The Silver Knight - Bonnie Venin - E-Book

The Silver Knight E-Book

Bonnie Venin

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Beschreibung

»Erin hatte geglaubt, dass diese Anziehungskraft mittlerweile verschwunden sein müsste. Schließlich war sie jetzt beinahe erwachsen und glaubte nicht mehr an Magie. Doch sobald ihr Blick auf die dunkelgrünen Baumkronen stieß, spürte sie es wieder – wie einen Ruf, der tief aus dem Inneren des Waldes drang und nach ihr verlangte. Als würden all die Geschichten, die sie sich in ihrem kindlichen Leichtsinn ausgedacht hatte, zwischen den Baumstämmen auf sie warten.« Als Erin nach Brescath zieht, ist sie alles andere als begeistert. Das verschlafene Dorf im Süden Irlands hat der 16-jährigen nicht viel zu bieten. Der einzige Trost weit und breit scheinen ihre Kindheitsfreunde Ryan und Hope zu sein. Eines Nachts stoßen die drei auf ein uraltes Geheimnis, das viele Fragen aufwirft – wer lebt unter dem Hügel mitten im Wald? Und was ist mit Erins Onkel geschehen, der vor vielen Jahren aus Brescath verschwunden ist? Schon bald muss Erin feststellen, dass an diesem Ort nichts so ist, wie es zu sein scheint. Nicht der Wald, nicht ihre Familie und noch nicht einmal der schüchterne Hope...

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2025

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© 2025 Bonnie Venin

© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Fabula Coverdesign – www.julianafabula.de/grafikdesignUnter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock.com: Pongstorn Pixs, michelaubryphoto, supasart meekumrai, Anastelfy, Ironika; freepik.com

Illustrationen & Layout: Bonnie VeninDigitale Nachbearbeitung: Leyla Akpinar

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmBH, An der Strusbek 10, 22926, Ahrensburg, Germany

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen und Übersetzungen. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Für Sara,

die von Anfang an an diese Geschichte geglaubt hat.

Away with us he's going,The solemn-eyed:He'll hear no more the lowingOf the calves on the warm hillsideOr the kettle on the hobSing peace into his breast,Or see the brown mice bobRound and round the oatmeal chest.For he comes, the human child,To the waters and the wildWith a faery, hand in hand,For the world's more full of weeping than he can understand.

— W. B. Yeats, The Stolen Child

Kapitel eins

Brescath

Es war zwei Uhr morgens, als der Name des Ortes das erste Mal auf den Straßenschildern erschien.

Davor waren sie stundenlang durch die schwarze, alles verschlingende Nacht gefahren. Stürmischer Regen peitschte gegen die Scheiben, obwohl es am Nachmittag noch so warm gewesen war, dass Erin ihre dünne Sommerjacke nach der Schule um die Hüften gebunden hatte. Das war kurz, bevor sie zu Hause ankam und bemerkte, dass das Auto ihres Vaters nicht in der Auffahrt stand.

Mittlerweile kam es ihr vor, es lägen Welten zwischen diesem Moment und dem jetzigen, obwohl in Wirklichkeit keine zwölf Stunden vergangen waren. Ihre Mutter hatte nicht viele Worte über das verloren, was geschehen war, und Erin hatte nicht danach gefragt. Selbst ihr kleiner Bruder hielt den Mund, als spürte auch er ausnahmsweise, dass jetzt nicht der richtige Moment für seine ständige Fragerei war.

Sie alle wechselten nur ein paar bedeutungslose Satzfetzen miteinander; Lloyd spielte auf seinem Nintendo, Erin hörte Musik und beobachtete dabei immer wieder ihre Mutter, die das Lenkrad fest umklammerte und oft aussah, als müsste sie mit viel Mühe Tränen zurückhalten, die ihr über die Wangen zu laufen drohten. Doch sie sprach sie nicht an, obwohl ihr Kopf gefüllt war mit Worten, von denen sie die ganze scheinbar endlose Autofahrt nach Brescath nicht ein einziges über die Lippen brachte.

Brescath. Erin wiederholte den Namen im Kopf, bis er nicht mehr vertraut, sondern nur noch seltsam klang. Er schmeckte nach Schokoladeneis und Erdbeerkuchen, nach Zitronenlimonade und überreifen Äpfeln vom Baum ihrer Großmutter, und roch nach Sommerregen und aufgewühlter Erde.

Sie verband so viele Erinnerungen mit diesem Namen; als Kind hatte es für sie kaum Aufregenderes gegeben als den Wald und die endlosen Weiten der Wiesen. Bis in die Abenddämmerung hatte sie dort mit anderen Kindern gespielt und war schließlich mit völlig verdreckten und kaputten Kleidern heimgekommen – auf den Bauernhof, der für sie mindestens genauso viele Überraschungen bot wie der Wald.

Für ein Kind, das leicht zu begeistern war und voller Neugier steckte, war Brescath ein guter Ort, um dort die Sommerferien zu verbringen. Sie war jedes Jahr mit einem Haufen Geschichten zurückgekehrt, die sie ihren Schulfreundinnen präsentierte wie Heldentrophäen. Doch jetzt, wo sie ein Teenager war, der sich für all diese Dinge nicht mehr interessierte, erschien ihr das Dorf beinahe wie eine Strafe.

Brescath lag im Süden Irlands, eingeschlossen von dichtem Wald und Ackerland; die nächste Stadt, Clifden, lag fast eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt, und das Örtchen selbst war so winzig, dass sich alle Einwohner mit Namen kannten. Nach dem Leben, das sie in London geführt hatte, wo alles aufregend war und es immer Neues gab, erschien ihr dieser Ort wie ein Gefängnis. Sie konnte sich tausend Dinge vorstellen, die schöner waren, als hier ihre Ferien verbringen zu müssen.

Das Einzige, was noch schlimmer war als die Aussicht auf einen ereignislosen Sommer, war die leise Angst, die sich in ihrem Nacken festgesetzt hatte, dass sie in Wirklichkeit noch länger hierbleiben würden, viel länger sogar. Trotzdem wusste sie, dass jetzt der falsche Moment war, um mit ihrer Mutter darüber zu sprechen.

Abigail Murphy stellte den Blinker an und begann das Lenkrad herumzukurbeln, um auf eine schäbige, schlecht beleuchtete Tankstelle aufzufahren.

Ihre Mutter stieg aus, um zur Zapfsäule hinüberzugehen, und warf ihrer Tochter durch die verregnete Fensterscheibe einen Blick zu, den Erin nicht deuten konnte. Sie sah nur, dass ihre Mum unglaublich müde wirkte.

