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Eigentlich ist er unsicher und maßlos überfordert mit dem Druck, ständig neuen Content zu liefern. Da kommt ihm das Gewinnspiel eines neuen Escape-Rooms gerade recht. Er wittert seine Chance, neue Follower dazuzugewinnen, und verabredet sich mit seinen Freunden. Doch das vermeintliche Escape-Room-Abenteuer entpuppt sich als ihr größter Albtraum. Schonungslos wird das gegenseitige Vertrauen der Gruppe von einer KI und zwei Wissenschaftlern auf die Probe gestellt, und Adrian muss erkennen, dass er, abgelenkt von seinem egoistischen Drang nach Aufmerksamkeit, überhaupt nichts von den Problemen seiner besten Freunde mitbekommen hat. Wird er es schaffen, sich wieder in die Gruppe einzufügen und vom Einzelkämpfer zum Teamplayer zu werden? Oder ist es bereits zu spät und die Wahrheit zu schmerzvoll, um ihre Freundschaft zu retten?
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für alle, die es wagen, zu leben und zu träumen.
UNSER GANZES LEBEN BESTEHT
AUS ENTSCHEIDUNGEN.
JEDE EINZELNE LENKT ES
IN ANDERE BAHNEN.
DIE RICHTIGE ENTSCHEIDUNG ZU TREFFEN, KANN DAS SCHWIERIGSTE ÜBERHAUPT SEIN.
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
EPILOG
Mit nur zehn Likes kann eine künstliche Intelligenz dich besser einschätzen als dein Klassenkamerad oder dein Chef.
Denn der Content, den du likest, verrät ihr mehr über dich und deine Person, als dir lieb ist.
Jeden Tag posten Millionen User weltweit ihr Mittagessen, verarbeiten ihre Trennung oder stalken heimlich ihren Schwarm. Allein mit diesen Daten können KIs nicht nur deine Gefühlslage oder deinen genauen Standort ermitteln, sondern auch vorhersagen, was du als nächstes tun, wem du folgen oder was du liken wirst.
Die Algorithmen von Plattformen wie TikTok, Instagram, YouTube und Snapchat sind so programmiert, dass sie deine Likes, deine Watchtime und deine Interaktionen mit Profilen, Bildern oder Videos analysieren, bewerten und somit ermitteln, welchen Content sie dir als Nächstes präsentieren.
Ihr einziges Ziel: Deine Watchtime verlängern und dich so immer tiefer in die Social-Media-Welt hineinzuziehen.
Pass auf, was du postest, wem du vertraust und wie viel du aktiv über dich, dein Leben und deine Freunde preisgibst.
Denn du weißt nie, wer noch alles zusieht, um dich vielleicht in eine Falle zu locken …
BIST DU BEREIT?
»Yo Leute, was geht? Ich bin’s wieder, euer Ad_Official, ihr wisst Bescheid. Seid ihr gut drauf? Hoff ich doch. Nice, nice. Ja, Leute, was soll ich sagen? Es ist so weit, heute Nachmittag ziehen wir los. Die Big 5, ihr wisst Bescheid, ne? Äh, ja, wo war ich, genau, Escape-Room. Hafen City. Ach, Mann!«
Adrian brach die Aufnahme ab. So würde das nicht funktionieren. Das Video sollte perfekt werden, und dafür musste er lockerer sein, entspannter, nicht so verkrampft. Frustriert wuschelte er sich durch die braunen Locken und räusperte sich. Jetzt aber. Erneut hob er das Handy vor sein Gesicht und drückte den roten Aufnahme-Button.
