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Wie soll man ein Leben leben, wenn man überhaupt nicht begreift, was Leben bedeutet? Eine Frage, die sich die junge Alexa schon öfters gestellt hat. Versteckt in einer Zuflucht, tief unterhalb einer riesigen Stadt, lebt es sich nicht wirklich gut und doch ist das für sie der Alltag. Dank ihrer sonderbaren Fähigkeiten ist sie sich der Abneigung der übrigen Menschheit bewusst, nicht zu vergessen, der Hass einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alles Andersartige zu vernichten. Trotz dieser Umstände geht das Mädchen zurück an die Oberfläche und erlebt eine Welt, die vor ihren Augen nicht unlogischer sein kann. Durch eine unerwartete Begegnung gerät ihre Sicherheit aus dem Gleichgewicht und ein verheerendes Missverständnis treibt sie direkt in die Hände ihrer Feinde. Die Erwartungen werden immer größer, nur kann sie den Preis für die Freiheit auch bezahlen?
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Seitenzahl: 792
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Arnd Frenzel
The Sixth Birthday
THRILLER
© 2022 Arnd Frenzel
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Prolog
Aus dem Schatten heraus entwickelt sich ein Krieg, es entsteht ein Kampf der Ungleichheit, aber einen Sieger wird es nicht geben. Ein blutiger Pfad wird folgen, doch die Opfer werden vergessen und die Verbliebenen auf ewig verdammt...Krieg ist nie etwas Gutes, aber der Mensch wird es niemals lernen. Die Geschichte spricht die Wahrheit, alles Andersartige ist der Feind und die Moral ist schon lange gestorben...
1
Der neue Tag ist bereits angebrochen, aber Alexa liegt noch im Bett. Sie schläft zwar nicht, trotzdem sind ihre Augen geschlossen. Heute ist ihr Geburtstag und das ist ein wirklich wichtiger Tag, denn sie erreicht endlich das langersehnte 16. Jahr. Eine Ewigkeit hat sie auf diesen Moment gewartet und ihre Freude spiegelt sich in ihren Gedanken wieder. Mal abgesehen vom 6. Geburtstag ist dieser Augenblick das Größte, was sie sich vorstellen kann. Nicht der Ehrentag selber hat für sie einen hohen Stellenwert, solche Dinge bedeuten hier nicht viel, aber sie kommt endlich in die nächste Klassenstufe und das ist unglaublich relevant.
Zehn Jahre ist es jetzt schon her, zehn Jahre ist sie inzwischen im Untergrund, versteckt in einer alten U-Bahn Station, direkt unterhalb einer riesigen Stadt, die sie noch nie gesehen hat. Ihre Eltern haben sie damals hier herunter gebracht oder besser, in die Obhut einiger Schleuser gegeben, die sich um diese Art von Menschen kümmern. Mittlerweile kann sie sich aber kaum noch an ihre Mutter oder ihren Vater erinnern, alles ist verblasst und viel zu lange her.
Schon kurz nach ihrer Geburt trat ein erstes Indiz auf, ihre Haare waren schwarz, was aber noch nichts zu bedeuten hatte. Diese Farbe trägt sie auch heute noch. Jeder hier in der Station hat dunkele Haare, das ist nichts Außergewöhnliches, nur ihre sind deutlich länger als die der anderen. Sie gehen bis zu den Schultern und sind teilweise sogar wellig.
Ihre wahre Geschichte entwickelte sich an ihrem sechsten Geburtstag, ihre Augen veränderten die Farbe und das normale Leben fand ein Ende. Anderen Kindern erging es ähnlich, aber es waren nicht sehr viele, nur jedes tausendste, egal ob Junge oder Mädchen, war betroffen. Daher nennt man den sechsten Geburtstag auch den »Tag der Wahrheit«.
An eines kann sich Alexa auch heute noch erinnern, an die Schreie ihrer Mutter, als die Augen ihrer Tochter lila wurden. Ab diesem Moment war Alexa nämlich kein Mensch mehr, sie wurde zu einer Ausgestoßenen, einer Andersartigen, einem Feind der Gesellschaft.
»Alexa«, schreit eine junge weibliche Stimme in ihrer Nähe und reißt sie aus ihren Gedanken. Sie öffnet die Augen und schaut aus ihrem Etagenbett hinunter. Ihre Freundin Dakota steht unten am Boden und blickt erwartungsvoll zu ihr hoch. Keine Lichtquelle erhellt das Zimmer, trotzdem können sich die beiden genau erkennen, eine Eigenschaft, die zur gleichen Zeit entstand, als die Augen sich verfärbten.
»Was ist denn Dakota?« Fragt sie sehr leise.
»Hast du nicht etwas vergessen? Du liegst hier gemütlich in deinem Bett und das an einem so wichtigen Tag.«
Missmutig legt sich Alexa wieder hin und schließt erneut ihre Augen. Eigentlich hat Dakota Recht, aber es ist noch Zeit und sie braucht diesen Moment für sich.
»Ich komme ja gleich«, murmelt sie vor sich hin und hofft dabei, dass ihre Freundin sich entfernt. Das Glück scheint wirklich auf ihrer Seite zu sein, denn es folgen keine weiteren Worte.
Nach der erneuten Einsamkeit steckt sie ihr Gesicht komplett in das Kissen und versucht sich zu konzentrieren. Wie es wohl dort oben ist? Außerhalb dieser riesigen Station, welche die Menschen hier früher gebaut und dann wieder verlassen haben. Jetzt ist es das Zuhause der Ausgestoßenen, eine Zuflucht, eigentlich sogar eine ganze Stadt. Alexa weiß gar nicht, wie viele hier unten Leben, aber es sind sicher über tausend. Die Altersspanne erstreckt sich von 6 bis weit über 40 und alles wurde in genaue Zeitphasen eingeteilt. Die Kleinsten gehen von 7 bis 11 in die erste Klasse, dort lernen sie lesen, schreiben und auch die ersten Grundlagen von Mathematik. Ab dem 11. Jahr bricht die zweite Klasse an, die vorigen Fächer laufen zwar weiter, aber es gesellt sich noch Geschichte hinzu. Hier teilen sich die Klassen dann teilweise schon auf, einige kommen in den Technikkurs, andere belegen Biologie und die Intelligentesten werden in Philosophie eingeteilt. Die Fähigsten landen aber in der Sportklasse und dort steht das Überleben an der Tagesordnung.
Natürlich war Alexa genau in diesem Kurs, etwas anderes konnte sie sich auch nicht vorstellen, denn nur die haben hinterher das Recht, die Station zu verlassen und Aufgaben außerhalb der Sicherheitszone auszuführen.
Mit 16 folgt dann die dritte Klasse und ab hier teilen sich die Schüler komplett auf. Jetzt werden sie fachspezifisch geschult und auf die kommenden Aufgaben vorbereitet, die normalerweise auch nicht lange auf sich warten lassen. Von Beginn an mischt sich das Praktische mit dem Theoretischen und das heißt für Alexa, sie darf endlich hinaus und sieht die reale Welt samt ihren ganzen Bewohnern.
Eines kann sie aber wirklich nicht verstehen, warum werden sie von den Menschen dort oben gehasst? So groß sind die Unterschiede zwischen ihnen nicht und doch fürchten sie die Andersartigen. Natürlich, die lilafarbigen Augen sind schon abgedreht, genau wie die Nachtsicht. Dann sind sie auch noch stärker, schneller und ausdauernder, aber das sind alles Eigenschaften, die sehr gut eingesetzt werden können. Das Volk dort oben, so sagt man hier unten, akzeptiert nichts, was anders ist. Es ist die Angst vor dem Unbekannten. Nur niemand in der Station hat wirklich böse Absichten, es gibt keine Verbrechen und alle Leben in Harmonie zusammen.
Alexa hofft natürlich, dass sie diese ganzen Infos bald aus erster Hand erfährt, denn alles, was bisher an ihre Ohren trat, waren Geschichten von anderen Stationsbewohnern. Den Rest hat sie in Büchern gelesen, die sie in unzähliger Menge konsumiert hat. Jetzt kommt sie endlich in die 3. Klasse und wird in die Geheimnisse der Menschen und der Ausgestoßenen eingeweiht. Ihre Aufregung ist grenzenlos, was wird sie wohl alles erleben, wann darf sie das erste Mal nach oben, wann...
»Alexa«, schreit Dakota erneut von unten, diesmal aber ein wenig genervter. Das Mädchen ist Alexas beste Freundin, sie ist erst 14 und für das Fach Biologie eingeteilt. Durch diese Wahl wird sie niemals in den Genuss kommen, die Oberwelt zu erblicken. Darüber ist sie aber nicht unglücklich, denn sie möchte das auch nicht. Gleichwohl ist sie sehr daran interessiert, wie es bei Alexa weiter geht und die springt mit einem Satz aus ihrem Bett und landet neben Dakota am Boden.
»Verdammt Alexa, kannst du das bitte mal lassen«, wird sie von ihrer Freundin angefaucht. Die lila Augen kommen dabei richtig gut zur Geltung, aber für die Bewohner hier unten ist das nichts Neues.