Es war ein anstrengender Tag für sie alle gewesen. Lloyd war mittlerweile auf dem Rücksitz eingeschlafen, sein kleiner Kopf lehnte an der Fensterscheibe, an deren Außenseiten immer noch endlos viele Regentropfen herunterperlten. Je näher sie Brescath kamen, desto stärker wurde der Regen, als ob selbst der Himmel diesen Ort betrauern würde.

Abigail Murphys Handy klingelte. Normalerweise stellte sie es immer aus, wenn sie fuhr. Erin bemühte sich, nicht hinzuhören, doch ein paar Gesprächsfetzen drangen durch den Regen zu ihr hinüber, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie telefonierte mit ihrem Dad.

»Ja. Ja, wir sind bald da. Ich hab die Kinder für die restliche Woche krankgemeldet, sie sollen uns die Zeugnisse zuschicken. Es waren sowieso nur noch ein paar Tage... Ja. Nein.« Sie klang so erschöpft, als könnte sie jeden Moment auf der Straße in sich zusammenfallen. »Ich melde mich morgen, Phil.« Damit beendete sie das Gespräch und machte sich auf den Weg in das mehr als renovierungsbedürftige Tankstellengebäude.

Erin folgte ihr mit den Augen, bis die Türen sich hinter ihr schlossen und sie verschwand. Ihr Bruder zuckte im Schlaf zusammen. Für einen Moment fragte sie sich, was er wohl gerade träumte. Er war vermutlich noch verwirrter als sie selbst.

Gerade, als es abendlich mild draußen wurde, waren sie losgefahren – immer weiter weg von zu Hause, bis sie die Fähre erreichten, die sie von Liverpool nach Belfast brachte. Das alles ohne ein Wort der Erklärung von ihrer Mutter.

Erin war alt genug, um zu wissen, dass es einen Grund dafür gab, dass ihr Vater im Auto nicht einmal erwähnt wurde. Sie wusste nicht, was es war – aber irgendetwas war zwischen ihren Eltern vorgefallen, etwas, das sich nicht mehr so einfach richten ließ, weil es mehr war als nur eine bedeutungslose Streiterei.

Ihre Mutter hatte ihnen nur gesagt, dass sie für die wenigen Tage bis zur Zeugnisvergabe von der Schule abgemeldet wurden und dass sie eine Zeit lang nach Brescath fahren würden, zu ihrer Großmutter Moira. »Als Kind konntest du es doch kaum erwarten, im Sommer wieder herzukommen«, hatte sie mit einem sanften Lächeln zu Erin gesagt. »Du hattest immer so viel Spaß dort. «

Erin hatte es sich verkniffen, ihrer Mutter zu sagen, dass Brescath ihr schon seit ihrem zehnten Lebensjahr nichts mehr zu bieten hatte. Der letzte Sommer, den sie dort verbracht hatte, lag inzwischen sechs Jahre zurück. Das kleine Mädchen, auf dessen Fotos ihre Mum so gern zurückblickte, existierte nicht mehr, und sie beide wussten das.

Vor allem war sie einfach froh, dass ihre Mutter aufgehört hatte, sie mit ihren Geschichten aufzuziehen.

Erin starrte auf ihre abgetragenen Turnschuhe, als Abigail wieder ins Auto stieg und den Motor anließ. »In fünfzehn Minuten sind wir da«, sagte sie, den Blick starr auf die Windschutzscheibe gerichtet. »Deine Oma ist für uns wach geblieben. Wir können dort noch etwas essen, bevor wir ins Bett gehen.« Ihre Stimme klang brüchig, als stünde sie wieder kurz davor zu weinen.

Erin hätte irgendwas Tröstendes gesagt, doch sie wusste nicht, was, und dann fuhr ihre Mutter wieder los und der Moment war verflogen, als hätte der Wind ihn mit sich gerissen.

»Schnall dich an«, sagte Abigail stattdessen, und Erin gehorchte mit einem Augenrollen.

Der Weg bis nach Brescath führte über eine schmale, in der Nacht pechschwarze Einbahnstraße, die links und rechts von Hecken und hohen Bäumen mit tropfendem Blätterdach gesäumt war. Kaum ein Stück freier Himmel war durch die Windschutzscheibe noch zu erkennen, egal wie sehr Erin den Kopf verrenkte. Ihr Handyempfang starb einen kümmerlichen Tod unter all den Baumkronen. Missmutig starrte sie auf den Bildschirm. Vielleicht war der Empfang im Dorf ja besser.

Große Hoffnungen machte sie sich jedoch nicht.

Irgendwann kam ein Ortsschild in Sicht – kein offizielles Straßenschild, sondern ein handgefertigtes Schild aus Holz, auf dem in großen, verschlungenen Buchstaben der Name Brescath stand. Der Name des Dorfs hatte sich in den letzten Jahrhunderten nicht geändert.

Hinter dem Schild duckten sich im Schatten des Waldes erst ein alter Schrottplatz und dann, ein ganzes Stück entfernt, die erste kleine Siedlung, in der Nacht kaum mehr als ein paar dunkle Umrisse. Erin verfolgte die Gegend durch das Autofenster und seufzte innerlich. Es war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte – genau so klein und unspektakulär, umgeben von Wald, Wiesen und Schafmist.

Es gab nur wenige, spärliche Lichtquellen. Am Ende einer Straße stand eine einsame Laterne, die halb von Efeu verschluckt worden war und kaum noch Schutz vor der Dunkelheit bot. Früher hatte Erin solche Dinge magisch gefunden. Heute fand sie den Gedanken, sein ganzes Leben an so einem heruntergekommenen Ort verbringen zu müssen, nur noch bedauernswert.

Sie mussten das Dorf vollständig durchqueren, um zu dem abgeschiedenen Hof zu kommen, auf dem ihre Großmutter und Erins einziger Onkel lebten. Trotz all der Jahre, die in der Zwischenzeit vergangen waren, hätte Erin den Weg noch auswendig gekannt, und es fühlte sich seltsam schmerzhaft an, ihn plötzlich wieder entlangzufahren.

Das Licht auf dem Hof sprang an, als ihre Mutter die gepflasterte Auffahrt hochfuhr und den Wagen zum Stehen brachte. Erin stieg aus und betrachtete für einen Moment die Umgebung, während ihre Mum versuchte Lloyd zu wecken, der sich nur widerwillig aus seiner Traumwelt reißen ließ.

Der Hof sah noch genauso aus wie früher. Dasselbe aufgesprungene Pflaster, dieselben Ställe und dasselbe rostige Gitter, das den Hühnerlauf umzäunte. Sogar der Apfelbaum war noch da, obwohl er mittlerweile so groß war, dass sein Wurzelwerk das umliegende Pflaster aufriss. Und dort, gegenüber den Ställen, stand das alte Bauernhaus, in dem sie die Sommerabende ihrer Kindheit verbracht hatte. Die weiße Fassade war noch ein bisschen schmutziger und bröckeliger als in ihrer Erinnerung.

