9,99 €
Spook. Band 1: Der Schüler des Geisterjägers Die Kult-Dark Fantasy-Reihe – für alle ab 12, die das echte Fürchten lernen wollen. Willkommen im County. Hier lauern die Schrecken nicht nur in der Dunkelheit, sie atmen direkt neben dir. Tom Ward ist der siebte Sohn eines siebten Sohnes – eine Bestimmung, die ihn direkt in die dunkelsten Ecken seiner Heimat katapultiert. Seine Eltern übergeben ihn an John Gregory, den Geisterjäger. Doch John Gregory ist kein wohlwollender Mentor, sondern ein grimmiger Einzelgänger, dessen Methoden hart und oft brutal sind. Toms Ausbildung ist ein gnadenloses Überlebenstraining: Er muss lernen, Dämonen zu verbannen, blutrünstige Boggarts zu bezwingen und die gefährlichsten Hexen zu bändigen. Doch kaum hat Tom seinen Dienst angetreten, geschieht das Undenkbare: Durch einen fatalen Fehler befreit er die mächtige und blutrünstige Hexe Mutter Malkin aus ihrer Gefangenschaft. Ein Albtraum beginnt. Die Schatten werden länger, das Böse erwacht, und Tom muss erkennen, dass sein erster Fehltritt das County in tödliche Gefahr stürzt – und seine eigene Seele auf eine grausame Probe stellt. Tauche ein in Joseph Delaneys fesselndes Universum voller alter Mythen, unerbittlicher Gefahren und moralischer Grauzonen. Eine packende Dark Fantasy-Reise für alle, die das Unerwartete lieben und sich nicht vor den wahren Schrecken scheuen. Wirst du dich der Dunkelheit stellen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
foliant Verlag1. Auflage: 2023
Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel»The Wardstone Chronicles – The Spook’s Apprentice«bei The Bodley Head in der Verlagsgruppe Random House© 2004 Joseph Delaney
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Tanja Ohlsen liegen beim cbj Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlagbild: © „Talexi“ Alessandro TainiInnenillustrationen: © Patrick Arrasmith
Übersetzung: Tanja Ohlsen E-Book Gestaltung: Kreativstudio foliantE-Book AusgabeISBN 978-3-910522-21-3auch als Trade-Paperback erhältlich
www.foliantverlag.de
JOSEPH DELANEY (1945 - 2022)
war früher Englischlehrer, bevor er der Bestsellerautor der Spook‘s-Serie wurde, die in dreißig Ländern veröffentlicht und millionenfach verkauft wurde. Er war verheiratet, hat drei Kinder sowie seine Enkelkinder. Sein Haus liegt mitten im Boggartgebiet, und in seinem Dorf gibt es einen Boggart namens Hall Knocker, der unter der Treppe eines Hauses in der Nähe der Kirche zur Ruhe gelegt wurde. Die meisten Orte in den Spook‘s-Büchern basieren auf realen Orten in Lancashire. So auch z.B. das Haus in der Watery Lane. Und die Inspiration für die Geschichten stammt oft aus lokalen Geistergeschichten und Legenden.
Zitat: ‚Niemals aufgeben! Bleiben Sie dran!‘
Gewinner des Lancashire sowie Hampshire Book Award und Gewinner des Prix Plaisirs de Lire
Für Marie
1. Der siebte Sohn
2. Unterwegs
3. Watery Lane Nummer 13
4. Der Brief
5. Boggarts und Hexen
6. Ein Mädchen mit spitzen Schuhen
7. Irgendjemand muss es ja tun
8. Die alte Mutter Malkin
9. Am Flussufer
10. Der arme Billy
11. Die Grube
12. Die Verzweifelten und die Verwirrten
13. Haarige Schweine
14. Der Rat des Spooks
Tagebuch von Thomas J. Ward
Buch 2
Es wurde bereits dunkel, als der Spook kam. Nach einem langen, harten Tag freute ich mich aufs Abendessen.
»Und er ist auch sicher der siebte Sohn?«, fragte der Spook meinen Vater. Er sah auf mich herunter und schüttelte zweifelnd den Kopf.
Vater nickte.
»Und auch du warst der siebte Sohn?«
Wieder nickte Vater und begann, unruhig mit den Füßen zu scharren, wobei er meine Hosen mit braunem Matsch und Mist bespritzte. Vom Zipfel seiner Mütze tropfte der Regen. Es hatte fast den ganzen Monat geregnet. Die Bäume hatten zwar schon neue Blätter, aber das Frühlingswetter ließ auf sich warten.