»Yo Leute, was geht? Schön, schön, wollte nur sagen: Heute Nachmittag geht’s endlich los. Wir ziehen los zum Escape-Room. Freu mich übertrieben, mal wieder was mit der Gang zu machen. Den Big 5. Lasst mal ein Follow da, falls ihr es noch nicht gemacht habt, und … äh. Verdammt!«
Adrian stoppte erneut. Das konnte nicht wahr sein. Normalerweise schaffte er es doch auch. Was war heute nur mit ihm los? Eine stinknormale Story, das war für ihn das Einfachste der Welt. Vielleicht brauchte er eine kleine Pause, um sich zu sammeln? Ohne den Blick von seinem Handy abzuwenden, ging Adrian durch die Altbauwohnung in die Küche direkt auf den Edelstahl-Kühlschrank zu und öffnete ihn. Nice. Seine Mutter war offensichtlich einkaufen gewesen. Schnell schnappte er sich eins der Sandwiches, die sie jeden Tag frisch für ihn zubereitete – Vollkorntoast mit Bruschetta-Creme, Mozzarella und Rucola, mega nice! – und biss herzhaft hinein. Dabei starrte er weiter auf den Bildschirm seines iPhones. Dort tanzte ein junges Mädchen auf Rollschuhen, cruiste mit gekonnten Moves über den Sunset-Boulevard in Los Angeles. Der Clip hatte über zwei Millionen Aufrufe. Adrian nickte anerkennend.
LA. Das wäre es. Der Olymp für jeden Influencer. Und nicht nur das: Auch sein größtes Idol war dort auf dem berühmten Walk of Fame verewigt. Wie viele Likes würde ein Video mit dem Stern von Michael Jackson wohl bekommen? Wenn Adrian dann noch die legendären Moves des King of Pop auspacken würde, wären ihm eine Million Aufrufe easy sicher.
Dass dieser Traum wahr werden könnte, wusste Adrian. Vielleicht schaffte er es, seine Mum zu überreden, den Familienurlaub dieses Jahr nach LA zu verlegen. Er könnte auch einen Teil, zum Beispiel das Airbnb oder den Mietwagen, selbst bezahlen. Dazu musste er sich nur ein bisschen mehr anstrengen und seine Videos viral gehen … Wenn das nur so einfach wäre …
Adrian schlurfte durch den Flur zurück in sein Zimmer. Dort pfefferte er sein Handy auf den riesigen Stapel Klamotten, der sich am Fußende seines Bettes bereits türmte, und ließ sich auf die Matratze fallen. Wird Zeit, dass Mum mal wieder Wäsche macht, dachte er. Ob er ihr den vollen Korb zumindest bis vor die Waschmaschine tragen sollte? Oder wenigstens mal die Dreckwäsche zusammensuchen? Ungerührt zuckte er mit den Schultern und sank zurück in die Kissen.
Grübelnd starrte er an die Dachschräge. Sie war über und über mit Fotos bedeckt. Auf einem davon waren er und Nancy zu sehen, bei deren Anblick Adrian seufzte. Er erinnerte sich genau an diesen einen Tag.
Es war letztes Jahr im Sommer gewesen.
Das Schuljahr war vorbei, und das Wetter zeigte sich von seiner schönsten Seite. Seine Mutter richtete zusammen mit ihren Freundinnen das traditionelle Sommerfest aus. Dazu war der Garten mit gelben und roten Lampions geschmückt, und es duftete herrlich nach Grillgemüse und Baguette. Alle waren gekommen. Der Vater seines besten Freundes Neil war auf seiner Station hinter dem alten Holzkohlegrill. Seine Mutter saß lachend mit einem Glas Rotwein in der Hand am großen Holztisch, und Dustin und Luke standen kichernd am Gartentor. Neil und er hatten es sich mit den alten Sitzsäcken auf der Veranda gemütlich gemacht und beobachteten ihre beiden Freunde dabei, wie sie hektisch versuchten, das grüne Tor wieder einzuhängen, bevor Adrians Mutter mitbekam, dass sie es versehentlich geschrottet hatten. Während er den beiden schmunzelnd zusah, redete er mit Neil über das vergangene Schuljahr und ihre Pläne für die Sommerferien.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sich Luke und Dustin vom Gartentor entfernten und auf ein Mädchen zuliefen, um es zu begrüßen. Danach kamen sie lachend zu ihm und Neil hinübergeschlendert. Dustin stellte die Neue als Nancy vor und erklärte, dass sie vor Kurzem bei ihm in der Nachbarschaft eingezogen war und nach den Ferien in ihre Klasse kommen würde.
Schüchtern winkte das Mädchen mit den großen braunen Augen in die Runde. Adrian stand auf und hob lässig die Hand, wobei er sich keine Sekunde von ihrem Anblick lösen konnte. Doch da unterbrach seine Mutter die Situation und bestand darauf, ein Gruppenfoto zu machen. Schnell legte er seinen Arm um die Schultern des Mädchens, und seine Freunde versammelten sich ebenfalls um sie.
