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Spook. Band 2: Der Fluch des Geisterjägers. Die Dunkelheit wird tiefer. Dark Fantasy für unerschrockene Leser ab 12. Nach den ersten Lektionen des grimmigen Geisterjägers John Gregory steht Toms wahre Feuerprobe bevor. Der zweite Band der legendären "Spook's"-Reihe taucht tiefer ein in die unversöhnliche Welt des Kampfes gegen das Böse. Tom findet sich zum ersten Mal allein einem blutrünstigen Boggart gegenüber. Doch diese Gefahr verblasst schnell, denn in den finsteren Gewölben unterhalb der Kathedrale von Priestown lauert der Bane – eine uralte, blutdürstige Kreatur, furchtbarer als jeder Dämon, den Tom bisher kannte. Der Geisterjäger und sein Lehrling müssen sich einem Grauen stellen, das die gesamte Region zu verschlingen droht. Joseph Delaneys Dark Fantasy-Reihe schraubt die Spannung hoch. Mit jedem Band wachsen die Gefahren, werden die Entscheidungen härter und die Konsequenzen tödlicher. Wer nach einer Geschichte sucht, die nicht vor den wahren Schrecken zurückschreckt, findet hier eine packende Fortsetzung. Die Fortsetzung der Kult-Reihe: Der Kampf gegen die Dunkelheit eskaliert. Grusel und Spannung pur: Der Bane erwacht und fordert Tom bis aufs Äußerste. Kompromisslose Dark Fantasy für unerschrockene Leser ab 12 Jahren. Jeder Band ein abgeschlossenes, nervenzerreißendes Abenteuer in einer epischen Saga. Atemberaubende Atmosphäre mit den schaurig-schönen Illustrationen von Patrick Arrasmith. Die "Spook's"-Reihe: Eine fesselnde Dark Fantasy-Saga für alle, die das Böse in seiner reinsten Form erleben wollen. Tauche ein in ein Universum voller alter Legenden und unerbittlicher Gefahren. Bist du bereit, den Schatten zu begegnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
foliant Verlag1. Auflage: 2023
Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel»The Wardstone Chronicles – The Spook’s Curse«bei Random House Children’s Publishers UK, a part of the Penguin Random House group of companies© 2005 Joseph Delaney
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Tanja Ohlsen liegen beim cbj Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
© 2023 foliant Verlag, Hegelstr.12, 74199 UntergruppenbachUmschlagbild: © „Talexi“ Alessandro Taini, 2009Innenillustrationen: © Patrick Arrasmith
Übersetzung: Tanja OhlsenSatz: Kreativstudio foliant
E-Book AusgabeISBN 978-3-910522-22-0auch als Trade-Paperback erhältlich
www.foliantverlag.de
JOSEPH DELANEY (1945 - 2022)
war früher Englischlehrer, bevor er der Bestsellerautor der Spook‘s-Serie wurde, die in dreißig Ländern veröffentlicht und millionenfach verkauft wurde. Er war verheiratet, hat drei Kinder sowie seine Enkelkinder. Sein Haus liegt mitten im Boggartgebiet, und in seinem Dorf gibt es einen Boggart namens Hall Knocker, der unter der Treppe eines Hauses in der Nähe der Kirche zur Ruhe gelegt wurde. Die meisten Orte in den Spook‘s-Büchern basieren auf realen Orten in Lancashire. So auch z.B. das Haus in der Watery Lane. Und die Inspiration für die Geschichten stammt oft aus lokalen Geistergeschichten und Legenden.
Zitat: ‚Niemals aufgeben! Bleiben Sie dran!‘
Gewinner des Lancashire sowie Hampshire Book Award und Gewinner des Prix Plaisirs de Lire
Für Marie
1. Der Reißer von Horshaw
2. Die Geschichte des Spooks
3. Der Bane
4. Priestown
5. Die Beerdigung
6. Ein Pakt mit dem Teufel
7. Flucht und Gefangennahme
8. Bruder Peters Erzählung
9. Die Katakomben
10. Mädchenspucke
11. Die Verhandlung des Spooks
12. Das Silbertor
13. Die Scheiterhaufen
14. Vaters Erzählung
15. Die Silberkette
16. Eine Grube für Alice
17. Die Ankunft des Inquisitors
18. Albtraum auf dem Berg
19. Die Steingräber
20. Mamas Brief
21. Ein Opfer
22. Geschäft ist Geschäft
Tagebuch von Thomas J. Ward
Beim ersten Schrei wandte ich mich ab und hielt mir die Ohren so fest zu, dass mir der Kopf wehtat. In diesem Moment konnte ich nichts tun, um zu helfen. Aber ich konnte immer noch die Schreie des Priesters in Todesqualen hören. Es dauerte lange, bis sie leiser wurden und schließlich ganz verstummten.