»Entschuldige meine Kleine, aber warum bist du eigentlich noch hier? Musst du nicht auch zum Unterricht?«
»Einer muss ja dafür sorgen, dass du pünktlich zu deiner ersten Stunde kommst, aber ich glaube, dafür ist es wohl zu spät, du wirst sicher Stress bekommen.«
Erst jetzt bemerkt Alexa, dass es wirklich extrem spät ist, die Schulstunde hat schon begonnen und sie kommt definitiv nicht mehr rechtzeitig an. Schnell wirft sie sich ihre Kleidung über und rennt zur Tür, wird aber noch einmal von Dakota gehalten.
»Sei besser vorsichtig Alexa, Aiden lauert dort draußen und verbreitet seine schlechte Laune.«
Die Mundwinkel von Alexa sinken nach unten, was ihr aber absolut nicht steht. Sie hat sehr feine Haut, eine kleine Nase und sieht für die meisten männlichen Bewohner umwerfend aus. Ihre Haare runden das Gesamtbild dann noch perfekt ab. Wäre sie keine Ausgestoßene, hätten sich ihr oben viele Wege aufgetan, aber davon weiß sie natürlich nichts und Jungen liegen außerhalb ihres Interessenbereichs.
»Verdammt Dakota, der hat mir gerade noch gefehlt«, sagt sie im rauen Ton. Aiden ist der selbst ernannte Frauenschwarm der Station, viele Mädchen sind in ihn verliebt, außer Dakota, die den Kerl einfach nur hasst. Das Dumme an diesem 20-Jährigen ist aber, dass er Interesse an Alexa hegt und das auch sehr offen zeigt. Seine durchgehende Angeberei ist dann noch die Krönung, denn er ist einer der wenigen Freigänger und demonstriert das jeden Tag aufs Neue.
»Am besten rennst du einfach zum Unterricht, schließlich bist du einer der Schnellsten hier unten. So hast du wenigstens eine Chance, ihm aus dem Weg zu gehen«, gibt Dakota ihr noch mit. Alexa öffnet die Tür und der Gang dahinter, der früher mal ein Tunnel für die Bahn darstellte, ist völlig leer. An beiden Seiten befinden sich unzählige Türen, die jeweils in andere Schlafräume führen. Diese Behausungen sind alle gleich aufgebaut, immer 2 Stockbetten für 4 Personen, ein abgegrenzter Bereich mit Waschbecken und Toilette und in einer Ecke noch Metallspinde für die wenigen Habseligkeiten. Für Ordnung und Sauberkeit ist jeder selbst verantwortlich, denn Putzfrauen gibt es natürlich nicht.
Voller Hoffnung atmet Alexa einmal durch und rennt anschließend los. Sie ist wirklich außergewöhnlich schnell, sogar für die Verhältnisse hier unten und die Türen fliegen nur so an ihr vorbei. Daher dauert es nicht lange und sie erreicht die nächste Sektion. Hier befinden sich die Küchen und die Essenssäle, aber zum Frühstücken bleibt natürlich keine Zeit, denn Eile ist angesagt. Die nächste Ecke wird passiert, dort stößt sie beinahe mit einem älteren Bewohner zusammen, weicht dem aber noch geschickt aus und wird kurz darauf mit einem festen Griff gehalten.
Die unerwünschte Pause und der darauffolgende Schmerz sind nebensächlich, denn Alexa schaut direkt in das Gesicht von Aiden, der sich ein Lachen nicht verkneifen kann.
»Alexa meine Liebe«, sagt er sehr belustigt. »Hast du im Unterricht nicht aufgepasst? Hier ist das Rennen rigoros verboten.«
»Kannst du mich bitte loslassen Aiden? Ich habe es wirklich eilig.«
Der Griff löst sich aber nicht und die Stärke ist überwältigend, wieder eine Sache, mit der täglich angegeben wird.
»Kann es vielleicht sein, dass du zu spät bist? Irgendwie kann ich das nicht verstehen, wie hast du nur die Spezifikation überstanden? Du bist total unzuverlässig und deine Schnelligkeit kann dich auch nicht retten.«
»Aiden, bitte. Ich muss weiter und das geht dich auch nichts an.«
»Deine Worte lassen echt zu wünschen übrig Alexa, aber viel Spaß gleich im Unterricht. Wir sehen uns ja jetzt öfters, schließlich sind wir in der gleichen Truppe. Es sei denn, David schmeißt dich heute noch raus.«
Nach seinen Worten fängt er abartig an zu lachen, die nächste Eigenschaft, die Alexa an ihm hasst. Es gibt faktisch nichts, was sie an ihm leiden mag, nur dummerweise hat er recht. Zu spät kommen geht nicht, vor allem nicht, wenn man zu einem Kundschafter ausgebildet werden möchte.
Sie reißt sich endlich los und setzt zum erneuten Spurt an, aber Aiden greift ein weiteres Mal zu und erhascht wiederholt ihre Aufmerksamkeit. Als Nächstes folgt eine Annäherung seines Kopfes und es sieht tatsächlich so aus, als ob er sie küssen möchte. Dadurch schreckt Alexa leicht zurück und verzieht angewidert das Gesicht.
»Eins noch kleines Mädchen, glaub nicht alles, was du in den nächsten Tagen erfährst. Vieles davon ist gelogen, bei wichtigen Fragen kommst du einfach zu mir, verstanden?«
Einen kurzen Augenblick schauen sich die beiden an, dann lässt Aiden sie endgültig los und ist in der nächsten Sekunde verschwunden.
»Wie war das noch mal mit dem Rennen du Spinner«, schreit Alexa ihm hinterher, ohne auch nur einen Moment über das Gesagte nachzudenken. Anschließend macht sie sich selber auf und erreicht endlich den Raum der 3. Klasse. Ein Blick durch das Türfenster lässt sie erstarren, alle Schüler sitzen schon auf ihren Plätzen und der Lehrer, es ist wirklich David, steht vorne und redet. Das gibt Ärger...
2
Ethan Coleman stoppt einen Augenblick und schaut auf die Glastür des riesigen Gebäudes, das sich direkt vor ihm befindet. Es ist jedes Mal das Gleiche, Hoffnung keimt auf und vergeht schnell wieder. Trotzdem wird er weiter herkommen, solange es halt nötig ist. Er geht schließlich durch die Tür, die sich automatisch öffnet und befindet sich einen Atemzug später in einer großen Eingangshalle. Leere dominiert hier die Location, ein paar Meter weiter steht eine einsame Rezeption und dahinter sitzt der gleiche Mann wie immer. In seiner grauen Uniform schaut er wichtig aus, in Wirklichkeit ist er aber nur eine Marionette, die den ganzen Tag auf ihre Monitore starrt. Etwas weiter rechts befinden sich noch zwei glasige Aufzüge und das war es auch schon, der Rest ist reine Dekoration.
Das Gebäude selber gleicht einem unpraktischen Glaspalast, dennoch wurde es genau vor vier Jahren hier errichtet. Ethan kann sich noch gut an den Stress erinnern, denn an diesem Standort befanden sich vorher zwei Luxusapartments. Diese wurden kurzerhand abgerissen und durch dieses Teil ersetzt. Die vorigen Bewohner wurden einfach rausgeschmissen und auch heute ist noch völlig unklar, wie das alles abgelaufen ist, freiwillig sind die sicher nicht gegangen. Alle späteren Klagen liefen ins Leere, denn kein Gericht wollte sich damit die Finger schmutzig machen. Das stand alles eine Woche lang in jeder Zeitung, ein Artikel nach dem anderen, aber irgendwann endete die Berichterstattung und niemand hat mehr ein Wort darüber verloren. Solche Dinge passieren normal nicht in Manhattan und wären auch nicht tolerierbar, aber irgendwelche höheren Institutionen hatten ihre Finger mit im Spiel. Nicht einmal der Bürgermeister von New York wollte sich damals zu dem Thema äußern.
Unmittelbar vor der Rezeption bleibt Ethan stehen und blickt auf den Mann dahinter, sein räuspern war unnötig, denn er wird ganz sicher schon beobachtet.
»Hallo«, sagt er zusätzlich noch und wartet weiter auf eine Reaktion. Wieder einmal fühlt er sich total verloren, er wird wie Dreck behandelt, aber daran hat er sich bereits gewöhnt. Seine Hoffnung, hier heute etwas zu erreichen, ist mittlerweile am Tiefpunkt angekommen.
»Was kann ich für Sie tun?« Fragt der Uniformierte endlich, sogar seinen Kopf hat er leicht gehoben, aber Interesse sieht anders aus.
»Ich möchte zu Mr. Black«, sagt Ethan trocken und schaut seinem Gegenüber direkt in die Augen, aber er kann weiter keine Emotionen erkennen.
»Haben Sie einen Termin?«, lautet die nächste Frage, die sich mittlerweile aber schon genervt anhört.