»Cheese!«, rief seine Mutter.
Und als Adrian lächelnd zur Seite schaute, realisierte er, dass auch Nancy strahlte.
So hatte er sie kennengelernt. Sie war schnell in seinem Freundeskreis angekommen und bei allen beliebt. Nach und nach hatten Adrian und sie immer mehr Zeit zu zweit verbracht und sich ineinander verliebt. Er war glücklich gewesen. Aber jetzt fühlte es sich irgendwie anders an …
Adrian stieß erneut einen lauten Seufzer aus und setzte sich auf. Er löste das Bild von ihm und seinen Freunden beim Sommerfest von der Decke und griff nach seinem Tagebuch. Keiner wusste von dessen Existenz. Er hatte niemandem davon erzählt – nicht einmal Nancy oder Neil. Als Mann über seine Gefühle und Gedanken zu schreiben, war uncool und schwach. Zumindest redete er sich das ein, denn Adrian hatte viel für seinen Ruf getan. In der Schule war er beliebt, die Mädels standen auf ihn, und jeder wollte mit ihm befreundet sein. Spätestens seit er die 50K auf Instagram geknackt hatte und mit Werbeanfragen überschüttet worden war, galt er als neuer It-Boy Hamburgs. Überall, wo er auftauchte, wurde er erkannt und hin und wieder auf der Straße nach einem Selfie oder Autogramm gefragt. Letztens erst, im Drogeriemarkt um die Ecke, hatte die Kassiererin ihn gebeten, ein paar Zeilen für ihren Sohn aufzuschreiben. Aber obwohl Adrian die Aufmerksamkeit und die Anerkennung seiner Follower liebte, gab es Momente, in denen er allein sein wollte. Ihm fehlte es, einfach nur Adrian Seiffert zu sein.
Bei einem seiner Drehs für einen bekannten Social-Media-Star hatte er beobachten können, dass dieser ständig ein kleines Notizbuch bei sich trug. Adrian fand das genial und hatte sich deshalb ebenfalls eins besorgt. So konnte er immer, wenn er einen Geistesblitz hatte, alles sofort aufschreiben und vergaß nichts mehr. Jede noch so winzige Idee hielt er fest und arbeitete sie abends aus. Vor einer Weile war Adrians Notizbuch auch zu seinem Tagebuch geworden, das er nun aufschlug, um darin zu schreiben.
28. September 2021
Hab heute das neue Video von Majaofficial gesehen. Krasse Moves und Hammer-Location in der Videospielhalle, muss ich echt zugeben – wobei ich sagen muss, dass ihr Style meinem schon sehr ähnelt … auch ihre Songs. Hab so’n bisschen das Gefühl, sie kopiert mich. Was mich richtig nervt: Jedes Video, das sie postet, löst sofort einen neuen Hype aus. Wieso? Ihre Followerzahlen steigen die ganze Zeit. Wie schafft sie das? Ich mach doch selbst nichts anderes? Warum gehen meine Zahlen nicht so krass hoch?
Ey, heute fiel es mir schon schwer, nur mal ’ne normale Story aufzunehmen. Was ist bloß los mit mir? Keine Ahnung, was ich ihnen noch bieten soll. Früher war alles irgendwie ein bisschen entspannter, und ich hatte nicht so einen Druck, ständig neue Videos rauszubringen. Da konnte ich einfach posten, was ich cool fand. Jetzt sieht mein Feed chaotisch aus, und ich komm gar nicht mehr drauf klar. Vielleicht ist es an der Zeit, mal Ordnung zu schaffen. Maja macht das echt schlau, ihr Feed ist brutal gut. Jedes Video passt perfekt zu ihrem Style und ihrem Charakter, die Outfits, die Backgroundtänzer – selbst das Farbkonzept und die Choreos. Alles harmoniert voll gut bei ihr und hat einen Fokus. Sie ist einfach ein Profi.
Adrian legte den Stift beiseite. War das vielleicht die Lösung? War Majas Strategie die richtige?