Also zitterte ich in der kalten Scheune, während der Regen aufs Dach hämmerte, und versuchte, Mut zu fassen. Es war eine schlimme Nacht und wahrscheinlich würde sie noch schlimmer werden.
Als der Arbeiter mit seinem Gehilfen – beides große Männer, denen ich kaum bis zur Schulter reichte – zehn Minuten später kam, eilte ich ihnen in der Tür entgegen.
»Nun, Junge, wo ist Mr Gregory?«, wollte der Arbeiter leicht ungeduldig wissen. Er hob die Laterne hoch und sah sich misstrauisch um. Er sah gewitzt und intelligent aus und beide Männer machten einen durchaus vernünftigen Eindruck.
»Er war sehr krank«, erwiderte ich und versuchte, meine Nerven zu beruhigen, damit meine Stimme nicht so schwach und wackelig klang. »Er hat die ganze letzte Woche mit hohem Fieber im Bett gelegen, deshalb hat er mich an seiner Stelle geschickt. Ich bin Tom Ward, sein Lehrling.«
Der Arbeiter musterte mich rasch von oben bis unten, wie ein Leichenbestatter, der an seiner zukünftigen Kundschaft Maß nimmt. Dann zog er eine Augenbraue so hoch, dass sie fast unter dem Schirm seiner flachen Kappe verschwand, von der immer noch der Regen tropfte.
»Nun, Mr Ward«, sagte er mit einem Anflug von Spott, »wir erwarten Ihre Anweisungen.«
Ich schob die Hand in die Hosentasche und zog die Skizze hervor, die der Steinmetz gemacht hatte. Der Arbeiter setzte die Lampe auf den Boden und nahm mit einem müden Kopfschütteln und einem Blick auf seinen Gehilfen die Skizze, um sie zu betrachten.
Die Zeichnung des Steinmetzen gab die Größe der Grube vor, die gegraben werden musste, sowie die Größe des Steins, der darübergelegt werden würde.
Nach ein paar Sekunden schüttelte der Arbeiter erneut den Kopf und kniete sich neben die Laterne, um besser lesen zu können. Als er wieder aufstand, runzelte er die Stirn.
»Diese Grube sollte neun Fuß tief sein«, sagte er. »Hier steht nur sechs Fuß.«
Offenbar verstand der Arbeiter sein Handwerk. Das normale Maß für eine Boggart-Grube ist sechs Fuß, aber für einen Reißer, die gefährlichste Form des Boggarts, sind neun Fuß das Standardmaß. Und hier handelte es sich eindeutig um einen Reißer – die Schreie des Priesters machten das nur allzu deutlich –, doch wir hatten nicht genug Zeit, um neun Fuß tief zu graben.
»Es muss ausreichen«, erwiderte ich also. »Die Grube muss morgen früh fertig sein, sonst ist es zu spät und der Priester muss sterben.«
Bis zu diesem Moment waren die beiden Arbeiter große Männer mit schweren Stiefeln gewesen, die Selbstsicherheit aus jeder Pore ausstrahlten. Jetzt sahen sie plötzlich nervös aus. Der Nachricht, die ich ihnen geschickt hatte, als ich sie zur Scheune bestellte, hatten sie entnehmen können, worum es sich handelte. Ich hatte mit dem Namen des Spooks unterschrieben, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich kamen.
»Weißt du, was du tust, Junge?«, fragte der Arbeiter. »Wirst du das schaffen?«
Ich starrte zurück und versuchte verzweifelt, nicht zu blinzeln.