Mein Vater war ein Bauer, wie es sein Vater vor ihm gewesen war. Und in der Landwirtschaft besagt die erste Regel, dass man Land zusammenhalten muss. Man kann es nicht einfach unter seinen Kindern aufteilen, denn dann würde es mit jeder Generation immer kleiner werden, bis nichts mehr davon übrig wäre. Deshalb hinterlässt ein Vater seinen Bauernhof dem ältesten Sohn und versucht dann, für seine anderen Söhne Arbeit zu finden. Wenn möglich sollten sie ein Handwerk erlernen.
Dabei ist er stark auf das Wohlwollen von anderen angewiesen. Beim Hufschmied in der Nähe bietet sich oft eine gute Möglichkeit, vor allem wenn der Hof sehr groß ist und der Vater dem Schmied im Laufe der Zeit viele Aufträge gegeben hat. Dann stehen die Chancen gut, dass der Schmied ihm eine Lehrstelle anbietet. Aber damit ist erst ein Sohn versorgt.
Ich war der siebte Sohn, und als ich an die Reihe kam, war alles Wohlwollen aufgebraucht. Mein Vater war so verzweifelt, dass er versuchte, den Spook zu überreden, mich als Lehrling anzunehmen. Zumindest glaubte ich das damals. Ich hätte mir allerdings gleich denken können, dass Mama dahinter steckte.
Sie steckte hinter einer Menge Dinge. Lange bevor ich auf die Welt kam, wurde mit ihrem Geld der Hof gekauft. Wie sonst hätte ein siebter Sohn sich so etwas leisten können? Und außerdem kam Mama nicht von hier. Sie kam aus einem fernen Land jenseits des Meeres. Den meisten Leuten fiel es nicht auf, aber wenn man ganz genau hinhörte, merkte man, dass sie manche Wörter etwas anders aussprach.
Aber es war nicht so, als ob man mich jetzt in die Sklaverei verkauft hätte oder so. Ich hatte sowieso die Nase voll von der Landwirtschaft, und das, was man hier als »Stadt« bezeichnete, war kaum mehr als ein Dorf am Ende der Welt und sicher kein Ort, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. In gewisser Hinsicht gefiel mir also die Vorstellung, ein Spook zu sein. Auf jeden Fall war es spannender, als Kühe zu melken und Ställe auszumisten.
Andererseits hatte ich aber auch ein wenig Angst, denn es ist ein gruseliger Job. Ich würde lernen, wie man Bauernhöfe und Dörfer vor Dingen beschützt, die in der Nacht herumpoltern. Mit Ghulen, Boggarts und allen möglichen heimtückischen Bestien fertig zu werden, würde zum Tagesgeschäft gehören. Denn das tat der Spook und ich würde sein Lehrling sein.
»Wie alt ist er?«, fragte der Spook.
»Im August wird er dreizehn.«
»Etwas klein für sein Alter. Kann er lesen und schreiben?«
»Ja«, antwortete Vater. »Er kann beides und außerdem kann er Griechisch. Seine Mutter hat es ihm beigebracht, und er konnte es sprechen, noch bevor er laufen konnte.«
Der Spook nickte und blickte den matschigen Weg entlang über den Zaun zum Bauernhaus, als ob er auf etwas lauschte. Dann zuckte er mit den Schultern.
»Es ist ein hartes Leben für einen Mann, und erst recht für einen kleinen Jungen«, sagte er. »Glaubst du, er wird es schaffen?«
»Er ist stark, und wenn er ausgewachsen ist, wird er so groß werden wie ich«, sagte mein Vater und streckte den Rücken, um sich zu seiner vollen Größe aufzurichten. Danach befand sich sein Scheitel gerade so auf einer Höhe mit dem Kinn des Spooks.
Plötzlich lächelte der Spook. Das war das Letzte, was ich erwartet hatte. Sein Gesicht war groß und wirkte wie aus Stein gemeißelt. Bis dahin hatte ich ihn für etwas streng gehalten. Mit dem langen schwarzen Umhang und der Kapuze sah er aus wie ein Priester, aber wenn er einen direkt ansah, wirkte er eher wie ein Henker, der das Gewicht für den Strick abschätzte.