Noch viele andere Erinnerungen kamen in ihr hoch, lebendige und auch fast vergessene, Gerüche und Geschmäcker ihrer Vergangenheit. Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, als könnte sie die Gedanken an frühere Zeiten damit vertreiben.

Für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als befände sie sich in einem Traum.

Dann sprang drinnen nervtötend lautes Hundegebell an. Kaum eine Sekunde später erhellte sich die Veranda im matten Licht einer staubigen alten Leuchte und die Tür wurde lautstark aufgeschlossen. Im Rahmen stand Bertram, Erins Onkel, der angestrengt versuchte die zwei kläffenden Biester zurückzuhalten, die sich mit aufgerissenen Mäulern und gefletschten Zähnen an ihm vorbeidrängten.

»Hannibal! Cerberus! Aus!«

Erins Mutter hatte sich immer schon gern darüber lustig gemacht, was für großspurige Namen ihre Mutter den beiden Schäferhunden gegeben hatte. Die beiden waren eigentlich sehr umgängliche Zeitgenossen, sogar kinderlieb, nur ihr Beschützerinstinkt war etwas zu ausgeprägt. Ihr Gekläff konnte man noch fast einen Kilometer weiter hören, aber ernsthaft angegriffen hatten sie noch niemanden. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachten sie damit, die vielen Hofkatzen zu jagen.

»Kommt nur rein, kommt nur rein!«, rief Bertram über das Gebell hinweg. »Sobald ihr erstmal drin seid, geben sie Ruhe. Sie werden euch schon wiedererkennen, keine Sorge!«

Erin vergrub die Hände in den Taschen ihrer ausgefransten Jeansjacke und machte ein paar zögerliche Schritte in Richtung Veranda. Hinter ihr zog ihre Mutter den verschlafenen Lloyd an der Hand mit sich zum Haus. »Die Sachen packen wir morgen aus«, sagte sie im Vorbeigehen zu ihr. »Erstmal rein.«

Inzwischen nieselte es nur noch. Feine Regentropfen bedeckten Erins Gesicht und ihre Haare. Mit ein paar schnellen Schritten erreichte sie die Veranda und ließ sich von ihrem Onkel umarmen.

»Groß bist du geworden!«, stellte er fest und packte sie an den Schultern.

Dass sie gewachsen war, war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, dass er sie zuletzt vor zwei Jahren zu Weihnachten gesehen hatte. Damals war sie vierzehn gewesen und hatte gerade in der Phase gesteckt, in der man sich von allem und jedem missverstanden fühlt.

Er würde vielleicht denken, dass diese Phase immer noch nicht vorüber war, doch jetzt gerade wollte sie einfach nur noch ihre Ruhe haben. Das Regenwasser kroch ihr kalt in den Jackenkragen.

»Sind sie das?« Der Kopf ihrer Großmutter Moira erschien in der Haustür. Sie sah noch älter aus, als Erin sie in Erinnerung hatte; sie ging gebückt, als würde ihr Rücken sich langsam für die jahrzehntelange Schwerstarbeit auf dem Hof rächen wollen. Doch ihr Haar war immer noch genauso straff zurückgesteckt wie früher, und ihr faltiges Gesicht hatte noch denselben Ausdruck, der so streng aussah, obwohl Erin sie besser kannte.

Ihre Großmutter hatte eine harte Schale, doch im Herzen, da war Erin sich sicher, war sie ein liebevoller Mensch. Als Erin noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sie ihr oft heimlich köstliche Karamellbonbons zugesteckt und sie dabei verschwörerisch angelächelt, auch wenn ihre Mutter das im Nachhinein betrachtet sicher mitbekommen hatte.

»Wer denn sonst?«, fragte Bertram zurück und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Hühnerdiebe?«

»Hallo, mein Sonnenkind!« Während ihre Mum und ihr Bruder jetzt von Bertram in Empfang genommen wurden, schloss Moira ihre Enkeltochter in die Arme. »Wie geht es dir? Du bist ja immer noch dünn wie ein Strich in der Landschaft. Komm erstmal mit rein, wir haben Verpflegung für euch Reisende vorbereitet!«

Erin folgte ihrer Großmutter durch die Diele und das Wohnzimmer in die große, altmodisch eingerichtete Küche. Moira weigerte sich nach wie vor, sich einen modernen Plattenherd oder eine Mikrowelle anzuschaffen. »Dieses neumodische Zeug brauch ich nicht«, sagte sie immer. »Ich bin bisher auch bestens ohne ausgekommen.«

Erins Mutter regte sich darüber meistens auf, doch heute trat sie nur müde in die Küche und setzte sich zu ihrer Tochter an den wurmstichigen, rechteckigen Küchentisch, der so riesig war, dass eine zwölfköpfige Familie bequem daran hätte sitzen können. Erin hatte sich schon immer gefragt, für wen Moira eigentlich so viel Platz brauchte.

Überhaupt gab es in diesem Haus viel zu viel Platz. Früher hatte Erin es toll gefunden, dass Haus und Grundstück so riesig waren, dass sie genug Freiraum zum Spielen hatte, doch jetzt fand sie es bedrückend und unheimlich daran zu denken, wie viele leere Zimmer es hier gab, durch die nachts der Wind pfiff wie ein wütendes Gespenst – nicht, dass sie noch an Gespenster geglaubt hätte.

»Seid ihr gut hergekommen?«, fragte ihre Großmutter wie beiläufig, doch auf ihrem Gesicht spiegelte sich Sorge wider. Sie wusste eindeutig mehr als Erin und Lloyd.

Erin warf ihrem Bruder einen Blick zu, um zu prüfen, ob er es auch bemerkte, aber Lloyd starrte nur mit trübem Blick auf den Tisch. Vielleicht war er zu müde oder ganz einfach zu jung.

»Ganz gut«, erwiderte Abigail mit erschöpfter Stimme. »In London standen wir ewig im Stau, aber das ist ja nichts Neues, und diese Fähre hat mal wieder furchtbar geschlingert, aber ansonsten sind wir gut rübergekommen.«

Moira stellte jedem einen großen Teller Kartoffelsuppe vor die Nase. Ihr Bruder erwachte aus seiner Trance und schlug gierig zu, doch Erin und ihre Mutter rührten nur lustlos darin herum.

»Was macht die Schule?«, fragte Bertram, der in die Küche getreten war und sich nun zu ihnen an den Tisch quetschte – was sich schwierig gestaltete, denn sein Bauch fand in der Spalte zwischen der Sitzbank und der Tischplatte kaum Platz. Erin dagegen musste die Arme ausstrecken, um ihren Teller überhaupt zu erreichen.