»Nun, ich habe gut angefangen«, sagte ich. »Ich habe den besten Arbeiter im Land und seinen Gehilfen angeheuert.«
Damit hatte ich offensichtlich das Richtige gesagt, denn der Arbeiter begann zu lächeln. »Wann kommt denn der Stein?«, wollte er wissen.
»Lange vor Sonnenaufgang. Der Steinmetz wird ihn persönlich bringen. Dann müssen wir fertig sein.«
Der Arbeiter nickte. »Dann gehen Sie mal voran, Mr Ward. Zeigen Sie uns, wo Sie das Loch haben wollen.«
Diesmal war kein Sarkasmus in seiner Stimme zu hören, sein Tonfall war geschäftsmäßig. Er wollte seine Aufgabe hinter sich bringen. Das wollten wir alle, und da die Zeit knapp war, zog ich mir die Kapuze über den Kopf, nahm den Stab des Spooks in die linke Hand und führte die beiden Männer hinaus in den heftigen, kalten Regen.
Draußen stand ihr zweirädriger Karren mit dem geduldigen Pferd, das zwischen den Deichseln im Regen vor sich hin dampfte. Das Gerüst hatten sie mit einer wasserdichten Plane abgedeckt.
Wir gingen über das schlammige Feld und die Schlehenhecke entlang bis zu der Stelle, an der sie unter den Zweigen einer alten Eiche am Rande des Friedhofs dünner wurde. Die Grube wäre so nahe am geheiligten Boden, aber nicht zu nahe. Die ersten Grabsteine waren nur ein paar Schritte entfernt.
»Grabt die Grube so dicht wie möglich an der Eiche«, befahl ich und wies auf den Baumstamm.
Unter den wachsamen Augen des Spooks hatte ich eine Menge Übungsgruben gegraben. Im Notfall hätte ich das Loch selbst graben können, aber diese Männer waren Fachleute und sie würden mit der Arbeit schnell fertig werden.
Während sie zurückgingen, um ihre Werkzeuge zu holen, zwängte ich mich durch die Hecke und schlängelte mich zwischen den Grabsteinen hindurch zur alten Kirche hinüber. Sie war stark renovierungsbedürftig: Am Dach fehlten mehrere Ziegel und sie hätte schon vor Jahren einen neuen Anstrich nötig gehabt. Ich öffnete die Seitentür, die ächzend und stöhnend aufschwang.
Der alte Priester lag noch in der gleichen Haltung auf dem Rücken in der Nähe des Altars. Neben seinem Kopf kniete die Frau und weinte. Der einzige Unterschied war, dass die Kirche nun lichtdurchflutet war, denn sie hatte den gesamten Vorrat an Kerzen aus der Sakristei geholt und alle angezündet. Es waren mindestens hundert Kerzen, die in Fünfer- und Sechsergrüppchen zusammenstanden. Sie hatte sie auf die Bänke, den Boden und die Fenstersimse gestellt, die meisten aber brannten auf dem Altar.
Als ich die Tür schloss, ging ein Windstoß durch die Kirche und brachte die Kerzenflammen zum Flackern. Die Frau blickte mich mit tränenüberströmtem Gesicht an.
»Er stirbt«, sagte sie mit kummervoller Stimme. »Warum hast du so lange gebraucht?«
Zwei Tage waren vergangen, seit uns die Nachricht in Chipenden erreicht hatte. Nach Horshaw waren es über dreißig Meilen und ich hatte nicht sofort aufbrechen können. Zuerst hatte sich der Spook, der selbst immer noch zu krank war, um das Bett zu verlassen, geweigert, mich gehen zu lassen.
Normalerweise schickt er seine Lehrlinge nicht aus, um einen Auftrag allein zu erledigen, wenn er sie nicht mindestens schon ein Jahr lang ausgebildet hat. Ich war gerade erst dreizehn geworden und noch nicht einmal ganz sechs Monate bei ihm in der Lehre. Es war eine schwierige und auch gruselige Arbeit, bei der man es oft mit dem zu tun bekommt, was wir »die Dunkelheit« nennen. Ich hatte gelernt, wie man mit Hexen, Geistern, Boggarts und Poltergeistern umgeht, aber war ich für diese Aufgabe schon bereit?