Das Haar, das vorne aus der Kapuze hervorsah, war so grau wie das seines Bartes, aber die Augenbrauen waren schwarz und buschig. Auch aus seinen Nasenlöchern sprossen eine Menge schwarzer Haare. Seine Augen waren grün, so wie meine.
Und dann fiel mir noch etwas an ihm auf. Dass er einen langen Stab trug, hatte ich zwar schon gesehen, sobald er in Sichtweite kam, aber bis jetzt war mir nicht aufgefallen, dass er ihn in der linken Hand trug.
Sollte das heißen, dass er ein Linkshänder war, so wie ich?
Das hatte mir in der Dorfschule Ärger ohne Ende ein gebracht. Sie hatten sogar den Priester geholt, damit er sich das ansah, und er hatte nur den Kopf geschüttelt und mir geraten, es zu bekämpfen, bevor es zu spät war. Ich wusste nicht, was er damit meinte. Weder meine Brüder noch mein Vater waren Linkshänder. Meine Mutter allerdings schon, aber es störte sie nie. Als der Lehrer drohte, mir meine Linkshändigkeit auszuprügeln und mir den Stift an die rechte Hand band, nahm sie mich von der Schule und unterrichtete mich von diesem Tag an zu Hause.
»Für wie viel nimmst du ihn an?«, unterbrach mein Vater meinen Gedankengang. Jetzt ging es also ums Geschäft.
»Zwei Guineen für einen Probemonat. Wenn er sich geschickt anstellt, komme ich im Herbst wieder und dann schuldest du mir weitere zehn. Wenn nicht, kannst du ihn wiederhaben und dann bekomme ich nur noch eine weitere Guinee für meine Mühe.«
Wieder nickte Vater und das Geschäft war perfekt. Wir gingen in die Scheune und die Guineen wurden bezahlt, aber sie schüttelten sich nicht die Hände. Niemand wollte einen Spook anfassen. Es war schon mutig von meinem Vater, dass er sich bis auf sechs Schritte an einen herantraute.
»Ich habe hier in der Nähe noch zu tun«, sagte der Spook. »Aber morgen früh beim ersten Morgengrauen komme ich den Jungen holen. Sieh zu, dass er fertig ist, ich warte nicht gerne.«
Als er weg war, klopfte mir mein Vater auf die Schulter.
»Für dich beginnt jetzt ein neues Leben«, sagte er. »Geh dich waschen. Mit der Landwirtschaft bist du jetzt fertig.«
Als ich in die Küche kam, hatte mein Bruder Jack seinen Arm um seine Frau Ellie gelegt, die ihn anlächelte.
Ich hab Ellie sehr gern. Sie ist warmherzig und freundlich auf eine Art, die einem das Gefühl gibt, dass sie einen wirklich mag. Mama sagt, es hätte Jack gut getan, Ellie zu heiraten, weil sie ihm half, sich weniger aufzuregen.
Jack ist der Älteste und Größte und wie Vater manchmal scherzt, auch der Hübscheste aus unserer hässlichen Bande. Er ist zwar groß und stark, hat blaue Augen und gesunde rote Backen, aber seine schwarzen, buschigen Augenbrauen sind in der Mitte fast zusammengewachsen, deshalb konnte ich Vater da nie ganz zustimmen. Was ich allerdings niemals bezweifelt habe, ist, dass er sich eine nette, hübsche Frau angelacht hat. Ellie hat Haar von der Farbe erstklassigen Strohs drei Tage nach einer guten Ernte und eine Haut, die im Dunkeln geradezu schimmert.
»Morgen früh gehe ich!«, platzte ich heraus. »Der Spook holt mich im Morgengrauen.«
Ellies Gesicht leuchtete auf. »Du meinst, er hat dich angenommen?«
Ich nickte. »Er gibt mir einen Monat Probezeit.«
»Das ist gut, Tom. Ich freue mich wirklich für dich«, sagte sie.
»Ich glaub es nicht!«, stieß Jack hervor. »Du als Lehrling bei einem Spook! Wie willst du das denn machen, wo du doch bis jetzt nicht mal ohne Kerze schlafen kannst?«
Ich lachte über seinen Scherz, aber eigentlich hatte er Recht. Manchmal sah ich Dinge in der Dunkelheit, und eine Kerze war die einfachste Methode, sie fern zu halten, damit ich etwas Schlaf bekam.