»Nein, ich habe keinen Termin, ich habe niemals einen Termin, das müssen Sie doch irgendwann begreifen.« Schnell hört sich die Stimme von Ethan gereizt an, er kann es nicht nachvollziehen, wie dieser Wichtigtuer hier immer wieder auf die gleiche Art und Weise reagiert. Es geht doch nur um ein persönliches Treffen mit Domenic Black, dem Leiter dieser Institution. Bei jedem Besuch ist der Ablauf der Gleiche, er steht hier vor diesem Trottel und sagt seinen Text, dann wird oben angerufen und die Antwort ist jedes Mal identisch, »Mr. Black hat heute keine Zeit, aber machen Sie doch bitte einen Termin«. Seit 6 Monaten wartet Ethan schon auf einen Termin, aber er wird vollständig ignoriert.
Wie zu erwarten wird nach dem Telefon gegriffen und eine Taste betätigt. Am anderen Ende ertönt eine Stimme und es läuft das bekannte Schema ab.
»Mr. Black, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ein gewisser Mr. Coleman steht hier unten und möchte Sie sprechen.« Am anderen Ende wird einiges gesagt und der Gesichtsausdruck vom Anrufer wechselt von besorgt auf ängstlich. »Ich weiß Mr. Black«, antwortet er und lauscht weiter. Anschließend legt er den Hörer zur Seite, beugt sich leicht nach vorne und deutet nach links.
»Der zweite Aufzug bitte, Mr. Black erwartet Sie jetzt.«
Geschockt bleibt Ethan noch eine Weile vor dem mittlerweile sehr merkwürdig dreinschauenden Mann stehen. Seine Gedanken müssen das erst einmal verarbeiten, denn er darf tatsächlich nach oben. Die Worte »Mr. Black erwartet sie jetzt« hallen wieder und wieder durch seinen Kopf. Wie oft wurde er hier schon abgelehnt und zum Gehen aufgefordert? Die Zahl ist nicht zählbar, aber heute wird er tatsächlich in den Aufzug steigen. Mit unruhigen Gedanken bewegt er sich in die zugewiesene Richtung, entdeckt aber leider beim Ankommen keinen Rufknopf, eigentlich gibt es hier überhaupt nichts zum Interagieren. Nur die nackten Metalltüren, die in die Glasröhren führen, in denen die Kabinen gemütlich ihre Fahrt nach oben oder unten beschreiten.
Er geht einen Schritt zurück und sucht erneut den Sichtkontakt mit dem einfältigen Mitarbeiter an der Rezeption, der ist aber schon wieder in irgendetwas vertieft und nimmt von Ethan keine Notiz mehr. Ein paar Sekunden später öffnen sich die Schiebetüren aber automatisch und er kann tatsächlich hineinsteigen. Sein Gefühl, gerade noch voller neuer Hoffnung, weicht einer haltlosen Ungewissheit. Sogar Angst mischt sich darunter und so etwas hat er schon lange nicht mehr gespürt. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung und es geht nach oben, ganz nach oben, denn da scheint wohl der Mann seines Verlangens zu sitzen. Während der Fahrt greift sich Ethan kurz an seine Weste, eine bestimmte Tasche daran hat es ihm angetan, aber er nimmt seinen Arm wieder herunter und schüttelt seinen Kopf. Dieses gewisse Oberteil trägt er ununterbrochen, es ist ärmellos, aber trotzdem warm und bequem und die großen Taschen an der Brust haben einen praktischen Nutzen. Damals hatte er sich noch über diese Weste aufgeregt, seine Frau hatte sie ihm geschenkt. »Musste es unbedingt eine Rote sein Lisbeth, du weißt doch, dass ich diese Farbe hasse«, hatte er sie gefragt, aber seine Frau hatte darauf nur gelacht, sie wollte sich auch nicht auf eine Diskussion einlassen.
Der Fahrstuhl kommt zum Stehen und die Türen öffnen sich wieder von alleine. Auf dem Flur dahinter wartet ein sehr großer, dafür aber junger Mann mit kurzen blonden Haaren und grimmigen blauen Augen. Behutsam verlässt Ethan die Kabine und tritt ein wenig nach vorn, der Empfänger, natürlich in einer grauen Uniform, schaut ihn ausdruckslos an und macht keine Anstalten, irgendetwas von ihm zu wollen. Die Türen schließen sich wieder und seine Angst ist nur noch größer geworden. Irgendwie wird er das Gefühl nicht los, das hier etwas nicht stimmt, aber ein Blick aus dem Glasgebäude bringt seine Ruhe zurück. Vor seinem Auge taucht das wunderschöne Manhattan auf und in der Mitte liegt der große Central Park. Eine Perspektive, die sich wirklich lohnt, wenn der Besuch hier nicht so bitter wäre. Der Mann an seiner Seite verändert weiter nichts an seiner Haltung, auch schaut er nicht mehr in seine Richtung. Dadurch wird die Sache stetig bizarrer, aber er wusste es schon immer, diese Leute hier sind nicht normal. Sein Blick geht auf das Wappen, welches an der Uniform des Riesen prangt und es handelt sich um das Gleiche wie unten auf dem riesigen Teppich in der Eingangshalle. Es zeigt zwei gekreuzte Schwerter und darüber stehen die Buchstaben FOPE, die Abkürzung für »Federal Office for Public Enemies«.
Ohne einen ersichtlichen Anlass hebt der junge Mann plötzlich seinen Arm und deutet den langen glasigen Flur entlang.
»Mr. Coleman, bitte folgen Sie mir, ich bringe Sie nun zu Mr. Black.«
3
»Verdammt«, sagt Kylian zu sich selbst und schaut die enge Gasse herunter. Er hatte extra diesen Weg gewählt, weil der bedeutend kürzer ist und er so schneller sein Ziel erreicht. Nur konnte er nicht damit rechnen, dass sich genau in diesem Moment diese blöden Gestalten hier herumtreiben.
Kylian ist mit seinen 17 Jahren recht schmächtig, auch sind seine 1,73 m Körpergröße nicht gerade hilfreich und Muskeln sucht man bei ihm vergeblich. Nur seine Beine können sich wirklich sehen lassen, was natürlich auch an seinem Job liegt, denn er ist ein Fahrradkurier. Genau das ist auch der Grund, warum er jetzt hier mit seinem Bike in dieser schäbigen Gasse steht und seine nächsten Schritte überdenken muss.
Sollte er den Weg wieder zurückfahren, wird er höchstwahrscheinlich zu spät zur Auslieferung kommen. Nebenbei wäre er dann auch nicht pünktlich zu Hause, dabei hat er seiner Mutter versprochen, den Haushalt zu schmeißen. Sie arbeitet als Krankenschwester im Kings County Hospital in Brooklyn und ist oft bis zu 36 Stunden im Dienst, daher hat sie kaum noch Zeit, im Haushalt etwas zu erledigen. Trotz der vielen Arbeit reicht es vorne und hinten nicht und Kylian sah sich gezwungen, neben der Schule diesen Nebenjob anzunehmen, den er aber verdammt gut beherrscht. Zusammen mit seiner Mutter bewohnt er eine kleine Dreizimmerwohnung, die sich auch in Brooklyn befindet und das direkt in einem Migrationsstarken Viertel. Sie sind Schwarze und etwas Besseres konnten sie leider nicht finden, aber genau das macht ihm gerade die Weiterfahrt so kompliziert. Etwas weiter die Hinterhofgasse hinunter halten sich einige Jugendliche mit kurz rasierten Haaren auf. Viele Tattoos zieren ihre Körper und keines davon sieht sehr einladend aus.
Kylian kennt diese Gruppe, sie nennt sich »The White Order« und er ist leider schon öfters mit ihnen aneinandergeraten. Bisher ging es immer glimpflich aus, nur diesmal sind die Gegebenheiten anders. Noch haben sie ihn nicht entdeckt, da sie zu sehr damit beschäftigt sind, ihre Flaschen zu leeren und dummes Zeug zu quatschen. Diesen Ort scheinen sie auch nur zu nutzen, um sich zu betrinken, denn sonst sind sie auf der Straße und produzieren jede Menge Ärger.
Behutsam fährt sich Kylian mit einer Hand durch seine lockigen kurzen Haare, er könnte sie sich gerade alle ausreißen, warum hat er sich nur für diese Abkürzung entschieden? Nachdenklich schätzt er seine Chancen ein und welche Möglichkeiten ihm jetzt bleiben. Einfach mit voller Geschwindigkeit durch sie hindurchfahren? Das wäre sicher riskant, vor allem wenn ihn einer packt, aber es könnte trotzdem funktionieren. Oder er fährt alles wieder zurück und nimmt den Umweg in Kauf, dann wäre aber der Kunde enttäuscht, denn normal ist Kylian immer pünktlich. Auch seine Mutter wäre nicht glücklich, denn sie würde vor ihm nach Hause kommen und die Hausarbeit selbst erledigen. In einem ist er sich aber sicher, wenn er hier noch länger steht, wird er gleich entdeckt und dann muss er sehr schnell handeln.
Ein umkehren kommt für ihn nicht infrage, das würde den ganzen Tag ruinieren und darauf möchte er gerne verzichten. Daher beginnt er kräftig zu trampeln und beißt die Zähne aufeinander, er fährt also direkt durch die Schwachköpfe hindurch und hofft auf das Beste.