Hier musste ein Boggart gebannt werden, was, wenn man es richtig anstellte, eigentlich eine einfache Sache war. Ich hatte dem Spook schon zweimal dabei zugesehen. Er hatte jedes Mal gute Leute angeheuert und die Arbeit war glatt verlaufen. Aber hier lag die Sache etwas anders. Es gab Komplikationen.
Denn dieser Priester war der Bruder des Spooks. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, als wir im Frühling durch Horshaw gekommen waren. Er hatte uns böse angesehen und mit wutverzerrtem Gesicht ein großes Kreuzzeichen gemacht. Der Spook hatte ihn nicht einmal angesehen, denn die beiden mochten sich nicht besonders und hatten seit über vierzig Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Aber Familie war Familie, deshalb hatte er mich letztendlich doch nach Horshaw geschickt.
»Priester!«, hatte der Spook getobt. »Warum machen sie nicht einfach nur das, was sie können? Warum müssen sie sich ständig einmischen? Was hat er sich nur dabei gedacht, einen Reißer anzugreifen? Ich sollte meine Arbeit tun und andere Leute ihre eigene!«
Schließlich hatte er sich beruhigt und mir stundenlang genaue Anweisungen gegeben, was ich tun musste, und mir die Namen und die Anschrift vom Arbeiter und dem Steinmetz gegeben, die ich anheuern sollte. Auch einen Arzt hatte er mir genannt und mir eingeschärft, dass es nur dieser sein konnte. Das war ein weiteres Hindernis gewesen, denn der Arzt wohnte ein ganzes Stück weit weg. Ich hatte ihm eine Nachricht schicken müssen und konnte nur hoffen, dass er gleich aufgebrochen war.
Ich sah die Frau an, die die Stirn des Priesters sehr sanft mit einem Tuch abtupfte. Sein fettiges, strähniges weißes Haar war aus dem Gesicht gestrichen und er verdrehte im Fieber die Augen. Er wusste nicht, dass die Frau nach dem Spook geschickt hatte. Hätte er es gewusst, hätte er sich dagegen gewehrt, also war es wahrscheinlich ganz gut, dass er mich jetzt nicht sehen konnte.
Der Frau strömten die Tränen übers Gesicht und glitzerten im Kerzenlicht. Sie war seine Haushälterin, sie gehörte nicht einmal zur Familie, und ich erinnere mich, dass ich dachte, er müsste wirklich sehr gut zu ihr gewesen sein, dass sie so mit ihm litt.
»Der Arzt wird bald hier sein«, sagte ich. »Er wird ihm etwas gegen seine Schmerzen geben.«
»Sein ganzes Leben lang hat er Schmerzen gehabt«, erwiderte sie. »Und auch ich war stets eine Belastung für ihn. Deshalb hat er solche Angst vor dem Sterben. Er ist ein Sünder, und er weiß, wo er landen wird.«
Was auch immer er getan hatte, das hier hatte der alte Priester auf keinen Fall verdient. So etwas hatte niemand verdient. Er war mit Sicherheit ein sehr tapferer Mann. Entweder das oder sehr dumm. Als der Boggart mit seinen Untaten angefangen hatte, hatte er versucht, selbst gegen ihn vorzugehen, und hatte die Mittel eines Priesters gegen ihn eingesetzt: Glocke, Buch und Kerze. Aber so konnte man mit den Geschöpfen der Dunkelheit nicht fertig werden. In den meisten Fällen wäre das nicht weiter schlimm gewesen, weil der Boggart den Priester und seinen Exorzismus einfach ignoriert hätte. Er wäre schließlich irgendwann von allein verschwunden, und wie so häufig hätte der Priester die Lorbeeren dafür eingeheimst.
Aber dies hier war einer der gefährlichsten Boggarts, mit denen wir es je zu tun bekommen hatten. Wir nennen sie aufgrund ihrer bevorzugten Nahrung normalerweise »Viehreißer«, aber als der Priester sich eingemischt hatte, war er zum Opfer des Boggarts geworden. Jetzt war er ein ausgewachsener »Reißer« mit einer Vorliebe für Menschenblut, und der Priester konnte froh sein, wenn er mit dem Leben davonkam.