Adrian rutschte ans Ende des Betts und wühlte im Klamottenberg nach seinem Handy. Wo hatte er es bloß hingeschmissen?
Ah. Gefunden.
Er zog das Smartphone unter der Levi’s-Jeans, die seine Mutter schon letzte Woche hatte waschen wollen, hervor und warf sich zurück in die Kissen. In der Yuma-App suchte er nach Majaofficial. Sie würde bald die 900.000 Follower erreichen. Anerkennend nickte er. Danach swipte er durch seinen eigenen Feed.
Eigentlich sah alles ganz okay aus. Seine kleine Serie Dancin’ Around The City kam richtig gut an. Das Video mit den meisten Klicks, knapp 200K, war das mit den Moves vor den Hamburger Wahrzeichen. An jeder Location hatte er die gleiche Choreo getanzt und am Schluss alles zusammengeschnitten. So wechselten die Hintergründe vom Rathaus zur Elphi und zack, zu den Landungsbrücken. Penibel genau hatte er darauf geachtet, dass die Kameraeinstellungen jedes Mal gleich waren, und auch der Aufnahmewinkel hatte immer stimmen müssen. Das Ergebnis war brutal geworden.
Die nächsten Clips in seinem Feed waren von ihm und Neil, wie sie gemeinsam jammten oder bei Dustin zu Hause chillten und herumalberten. Adrian musste schmunzeln. Bei dem Video von Nancy und ihm, das sie an ihrem Jahrestag auf dem Hamburger Dom aufgenommen hatten, stoppte er.
Sie waren autoscootern gewesen, und Nancy hatte das rote Lebkuchenherz mit dem I Love You-Schriftzug getragen, das er ihr nur wenige Minuten zuvor gekauft und um den Hals gehängt hatte. Er sah sich und Nancy dabei zu, wie sie lauthals lachten, wobei Nancy über das ganze Gesicht strahlte, bevor er sich einige Kommentare dazu durchlas. Durch die Bank weg fanden alle, dass sie ein – Zitat – »Ultra nices Couple« waren.
Wenn die nur wüssten, dachte Adrian.
In letzter Zeit war Nancy distanzierter als sonst. Sie war stiller geworden und interessierte sich nicht so für seine Karriere. Sie schrieb keine Kommentare mehr unter seine Videos und begleitete ihn fast nie zu Drehs. Wenn sie Zeit mit ihm verbringen wollte und er schon verplant war, zickte sie rum und machte eine Szene, auch gern mal in der Schule vor ihren Mitschülern. Dieses Verhalten passte ihm überhaupt nicht, denn er hasste es, wenn Privatangelegenheiten in der Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Allgemein hatte sich Nancy in den letzten Monaten ziemlich verändert. Er vermisste das süße Mädchen, das ihm bei Mr Baker’s Coffee den Kakao vor der Nase weggetrunken hatte. Und das ihn liebevoll ausgelacht hatte, als er das fünfte Mal auf der Regenbogenstrecke in Mario Kart über die Bananenschale von Donkey Kong gefahren war und wieder einmal gegen sie und Baby-Peach verloren hatte.
Während er darüber nachdachte, fiel sein Blick auf die Like-Zahl des Videos: 3.856. Das war nichts. Schnell wischte er zurück zum Clip von Dustin und sich auf dem Fußballplatz. 2.834. Auch das Reel von ihm und Neil, in dem sie Guitar Hero spielten, hatte nur knapp 5.000 Likes bekommen. Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen? Klarer konnten es ihm seine Follower nicht sagen, und Adrian wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Er machte sich Vorwürfe. Immer weiter swipte er durch seinen Feed und verglich die Likes der Videos von ihm und seinen Freunden mit denen der Tanzaufnahmen. Schnell begriff er, dass seine Fans eindeutig mehr von seinen Moves sehen wollten und nicht ihn und seine Gang bei Five Guys.
Adrian hielt kurz inne. Dann traf er eine Entscheidung. Im Video von Nancy und ihm klickte er auf das kleine graue Dreieck links oben im Bildschirm, woraufhin die Bearbeitungsfunktionen aufploppten. Darunter stand in roter Schrift DELETE POST. Noch einmal hielt Adrian inne. Dann tippte er auf den Button, und der Clip war gelöscht. Hastig scrollte er weiter zu den nächsten und entfernte diese ebenfalls.