Die Entfernung zwischen ihm und der Gruppe wird geringer, sie haben ihn immer noch nicht entdeckt und seine Geschwindigkeit nimmt weiter zu. Wenn ihn jetzt einer vom Bike reißt, dann könnte das echt schmerzhaft enden, aber dieser Gedanke wird wieder verdrängt, es muss einfach klappen.
Einer der Kerle dreht sich zu ihm herum und schlägt einem anderen kräftig in die Seite. Dieser nimmt von dem näher kommenden Fahrrad aber keine Notiz, sondern donnert dem ersten seine Faust gegen den Kopf. Durch den Schlag taumelt der nach hinten, lässt dabei seine Bierflasche fallen und alle anderen beginnen zu lachen. Kylian ist nur noch ein paar Meter von ihnen entfernt, seine Chancen haben sich gerade merklich erhöht und er hat es fast geschafft.
Der Schläger dreht sich aber wieder herum, nimmt einen Schluck aus der Flasche und schaut direkt in seine Richtung. Ungläubiges Entsetzen breitet sich auf dem Gesicht aus und vor Schock fällt das Bier aus der Hand. Kylian kann noch erkennen, wie ein Arm nach vorne schnellt und versucht nach ihm zu greifen. Dieses gelingt leider auch und er kommt leicht ins Straucheln, mittlerweile ist er aber viel zu schnell, reißt sich im gleichen Augenblick wieder los und rast durch den nächsten Durchgang auf die Hauptverkehrsstraße, die direkt dahinter liegt.
Das war verdammt knapp, dieser Säufer hatte ihn schon an der Jacke, es hat nicht mehr viel gefehlt und er wäre gestürzt. Seine Beine bringen ihn jetzt noch ein wenig weiter und anschließend hält er am Rand der befahrenden Straße. Ein kurzer Blick zurück zeigt ihm die Gruppe am Eingang der Gasse, sie haben die Verfolgung aufgegeben und verschwinden in die entgegengesetzte Richtung. Was soll hier auch passieren, die Straße ist sehr belebt, an beiden Seiten stehen Wohnhäuser und dazwischen ein paar kleinere Geschäfte. Überall laufen Passanten herum und keiner würde es wagen, ihn jetzt vor Zeugen anzugreifen. Leider kommt so etwas in New York trotzdem vor, also einmal durchatmen, die Gedanken wieder in Ordnung bringen und weiterfahren, nur noch zwei Querstraßen und er hat seinen Kunden erreicht.
Nicht mal eine halbe Stunde später schiebt Kylian sein Vehikel in den Keller des alten Mehrfamilienhauses und stellt es dort an eine Wand. Ein kleines Schloss aus seiner Tasche wird befestigt und sein Arbeitstag neigt sich dem Ende.
Er hat es tatsächlich geschafft, nur noch schnell die Treppe hinauf und er ist zu Hause. Seine Mutter kommt erst in 45 Minuten, also genügend Zeit, um alles zu erledigen und sie damit glücklich zu machen. Oben angekommen greift er in seine Jackentasche und sucht nach seinem Schlüssel, aber da ist nichts, die Tasche ist leer und an der unteren Seite schaut seine Hand heraus.
»Das gibt es doch nicht«, kommt von ihm und das Warten auf seine Mutter beginnt.
Er lässt sich auf der Fußmatte nieder und hält sich seine Hände vors Gesicht, wie konnte er nur so dumm sein? Das wird eine Menge Stress geben. Seine Mutter ist öfters mit der Miete im Verzug, wenn jetzt auch noch herauskommt, dass der Schlüssel verloren ging, dann könnten sie eine Abmahnung erhalten. Dieser Typ in der Gasse muss ihm die Jacke zerrissen haben und dabei wird der Bund herausgefallen sein. Nur diesen braucht er unbedingt zurück, denn daran befindet sich auch der Spindschlüssel von seiner Schule und den Ärger kann er nicht gebrauchen. Die kleine Nachbarin von nebenan gesellt sich zu ihm und schaut traurig auf ihn herab. Sie ist gerade einmal fünf, hat aber jetzt schon ein Gespür für Menschen, denen es nicht gut geht. Noch 25 Minuten, bis seine Mutter von der Arbeit kommt...
4
Alexa hat sich auf den letzten freien Platz in der Klasse gesetzt und schaut sich enttäuscht um. Sie hatte jetzt einen Mix aus verschiedenen Altersklassen erwartet, aber hier befinden sich nur gleichaltrige und die meisten von denen hat sie noch nie gesehen. Dass ihr erster Schultag der neuen Stufe direkt auf ihren Geburtstag fällt, muss also ein Zufall sein, sie kann sich nämlich nicht vorstellen, das alle anwesenden am gleichen Tag die 16 erreicht haben.
Ihr spätes Auftauchen hat keinen Ärger gebracht, David hat ihr einmal zugenickt und sich dann wieder abgewandt. Er gehört schon zur älteren Generation und sieht mit seiner Glatze auch nicht wie ein Ausgestoßener aus. Seine Lehrerrolle beherrscht er dafür perfekt, streng soll er sein, dafür aber gerecht.
Nur was soll das Ganze jetzt hier? Alle anderen Schauen gespannt nach vorne und warten auf den erneuten Beginn des Lehrers. Der Schulraum selber ist ziemlich groß und es sind weit mehr als 30 Schüler anwesend. Trotzdem fehlt ein wichtiges Detail, keiner hat einen Tisch vor sich, niemand wird irgendwelche Unterlagen bekommen und so hat Alexa sich ihre erste Stunde wirklich nicht vorgestellt.
David schaut sich nacheinander jeden Schüler einmal an und setzt sich dann auf einen Stuhl, der allen anderen gegenüber steht. Sein Blick bleibt am Ende bei Alexa hängen, was ihr ein noch ungemütlicheres Gefühl beschert.
»Wir sind jetzt vollzählig, daher kann ich endlich beginnen«, fängt David seinen Unterricht an. Seine Augen haben sich wieder der ganzen Klasse zugewandt, so kann Alexa zur Ruhe kommen und dem Gesagten lauschen.
»Ihr habt sicher eine Menge Fragen, das kann ich natürlich verstehen, aber es wäre jetzt angebracht, erst einmal zuzuhören.« Er legt eine kurze Pause ein, streichelt sich dabei unbewusst über seine Glatze und beobachtet seine Klasse. Wieder bleibt sein Blick bei Alexa hängen, vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie den hintersten Platz besetzt und nach ihr niemand mehr kommt.
»Die letzte Klasse bedeutet auch der Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Lange habt ihr darauf gewartet, vielleicht sogar die Tage gezählt, aber nichts ist aufregender als die erste Stunde.«
Alexa rutscht ein wenig auf ihren Stuhl herum und kommt sich gerade sehr einsam vor. Die Erwartungen, heute schon einen großen Schritt zu machen, sind völlig nach hinten losgegangen. Ihre Mitschüler schauen aber weiter gespannt nach vorne, als ob jetzt der Weltuntergang drohen würde, dabei geht es nur um unwichtigen Dreck.
»Alexa?« Schreit David von vorne. »Langweile ich dich vielleicht mit meinem Unterricht? Du kannst auch gerne wieder gehen und dich einer anderen Klasse anschließen. Wie wäre es denn mit Technik? Soll ich für dich mal nachfragen gehen, die haben sicher noch etwas frei, das würde mir auch nichts ausmachen.«
Das hat gesessen, Alexa richtet ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne und schaut ihren Lehrer unschuldig an.
»Nein David, es ist alles gut. Ich dachte halt nur....«
»Das Denken wird in der ersten Stunde aufs Zuhören beschränkt, das zählt auch für dich. Wenn ich jetzt aber deine Aufmerksamkeit wieder habe, kann ich ja fortfahren.«
Sie kann es zwar nicht sehen, aber es scheint, als würde sie tatsächlich rot anlaufen. In einem ist sie sich aber jetzt sicher, David ist wirklich streng, denn diese Szene war genau sein Ding.
»Das, was ich euch jetzt erzähle, ist auch nur für eure Ohren bestimmt. Ihr seid die Elite, ihr seid das Aushängeschild dieser Station. Ohne euch läuft hier nichts. Dafür habt ihr auch den schwierigsten Part, lebt in ständiger Angst und bekommt Aufträge, die andere niemals ausführen würden.«
Eine weitere kurze Pause entsteht, aber niemand zeigt eine Reaktion und sehr zufrieden fährt David mit seiner Rede fort. Immer wieder geht seine Hand über seinen Kopf, als ob er selber nervös wäre.
»Wir fangen jetzt mit Geschichte an, aber nicht diesen Schwachsinn aus den ersten Klassen, sondern die echte Geschichte dieser Station und unserer Herkunft.«
Darauf zeigen auch die anderen Schüler eine Reaktion. Die echte Geschichte, das hört sich irgendwie unwirklich an, aber sofort erhebt sich David von seinem Stuhl und alles ist wieder ruhig.