Im Fliesenboden war ein Riss, der sich im Zickzack vom Fuß des Altars bis etwa drei Schritte hinter dem Priester entlangwand. An der breitesten Stelle war es eher eine Spalte und etwa eine Hand breit. Nachdem er den Boden gespalten hatte, hatte der Boggart den alten Priester am Fuß ergriffen und bis fast zum Knie unter den Boden gezogen. Jetzt saugte er ihm in der Dunkelheit darunter das Blut aus und damit auch das Leben. Er war wie ein großer dicker Blutegel, der sein Opfer so lange wie möglich am Leben erhielt, um sein eigenes Vergnügen auszukosten.
Egal was ich tat, es war sehr fraglich, ob der Priester überleben würde. Aber der Boggart musste auf jeden Fall gebannt werden. Jetzt wo er menschliches Blut gekostet hatte, würde er sich nicht mehr mit dem Reißen von Vieh begnügen.
»Rette ihn, wenn du kannst«, hatte der Spook gesagt, als ich mich bereit machte zu gehen. »Aber was auch immer du tust, kümmere dich auf jeden Fall um den Boggart. Das ist deine erste Pflicht.«
* * *
Ich begann mit meinen eigenen Vorbereitungen.
Während der Gehilfe die Grube allein fertig grub, ging ich mit dem Arbeiter zurück zur Scheune. Er wusste, was er zu tun hatte. Zuerst schüttete er Wasser in den großen Eimer, den sie mitgebracht hatten. Das war einer der Vorteile, wenn man mit erfahrenen Leuten arbeitete: Sie kümmerten sich um das schwere Gerät. Es war ein stabiler Eimer aus Holz mit Metallreifen, groß genug, das Material für eine Grube von zwölf Fuß fassen zu können.
Nachdem er ihn halb mit Wasser gefüllt hatte, schüttete der Arbeiter aus einem großen Sack, den er vom Karren geholt hatte, ein braunes Pulver hinein. Er ließ immer nur ein bisschen in den Eimer rieseln und rührte dann mit einem großen Stock um.
Bald wurde das richtig mühselig, denn die Mixtur wurde langsam zu einem zähen Brei, der sich immer schwerer umrühren ließ. Außerdem stank er wie etwas, was bereits seit geraumer Zeit tot war, was nicht weiter verwunderlich war, da es sich bei dem braunen Pulver zum größten Teil um Knochenmehl handelte.
Am Ende würde es ein sehr starker Klebstoff werden, und je länger der Arbeiter rührte, desto stärker begann er zu schwitzen und zu keuchen. Der Spook mischte immer seinen eigenen Leim und hatte mich gelehrt, das auch zu tun, doch die Zeit war knapp und der Arbeiter hatte die stärkeren Muskeln für diese Aufgabe. Da ihm das klar war, hatte er sie übernommen, ohne auch nur zu fragen.
Als der Leim fertig war, fügte ich aus den wesentlich kleineren Säcken, die ich mitgebracht hatte, Eisenspäne und Salz zu der Mischung hinzu. Langsam und sorgfältig rührte ich um, damit sich alles gleichmäßig verteilte. Eisen ist für einen Boggart gefährlich, weil es ihm seine Kräfte rauben kann, und Salz verbrennt ihn. Wenn ein Boggart erst einmal in der Grube ist, kann er nicht mehr heraus, weil die Unterseite des Steins sowie Wände und Boden der Grube mit der Mischung bestrichen werden. Dadurch wird er gezwungen, sich klein zu machen und in der Mitte des Raumes zu bleiben. Das Schwierige an der Sache ist natürlich, den Boggart in die Grube zu locken.
Im Moment machte ich mir darum noch keine Sorgen. Schließlich waren der Arbeiter und ich zufrieden. Der Leim war fertig.
* * *
Da die Grube noch nicht fertig war, konnte ich für den Moment nichts weiter tun, als an der schmalen, gewundenen Straße, die nach Horshaw führte, auf den Arzt zu warten.