Jack stürzte auf mich zu, nahm mich mit Gebrüll in den Schwitzkasten und zog mich um den Küchentisch. Er hielt das für einen guten Witz, also leistete ich gerade genug Widerstand, um ihm nicht den Spaß zu verderben. Nach ein paar Sekunden ließ er mich los und klopfte mir auf den Rücken.
»Sehr gut, Tom«, fand er. »Mit dem Job verdienst du ein Vermögen. Die Sache hat nur einen Haken …«
»Und welchen?«, wollte ich wissen.
»Du wirst jeden Penny brauchen, den du verdienst. Weißt du, warum?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Weil die einzigen Freunde, die du haben wirst, die sind, die du dir kaufst.«
Ich versuchte zu lächeln, aber hinter Jacks Worten verbarg sich die Wahrheit. Ein Spook arbeitete und lebte allein.
»Oh Jack, sei nicht so gemein!«, schalt Ellie.
»War nur ein Scherz«, erwiderte Jack, als könne er gar nicht verstehen, warum Ellie sich aufregte.
Aber Ellie achtete nicht auf Jack, sondern sah mich an, und ich bemerkte, dass sie auf einmal traurig aussah.
»Oh Tom!«, sagte sie. »Das heißt ja, dass du gar nicht hier sein wirst, wenn das Baby geboren wird …«
Sie sah richtig enttäuscht aus, und auch ich wurde traurig, dass ich meine neue Nichte nicht würde zu Hause begrüßen können. Mama hatte gesagt, dass Ellies Baby ein Mädchen würde, und bei so etwas irrte sie sich nie.
»Ich komme und besuche euch, sobald ich kann«, versicherte ich.
Ellie versuchte zu lächeln, und Jack kam und legte mir den Arm um die Schultern.
»Du wirst immer eine Familie haben«, erklärte er. »Wir sind immer für dich da, wenn du uns brauchst.«
Eine Stunde später setzte ich mich in dem Bewusstsein zum Essen, dass ich am nächsten Morgen fortgehen würde. Wie jeden Abend sprach Vater das Tischgebet und alle außer Mama murmelten: »Amen«. Sie sah nur wie üblich stumm auf ihren Teller und wartete höflich, bis wir fertig waren. Als das Gebet zu Ende war, lächelte sie mich an. Es war ein warmes, spezielles Lächeln, und ich glaube nicht, dass es jemand außer mir bemerkt hatte. Doch danach fühlte ich mich besser.
Im Herd brannte noch immer das Feuer und erfüllte die Küche mit Wärme. In der Mitte unseres großen Holztisches stand ein Kerzenhalter aus Messing, so blank poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Die Kerze war aus Bienenwachs und sehr teuer, aber Mama wollte keine Talgkerzen in der Küche, weil sie so stanken. Die meisten Entscheidungen auf dem Hof traf Vater, aber in gewissen Dingen bekam Mama immer ihren Willen.
Während wir große Portionen dampfenden Eintopfs verdrückten, fiel mir auf, wie alt Vater heute Abend aussah – alt und müde –, und gelegentlich huschte ein Anflug von Traurigkeit über sein Gesicht. Aber als er und Jack anfingen, den Preis von Schweinefleisch zu diskutieren und ob jetzt die richtige Zeit wäre, den Schweinemetzger zu holen oder nicht, hellte sich sein Gesicht wieder etwas auf.
»Lass uns lieber noch einen Monat warten«, meinte Vater. »Der Preis steigt bestimmt noch.«
Jack schüttelte den Kopf, und dann begannen sie, sich zu streiten. Es war ein friedlicher Streit, wie er in Familien häufig vorkommt, und ich konnte sehen, dass Vater Spaß daran hatte. Aber ich beteiligte mich nicht daran. Für mich war das alles vorbei. Wie Vater bereits gesagt hatte, war ich mit der Landwirtschaft fertig.
Mama und Ellie kicherten leise zusammen. Ich versuchte aufzuschnappen, über was sie sprachen, aber mittlerweile war Jack voll in Fahrt und seine Stimme wurde immer lauter. Als Mama zu ihm hinüberblickte, konnte ich sehen, dass sie genug von dem Lärm hatte.