»Es läuft echt super«, strahlte Lloyd. Seine Müdigkeit schien verflogen zu sein, er wirkte quicklebendig. Und er hatte bereits den halben Teller Suppe in sich hineingeschaufelt.

»Er hat drei Einsen auf dem Zeugnis«, sagte ihre Mutter, während Lloyd sich den nächsten Löffel in den Mund schob. »In Englisch, Naturwissenschaften und Religion.«

»Und bei dir, Sonnenkind?«, fragte Moira und wandte sich ihrer Enkelin zu.

Sonnenkind. Es gab wohl keinen unpassenderen Spitznamen.

Erin hob die Schultern. »Ganz okay«, antwortete sie vage. Ihre Mutter zog die Stirn in Falten. Sie würde den Rest der Familie bestimmt später darüber aufklären, dass ihre Lehrer bis kurz vor der Notenvergabe noch darüber diskutiert hatten, sie durchfallen zu lassen. Den Abschluss hatte sie nur mit Müh und Not bekommen. Ob sie es nächstes Schuljahr aufs College schaffen würde, war fraglich.

Andererseits – wäre ihre Bildung nicht die ideale Begründung, um so früh wie möglich in die Stadt zurückzukehren? Es musste ja nicht mal London sein. Es gab sicher Colleges mit Schülerwohnheimen, vielleicht in Oxford oder Canterbury.

Schlussendlich schob Erin den Teller von sich weg. Der Appetit war ihr schließlich schon heute Nachmittag vergangen. »Ich geh nach oben.« Ihre Stimme klang sogar noch erschöpfter, als sie sich fühlte.

»Wir haben dein altes Zimmer für dich hergerichtet!«, rief ihr ihre Großmutter hinterher, als sie sich mit langen Schritten von der Küche entfernte. »Das ist doch in Ordnung, oder?«

Erin antwortete nur mit einer vagen Geste, bevor sie eine ihrer Taschen aus dem noch offenen Auto schnappte und sich damit in das obere Stockwerk verzog. Hier oben hörte man den Wind durch die alten Rohre ziehen und das Dachgebälk knarrte bedrohlich.

Sie hatte keine Ahnung, was genau Moira mit hergerichtet meinte, denn das letzte Zimmer auf dem Gang schien furchtbar leer und trostlos. Hier hatte sie als Kind übernachtet, wenn sie in den Ferien zu Besuch gekommen war; ein paar alte Comics und Bücher lagen auf dem Schreibtisch, doch ansonsten sah es so aus, als wäre der Raum seit Jahren nicht mehr betreten worden. Oder als wäre sie niemals fort gewesen. Sogar die Bettwäsche war dieselbe.

Vorsichtig strich sie mit den Fingern über den weichen Stoff. Er roch nach Erinnerungen. Und nach Mottenkugeln. Warum rochen alte Sachen immer nach Mottenkugeln?

Erin setzte sich auf den Rand des Betts, von dem eine kleine Staubwolke aufwirbelte, und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Obwohl es nicht mal passwortgeschützt war, brauchte sie ein paar Versuche, um sich in das heimische Netzwerk einzuloggen, und selbst dann musste sie feststellen, dass die Verbindung für mehr als ein paar Nachrichten nicht ausreichen würde.

Ihr hatten ohnehin nur zwei Leute geschrieben – die einzigen, denen sie Bescheid gesagt hatte, dass sie wegfuhren. Ihre beste Freundin Kelsey und Daxton, den alle nur Dax nannten.

Mit müden Fingern tippte sie an beide ein paar Zeilen. Sind angekommen. Es geht mir gut. Alles ist immer noch genauso langweilig, wie ich es in Erinnerung hatte. Melde mich morgen nochmal.

Sie starrte den Bildschirm an und las sich die Nachricht durch, bevor sie das Wort langweilig wieder löschte – wenn auch nur zögerlich. Dann steckte sie das Handy wieder ein.

Ohne sich auszuziehen, kroch sie unter die kalte Decke, zog sie sich hoch bis zum Kinn und schloss die Augen. Über sich hörte sie den Wind heulen und pfeifen. Unweigerlich erinnerte sie sich daran, wie oft sie als Kind hier gelegen und den Geräuschen gelauscht hatte, die dieses Haus nachts von sich gab, während ihre Fantasie dazu Bilder von den grauenhaftesten Monstern spann, die sie sich nur vorstellen konnte. Zum Glück waren diese Zeiten vorbei – heute wusste sie, dass die wahren Monster nicht unter dem Bett lauerten, sondern morgens mit ihrer Familie am Frühstückstisch saßen und schwarzen Kaffee tranken.

Und doch: Sie kannte jeden Winkel, jede Spinnwebe dieses Hauses, bis heute. Jede noch so schmutzige Ecke des Stalls nebenan. Dabei war sie eine halbe Ewigkeit nicht hier gewesen.

Und daran hätte sich sicher auch nichts geändert, wenn… Ja, was? Was war zwischen ihren Eltern vorgefallen?

Wütend zog sie sich die Decke über den Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Dafür hatte sie in den nächsten Tagen noch genügend Zeit. War ja nicht so, als gäbe es hier besonders viele andere Dinge zu tun.

Und doch flammten ständig Bilder vor ihrem inneren Auge auf – vom Wald, an dessen Rand sie mit anderen Kindern gespielt hatte (und manchmal auch weiter hineingeschlichen war, obwohl ihre Eltern es ihnen verboten hatten), den endlosen Wiesen, die sich wunderbar zum Versteckspiel oder zum Fangen eigneten, und den Sommerabenden mit Kuchen und Limonade auf dem Hof.

Es war schön gewesen, damals, als sie noch klein war. Aber sie war es eben nicht mehr. Und Brescath hatte sich für sie in ein trostloses Loch aus Langeweile verwandelt, in dem sie, wie sie fürchtete, bald feststecken würde wie eine Fliege im Spinnennetz.

Unter anderen Umständen hätten ihre früheren Spielkameraden ein möglicher Lichtblick sein können; die meisten davon müssten ungefähr in ihrem Alter gewesen sein, und vielleicht lebten sie ja immer noch hier. Doch viel mehr als die Frage, ob sie heute noch viel gemeinsam hatten, umtrieb Erin der Gedanke, dass sie sich womöglich tatsächlich an alles erinnerten, was in diesen Sommern in Brescath passiert war.