»Wir sterben langsam aus, das ist ein reales Phänomen, welches ihr unbedingt wissen müsst. Der Nachschub an neuen Kindern ist fast versiegt und wir können noch nicht mal die ersten Klassen vernünftig füllen. Das Ganze hat nach unseren Nachforschungen zwei Gründe ergeben. Erstens haben wir an der Oberfläche kaum noch fähige Schleuser, die uns die Nachkömmlinge bringen. Und zweitens werden auch nicht mehr viele von uns geboren. Vor 20 Jahren war jedes 1000. Kind betroffen, heute soll es nur noch jedes 10000. sein. Warum das so ist, kann sich keiner erklären, aber in ein paar Jahren gehen uns wohl die Leute aus. Wir werden immer weniger und das macht sich langsam bemerkbar. Und wenn ihr jetzt damit gerechnet habt, zu erfahren, wer oder was wir sind, muss ich euch leider enttäuschen, denn dieses Wissen habe ich nicht.«
Eine längere Pause durchzieht jetzt den Klassenraum, vielleicht haben wirklich einige damit gerechnet, endlich Antworten auf die Fragen zu bekommen. Alexa verhält sich ungewöhnlich ruhig, sie muss das Erfahrende sacken lassen, aber einer ihrer Klassenkameraden möchte gerne etwas loswerden und rutscht sehr unruhig auf seinem Platz hin und her. David erlöst den Jungen endlich und lässt ihn aufstehen.»Ich habe eine wichtige Frage zu dem Thema und die brennt mir schon den ganzen Morgen auf der Zunge.« Anstatt darauf zu antworten, nickt der Lehrer ihm zu.
»Können wir uns nicht selber fortpflanzen?« Nach seiner Frage setzt sich der junge Mann wieder nieder und lässt erkennen, dass ihm diese sehr peinlich war.
»Dillen nicht wahr?«, fragt David und fährt ohne Antwort fort. »Du meinst Sex oder das daraus resultierende Kinder gebären. Wenn dich solche Fragen so brennend interessieren, dann verstehe ich nicht, warum du nicht Biologie gewählt hast, aber die Antwort kann sogar ich dir geben. Nein, wir können uns nicht fortpflanzen. Unseren Frauen ist es leider verwehrt selber Kinder zu bekommen und unsere Männer können keine machen. Wir sind unfruchtbar, das ist leider ein Fakt, aber die genauen Einzelheiten ersparen wir uns lieber, denn das steht auch nicht an der Tagesordnung.«
Damit ist diese wichtige Frage auch geklärt, die Station stirbt langsam aus. Mit so einem Szenario hat Alexa jetzt nicht gerechnet, der Unterricht ist zwar endlich aufregend, aber die Thematik ist wirklich nichts für schwache Nerven. Ein wenig wird darüber noch gesprochen, aber richtig wichtige Punkte kommen nicht mehr hinzu. Danach ist das Thema beendet und David schließt die ersten Schulstunden ab. Er winkt allen noch einmal zu und schickt sie anschließend in die große Pause. Eine Stunde Freigang steht an und dann geht es weiter...
5
Auch der nächste Raum besteht fast nur aus Glas. Ethan kann es nicht verstehen, wie man in so einem Gebäude überhaupt arbeiten kann. Nicht nur, dass die Sonne durchgehend durch alle Fenster scheint, auch die Nachbarn in den Nebengebäuden haben eine wundervolle Sicht ins Innere.
Und hier sitzt er also, der geheimnisvolle Chef vom FOPE, Domenic Black. Wenigstens besteht sein Schreibtisch und sein Stuhl nicht auch aus Glas, denn das wäre jetzt echt zu komisch gewesen. Von dem großen Mann wird Ethan noch bis in die Mitte des Raumes gebracht und dann alleine gelassen. Sein Begleiter gesellt sich an die Seite seines Vorgesetzten und bleibt weiterhin sehr wortkarg. Das Büro selber bietet nicht wirklich viel und der Gast kann sich weitere neugierige Blicke ersparen. Seine Aufmerksamkeit orientiert sich auch lieber auf den sitzenden Mann hinter der Arbeitsfläche, nur weiß er noch nicht genau, wie er das Gespräch mit ihm beginnen soll. Das Alter von diesem Black schätzt er auf Mitte 30, aber so wirklich kann er das nicht deuten. Die schwarzen, kurz geschnittenen Haare liegen perfekt, fast schon zu perfekt und bieten mit der schwarzen Uniform einen richtig eleganten Anblick. Das Oberhaupt dieser Organisation trägt also schwarz und nicht das einheitliche Grau der anderen Mitarbeiter. Ob das an dem Namen oder eben wirklich an seiner Stellung liegt, kann Ethan sich nicht erklären. Es ist ihm aber auch egal, er will diesen Mann schließlich nicht heiraten, er braucht nur ein paar Auskünfte und einen Gefallen. Endlich hebt sich der Kopf von Mr. Black und die beiden schauen sich eine Weile an.
»Mr. Black, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, um mich zu empfangen. Ich komme auch sofort auf den Punkt, damit wir uns alles Weitere ersparen...«, beginnt Ethan die Konversation und wird umgehend unterbrochen.
Domenic Black, der nicht nur ein elegantes Aussehen vorweist, sondern sich auch so verhält, erhebt sich von seinem Stuhl und zeigt mit einer kurzen Geste, dass sein Gesprächspartner still sein soll.
»Pssst«, kommt von ihm, »muss denn unser Treffen so unschön beginnen?« Langsam bewegt er sich um seinen Schreibtisch herum und gibt dem Verdutzen Coleman tatsächlich die Hand.
»Sie sind also Ethan Coleman, ihr Ruf eilt ihnen voraus, mein Lieber. Ich habe mich ein wenig über Sie schlau gemacht, aber das sollte nicht weiter stören.«
Black geht zurück zu seinem Schreibtisch, nimmt einen Aktenordner vom Tisch und kommt mit diesem wieder näher. Nach dem Aufschlagen beginnt er mit dem Lesen.
»Ethan Coleman, geboren am 12.04.1958 in Detroit. Arbeitet seit 15 Jahren für das Morddezernat in Brooklyn und das sogar sehr erfolgreich. Habe ich recht Detektive?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, spricht er einfach weiter.
»Ihre Erfolgsquote kann sich sehen lassen, wirklich beeindruckend. Aber was erblicken meine Augen da, in den letzten 8 Monaten hat sich das alles verändert. Die Quote ist gesunken und das gesamte Auftreten hat sich verschlechtert. Ein Alkoholproblem hat sich auch dazu gesellt.«
Ethan klappt die Kinnlade herunter, er kann sich gerade nicht vorstellen, dass dieses alles in der Akte stehen soll. Ganz zu schweigen davon, wo dieses Schriftstück überhaupt her kommt. Natürlich hat er sich verändert und sein Aussehen hat einen verwahrlosen Eindruck angenommen. Seine schulterlangen grauen Haare sind zottelig und ungepflegt. Und über seinen Bartwuchs sollte erst gar nicht gesprochen werden. Sein Hang zum Alkohol ist auch nicht gelogen, aber was spielt das hier für eine Rolle? Leider schafft er es nicht, sein Gegenüber zu unterbrechen und der steht immer noch mit seiner Akte im Raum und liest vergnügt die Zeilen.
»Seit 17 Jahren sind Sie mit Lisbeth Coleman geb. Baker verheiratet, haben keine Kinder und die Hypothek auf Ihr Haus ist auch noch nicht abbezahlt, Sie sind sogar mit den Raten im Rückstand, das sieht keiner gerne.«
»Verdammt, was soll das ganze Theater?«, unterbricht Ethan endlich den Mann in Schwarz. »Ich bin doch nicht hier her gekommen, um mein Leben zu durchleuchten.«
»Ist das so Mr. Coleman? Dann habe ich mich wohl geirrt.« Die Akte wird zugeschlagen und mit einer Handbewegung zurück auf den Schreibtisch befördert. Kurz darauf setzt er sich wieder auf den Stuhl und der Detektive steht weiterhin an derselben Stelle.
»Wären die Gegebenheiten anders und Sie natürlich jünger, dann hätten Sie bei uns sicher groß einsteigen können, Mr. Coleman«, kommt noch von Black, bevor er sich gemütlich auf seinem Sitzplatz zurücklehnt und Ethan endlich die Chance zum Reden gibt.
»Mr. Black, Sie wissen doch genau, warum ich hier bin, es geht um meine Frau Lisbeth.«
»Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen, verzeihen Sie mir bitte.«
Domenic beugt sich wieder ein wenig nach vorne und mustert den Detektive mit seinen blauen Augen. »Also was kann ich für Ihre Frau tun?«
Ethan kommt sich gerade verarscht vor, daher gesellt er sich ein wenig näher und sieht zum ersten Mal eine Regung bei dem großen Mann in der Ecke. Eine kurze Handbewegung von Black reicht aber völlig aus und schon ist wieder alles beim alten.
»Ich möchte Sie natürlich wieder haben, also was kann ich für Sie tun, um das zu erreichen?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch beginnt doch tatsächlich zu lachen, als ob die Frage so lustig gewesen wäre. Dieser Zustand hält aber nicht lange und eine Kälte fegt Ethan entgegen.
»Ihre Frau Lisbeth ist ein Staatsfeind Mr. Coleman. Sie hat unseren Feinden geholfen, wurde dabei erwischt, verurteilt und eingesperrt. Mit ihr wurde genau so verfahren, wie es mit allen anderen auch geschehen ist. Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht helfen.«
Nach dem Gesagten würde sich Ethan am liebsten an seiner rechten Brusttasche zu schaffen machen, sie schreit förmlich nach ihm, aber er kann sich tatsächlich beherrschen.