Gegen Mamas Blicke immun und immer noch lautstark ins Gespräch vertieft, langte Jack nach dem Salznäpfchen, stieß es dabei versehentlich um und hinterließ so ein kleines Salzhäufchen auf dem Tisch. Sofort nahm er eine Prise davon und warf sie sich über die linke Schulter. Das ist ein alter Aberglaube auf dem Land. Dadurch wehrt man das Unglück ab, das einem droht, wenn man Salz verschüttet.
»Jack, du brauchst sowieso kein Salz«, schimpfte Mama. »Erstens ruiniert es den guten Eintopf und außerdem ist es eine Beleidigung für die Köchin.«
»Tut mir Leid, Mama«, entschuldigte sich Jack. »Du hast Recht, er ist perfekt, so wie er ist.«
Sie lächelte ihn an und nickte mir dann zu. »Und überhaupt kümmert sich niemand um Tom. Dabei ist es sein letzter Abend zu Hause.«
»Mir geht es gut, Mama«, sagte ich. »Ich bin zufrieden, nur hier zu sitzen und zuzuhören.«
Mama nickte. »Nun, ich habe dir einiges zu sagen. Bleib nach dem Abendessen hier unten in der Küche und wir unterhalten uns ein bisschen.«
Nachdem Jack, Ellie und Vater nach oben ins Bett gegangen waren, setzte ich mich auf den Stuhl am Feuer und wartete geduldig darauf, was Mama mir zu sagen hatte.
Mama machte keine großen Umstände. Zunächst sagte sie nicht viel, außer dass sie mir erklärte, was sie mir alles einpackte: eine Ersatzhose, drei Hemden und zwei Paar gute Socken, die jeweils erst einmal gestopft worden waren.
Ich starrte in die Glut des Feuers und tippte mit den Zehenspitzen auf die Fliesen, während Mama ihren Schaukelstuhl heranzog und sich mir direkt gegenübersetzte. In ihr schwarzes Haar mischten sich ein paar graue Strähnen, aber abgesehen davon sah sie noch genauso aus wie damals, als ich ein kleines Kind war, das ihr kaum bis zu den Knien reichte. Ihre Augen waren immer noch klar und trotz ihrer Blässe wirkte sie sehr gesund.
»Dies wird für lange Zeit das letzte Mal sein, dass wir uns unterhalten können«, begann sie. »Es ist ein großer Schritt, sein Heim zu verlassen und selbstständig zu werden. Wenn du also etwas sagen möchtest oder etwas wissen willst, dann solltest du das jetzt tun oder fragen.«
Mir fiel nicht eine einzige Frage ein. Ehrlich gesagt konnte ich nicht einmal denken. Sie all das sagen zu hören, trieb mir die Tränen in die Augen.
Die Stille dauerte eine Weile. Alles, was man hören konnte, war das Tappen meiner Füße auf den Fliesen. Schließlich seufzte Mama leise. »Was ist los?«, fragte sie. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Hör auf herumzuzappeln, Tom, und konzentriere dich auf das, was ich dir sage«, riet mir Mama. »Zuallererst einmal: Freust du dich auf morgen und dass du eine neue Arbeit anfängst?«
»Ich bin nicht sicher, Mama«, erwiderte ich eingedenk Jacks Bemerkung, dass ich mir Freunde würde kaufen müssen. »Mit einem Spook will niemand etwas zu tun haben. Ich werde keine Freunde haben. Ich werde immer einsam sein.«
»Das wird nicht so schlimm, wie du vielleicht meinst«, sagte Mama. »Du wirst mit deinem Meister sprechen können. Er wird dein Lehrer sein, und er wird bestimmt irgendwann dein Freund werden. Und außerdem wirst du die ganze Zeit beschäftigt sein, denn du wirst viele neue Dinge lernen müssen. Du wirst gar keine Zeit haben, dich einsam zu fühlen. Findest du das nicht auch alles neu und aufregend?«
»Doch, es ist schon aufregend, aber die Arbeit macht mir auch Angst. Ich möchte sie gerne tun, aber ich weiß nicht, ob ich es kann. Ein Teil von mir möchte reisen und fremde Orte sehen, aber es wird schwer sein, nicht mehr hier zu leben. Ich werde euch alle vermissen. Ich werde mein Zuhause vermissen.«
»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte Mama. »Dein Vater wird zu alt, um zu arbeiten, und wird im nächsten Winter den Hof an Jack übergeben. Ellie bekommt bald ihr Baby, wahrscheinlich das erste von vielen weiteren, und schließlich wird kein Platz mehr für dich sein. Nein, du gewöhnst dich lieber an den Gedanken, bevor das passiert. Du kannst nicht mehr nach Hause kommen.«
Ihre Stimme klang kühl und ein wenig scharf, und als sie so mit mir sprach, fuhr mir ein stechender Schmerz in die Brust und den Hals, sodass ich kaum noch atmen konnte.