Es kostete sie viel Zeit und Konzentration, die Bilder der Vergangenheit endlich wegzudrängen; als sie es schließlich schaffte, all die klebrig süßen Erinnerungen loszulassen, die an ihr hafteten wie alte Zuckerwatte an den Fingern, und in einen schläfrigen, benebelten Zustand zu versinken, ging auf einmal leise quietschend die Tür auf.

Erschrocken fuhr sie hoch, doch es war nur Lloyd, der mit verschlafenen Augen und in einem dunkelblauen Pyjama im Türrahmen stand. »Ich kann nicht schlafen«, murmelte er kläglich. »Das Haus klingt gruselig.«

Für einen Jungen in seinem Alter mussten sich der Sturm und das Dachgebälk wirklich anhören wie gefräßige Monster, die bereit waren, ein Kind auf der Stelle mit Haut und Haaren zu verschlingen. Und als wäre diese Geräuschkulisse noch nicht beunruhigend genug, begann nun auch noch eins der Fenster unten im Erdgeschoss zu klappern.

Erin seufzte und hob ihre Bettdecke an, damit ihr Bruder darunter kriechen konnte. Normalerweise wäre es ihm peinlich, zu seiner großen Schwester ins Bett zu krabbeln, weil er Angst hatte, aber der Tag heute schien auch seine Nerven reichlich überlastet zu haben.

Er schmiegte sich eng an sie und zog die Beine an den Körper wie ein Fötus. »Was, denkst du, ist mit Mum und Dad?«, fragte er so schüchtern, als hätte er genau so viel Angst vor der Antwort wie sie.

Erneut seufzte sie leise. Was sollte sie ihm darauf sagen? Anlügen konnte sie ihn nicht – er war schlauer, als gut für ihn war. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie schließlich ehrlich. »Wir müssen darauf warten, dass sie es uns erklären. Aber es wird alles wieder gut.«

Sie versuchte, ihre Stimme möglichst sicher klingen zu lassen, doch sie schwankte verräterisch. Natürlich war sie sich kein bisschen sicher, was aus ihnen und ihren Eltern werden würde.

Lloyd drehte sich zu ihr um. »Mum hat eben gesagt, wir bleiben vielleicht den ganzen Sommer hier.« Er überlegte. »Meinst du, Dad denkt daran, meine Fische zu füttern?«

»Ganz bestimmt. Er ist doch kein Idiot.« Es kostete sie eine ganze Menge Beherrschung, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen.

»Versuch jetzt erstmal zu schlafen«, sagte sie bedächtig und deckte sie beide ordentlich zu. »Vielleicht können wir das alles morgen klären.«

Nach einer Weile merkte sie, wie sich Lloyds kleiner Körper entspannte und sein Atem immer regelmäßiger ging, während sie selbst immer noch keinen Anflug von Schläfrigkeit spürte, obwohl sie sich fühlte, als wäre sie gerade den Boston Marathon gelaufen. Als ihr endlich die Augen zufielen, glaubte sie für einen kurzen Moment, draußen ein winziges, schwirrendes Licht zu sehen, das vor ihrem Fenster hin- und herflog – aber das hatte sie sich bestimmt nur eingebildet

Kapitel zwei

Alte Bekannte

Der nächste Tag begann spät. Es war schon fast elf, als Erin am Küchentisch saß und sich lustlos einen Löffel Cornflakes in den Mund schob. Der Himmel trug immer noch die gleiche Farbe wie das Meer an kalten Tagen, aber immerhin regnete es nicht mehr.

Hannibal und Cerberus hatten sich unter dem Tisch zusammengerollt; Lloyd saß ihr gegenüber, ausgeschlafen und putzmunter, und schmierte sich bereits das dritte Brot mit Corned Beef. Sie selbst hatte diese Nacht kaum ein Auge zubekommen und ihr Appetit war auch noch nicht zurückgekehrt. Erschöpft stützte sie den Kopf in die Hände.

Aus dem Nebenzimmer drangen gedämpfte Stimmen. Natürlich war die Tür fest verschlossen.

Diese Geheimniskrämerei machte sie wütend. Sie war sechzehn Jahre alt und kein kleines Kind mehr – sie verdiente es, die Wahrheit zu erfahren, egal wie schmerzhaft sie war. Behandelt zu werden, als wäre sie acht, machte die ganze Situation nur noch schlimmer.

Gerade, als sie überlegte aufzustehen und an der Tür zu lauschen, betrat ihre Mutter die Küche. Sie sah frischer und entspannter aus als am gestrigen Abend, doch um ihre Augen lag immer noch ein trauriger Schatten.

»Ihr seid ja endlich wach«, sagte sie betont fröhlich und strich beiden übers Haar. Erin rollte mit den Augen und Lloyd fuhr sich empört über seine Frisur. Dafür, dass er erst neun Jahre alt war, war er bereits entsetzlich empfindlich, was sein Äußeres betraf.

»Also, meine Große«, wandte ihre Mutter sich direkt an sie. »Kommst du heute mit mir ins Dorf? Ich hab deiner Oma gesagt, dass wir für sie den Wocheneinkauf erledigen.«

Von »Lust« konnte nicht die Rede sein, trotzdem nickte Erin. Vielleicht tat es ihrer Mutter im Moment ganz gut, nicht allein sein zu müssen.

Jetzt lächelte sie tatsächlich, auch wenn an ihrem Lächeln immer noch etwas Traurigkeit klebte. »Gut, dann mach dich gleich mal fertig«, sagte sie und zwinkerte Erin zu. »Wir fahren zu Miss Evans, falls du dich noch erinnerst.«

Erin erinnerte sich natürlich noch an Miss Evans. Die freundliche Kassiererin von Evans’ Trivial Matters hatte ihr früher immer Schokoladenriegel geschenkt, wenn sie allein oder zusammen mit Moira zum Einkaufen gekommen war. Aber wenn sie sich recht erinnerte, konnte man ihren Laden kaum als solchen bezeichnen. Mit einem der riesigen Londoner Einkaufszentren war er jedenfalls nicht zu vergleichen.

Wortlos stand sie auf und stapfte nach oben in ihr Zimmer, um dort festzustellen, dass ihre Mum den Kofferraum ausgeräumt haben musste – ihr Gepäck stand ordentlich gestapelt vor ihrem Bett. Erin zog sich ihr Shirt über den Kopf und kramte ein paar Klamotten aus einer Reisetasche. Als sie sie gestern gepackt hatte, war sie so wütend und durcheinander gewesen, dass sie einfach nur wahllos irgendwelche Sachen aus ihrem Schrank gezogen hatte. Kurzentschlossen schlüpfte sie in ein weites, ärmelloses Shirt mit grauem Batik-Muster und eine Jeans mit Löchern an den Knien, die Moira sicher gar nicht gefallen würden. Statt ihrer Turnschuhe entschied sie sich heute für die abgewetzten Boots – die waren wetterfester, falls es wieder anfing zu regnen. Außerdem fand sie, dass sie darin aussah wie die Anführerin eines Rebellenclans aus einem Science-Fiction-Film.