Der Regen hatte nachgelassen und die Luft schien stillzustehen. Es war spät im September und das Wetter wurde schlechter. Bald würde es mehr als nur Regen geben, und das erste schwache Grummeln von Donner, das plötzlich aus dem Westen ertönte, ließ mich noch unruhiger werden. Nach etwa zwanzig Minuten hörte ich in der Ferne Hufschlag. Der Arzt kam um die Ecke, als ob ihm alle Höllenhunde auf den Fersen wären, in gestrecktem Galopp und mit fliegendem Mantel.
Ich hielt den Stab des Spooks, daher war eine Vorstellung nicht notwendig, und dafür war der Arzt durch den rasenden Ritt auch viel zu sehr außer Atem. Ich nickte ihm nur kurz zu, und während sein dampfendes Pferd begann, das lange Gras vor der Kirche zu fressen, folgte er mir um die Ecke zur Nebentür. Respektvoll hielt ich ihm die Tür auf.
Mein Vater hatte mich gelehrt, allen Menschen Respekt zu erweisen, denn nur so werden sie einen auch respektieren. Ich kannte diesen Arzt nicht, aber da der Spook auf ihm bestanden hatte, musste er gut sein. Er hieß Sherdley und trug eine große schwarze Ledertasche, die fast so schwer aussah wie die des Spooks, die ich mitgebracht hatte und die jetzt in der Scheune stand. Sherdley stellte seine Tasche zwei Meter von seinem Patienten ab und begann – die immer noch schluchzende Haushälterin ignorierend – mit seiner Untersuchung.
Ich stand seitlich hinter ihm, sodass ich sehr gut sehen konnte. Vorsichtig zog er die Soutane des Priesters hoch, um seine Beine zu betrachten.
Das rechte Bein war dünn, weiß und fast haarlos, aber das linke, das der Boggart festhielt, war rot und angeschwollen, und die hervortretenden roten Adern darauf wurden immer dunkler, je näher sie an der Spalte im Boden waren.
Der Arzt schüttelte den Kopf und stieß langsam die Luft aus seinen Lungen. Dann sprach er mit der Haushälterin, so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
»Ich muss es abnehmen«, sagte er, »das ist seine einzige Chance.«
Der Haushälterin liefen erneut Tränen übers Gesicht. Der Arzt blickte mich an und wies zur Tür. Draußen lehnte er sich an die Wand und seufzte.
»Wie lange dauert es noch, bis ihr fertig seid?«, fragte er.
»Nicht länger als eine Stunde, Doktor«, erwiderte ich, »aber das hängt vom Steinmetz ab. Er bringt den Stein selbst.«
»Wenn es viel länger dauert, werden wir ihn verlieren. Um ehrlich zu sein, gebe ich ihm auch so keine guten Chancen. Ich kann ihm nicht einmal etwas gegen seine Schmerzen geben, weil sein Körper keine zwei Dosen davon vertragen würde, und eine muss ich ihm geben, bevor ich operiere. Und selbst so könnte ihn der Schock töten. Dass wir ihn sofort danach bewegen müssen, macht die Sache noch schlimmer.«
Ich zuckte mit den Schultern. Darüber wollte ich nicht einmal nachdenken.
»Weißt du genau, was du zu tun hast?«, fragte der Arzt und blickte mich fest an.
»Mr Gregory hat mir alles ganz genau erklärt«, sagte ich und versuchte, zuversichtlich zu klingen. In Wahrheit hatte der Spook es nicht nur einmal, sondern gleich ein Dutzend Mal erklärt. Dann hatte er es mich ihm immer wieder aufsagen lassen, bis er endlich zufrieden war.
»Vor etwa fünfzehn Jahren hatten wir einen ähnlichen Fall«, sagte der Arzt. »Wir haben getan, was wir konnten, aber der Mann ist trotzdem gestorben, und dabei war er ein junger Bauer, gesund wie ein Metzgerei-Hund und in der Blüte seines Lebens. Wir können nur die Daumen drücken. Manchmal sind die Alten wesentlich zäher, als man denkt.«
Darauf entstand ein längeres Schweigen, das ich durch eine Frage brach, die mir auf der Seele brannte.