Eigentlich wollte ich nur noch ins Bett gehen, aber sie hatte eine Menge zu sagen. Ich hatte sie selten so viel auf einmal reden gehört.
»Du hast eine Aufgabe zu erledigen, und das wirst du tun«, sagte sie streng. »Und du musst es nicht nur tun, du musst es gut tun. Ich habe deinen Vater geheiratet, weil er ein siebter Sohn war. Und ich habe ihm sechs Söhne geboren, damit ich dich haben kann. Du bist sieben mal sieben und du hast die Gabe. Dein neuer Meister ist zwar noch stark, aber seine besten Jahre sind vorbei und seine Zeit neigt sich dem Ende zu.
Seit fast sechzig Jahren wandert er im Land umher und tut seine Pflicht. Er tut, was getan werden muss. Bald bist du an der Reihe. Und wenn du es nicht tust, wer dann? Wer wird sich um das gewöhnliche Volk kümmern? Wer schützt es vor Unheil? Wer macht die Höfe, Dörfer und Städte sicher, sodass Frauen und Kinder sich auf den Wegen und Straßen furchtlos bewegen können?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und ich konnte sie nicht ansehen. Ich kämpfte mit den Tränen.
»Ich liebe alle in diesem Haus«, fuhr Mama mit weicherer Stimme fort, »aber im ganzen Land bist du der Einzige, der so ist wie ich. Bis jetzt bist du nur ein Junge, der noch viel wachsen muss, aber du bist der siebte Sohn eines siebten Sohnes. Du hast die Gabe und die Kraft, zu tun, was zu tun ist. Ich weiß, dass ich stolz auf dich sein kann. Nun«, schloss Mama und stand auf, »ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Und nun ab ins Bett. Morgen ist ein großer Tag für dich und du willst doch möglichst ausgeruht sein.«
Sie umarmte mich und lächelte mich herzlich an, und ich versuchte verzweifelt, fröhlich zu sein und zurückzulächeln. Doch als ich in meinem Zimmer war, setzte ich mich auf die Bettkante, starrte vor mich hin und dachte darüber nach, was Mama gesagt hatte.
Mama wird in der Nachbarschaft sehr respektiert. Sie weiß mehr über Pflanzen und Medizin als selbst unser Doktor, und wenn es bei der Geburt eines Kindes Schwierigkeiten gibt, schickt die Hebamme immer lieber nach ihr. Mama ist eine Expertin für Steißgeburten, wie sie es nennt. Manchmal will ein Baby mit den Füßen zuerst geboren werden, aber meine Mama ist sehr gut darin, das Baby zu drehen, solange es noch im Bauch ist. Dutzende von Müttern im Land verdanken ihr das Leben.
Zumindest sagte das mein Vater immer, aber Mama ist viel zu bescheiden und spricht nie über solche Dinge. Sie tut nur einfach, was zu tun ist, und ich wusste, dass sie das auch von mir erwartete. Ich wollte, dass sie stolz auf mich war.
Aber konnte es wirklich sein, dass sie Vater nur deshalb geheiratet und meine Brüder nur deshalb geboren hatte, damit sie mich bekommen konnte? Das erschien mir unmöglich.
Als ich darüber nachgedacht hatte, ging ich zum Fenster an der Nordseite und setzte mich ein paar Minuten in den alten Korbstuhl und starrte ins Dunkle.
Der Mond schien und tauchte alles in silbernes Licht. Über den Hof, die beiden Felder und die nördliche Weide konnte ich bis zum Ende unseres Landgutes sehen, das sich noch halb den Henkershügel hinauf erstreckte. Mir gefiel, dass, so weit man sehen konnte, alles unser Land war.