Die restlichen Sachen ließ sie einfach verstreut auf dem Boden liegen.

»Bist du fertig?«, rief ihre Mutter von unten, als sie gerade im Bad stand.

»Fast!«, nuschelte Erin mit der Zahnbürste im Mund. Aus dem Spiegel blickten ihre eigenen Augen ihr müde und trostlos entgegen. Ihr Haar wirkte trotz der ausgiebigen Versuche, es zu kämmen, struppig und zerzaust.

Sie hatte ihre Haare schon immer gehasst. Sie waren trocken und strohig, und sobald sie versuchte, sie länger als bis zu den Schultern wachsen zu lassen, brachen sie an den Spitzen einfach ab. Dazu noch die Farbe – aschfarben, nicht einmal richtig blond. Wie gern hätte sie kreischend pinke Strähnen wie Kelsey, mit denen man cool und auffällig aussah, aber natürlich hatte ihre Mutter ihr das strengstens verboten.

Trotzig fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. Es war egal, sagte sie sich immer wieder. Sehen würde sie hier ohnehin niemand. Zumindest niemand, der wichtig war.

Niemand wie Dax, flüsterte eine spöttische Stimme in ihrem Inneren. Erin gab ihr Bestes, sie zu ignorieren. Wenn ihre Ankunft in Brescath irgendetwas Gutes mit sich brachte, dann war es, dass sie sich die Spinnerei mit Dax nun endgültig aus dem Kopf schlagen konnte.

Als sie sich an den Fuß der Treppe setzte und ihre Stiefel zuband, startete ihre Mutter bereits das Auto. Lloyd hatte sich mit seinem Nintendo auf sein Zimmer verzogen und ihre Großmutter werkelte so energisch in der Küche herum, als hätte sie vergessen, dass sie einundachtzig Jahre alt war. Lediglich Onkel Bertram stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und beobachtete sie kritisch.

»Du wirkst nicht glücklich«, stellte er fest.

Erin wusste nicht, was sie antworten sollte, also zog sie es vor, einfach gar nichts zu sagen. Angestrengt betrachtete sie ihre Finger, als wäre es die anspruchsvollste Aufgabe der Welt, eine Schleife aus ihren Schnürsenkeln zu binden.

»Freust du dich denn gar nicht, uns wiederzusehen?«

Ergeben hob sie den Kopf. Eine so vorwurfsvolle Frage verlangte nach einer Antwort. »Doch«, sagte sie schließlich seufzend. Das stimmte. Sie hatte sich eigentlich immer gut mit ihrer Familie verstanden. »Aber es ist...«

»Es ist nicht dein Zuhause.« Ihr Onkel strich sich über die Halbglatze. »Es stimmt, mit einer großen, aufregenden Stadt wie London können wir uns nicht messen. Aber das Leben auf dem Land hat seine ganz eigenen Vorzüge. Wir sind hier in deinem Alter auch nicht umgekommen. Deine Mutter und ich zum Beispiel waren früher leidenschaftliche Schwimmer.«

Es fiel ihr etwas schwer, sich den dicken, behäbigen Bertram als jungen Mann in Schwimmkleidung vorzustellen, doch Erin gab ihr Bestes, sich jede Regung zu verkneifen.

Seine speckige Hand landete auf ihrer Schulter. »Glaub mir, du wirst hier auch etwas finden, das dir Spaß macht.«

Wieder blieb ihr nichts anderes übrig, als einfach zu nicken. Es war ja nicht so, als würde sie es nicht versuchen. Aber so angestrengt sie auch darüber nachdachte, was ihr an diesem Ort vielleicht gefallen könnte, ihr fiel einfach nichts ein.

So war das meistens mit den Dingen, die sie versuchte. Egal, wie gut sie es meinte, am Ende ging es irgendwie daneben.

Das Wetter draußen war immer noch grau und wolkenverhangen, aber es kämpften sich erste, blasse Sonnenstrahlen durch die Autofenster, als sie die schmale Straße, die sich dreisterweise als Hauptstraße betitelte, hinunterfuhren. Evans’ Trivial Matters lag am anderen Ende des Dorfs – also eine Autofahrt von etwa fünf Minuten entfernt.

Während der Fahrt betrachtete Erin die geduckten Häuser und die dahinterliegenden Wiesen, die sich bis zum Horizont erstreckten und auf denen die Schafe aussahen wie herumliegende Wattebäusche. Das musste man dem Ort lassen – es war schön hier. Malerisch schön sogar. Aber schön reichte einfach nicht aus.

Ihre Mutter erzählte unaufhörlich davon, wer in ihrer Jugend in welchem Haus gewohnt hatte und wo Erin als Kind gern gewesen war. Hin und wieder warf Erin einen kurzen Blick zu einem der Orte, auf die Abigail zeigte, um so zu tun, als würde sie sich für das Gerede interessieren. Aber der einzige Schluss, zu dem sie kam, war, dass Brescath kaum größer sein dürfte als eine Fünf-Pence-Münze.

Immerhin brachte sie sich mit diesem Gedanken kurz selbst zum Schmunzeln.

Sie wollte ihre Mutter nicht kränken, doch wenn sie ehrlich mit sich war, wuchs ihr Entsetzen mit jedem Meter, den sie sich durch den Ort bewegten. Selbst das »Zentrum« des Dorfs bot nichts weiter als einen Bäcker, eine Metzgerei, einen abgehalfterten Tante-Emma-Laden mit flackernder Eingangsbeleuchtung und eine Kneipe, die groß günstigen Whisky anpries.

»Denk nicht mal dran«, sagte Abigail scharf, als sie daran vorbeifuhren. Erin gab sich die größte Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. Seit ihre Mum sie einmal mit einem Shandy in der Hand erwischt hatte, waren Vorträge übers Komasaufen und die Gefahren von Alkohol an der Tagesordnung. Dabei hatte sie an diesem Abend wirklich nur ein einziges getrunken, was vor allem daran lag, dass Dax etwas von seinem Joint mit ihr geteilt hatte. Wenn ihre Mutter das wüsste, hätte sie sie wahrscheinlich längst ins Kloster gesteckt.

Die Fahrt führte sie weiter über eine schmale, unebene Straße und schließlich zum Rande des Dörfchens. Evans’ war ein alter Bauernhof, dessen Hauptgebäude zu einem kleinen Laden umfunktioniert worden war. Das Ortsausgangsschild war von hier bereits zu sehen; auf dem Hof selbst hüpften ein paar unternehmungslustige Hühner zwischen wahllos herumliegenden Strohballen umher. Auf der niedrigen Mauer thronte ein großes, offensichtlich selbst gebasteltes Schild: Evans’ Trivial Matters – Alles Nötige hier!