»Sind Sie nicht dafür verantwortlich Mr. Black? Sie haben hier doch das Sagen und können Entscheidungen treffen. Bitte, ich flehe Sie an, meine Frau hat nichts Schlimmes verbrochen, was ist denn an einer Spende so verkehrt?«
Nicht nur die Haltung von Domenic Black ändert sich schlagartig, er springt auch von seinem Stuhl und geht Ethan direkt entgegen.
»Ihr Auftreten ist wirklich jämmerlich Mr. Coleman«, schreit er ihn an. »Ihre Frau hat Bekleidung gesammelt, diese gewaschen und dann über einen Unterhändler an die Ausgestoßenen geliefert. Das nenne ich ein schweres Vergehen. Die Ausgestoßenen sind unsere Feinde, sie zu jagen und zu vernichten ist die Aufgabe dieser Organisation. Das beinhaltet auch alle Helfer und sonstigen Freunde dieser Gruppierung. Lisbeth Coleman hat sich dem Verbrechen schuldig bekannt und ist jetzt eine Staatsgefangene. Seien Sie doch lieber froh, dass wir Ihnen nichts nachweisen konnten, sonst wären Sie auch nicht mehr in Freiheit.«
Die Aufmerksamkeit von Black wendet sich an den Beobachter neben dem Schreibtisch, der auch sofort darauf reagiert.
»Alex, begleite bitte Mr. Coleman zum Aufzug, dieses Gespräch ist beendet.«
Direkt nach seinen Worten dreht er sich wieder zu Ethan herum und knallt ihm seine letzten Worte vor den Kopf.
»Wenn Sie mein Gebäude noch einmal betreten, dann werde ich mich Ihrer annehmen. Und glauben Sie mir, das wird sehr unangenehm. Einen schönen Tag noch Mr. Coleman.«
Der Mann, der auf den Namen Alex hört, tritt an die Seite des Detektivs und zeigt in die Richtung, in der es jetzt weitergeht. Zusammen mit Ethan verlässt er den Raum und begleitet ihn bis zum Fahrstuhl. Dort öffnen sich die Türen wieder automatisch und der Cop macht einen Schritt nach vorne. Doch bevor er in die Kabine einsteigen kann, wird er sanft von hinten gehalten.
»Mr. Coleman, sollten Sie irgendwelche Kontakte zu den Ausgestoßenen pflegen, dann lassen Sie es mich wissen. Hier ist meine Karte.«
Sehr verdutzt nimmt Ethan das kleine Teil entgegen und steigt in den Aufzug, dabei wird er aber weiterhin recht unheimlich beobachtet. Bevor sich die Türen schließen, redet der Riese ein weiteres Mal.
»Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen. Vergessen Sie dabei aber nicht, Sie wenden sich direkt an mich und nicht an Mr. Black, alles Weitere steht auf meiner Karte.«
Die Türen schließen sich und der Fahrstuhl fährt nach unten...
6
Alexa sitzt in einer Art Aufenthaltsraum, welcher sich neben der Schulklasse befindet und schaut auf ihre Mitschüler. Sie sind alle wild am Diskutieren und niemand nimmt eine Notiz von ihr. Das ist ihr aber auch ganz recht, denn sie hat überhaupt keine Lust auf neue Kontakte und das alleine sein gefällt ihr viel besser. Etwas weiter hinten steht dieser Dillen an einem Stehtisch gelehnt und blickt gespannt zu ihr herüber. Es handelt sich um den peinlichen Jungen mit seiner Sexfrage, schüchtern in der Klasse, aber hier wohl ein Heißsporn. Alexa wendet ihren Blick wieder ab, denn so etwas kann sie gerade nicht gebrauchen.
Im Augenwinkel sieht sie leider noch, wie Dillen sich in ihre Richtung aufmacht, seinen Plan aber nicht bis zum Ende durchführen kann. Auf halber Strecke wird er sehr unsanft von Aiden gestoppt, der nach ein paar Worten wieder verschwindet und den Schüler sprachlos stehen lässt. Von dem kommt noch ein schüchterner Blick bei Alexa an und dann führt ihn sein Weg zurück zu seinem Tisch.
Ziemlich angewidert von dieser Situation will sich das Mädchen jetzt aufmachen, um Aiden zur Rede zu stellen. Nicht nur, dass er hier absolut nichts zu suchen hat, er scheint sie auch noch zu beobachten. Dazu kommt sie aber nicht mehr, denn David ruft zur nächsten Stunde.
Im Klassenraum angekommen geht es sofort weiter mit der Geschichtsstunde des Lehrers. Viel mehr Informationen wird es heute aber nicht geben, das hat er seinen Schülern beim Eintreten schon mitgeteilt. Dennoch ist das Folgende sehr wichtig und lässt nicht lange auf sich warten.
»Wir haben eben mit der Geschichte der Station begonnen und den Rest möchte ich euch natürlich nicht verheimlichen«, beginnt David wieder, nachdem er sich hingesetzt hat. »Unser Zuhause ist in einzelne Gebiete aufgeteilt und jede Fachrichtung bewohnt einen anderen Teil der Station. Wenn ihr diese Jahrgangsstufe abschlossen habt, werdet ihr also automatisch umquartiert.«
Kaum war dieses ausgesprochen, wird es in der Klasse wieder unruhig. Viele haben von diesem Gerücht schon gehört, aber niemand wollte es glauben. Der Lehrer lügt aber nicht, dafür steht er jetzt auf und schaut grimmig durch den Raum.
»Ruhe jetzt«, schreit David in die Klasse, »ich möchte diese Stunde nicht mit Belanglosem vertrödeln und ich verbitte mir jede weitere Störung.« Wie in der ersten Stunde bleibt sein Blick konzentriert auf Alexa hängen. Sie lässt sich aber nichts anmerken, noch hat sie bei der Unterbrechung mitgemacht. Ihr Interesse ist stetig gestiegen und nebenbei geht ihr Aiden nicht aus dem Kopf. Wie kann der es wagen, sich in ihre Sachen einzumischen?
»Wir haben leider große Probleme und die werden von Tag zu Tag schlimmer«, fängt David wieder an. »Unsere kleine Stadt bewohnen derzeit 1052 Seelen und die Verpflegung derer wird immer schwieriger. Natürlich bauen wir selber einiges an, soweit es ohne Sonnenlicht möglich ist, aber wir sind auch abhängig von unseren Wohltätern, die sich über uns befinden. Genau da besteht das Problem, diese Helfer, genau wie die Schleuser werden immer weniger. Wir wissen nicht genau, was mit ihnen passiert, aber sie verschwinden einfach und tauchen nicht mehr auf.«
Eine neue Pause wird eingelegt, diesmal gibt es vonseiten der Schüler aber keine unbedachten Worte. Jeder sitzt still auf seinen Platz und folgt den Ausführungen von David, der auch nicht lange auf sich warten lässt.
»Unser Geheimdienst kümmert sich um solche Angelegenheiten, aber auch die konnten nicht wirklich etwas herausfinden. Alle Wege führen irgendwie zum FOPE, ja ihr habt richtig gehört, das Federal Office for Public Enemies hat seine Finger mit im Spiel. Das bedeutet leider, dass sie nicht nur uns jagen, sondern auch unsere Helfer. Das ist wirklich kompliziert, denn wir sind auf sie angewiesen und unsere Lage erschwert sich dadurch erheblich. Das alles führt jetzt zu euch, denn ihr seid wahrhaftig dafür verantwortlich, dass wir hier unten überleben. Es kommt also eine Menge Arbeit auf euch zu, alles Weitere werdet ihr aber noch erfahren.«
Auch nach diesen Worten bleibt es ruhig, einige schauen verängstigt und andere Blicken sich voller Verzweiflung im Klassenzimmer um. Das FOPE, diese Organisation kennt natürlich jeder. Keiner möchte etwas von ihnen hören und trotzdem sind sie immer präsent. Noch am morgen waren ihre Träume anders, sie wollten die Station verlassen, die Stadt oberhalb erkunden, Informationen sammeln und Menschen beobachten. Zwar wäre auch dieses nicht ungefährlich, aber ihre wahren Aufgaben überschatten alles. Vor allem ist darüber noch nicht viel bekannt, außer das es brenzlig wird.
Einige wenige, darunter auch Alexa, verhalten sich völlig ruhig und warten gespannt auf die nächste Entwicklung. In ihren Augen liegt eine gewisse Neugierde, als ob sie es kaum noch erwarten können, endlich aufzubrechen. Trotz aller Gefahren, die sich ihnen entgegenstellen werden, beobachten sie einfach nur ihren Lehrer.