Jahrelang hatte ich, bevor ich abends ins Bett ging, den Hügel angestarrt und versucht, mir vorzustellen, was auf der anderen Seite lag. Ich wusste, dass es eigentlich nur noch mehr Felder waren und dahinter, etwa zwei Meilen weiter, das, was hier das Dorf genannt wurde – ein halbes Dutzend Häuser, eine kleine Kirche und eine noch kleinere Schule –, aber in meiner Vorstellung beschwor ich andere Dinge herauf. Manchmal stellte ich mir hohe Klippen und den weiten Ozean vor oder auch einen Wald oder eine große Stadt mit hohen Türmen und funkelnden Lichtern.
Aber als ich jetzt aus dem Fenster sah, erinnerte ich mich auch an meine Furcht. Denn aus der Ferne betrachtet, war es ganz schön, aber es war ein Ort, dem ich eigentlich nie nahe kommen wollte. Der Henkershügel trug, wie man sich denken kann, seinen Namen nicht umsonst.
Vor drei Generationen hatte ein Krieg im ganzen Land geherrscht, an dem die Männer unseres Bezirks auch beteiligt waren. Es war die schlimmste Art von Krieg, ein Bürgerkrieg, bei dem Familien auseinander gerissen wurden und sogar Brüder gegeneinander kämpften.
Im letzten Kriegswinter kam es etwa eine Meile weiter nördlich, etwas außerhalb des Dorfes, zu einer großen Schlacht. Als sie endlich vorbei war, hatten die Sieger ihre Gefangenen auf diesen Hügel gebracht und dort an den Bäumen des Nordhanges aufgehängt. Sie hängten auch einige ihrer eigenen Leute für etwas, was sie Feigheit vor dem Feind nannten, aber von dieser Geschichte gab es auch eine andere Version. Man sagte, dass sich diese Männer geweigert hätten, gegen Leute zu kämpfen, die sie als Nachbarn betrachteten.
Selbst Jack arbeitete nicht gerne in der Nähe dieses Grenzzauns und die Hunde trauten sich nicht weiter als ein paar Schritte in den Wald. Und ich konnte nicht einmal auf der Nordweide arbeiten, weil ich Dinge spüren kann, die andere Leute nicht merken. Denn ich konnte sie von dort aus hören. Ich konnte die Stricke knirschen und die Zweige unter ihrem Gewicht ächzen hören. Ich konnte die Toten hören, die auf der anderen Seite des Hügels würgten und erstickten.
Mama sagte, dass wir uns ähnlich waren. Nun, in einer Hinsicht waren wir uns tatsächlich ähnlich: Ich wusste, dass auch sie Dinge sehen konnte, die anderen verborgen blieben.
Eines Winters, als ich noch sehr klein war und alle meine Brüder noch zu Hause lebten, wurden die Geräusche vom Hügel her so laut, dass ich sie sogar in meinem Zimmer hören konnte. Meine Brüder hörten nichts, nur ich, und ich konnte nicht schlafen. Mama kam jedes Mal ins Zimmer, wenn ich rief, obwohl sie schon bei Tagesanbruch aufstehen musste, um ihr Tagwerk zu verrichten.
Schließlich sagte sie, sie würde sich darum kümmern, und eines Abends ging sie allein den Henkershügel zu den Bäumen hinauf. Als sie zurückkam, war alles ruhig, und so blieb es auch für Monate.
In einer Hinsicht waren Mama und ich uns also nicht ähnlich.
Sie war viel mutiger als ich.
Ich war schon eine Stunde vor Tagesanbruch wach, aber Mama war doch noch vor mir in der Küche und machte mein Lieblingsfrühstück, Eier mit Schinken.
Als ich mit dem letzten Rest Brot meinen Teller sauber wischte, kam Vater herunter.
Beim Abschied zog er etwas aus seiner Tasche und drückte es mir in die Hand.
Es war die kleine Zunderbüchse, die seinem Vater und davor seinem Großvater gehört hatte. Es war sein liebstes Stück.
»Ich möchte, dass du sie bekommst, mein Sohn«, sagte er. »Vielleicht nutzt sie dir bei deiner neuen Arbeit. Und komm uns bald besuchen. Nur weil du jetzt von zu Hause weggehst, heißt das noch lange nicht, dass du uns nicht besuchen kannst.«
»Es ist Zeit zu gehen, mein Sohn«, sagte Mama und umarmte mich ein letztes Mal. »Er steht am Tor. Lass ihn nicht warten.«
In unserer Familie macht man nicht viele Umstände, und da wir uns bereits verabschiedet hatten, ging ich allein in den Hof hinaus.