Erin konnte sich ein zynisches Grinsen nicht verkneifen. Soweit sie sich erinnern konnte, gab es in diesem Laden nur Pferdewurst, hausgemachte Marmelade und ausrangierte Reitutensilien im Sonderangebot.

Ihre Mutter parkte das Auto direkt auf dem Hof und stieg aus. »Das ist auch so ein Vorteil auf dem Land«, sagte sie mit gekünsteltem Lächeln. »Man muss sich nie Sorgen um sein Auto machen.«

Klingt glaubwürdig, dachte Erin sarkastisch, sagte aber »Toll« und folgte ihrer Mutter mit gesenktem Kopf in den Laden.

Hoffentlich würde sie wenigstens niemand von früher wiedererkennen. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sehr sie die anderen Großmütter gehasst hatte, die ihr an den Haaren zupften und Moira beglückwünschten, was sie doch für eine süße Enkeltochter hätte. Ein kleines blondes Engelchen, sagten sie. Tja, ins Schwarze getroffen hatten sie damit wohl nicht ganz.

Ihre Hoffnung währte nicht lange. Doch immerhin war es nur Miss Evans, die bereits fröhlich strahlte, als sie ihre beiden Kundinnen durch die Ladentür kommen sah. Als sie über die Schwelle traten, bimmelte ein helles Glöckchen, obwohl das Geschäft so klein war, dass man von der Theke aus ohnehin alles im Blick hatte.

»Oh, Abigail!«, rief sie. »Was für eine schöne Überraschung! Ich wollte meinen Ohren gar nicht trauen, als ich gehört habe, dass du wieder da bist.«

»Oh, wirklich?« Erins Mutter zog die Stirn in Falten. Erin konnte sehen, dass ihr der Gedanke, dass bereits alle in Brescath über ihre Ankunft Bescheid wussten, nicht sonderlich gut gefiel. »Ich sehe, das Dorfgeschwätz funktioniert noch so gut wie eh und je.«

»Und das muss Erin sein!« Die Verkäuferin drehte sich freudenstrahlend zu ihr um; ihr rotes Haar flatterte um sie herum wie ein Feuerkranz. Obwohl sie schon hier gearbeitet hatte, als Erin noch klein war, sah sie immer noch jung aus. »Meine Güte, du bist ja eine richtige junge Dame geworden.«

Erin wusste nicht, was sie sagen sollte, also hob sie nur die Schultern. Sie war sich nicht sicher, ob Miss Evans nicht nur höflich sein wollte; in ihrem Aufzug, ungeschminkt und mit wirren Haaren, musste sie jedenfalls keinen besonders damenhaften Eindruck machen. Abseits dessen wusste sie nicht einmal, ob ihr der Gedanke, eine Dame zu sein, überhaupt gefiel.

Ihre Zurückhaltung hielt Miss Evans nicht davon ab, munter weiterzuplappern und ihr dabei über die Schultern zu streichen. »Und, wie gefällt es dir hier? Hast du schon Freunde gefunden?«

Erin lächelte unbeholfen. »Wir sind ja gestern Nacht erst angekommen.«

Miss Evans nickte bedächtig. »Du musst dich erst mal eingewöhnen. Ist sicher ganz anders hier als in London, was?«

Erin glaubte nicht, dass ihr bewusst war, wie recht sie damit hatte.

»Du hattest doch hier früher viele Freunde hier«, sagte ihre Mutter, die bereits mit Moiras Einkaufsliste in der Hand die Regale abging und alles in den klappbaren Korb aus ihrem Auto warf. »Willst du dich nicht mal mit denen treffen? Hast du ihre Handynummern oder so?«

»Nein«, erwiderte Erin, während sie so tat, als würde sie sich für ein Regal mit Second-Hand-Reitstiefeln interessieren. Daneben stand eine Puppe in einer Reiteruniform, die ihr viel zu groß war. »Ich hab sie zuletzt mit zehn gesehen, Mum.«

»Ja, das waren noch Zeiten, bevor alle pausenlos vor irgendeinem Bildschirm hingen.« Sie hörte den Unterton in der Stimme ihrer Mutter, entschloss sich aber, ihn zu ignorieren, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen. »Einer deiner Freunde war doch der Corduroy-Junge, oder? Ich kenne seine Mutter, wir schreiben uns manchmal. Naja, zumindest zum Geburtstag und zu Weihnachten.«

»Weiß ich nicht mehr.« Sie wusste ganz genau, wen Abigail meinte. Hope hatte er geheißen. Von allen Kindern aus Brescath konnte sie sich an ihn am besten erinnern.

Er war sowas ihr bester Freund gewesen, zumindest innerhalb der schwerelosen Leichtigkeit der Sommerferien. Allein deswegen wünschte sie ihm, dass er es in der Zwischenzeit hier rausgeschafft hatte.

»Doch, ich glaube schon.« Ihre Mutter schien mittlerweile vollständig fündig geworden zu sein. Gerade hielt sie ein Ei in der Hand, an dem noch Dreck und eine Feder klebten. »Wenn ich seine Mum mal sehe, kann ich ja ein Treffen für euch beide ausmachen.«

Jetzt stöhnte Erin doch. »Ich bin kein Kind mehr, ich kann mich selbst verabreden!«

»Wenn du meinst.« Ihre Mutter hob die Schultern und legte das Ei zu den anderen in den Korb. »Ich dachte nur, es wäre eine gute Möglichkeit, den Kontakt zwischen euch wiederherzustellen.« Dann betrachtete sie prüfend die Einkaufsliste. »So, ich glaube, das war’s. Wir haben alles.«

»Mum«, sagte Erin, als Abigail gerade Kleingeld aus ihrem Portemonnaie suchte, »ist es okay, wenn ich zu Fuß zurück zum Hof laufe? Du kannst ja schon mal mit dem Auto vorfahren.«

Ihre Mutter hielt inne und blinzelte sie an, das Geld schon in der Hand. »Ja, klar«, sagte sie schließlich. »Ich meine, warum nicht. Hier ist es ja ungefährlich und es schadet sicher nicht, wenn du dir die Gegend mal anschaust. Vielleicht findest du ja etwas, das dich überrascht.«

Als sie aus dem Laden schlüpfte, stellte sie fest, dass es aufgeklart war. Wo vorhin noch schwere, graue Wolken am Horizont gehangen hatten, zeigte sich jetzt ein klarer, kräftig blauer Himmel mit einer Sonne, wie sie sich für die letzte Juniwoche gehörte. Ihre warmen Strahlen ließen in Erin die Hoffnung aufkeimen, dass die Zeit des Regens und der Stürme, die vom Meer hinübergeweht wurden, endlich vorbei war. Auch wenn sie das Meer immer gemocht hatte, beneidete sie die Menschen auf dem Festland ein wenig um ihr vorhersehbares Wetter.