Als er fertig war, ging er erneut durch sein Profil, das nun sauber und ordentlich war. Zufrieden seufzte er. Schon besser.
»Okay, Adrian, reiß dich zusammen, ist wichtig jetzt!«, motivierte er sich. Anschließend stand er auf und positionierte sich vor dem großen Spiegel. Fix die Haare gerichtet und tief durchgeatmet, dann startete er einen letzten Versuch, die Story aufzunehmen.
»Hey, Leute, was geht? Passt mal auf. Lange habt ihr drauf gewartet, jetzt ist es endlich so weit! Heute Nachmittag geht’s in den Escape-Room, von dem ich euch schon so viel erzählt hab! Wird bestimmt nicht leicht, aber hey, ich nehm euch mit, und zusammen schaffen wir das! Seid ihr gespannt? Ich bin’s auf jeden Fall! Bis später! ¬Ach so, und bevor ich’s vergesse: Habt ihr das Video von gestern Abend schon gesehen? Wenn nicht, schnell rauf da!«
Yes! Ohne sich zu verhaspeln, ohne Ähs und Ohs, mit klaren Infos und dazu noch locker drauf gewesen. Genau so musste das laufen. Er war wieder im Game.
Adrian war stolz auf sich. Das Ausmisten der Clips hatte ihn motiviert. Ein weiteres Mal prüfte er zufrieden seinen ordentlichen Feed, in dem jetzt alles professionell und sauber aussah. Keine Ablenkungen mehr durch einen herumhampelnden Dustin, keine Pommes-Schlacht bei Five Guys und auch keine Nancy, die beim Skaten gelangweilt an der Halfpipe lehnte. Jedes Video sah perfekt aus. Eine Choreo nach der anderen und stets wechselnde Locations.
Nice.
Durch seine AirPods dröhnte der Beat von Michael Jacksons Billie Jean. Adrian exte die Coke, die er sich aus dem Kühlschrank geholt hatte, drückte die Dose zusammen und warf sie in Richtung Mülleimer. Leider verfehlte sie knapp ihr Ziel. Sie prallte daran ab und kullerte unter den großen Esstisch in der Mitte des Raums. Adrian sah ihr nach. Dann zuckte er mit den Schultern. Mum wird später eh aufräumen oder zum hundertsten Mal heute putzen.
Oft verglich er sie in Gedanken mit dieser rothaarigen, überaus organisierten Frau aus der US-amerikanischen Hausfrauenserie, die sie so gern schaute. Es war bewundernswert, wie sie Arbeit, ihn, Haushalt und ihren healthy Lifestyle unter einen Hut bekam, das musste Adrian zugeben. Sie würde die Dose finden und ordnungsgemäß entsorgen. Und es würde ihr sogar Spaß machen. Wozu also die Anstrengung?
Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Die gestylten Locken saßen. Perfekt. Ein kurzer Snap an seine Freunde. Selfie im Kasten, und los.
Im Gehen griff er sich seinen Rucksack und verließ die Altbauwohnung. Mit seinen AirPods in den Ohren lief er entspannt durch Winterhude. Der Stadtteil hatte so viel zu bieten, und Adrian war froh, hier leben zu können. Gerade kam er an Juicy Juice vorbei. Ob er noch Zeit für einen der berühmten Smoothies hatte? Schnell checkte er seine Smartwatch. Seine Bahn würde erst in acht Minuten kommen. Na dann.
Am Tresen standen superviele Menschen an. Ungeduldig wartete Adrian darauf, dass er an der Reihe war, und sah dabei immer wieder auf die Uhr. Dann endlich wandte sich der Verkäufer an ihn, und Adrian sprudelte direkt los: »Einmal den Fruitrush bitte. Zum Mitnehmen.«
»Kommt sofort!«
»Danke, Mann!«
Wenig später raste er mit dem Shake in der Hand zur Haltestelle, wo die U3 schon am Gleis stand. Gerade noch rechtzeitig zwängte er sich durch die sich bereits schließenden Türen. Das war knapp gewesen.