»Die restlichen Themen beschleunige ich eben«, kommt von David, der die Entwicklung seiner Klasse mitbekommen hat. »Also, es gibt insgesamt noch 6 weitere Stationen, die ähnlich wie unsere funktionieren. Eine befindet sich in unmittelbarer Nähe, alle anderen verteilen sich in südlicher Richtung. Jede Einzelne hat einen eigenen Rat, dieser besteht aus genau fünf Mitgliedern, die alle zu den Ältesten gehören. Diese wichtigen Personen lenken unser aller Geschicke und nur sie pflegen Kontakte zu den anderen Stationen. Mehr braucht ihr über das Organisatorische nicht wissen. Sollte aber einer von euch jemals vor unsere 5 bestellt werden, beginnt das große Zittern, denn das bedeutet nie etwas Gutes. Mit diesem Schlusswort beende ich auch den ersten Schultag. Verarbeitet erst einmal die neusten Informationen, wir treffen uns morgen früh zur selben Zeit am gleichen Ort. Eines solltet ihr aber nicht vergessen, keine Informationen verlassen diesen Raum, denkt immer daran, unser Geheimdienst hat seine Ohren überall.«
Die Schüler erheben sich eher schleppend und verlassen ohne ein Wort den Raum. David hebt aber noch einmal einen Arm und verlangt nach Aufmerksamkeit.
»Dillen, Sean, Zoey und Alexa bleiben bitte sitzen, dem Rest wünsche ich noch einen schönen Tag.«
Sichtlich erschrocken von der Aufforderung hierzubleiben, schaut Alexa auf die übrigen Ausgewählten. Was hat das zu bedeuten, fliegt sie jetzt doch aus der Klasse? Auch die anderen drei schauen sich benommen um, ihnen geht es wohl nicht anders...
7
Das Handy meldet sich schon zum dritten Mal, aber Kylian liegt auf seinem Bett und ist in seinen Gedanken versunken. Seine Mutter kam sehr erschöpft von der Arbeit nach Hause und war nicht gerade davon begeistert, dass ihr Sohn ohne Schlüssel vor der Haustür saß. Der Ärger hielt sich zwar in Grenzen, aber die Enttäuschung war ihr anzusehen.
Den Haushalt haben die beiden zusammen erledigt, trotz der Proteste von Kylian hat seine Mutter natürlich geholfen. Das ist ihre Art, keine Arbeit wird auf andere abgewälzt und das ohne Rücksicht auf die eigene Situation.
Wieder klingelt das Handy, Kylian hat aber nicht wirklich Lust nachzuschauen. Den Ton hat er zwar ausgeschaltet, aber das Vibrieren ist deutlich zu vernehmen.
In seinem Kopf wiederholt sich ununterbrochen das Szenario aus der Gasse. Der Schlüssel, der sich jetzt irgendwo befindet, muss wieder in seinen Besitz gelangen. Nur wie soll er das anstellen? Der einfachste Weg wäre, dorthin zurückzukehren, also direkt in die schäbige Straße und danach zu suchen. Nur was wird passieren, wenn die Typen auch wieder dort sind? Oder wenn einer von denen den Schlüssel gefunden hat? Vielleicht hat er ihn auch erst viel später verloren, er könnte während des Fahrens aus dem Loch herausgefallen sein, das wäre dann noch schlimmer.
Stöhnend dreht er sich auf die andere Seite und blickt zu seinem Handy herüber, dieses liegt aber nicht in greifbarer Nähe. Daher zieht er sich mühsam aus dem Bett und wirft einen Blick auf das Display.
»Sascha!« Wer soll es auch sonst sein. Sascha ist seine beste Freundin und sie kennen sich schon seit der Grundschule. Sie ist aber wirklich nur eine Freundin und es lief nie etwas zwischen ihnen, auch wenn das andere gerne behaupteten.
Mit 13 ist einmal etwas vorgefallen, Sascha hatte ihn einfach geküsst und auf eine Reaktion gewartet. Am Ende sind sie beide in Gelächter ausgebrochen und die Sache war vom Tisch.
Zum sechsten Mal taucht ihr Name schon auf dem Handy auf und Kylian erlöst sie endlich.
»Hallo«, sagt er erschlagen.
»Was soll das Kylian, wie oft soll ich dich noch anrufen?«, ertönt es laut aus dem Telefon.
Langsam kommt er zur Besinnung, sie hatten sich heute für drei Uhr verabredet und mittlerweile ist es schon kurz vor vier.
»Sascha, es tut mir leid. Ich habe dich völlig vergessen. Das ist heute nicht mein Tag.«
»Na toll und ich warte hier schon die ganze Zeit. Kommst du jetzt noch oder soll ich nach Hause?«
Kylian schaut aus dem Fenster und überlegt was er darauf antworten soll. Eigentlich hat er keine Lust, die Sache mit dem Verlust macht ihn völlig fertig. Eine Ablenkung mit seiner Freundin wäre aber sicher nicht schlecht, vielleicht hat sie sogar eine Idee, was er wegen dem Schlüssel jetzt unternehmen kann.
»Warte einfach da Sascha, ich komme gleich.«
Trotz dass seine Freundin jetzt schon so lange wartet, braucht er noch eine ganze Weile, um sich auf den Weg zu machen. Fast eine halbe Stunde später taucht er endlich am verabredeten Ort auf und Sascha schaut extrem sauer.
»Weißt du Kylian, beim nächsten Mal, gehe ich einfach nach Hause.« Da er nicht darauf antwortet und auch sonst sehr abweisend ist, ändert sich ihre zickige Tonlage.
»Okay, was ist los? Dich beschäftigt doch was.«
Ohne darauf zu Antworten setzt sich Kylian einfach auf eine Bank, die sich direkt neben Sascha befindet und schaut traurig zu ihr hoch.
»Dir kann ich echt nichts vormachen, aber danke, dass du für mich da bist. Setzt dich bitte.«
Nicht mal einen Augenblick später sitzen beide in der Sonne und Kylian erzählt ihr die ganze Geschichte. Seine Freundin sieht die Sache aber nicht ganz so dramatisch.
»Und deswegen bist du so angepisst? Du hast deinen blöden Schlüssel in einer Seitengasse verloren, als du vor diesen Spinnern geflohen bist. Verdammt Kylian, wir gehen jetzt dort hin und suchen das Teil. Irgendwo wird der schon liegen und wenn wir ihn nicht finden, gehen wir zur Polizei. Wir sagen einfach, dass die Typen den geklaut haben.«
»Das ist voll lieb von dir Sascha, aber meinst du wirklich, dass die Cops uns glauben werden? Für die ist das doch völlig uninteressant. Ich gehe gleich lieber alleine zur Gasse und suche den blöden Schlüssel, dich bringe ich sicher nicht in Gefahr.«
Darauf antwortet die zierliche Frau erst einmal nicht, genau wie Kylian ist auch sie eine Schwarze und sollte der Gruppe von heute nicht in die Finger geraten.
»Ich kann dich aber begleiten, bis spätestens Montag brauchst du deinen Schlüsselbund zurück, sonst bekommst du ehrlich Stress in der Schule. Komm schon, zur Not stehe ich schmiere und achte auf deinen Hintern.«
Kylian beginnt zu lachen, seine Freundin scheint ihn echt zu amüsieren, obwohl sie das völlig ernst meinte.
»Lass mal Sascha, ich mache das lieber alleine, dann bin ich schneller, wenn ich flüchten muss. Du und Sport? Das passt ehrlich nicht zusammen.« Ein wenig beleidigt schaut seine Freundin zu einem älteren Mann herüber, der gerade dabei ist, die Mülltonne neben ihrer Bank zu durchwühlen.
»Ich wollte eigentlich nur helfen«, sagt sie nach einer kleinen Pause.
»Das weiß ich doch Sascha, aber du bist nicht gerade die Schnellste. Wenn die uns erwischen, sind wir geliefert.« Der Mann neben ihnen ist mit seiner Tonne fertig und geht eine Bank weiter. Auch Kylian schaut ihm hinterher.
»Ich warte noch, bis es völlig dunkel ist«, spricht er weiter. »Dann sind meine Chancen größer und ich kann mit meinem Handy alles beleuchten. Trotzdem danke ich dir Sascha, den ganzen Tag habe ich darüber nachgedacht, was ich jetzt unternehmen soll. Dein Mut hat mir eine neue Zuversicht gegeben und ich werde die Sache durchzuziehen. Eigentlich ist die Suche kein großer Aufwand, aber das heute Mittag hat mir echt gereicht. Mir steckt immer noch die Angst in den Knochen.«
Sascha nimmt seine Hand und steht auf, dabei zieht sie ihn hinterher und schaut ihm dann direkt in die Augen.
»Sei aber bitte vorsichtig und ich rufe dich heute Abend noch an. Nicht dass ich dann mit einem Leichenbestatter verbunden werde.«
»Schönen Dank auch Sascha, du bist echt die Beste, das macht es mir jetzt wirklich einfacher.« Kylian spielt den Beleidigten und bringt sie damit zum Lachen.
»Komm schon du Spinner, das war doch nur Spaß. Lass uns etwas trinken gehen, du hast noch genug Zeit, bis deine Apokalypse beginnt...«
8
Die vier übrig gebliebenen Schüler sitzen immer noch auf ihren Plätzen und schauen zu David, der bisher keine Anstalten gemacht hat, die Sache aufzulösen. Die Klasse leert sich langsam und fast jeder blickt beim Rausgehen einmal zurück. Keiner von ihnen hat eine Ahnung davon, was mit den anderen geschehen wird.