Auf der anderen Seite des Zauns hob sich die Silhouette des Spooks dunkel gegen den grauen Morgenhimmel ab. Er trug die Kapuze über dem Kopf und hielt sich aufrecht, den Stab in der linken Hand.
Mit meinem kleinen Bündel ging ich auf ihn zu. Ich war ziemlich aufgeregt.
Zu meiner Überraschung öffnete der Spook das Tor und betrat den Hof. »Nun, Junge«, sagte er, »folge mir. Wir können am besten gleich den Weg nehmen, den wir gehen müssen.«
Anstatt zur Straße zu gehen, wandte er seine Schritte nach Norden, direkt auf den Henkershügel zu, und bald darauf überquerten wir die Nordweide, wo mein Herz schon heftig zu schlagen begann.
Als wir den Grenzzaun erreichten, sprang der Spook leichtfüßig wie ein junger Mann hinüber, aber ich blieb stocksteif stehen. Wenn ich die Hände auf die oberste Zaunlatte legte, konnte ich schon das Knarren der Bäume vernehmen und wie sich die Zweige unter der Last der Gehenkten bogen.
Der Spook wandte sich zu mir um und fragte: »Was ist los, Junge? Wenn du schon vor den Dingen direkt vor deiner Haustür Angst hast, wirst du mir keine große Hilfe sein.«
Ich holte tief Luft und kletterte über den Zaun. Während wir zwischen den Bäumen bergauf gingen, wurde das Licht des anbrechenden Tages wieder schwächer. Je höher wir stiegen, desto kälter schien es zu werden, und bald begann ich zu zittern. Es war die Art von Kälte, von der man Gänsehaut bekommt und bei der sich einem alle Haare im Nacken aufstellen. Es war eine Warnung, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich hatte das schon früher gespürt, wenn etwas auf mich zukam, das nicht von dieser Welt war.
Als wir den Gipfel des Hügels erreichten, konnte ich sie unter mir sehen. Es mussten mindestens hundert sein, manchmal hingen zwei oder drei am gleichen Baum. Sie trugen die Uniformen von Soldaten mit breiten Gürteln und schweren Stiefeln. Ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden und sie verhielten sich alle unterschiedlich. Manche zappelten heftig, sodass die Zweige über ihnen wippten und zuckten, andere wiederum drehten sich sachte am Ende des Strickes und sahen einmal in diese und einmal in jene Richtung.
Während ich sie betrachtete, spürte ich auf einmal einen kräftigen Wind auf meinem Gesicht, so kalt und stark, dass er keinen natürlichen Ursprung haben konnte. Die Bäume neigten sich tief herab, die Blätter verwelkten und fielen ab. Innerhalb weniger Augenblicke waren alle Zweige kahl. Als der Wind nachließ, legte mir der Spook die Hand auf die Schulter und führte mich näher zu den Gehenkten. Ein paar Schritte vom nächsten entfernt, hielten wir an.
»Sieh ihn an«, forderte mich der Spook auf. »Was siehst du?«
»Einen toten Soldaten«, antwortete ich mit zitternder Stimme.
»Wie alt sieht er aus?«
»Höchstens siebzehn.«
»Gut. Gut gemacht, Junge. Sag mir, hast du immer noch Angst?«
»Etwas schon. Ich bin nicht gerne so dicht bei ihm.«
»Warum? Das ist nichts, wovor du dich fürchten musst. Nichts, was dich verletzen könnte. Denk daran, wie es für ihn gewesen sein muss. Konzentriere dich mehr auf ihn als auf dich. Wie muss er sich gefühlt haben? Was war wohl das Schlimmste für ihn?«
Ich versuchte, mich in den Soldaten hineinzuversetzen und mir vorzustellen, wie es sein musste, so zu sterben. Der Schmerz und das Ringen um Luft mussten furchtbar sein. Aber es gab wohl noch etwas, was schlimmer war …
»Er muss gewusst haben, dass er sterben wird und nie wieder nach Hause gehen kann. Dass er seine Familie nie wiedersehen wird«, erklärte ich dem Spook.
Bei diesen Worten überfiel mich eine Welle der Traurigkeit. Und sowie das geschah, verschwanden die Gehenkten langsam, bis wir allein auf dem Hügel standen und die Blätter wieder an den Bäumen waren.
»Wie fühlst du dich jetzt? Hast du immer noch Angst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin bloß traurig«, sagte ich.