Bevor sie sich auf den Weg machte, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Es zeigte zwei Nachrichten von Dax, die eher knapp ausfielen, dafür aber tonnenweise Input von Kelsey, die sie mit dem neuesten Klatsch über ihre Mitschüler versorgte und davon berichtete, was sie alles für den letzten Schultag und die darauffolgende Feier geplant hatten.

Erin rang sich ein paar Antworten ab, die wegen des miesen Empfangs nicht durchgingen, und steckte das Handy wieder ein. Von all diesen Dingen zu hören und nicht dabei sein zu können, war viel frustrierender, als überhaupt nichts davon mitzubekommen. Es war unfair, dass ihre Eltern sich ausgerechnet kurz vor ihrem Schulabschluss verkrachen mussten.

Ihre Mutter hatte unrecht gehabt. Auch wenn sie seit einigen Jahren nicht mehr in Brescath gewesen war, kannte sie die Wege allesamt noch auswendig; ihre Füße trugen sie ganz von selbst in die richtige Richtung, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Sie hatte einfach nur sehen wollen, was sich verändert hatte.

So, wie es aussah, war die Antwort: Nichts. Im Gegensatz zu London, das ständig im Wandel war und wo neue Gebäude aus dem Erdboden sprossen wie Pilze im Wald, schien hier seit Jahrzehnten nichts mehr neu gebaut oder auch nur renoviert worden zu sein. Es waren dieselben Gebäude und Geschäfte, an denen sie schon als Kind vorbeigelaufen war. Seltsam, dachte sie, wie sich hier nichts verändert hatte und drum herum alles, vor allem sie selbst. Es war, als würde in diesem Ort die Zeit stillstehen, als wäre er von Veränderung und Erneuerung vollkommen unberührt.

Das bedeutete jedoch auch, dass ihre Befürchtung, dass es hier absolut nichts zu tun geben würde, sich als wahr erwies. Es gab einen kleinen Laden, über dem zwar das Wort Café stand, in dem man jedoch offenbar höchstens einen Kaffee am Stehtisch trinken konnte. Die Kneipe, die sie bereits auf der Hinfahrt gesehen hatte, verriet schon von außen, dass ihre Kundschaft ausschließlich aus älteren Herren bestand, die sich zu Ale und Whisky genau die gleichen Geschichten erzählten wie in den vergangenen vierzig Jahren – weil seitdem einfach nichts Neues passiert war.

Diese Beobachtung warf in ihr erneut die Frage auf, ob sie mit den anderen Jugendlichen hier überhaupt auf irgendeinen gemeinsamen Nenner kommen würde. Kinder konnten sich immer auf etwas einigen, das alle gemeinsam spielen konnten, aber wie sah es jetzt aus? Womit vertrieben sich die Leute hier die Zeit?

Insgesamt brauchte sie länger, um das Dorf zu durchqueren, als sie gedacht hätte. Der Hof ihrer Großmutter lag etwas außerhalb; um ihn zu erreichen, musste sie der langen, gewundenen Straße, die links und rechts von Feldern gesäumt war, noch ein paar hundert Meter weiter folgen.

Es war ein friedlicher Spaziergang. Der Himmel hatte inzwischen ein malerisches Blau angenommen, das von blassen Schäfchenwolken durchzogen war, und die Halme auf den endlos wirkenden Wiesen wogten sachte in einer leichten Brise.

Aber da war noch etwas anderes. Der Wald.

Zu ihrer Rechten ging der große Kartoffelacker – früher war sie mit den anderen Kindern manchmal dort herumgekrochen und hatte versucht, Kartoffeln aus der warmen Erde zu graben – in saftig grünes Gras über. Dahinter erstreckten sich die riesigen, knorrigen Bäume, deren Kronen im Wind raschelten und sich dabei fast anhörten wie flüsternde Stimmen, die Geheimnisse austauschten, die für Menschenohren nicht bestimmt waren. Auch nach all den Jahren hätte Erin dieses Geflüster unter hunderten wiedererkannt.

Als Erin noch klein war, hatten ihre Mutter und Moira ihr verboten, sich weiter als bis an den Waldrand zu wagen, aber manchmal hatte sie es trotzdem getan. Es waren nicht nur die Spiele, die sie mit den anderen Kindern gespielt hatte, und auch nicht die abendlichen Mutproben, die sie dazu gebracht hatten; nein, vielmehr hatte dieser Wald vom ersten Tag an eine sonderbare Anziehungskraft auf sie ausgestrahlt. Eine, die sie dazu brachte, sich darin aufhalten, ach was, davon verschlucken lassen zu wollen. Etwas Magisches.

Erin hatte geglaubt, dass diese Anziehungskraft mittlerweile verschwunden sein müsste. Schließlich war sie jetzt beinahe erwachsen und glaubte nicht mehr an Magie. Doch sobald ihr Blick auf die dunkelgrünen Baumkronen stieß, spürte sie es wieder – wie einen Ruf, der tief aus dem Inneren des Waldes drang und nach ihr verlangte. Als würden all die Geschichten, die sie sich in ihrem kindlichen Leichtsinn ausgedacht hatte, zwischen den Baumstämmen auf sie warten.

Für einen winzigen Moment dachte sie wieder an Hope Corduroy.

Ihre Fußspitze zuckte. Ohne, dass sie etwas dagegen hätte tun können, machte sie einen Schritt auf den Acker zu. Dann noch einen. Wie eine ferngesteuerte Puppe, die nur dem Willen desjenigen ausgeliefert war, der die Fernbedienung in der Hand hielt.

»Ich glaub’s ja nicht!«

Erschrocken wirbelte sie herum. Der Zauberfaden, von dem sie gezogen worden war, war beim Geräusch der fremden Stimme abrupt gerissen.

Während sie abgelenkt gewesen war, hatte sich jemand von hinten an sie herangepirscht. Ein Junge stand dort, er musste ungefähr so alt sein wie sie; seine kurzen Locken hatten die Farbe von altem Rost und er trug eine Brille mit dicken, schwarzen Rändern. Irgendwo in ihrem Hinterkopf wurde eine Erinnerung wach.

»Erin Murphy!«, rief er. »Verdammte Scheiße!« Das breiteste Grinsen, das sie jemals gesehen hatte, breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Jetzt wusste sie es.