Adrian nippte genüsslich an seinem Shake und zückte sein Handy. »Leute, schaut mal, bin jetzt auf dem Weg in die City. Hab mir eben noch schnell ’nen Papaya-Mango-Shake geholt. Fast die Bahn verpasst, aber hey, muss sein! Beste, schwöre ich euch! Ist jetzt keine Werbung oder so. Aber geht da echt mal hin, wenn ihr in Hamburg seid! Ich verlink euch den Laden unten, swipt einfach up!«
Zufrieden checkte er seine Story, bevor er sie postete. »Und bäm!«
Seinen Shake schlürfend schaute er aus dem Fenster und auf die vorbeiziehende Landschaft. Von der Saarlandstraße bis zum Baumwall waren es einige Stationen. Es blieb ihm also genügend Zeit, sich noch einmal seinen Feed in Ruhe anzuschauen und sich auf die bevorstehende Performance vorzubereiten. Michael sang Beat It, und Adrian groovte mit. Im Kopf ging er die Tanzschritte der Choreo durch, die er gleich mit seinen Kumpels aufnehmen würde.
Als eine neue Mitteilung auf dem Display erschien, wurde er aus seiner Gedankenwelt gerissen. Sie war von Nancy. Adrian verzog keine Miene. Bestimmt wollte sie eh nur von ihm wissen, wieso er all die Videos aus seinem Feed gelöscht hatte. Bevor er jedoch ihre WhatsApp-Nachricht lesen und sich Gedanken darüber machen konnte, erschien eine weitere Push-Benachrichtigung: Dein letztes Video hat 16.000 neue Watcher erreicht!
Yes! Die Insights von gestern Abend waren endlich da. Bei Yuma dauerte es immer, bis die Analysen fertig waren. Knapp zwölf Stunden musste er auf die Auswertungen vom Vortag warten.
Adrian konnte es nicht fassen und strahlte von einem Ohr zum anderen. Begeistert klickte er auf das Pop-up. Sein Postfach war voll, wie immer. User machten ihm Komplimente, fragten nach seiner Handynummer oder wollten sich mit ihm treffen. Ständig trudelten neue Likes ein. Adrian war mächtig stolz. Der Aufruf in seiner Story heute Morgen hatte wirklich etwas gebracht. Mit einem kurzen Tippen auf sein Handy ließ er Michael Jackson verstummen und sah sich sein letztes Video noch mal an. Richtig nice. Er hatte alles perfekt getroffen. Die Choreo, ein Mix aus Streetdance und klassischem Hip-Hop, genauso wie die Outfits, orange T-Shirts und schwarze Hosen. Der alte Containerhafen war auch einfach eine extrem nice Location. Sogar die Backgroundtänzer, die sein bester Freund Neil für dieses Video gecastet hatte, waren deutlich besser als die, die er vorher immer angeschleppt hatte. Musik, Rhythmus, alles passte. Kein Wunder, dass seine Follower das Video feierten. Adrian überprüfte seine Spotify-Playlist und fügte zwei neue Remixe hinzu. Dann öffnete er den Chat mit Neil und tippte los.
Ad: Yo Neil, ist alles bereit?
Neil: Easy Bruder, hab fünf Tänzer für dich. Eins der Mädels hat es richtig drauf, check mal ihr Insta: @groovingIsi. Was ich dich noch fragen wollte: Können wir nächste Woche mal reden? Muss bisschen planen und dir was erzählen.
Ad: Klar, mach ich direkt! Nächste Woche wird schwer. Nehme doch das Q&A mit den Mädels von Soyouthinkyoucandance auf. Das könnte echt meine Chance sein, Bruder! Lass uns danach reden, ist besser.
Neil: Ok, ja, war nur ’ne Idee. See ya in a min.
Ad: Easy. See ya!
