet. Aber das ist jetzt egal.«
Wieder trafen sich ihre Blicke, und diesmal sah er sie ernst an. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Ich möchte bei der Suche nach Frederick helfen«, sagte sie.
Icarus runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass er dir wichtig ist. Aber … es könnte eine recht anstrengende Reise werden. Vielleicht sogar gefährlich.«
Tamara lächelte. Ihre Entscheidung war längst gefallen. Natürlich würde sie ihn begleiten. Sie war immerhin diejenige gewesen, die Frederick zum Treffen im Wald mitgebracht hatte. Es war ihre Schuld, dass Icaurs’ Theorien Fredericks Interesse geweckt hatten.
»Ich liebe Abenteuer«, erwiderte sie matt, und sein Mundwinkel zuckte kurz. Allerdings blieb sein Blick ernst. »Und wer weiß – wenn ich ohnehin schon da bin, können wir auch noch mal über den Zauber sprechen, den du vorgeschlagen hast.«
Er hob die Brauen. »Vielleicht. Aber erst mal hat das keine Priorität. Wir müssen uns dort oben auf unsere Umgebung konzentrieren. Die Bergketten über Sinnrik sind umwegig, und es gibt dort viele Monster. Millie wird uns begleiten, sonst konnte ich allerdings niemanden für diese Mission begeistern.«
»Warum nicht?«, fragte Tamara verständnislos. Den Einwohnern von Sinnrik konnte das Verschwinden von Frederick unmöglich egal sein.
»Fred ist schon oft verschwunden und bringt sich ständig in Schwierigkeiten. Außer mir sind alle sehr optimistisch, dass er von selbst zurückkehren wird.«
Tamara wollte gerade nachhaken, ob es einen konkreten Grund gab, weshalb Icarus diesen Optimismus nicht teilte, als sie im Flur ein Geräusch hörte. Sie war in diesem Haus aufgewachsen – sie kannte das Knarzen jeder einzelnen Diele und jedes einzelnen Balkens. Deshalb wusste Tamara genau, dass sich die Schritte ihrer Mutter direkt auf ihre Zimmertür zubewegten.
»Schnell!«
Weil der Kobold sie nur perplex anstarrte, sprang sie zu ihm, packte ihn am Ärmel und zerrte ihn durch das Zimmer, bis sie ihn neben der Tür an die Wand schubste. Ein wenig zu heftig, denn er stieß sich nicht nur seinen Kopf an ihrem Bücherregal, sondern beförderte auch die Buchstütze zu Boden. Gerade noch rechtzeitig streckte er die Arme aus und fing die Thrillersammlung auf. Eine falsche Bewegung und mindestens zwanzig dicke Bücher würden zu Boden prasseln.
Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich und verdeckte Icarus, seinen entsetzten Gesichtsausdruck und die in Schieflage geratene Lektüre.
»Möchtest du noch einen Tee, Tamara?«, fragte ihre Mutter, die in einen rosafarbenen Morgenmantel gehüllt war und sie müde anlächelte. Im Hintergrund klang bereits das Blubbern des Wasserkochers aus der offenen Küche.
»Nein danke. Ich wollte gerade schlafen gehen«, erwiderte Tamara mit wild klopfendem Herzen und versuchte, ihre stocksteife Körperhaltung zu lockern.
»Hast du noch gelesen?«
»Ja.«
»Den Thriller, den wir dir geschenkt haben? Also wenn du den gut findest, würde ich -«
Vermutlich hatte ihre Mutter einen Blick auf Tamaras Beistelltisch werfen wollen, um das besagte Buch zu sehen. Allerdings drückte sie dabei die Zimmertür weiter auf und damit direkt gegen Icarus. Die Bücher ergossen sich auf den Dielenboden, und das Poltern von dicken Schmökern, die unsanft mit ihren Ecken auf den Boden knallten, wollte gar nicht abreißen.
Tamara stieß ein Wimmern aus.
»Oje!«
Ihre Mutter schob Tamara aus dem Weg und ließ die Tür zurückschwingen – nur, um direkt in die Augen eines Koboldprinzen zu schauen, der in diesem Moment sehr an ein Reh im Scheinwerferlicht erinnerte. Noch immer klemmte er mit eingezogenem Kopf halb unter dem Regal, in den Armen drei schwere Bücher.
Für einen Moment herrschte schockiertes Schweigen. Geistesgegenwärtig warf Tamara die Tür zu, dann blickte sie ihre Mutter an. »Weißt du noch, als ich dir von meinen neuen Freunden erzählt habe? Die ich vor ein paar Monaten beim Spazierengehen im Wald getroffen habe? Das ist Icarus.«
Langsam löste ihre Mutter den Blick vom Kobold, um Tamara anzusehen. Die hochgezogenen Augenbrauen waren dem Haaransatz so nah wie nie zuvor, und ihre Augen blitzten gefährlich. Allerdings kannte Tamara ihre Mutter. Und sie sah genau, wie sich ihre Lippen zusammenpressten, im Versuch, vollkommen ernst zu wirken.
»Also, Tamara …«, begann sie und ließ den Blick bedeutungsvoll zwischen ihr und Icarus schwanken, der mittlerweile blass wie ihr Bettlaken war. »Nur weil du jetzt achtzehn bist, finde ich es nicht angebracht, einen Jungen in dein Zimmer zu schmuggeln. Er kann das nächste Mal durch die Haustür kommen. Tagsüber. Bis wir ihn etwas besser kennengelernt haben.«
»Hm«, machte Tamara, hin- und hergerissen, ob sie ihr Verhältnis zu Icarus klarstellen sollte.
Doch ihre Mutter wartete gar nicht erst auf eine Antwort ihrer Tochter. Sie wandte sich an Icarus. »Und du … Du gehst jetzt besser erst mal. Um dir einen besseren Eindruck möglich zu machen, werde ich meinem Mann nichts von diesem Vorfall erzählen. Solang du das nächste Mal anständig an unserer Tür klingelst, verstanden? Wir sind wirklich nicht über den Maßen streng mit unserer Tochter, aber … Ist das etwa ein Schwert?«
Sie wich einen Schritt zurück und warf Tamara einen Seitenblick aus weit geöffneten Augen zu.
»Er ist Cosplayer, Mama. Es ist eine Schaumstoffwaffe, und die Ohren sind angeklebt.«
Icarus klappte der Mund ein kleines Stück auf, eindeutig empört. Aber er fing Tamaras warnenden Blick rechtzeitig auf und nickte knapp.
»Können wir kurz reden, Tamara? Unter vier Augen?« Auf der Stirn ihrer Mutter zuckte eine Ader.
»Klar«, erwiderte Tamara in ungewohnt hoher Tonlage.
Icarus löste sich vorsichtig aus seiner Nische und legte ihre Bücher auf dem Boden ab. »Ich gehe besser mal.«
»Das wäre fürs Erste besser. Du kannst wiederkommen«, schob ihre Mutter etwas gepresst nach und bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Durch die Haustür.«
Icarus nickte und wandte sich ab. Ohne Tamara noch einmal anzusehen oder ihr einen Hinweis zu geben, wie es nun mit ihrem Plan bezüglich Fredericks Rettungsaktion weitergehen sollte, stieg er aus dem Fenster und verschwand in der Dunkelheit.
Anklagend deutete ihre Mutter ihm nach. »Das hat nicht so ausgesehen, als hätte er das zum ersten Mal gemacht. Warum hast du uns nichts von ihm erzählt?«
»Mama, du verstehst das ein bisschen falsch, glaube ich …«, murmelte Tamara mit glühenden Wangen.