»Sie wissen doch, dass ich etwas von seinem Blut brauche.«
»Erzähl deinem Großvater nicht, wie man Eier aufschlägt«, knurrte der Doktor, lächelte mich dann müde an und wies den Weg hinunter nach Horshaw. »Der Steinmetz ist auf dem Weg hierher, also mach dich besser auf den Weg und tu deine Arbeit. Den Rest kannst du mir überlassen.«
Ich lauschte angestrengt und konnte in der Ferne das Geräusch eines Karrens ausmachen, das näher kam, also schlüpfte ich durch die Hecke zurück, um zu sehen, wie die Arbeiter vorankamen.
Die Grube war fertig und sie hatten bereits das Holzgerüst unter dem Baum aufgebaut. Der Gehilfe des Arbeiters war in den Baum geklettert und brachte den Flaschenzug an einem kräftigen Ast an. Das eiserne Gerät war so groß wie ein Männerkopf und mit Ketten und einem großen Haken versehen. Wir brauchten es, um das Gewicht des Steins aufzunehmen und ihn exakt zu platzieren.
»Der Steinmetz ist hier«, sagte ich.
Sofort ließen die Männer alles stehen und folgten mir zur Kirche.
Dort stand jetzt noch ein weiteres Gespann an der Straße und hinten auf dem Wagen lag der Stein. So weit war wohl alles klar, der Steinmetz sah jedoch nicht gerade glücklich aus und vermied es, mir in die Augen zu sehen. Aber um keine Zeit zu verlieren, brachten wir den Wagen um die Ecke zum Tor, das zum Feld führte.
Als wir dicht beim Baum waren, hakte der Steinmetz die Kette in den Ring in der Mitte des Steins ein, damit er vom Wagen gehoben werden konnte. Ob er genau passte, würde sich noch zeigen. Auf jeden Fall hatte der Steinmetz den Ring richtig angebracht, denn der Stein schwebte waagerecht über dem Loch.
Erst als er ungefähr zwei Fuß über dem Rand der Grube hing, rückte der Steinmetz mit der schlechten Nachricht heraus.
Seine jüngste Tochter war sehr krank, sie litt an dem Fieber, das im ganzen Land wütete und auch den Spook ans Bett gefesselt hatte. Seine Frau wachte an ihrem Krankenbett und er musste sofort zurückkehren.
»Es tut mir leid«, sagte er und sah mich zum ersten Mal richtig an. »Aber der Stein ist wirklich gut, damit habt ihr bestimmt keine Probleme, das verspreche ich euch.«
Ich glaubte ihm. Er hatte sein Bestes getan und den Stein in kurzer Zeit fertiggestellt, obwohl er sicher lieber bei seiner Tochter geblieben wäre. Also bezahlte ich ihn und schickte ihn mit dem Dank des Spooks und den besten Wünschen für die Genesung seiner Tochter auf den Heimweg.
Dann wandte ich mich wieder der anstehenden Aufgabe zu. Steinmetze können nicht nur einen passenden Stein hauen, sie sind auch Experten darin, ihn genau zu platzieren, daher wäre es mir lieber gewesen, wenn er geblieben wäre, für den Fall, dass etwas schiefging. Doch immerhin waren der Arbeiter und sein Gehilfe gute Leute. Ich musste nur die Ruhe bewahren und aufpassen, dass mir keine dummen Fehler unterliefen.
Nun musste ich zuerst ganz schnell die Wände der Grube mit dem Leim bestreichen und dann die Unterseite des Steins, bevor er in Position gebracht werden konnte.
Ich stieg in die Grube und begann mit einem Pinsel beim Licht einer Laterne, die der Gehilfe des Arbeiters für mich hielt, mit meiner Arbeit. Ich ging sehr sorgfältig vor, denn ich konnte es mir nicht leisten, auch nur den kleinsten Fleck zu vergessen: Das würde ausreichen, um den Boggart verschwinden zu lassen. Da die Grube nur sechs Fuß tief war anstelle der üblichen neun, musste ich besonders vorsichtig sein.
Die Mixtur verband sich mit der Erde, was gut war, denn dadurch würde sie im Sommer nicht so leicht austrocknen und reißen. Schlecht war nur, dass ich dadurch nicht wusste, wie viel ich auftragen musste, damit die äußere Schicht dick genug war. Der Spook hatte gesagt, das würde die Erfahrung schon zeigen. Bisher war er immer dabei gewesen, um meine Arbeit zu überprüfen und letzte Hand anzulegen. Aber dieses Mal würde ich es allein richtig machen müssen. Zum ersten Mal.