Die Hamburger Wahrzeichen – die Alster, der Jungfernstieg, das Rathaus, der Rödingsmarkt und schließlich die Elbphilharmonie – zogen an ihm vorbei. Adrian warf einen letzten Blick auf sein Handy, öffnete WhatsApp und suchte nach der Big 5-Gruppe, um ein kurzes Bis gleich Guys, in drei Minuten da! in den Chat zu schicken. Neil antwortete sofort mit einem Dance-Emoji, was Adrian innerlich aufatmen ließ. Offenbar war er nicht sauer auf ihn. Gut so. Wäre auch echt doof, wenn Neil jetzt wegen seiner Absage Stress schieben würde. Adrian checkte, wer seine Nachricht bereits gelesen hatte, aber lediglich bei seinem besten Freund waren die beiden blauen Haken zu sehen. Die anderen würden sie sicher noch bemerken …
Adrian plagte ein Anflug von schlechtem Gewissen. Hätte er die Videos vielleicht doch nicht löschen sollen? Er sperrte seinen Bildschirm, steckte das Handy in die Jackentasche und stand auf. Kurz darauf trat er aus der U-Bahn, atmete die frische Luft ein und versuchte, das mulmige Gefühl in seiner Magengrube zu ignorieren. Was, wenn Nancy wirklich beleidigt oder – schlimmer noch – enttäuscht von ihm war, weil er ihre schönen Momente einfach so aus seinem Feed entfernt hatte? Das hasste er ja eh an dieser ganzen Beziehungskiste. Ich bin nicht sauer, ich bin enttäuscht. Wie oft hatte er diesen Satz in den vergangenen Monaten jetzt schon gehört? Nancy musste erwachsen werden, genau wie er. So einfach war es, sie musste verstehen, dass sie in seinem Leben nun mal nicht die erste Geige spielte.
Zufrieden atmete Adrian durch und zückte sein Handy. Noch ein kurzes Selfie. Den Blick auf den Hafen darf man sich nicht entgehen lassen, dachte er. Er streckte die Zunge raus und posierte lässig in die Kamera, bevor er das Bild in seine Story postete.
Wenig später hüpfte Adrian die Stufen der U-Bahn-Station hinunter. Er überquerte die Straße und lief über die Brücke in Richtung Elphi. Ein letztes Mal ging er im Kopf alle Schritte für die Choreo durch. Am Sandtorkai bog er zum Großen Grasbrook ab. Von Weitem entdeckte er Neil, der mit einigen Tänzern probte.
Anerkennend nickte Adrian. Dieses Mal hatte sich sein Kumpel selbst übertroffen, denn die Auswahl konnte sich sehen lassen. Dahinter erkannte Adrian seine anderen Freunde Luke und Dustin. Sobald Letzterer ihn erspäht hatte, löste er sich abrupt aus seinem Gespräch mit Luke und kam eilig auf Adrian zugelaufen, um ihn überschwänglich zu begrüßen. Luke dagegen blieb demonstrativ an der roten Backsteinmauer stehen und drehte sich von ihnen weg.
»Luke ist …«, fing Dustin kleinlaut an.
»Schon gut, Dustin, soll er ruhig noch den Blick auf den Hafen genießen. Komm, lass uns loslegen!«
»Was geht?«, rief Neil ihm entgegen.
»Was geht, Bruder, alles fit?«
»Normal, normal, Digga, lass anfangen. Ich schwör dir, die Tänzer heute sind anders krass.«
Adrian lachte und checkte mit der Faust bei Neil ein. »Yo Bro, wegen deiner Nachricht vorhin, lass uns da später mal reden, okay?«
»Klar! War jetzt auch nicht so wichtig«, winkte Neil ab.
Auf Neil war eben Verlass. Dieser gutmütige Kerl, der, seit Adrian denken konnte, ständig eine Wollmütze auf dem Kopf trug – ja, auch im Sommer! –, war immer für ihn da.
»Schön, dass ihr da seid!«, rief Adrian den Tänzern zu.
Neil betätigte die Musikbox und zog hastig seine Mütze zurecht. »Bist du bereit?«
»Na klar, Bruder!«, entgegnete Adrian. Der Sound war laut, und der Bass hämmerte aus der Box über den ganzen Platz. »Okay, Guys! Let’s go! Lasst es uns direkt drehen! Dustin, bist du bereit?«
Adrian drückte ihm sein iPhone in die Hand und musste grinsen, denn Dustin konzentrierte sich so sehr darauf, das Handy nicht fallen zu lassen, dass er es beinahe wirklich fallen ließ. Denn Adrians Ansprüche waren hoch. Nicht nur die Tänzer, sondern auch der Kameramann mussten immer über 100 Prozent geben.