»Wollt ihr nicht weiter nach vorne kommen?« Fragt der Lehrer in die kleine Runde. Einen Augenblick später sitzen alle in der ersten Reihe, aber an ihren Blicken hat sich nichts verändert.
»Eigentlich wären die nächsten Informationen für die ganze Klasse bestimmt, aber das gehört der Vergangenheit an«, fährt er fort. Seine Augen gehen von einem zum anderen, verraten aber nichts.
»Herzlichen Glückwunsch, ihr habt euch schon heute für die nächste Stufe qualifiziert. Das überrascht euch natürlich, aber alles verändert sich irgendwann. Wir brauchen jetzt sofort Resultate, denn die Zeit läuft uns davon. Eure Entwicklung ist uns schon früh aufgefallen, ihr habt das nötige Wissen bereits erreicht und ein unnötiges Herauszögern können wir uns sparen.«
Auch nach diesem kleinen Geständnis schauen die übrig gebliebenen ziemlich eingeschüchtert. Viel können sie mit dieser Aussage auch nicht anfangen. So war David aber schon immer, nie sofort auf den Punkt kommen und die Zuhörer damit leiden lassen.
»Die Sportklasse ist im dritten Jahr eigentlich nur noch eine Tarnung, sie existiert überhaupt nicht. Wir unterrichten ein paar Stunden und verteilen die Schüler dann auf die verschiedenen Gruppen. Unser Geheimdienst versteckt diesen Vorgang recht gut, daher bekommt keiner etwas mit, auch wenn hin und wieder Gerüchte davon in den Umlauf geraten. Der Großteil von euch kommt automatisch in unsere Armee. Jetzt schaut nicht so abwegig, auch wir besitzen eine, aber die dient nur der Verteidigung. Ein paar Auserwählte werden zu Wächtern ausgebildet. Die sind verantwortlich für das Wohlergehen unseres Rates und natürlich für den Schutz der einzelnen Ein- und Ausgänge. Mit denen legt sich keiner gerne an und nur die Stärkeren unter euch werden dafür auserlesen. Zum Schluss haben wir dann noch unsere Erkunder. Diese Gruppierung ist für die Außeneinsätze verantwortlich. Von allen genannten Aufgaben ist die Letzte die Schwerste, vor allem in diesen brisanten Zeiten. Nur eine Handvoll von euch schafft es in diese Spezialisierung. Die anderen werden also sehr enttäuscht sein, wenn sie das mit euch erfahren, aber so läuft das eben bei uns.«
Erst jetzt haben es die Schüler verstanden, sie gehören in diese Einteilung, sie sind die echte Elite und erhalten die gefährlichen Einsätze.
David unterbricht kurz seinen Unterricht und schreitet durch den Klassenraum in den hinteren Bereich. Dort öffnet er die Tür und schaut heraus. Kurz darauf schließt er sie wieder und kommt mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurück.
»Die Vorsicht steht an erster Stelle«, sagt er noch auf seinem Weg nach vorne und die Schüler haben jeden seiner Schritte genaustens beobachtet, bleiben aber still. Alexa kommt gerade nicht klar, es entwickelt sich zwar alles perfekt, wie sie es sich immer erträumt hatte, aber irgendwie ist auch alles anders. David bleibt vorne stehen, dreht sich aber nicht herum.
»Es gibt natürlich noch den Geheimdienst, das ist aber eine ganz andere Geschichte. Für eine Einladung in deren Organisation braucht es eine Qualifikation und die wird nur durch erfolgreiche Aufgaben an der Oberfläche erreicht.«
Nach seinen Worten dreht er sich wieder zur Klasse und schaut in die fragenden Gesichter.
»Hat vielleicht einer von euch zu dem Gesagten schon eine Frage, oder kann ich fortfahren?«
Alexa ist die Einzige, die aufzeigt und auch sofort sprechen darf.
»Eine Frage habe ich, werden wir gleich einfach nach oben geschickt und müssen irgendetwas erledigen, oder kommt vorher noch etwas? Eine Einführung oder Ähnliches.«
»Diese Frage beantwortet sich bald von alleine Alexa«, bekommt sie nur als Antwort. Viel kann sie zwar nicht damit anfangen, belässt es aber dabei und David übernimmt wieder das Kommando.
»Ihr habt in den Geschichtsstunden viel über die Städte der USA gelernt. Um euch nicht noch länger auf die Folter zu spannen, unsere Station befindet sich direkt unter New York. Genau in diese Stadt wurdet ihr vor Jahren geboren und heute kehrt ihr dorthin zurück.«
Der Lehrer begibt sich zu einem kleinen Regal in der hinteren Ecke und holt vier Karten hervor. Diese händigt er allen mit der Bemerkung aus, dass sie bis heute Abend zurückgegeben werden müssen.
»Jede Karte hat ein paar zusätzliche Informationen. Die X-Markierungen sind Zugänge zu unserer Station und die dicken Punkte zeigen Übergabeorte, dort treffen wir auf die Menschen von oben. Diese Karte wird bis heute Abend auswendig gelernt. Jede kleine Straße muss in euer Gehirn, das sollte für euch normal kein Problem darstellen.«
Die Karten werden aufgeklappt und angeschaut, aber David ist mit seinen Infos noch nicht am Ende angekommen.
»Das Ganze kommt für euch jetzt sicherlich überraschend. Ich kann mir aber sehr gut ausmalen, dass jeder von euch schon die Vorstellung davon hatte, heute noch nach oben zu dürfen und genau so wird es sein. Eure zukünftigen Aufgaben erfüllen uns mit Stolz, aber agiert mit Vorsicht, die Gefahren in der Stadt sind unbeschreiblich. Es gibt nicht nur das FOPE, auch andere Dinge werden euch erwarten. Ihr habt in den letzten Jahren einiges gelernt und jetzt ist es an der Zeit, dieses umzusetzen und noch mehr zu erfahren.«
David geht wieder zur Tür, lässt sie aber diesmal geschlossen. Mit einem strengen Blick macht er seinen Schülern verständlich, dass sie aufstehen sollen. Auch ihr Weg führt sie nach hinten zum Ausgang.
»Bei uns gibt es einige wichtige Richtlinien und die dürft ihr niemals vergessen.« Alleine schon wegen der Ernsthaftigkeit in seiner Stimme hören die Schüler noch einmal genau zu.
»Die Menschen außerhalb dieser Station sind nicht unsere Freunde. Wir vertrauen niemandem und sind immer vorsichtig. Auch die Helfer sind nicht unsere Freunde, auch denen vertrauen wir nicht. Das dürft ihr niemals vergessen und das wichtigste zum Schluss, niemand sucht seine echte Familie. Solche Nachforschungen finden bei uns keinen Anklang. Das gleicht einem Verbrechen und wird dementsprechend bestraft. Eure Eltern haben euch damals abgegeben, damit ihr Leben könnt. Ihr würdet sie und auch uns in große Gefahr bringen.«
Seine Augen durchleuchten jeden Einzelnen, er hofft natürlich, dass sie die Leitsätze verstanden haben.
»Geht jetzt in eure Schlafräume, ruht euch ein wenig aus und studiert dabei die Karte. Spätestens um 8 Uhr treffen wir uns am Nordausgang. Dort beginnt dann euer Außentraining...«
9
Das Bett quietscht leise unter dem Gewicht von Alexa, denn sie dreht sich auf die andere Seite, um ihrer Freundin Dakota, die gerade den Raum betreten hat, aus dem Sichtfeld zu gehen. Ihre Mitbewohnerin wird eine Menge Fragen haben und das ist eine sehr schwierige Situation, denn die beiden sagen sich immer alles. Genau aus diesem Grund werden die Gruppen auch getrennt, es gibt definitiv zu viele Geheimnisse, die andere nicht erfahren dürfen. Als Schulkinder haben sie darüber noch nicht nachgedacht, aber die ganze Harmonie in der Station scheint nur gespielt zu sein.
»Hey Alexa«, ertönt die Stimme ihrer Freundin. »Du bist doch nicht wirklich am Schlafen?«
»Nein, es ist alles gut Dakota, ich muss nur ein wenig nachdenken.«
Die Kleine schaut irritiert nach oben, denn die Aussage ist nicht gerade aufschlussreich.
»Hast du nicht heute Morgen schon genug gegrübelt, oder ist etwas passiert?«
Nach der Frage dreht sich Alexa auf die andere Seite, dabei fällt ihr die Karte aus dem Bett und landet auf dem Boden. Dakota nutzt natürlich die Chance und hebt sie auf.
»Was ist das?« Fragt sie interessiert und dreht das Fundstück in ihren Händen.
»Das darfst du leider nicht wissen, kannst du mir das bitte wiedergeben?«
Im ersten Moment sieht es fast so aus, als ob ihre Freundin nicht auf die Bitte eingeht. Nur die Karte sollte sie sich nicht anschauen, aber Alexa hat sich getäuscht, denn einen Augenblick später ist sie wieder in ihrem Besitz.
»Darf ich dich wenigstens fragen, was es damit auf sich hat, oder darfst du mir nichts davon erzählen?«