Schließlich kletterte ich aus der Grube und wandte mich dem oberen Rand zu. Die letzten dreißig Zentimeter – so dick war der Stein – waren länger und breiter als die Grube selbst und bildeten einen Rand, auf dem der Stein aufliegen sollte, sodass nicht der kleinste Spalt blieb, durch den der Boggart entwischen konnte. Dabei musste man sehr aufmerksam sein, denn dort verband sich der Stein mit dem Boden.
Dann lief ich zur Scheune zurück, um etwas Wichtiges zu holen. Es war etwas, was der Spook den »Locknapf« nannte. Es war eine Spezialanfertigung aus Metall, mit drei kleinen Löchern in gleichem Abstand knapp unter dem Rand. Ich holte ihn heraus, wischte ihn an meinem Ärmel sauber und rannte dann zur Kirche, um dem Arzt mitzuteilen, dass wir so weit waren.
Als ich die Tür öffnete, schlug mir der Geruch von Pech entgegen und links vom Altar brannte ein kleines Feuer. Darüber blubberte und spritzte es in einem Topf auf einem Dreifuß. Dr. Sherdley wollte mit dem Pech die Blutung stillen. Außerdem konnte das Bein keinen Wundbrand bekommen, wenn man den Stumpf mit Pech verschloss.
Ich musste lächeln, als ich sah, woher der Arzt sich das Brennholz besorgt hatte. Draußen war alles nass, also hatte er das einzig trockene Brennmaterial genommen, das ihm zur Verfügung stand, und eine der Kirchenbänke zu Kleinholz zerhackt. Der Priester würde darüber zweifellos nicht erfreut sein, aber es könnte sein Leben retten. Auf jeden Fall war er jetzt bewusstlos. Er atmete tief ein und aus. In diesem Zustand würde er ein paar Stunden bleiben, bis die Wirkung des Trankes nachließ.
Aus dem Spalt im Boden konnte man hören, wie der Boggart fraß. Mit hässlichem Schlucken und Schmatzen sog er immer noch das Blut aus dem Bein. Er war viel zu beschäftigt, um zu bemerken, dass wir ihm sehr nahe waren und seiner Mahlzeit bald ein Ende bereiten würden.
Wir sprachen nicht, ich nickte dem Arzt nur zu und er nickte zurück. Ich reichte ihm die tiefe Metallschüssel, mit der er das Blut auffangen sollte, das ich brauchte, und er nahm eine kleine Metallsäge aus seiner Tasche und legte die kalten, blinkenden Zähne an den Knochen kurz unter dem Knie des Priesters.
Die Haushälterin verharrte immer noch in der gleichen Haltung, aber sie hatte die Augen fest geschlossen und murmelte irgendetwas vor sich hin. Wahrscheinlich betete sie, und es war klar, dass sie keine große Hilfe sein würde. Also kniete ich mich schaudernd neben den Arzt.
Er schüttelte den Kopf. »Das hier musst du dir nicht ansehen«, sagte er. »Wahrscheinlich wirst du irgendwann Schlimmeres sehen, aber das muss nicht jetzt sein. Geh schon, Junge, kümmere dich um deine eigene Aufgabe. Ich schaffe das hier schon. Schick mir nur die anderen beiden, damit sie mir helfen, ihn auf den Wagen zu legen, wenn ich fertig bin.«
Ich hatte die Zähne zusammengebissen, um mich zu wappnen, aber so etwas musste er mir nicht zweimal sagen. Erleichtert lief ich zur Grube zurück. Noch bevor ich sie erreichte, durchschnitt ein gellender Schrei die Nacht, gefolgt von gequältem Weinen. Aber das war nicht der Priester, denn der war bewusstlos. Es war die Haushälterin.
Der Arbeiter und sein Gehilfe hatten den Stein bereits wieder angehoben und wischten den Schmutz ab. Während sie zur Kirche zurückgingen, um dem Arzt zu helfen, tauchte ich den Pinsel in den Rest der Mixtur und verhalf der Unterseite des Steins zu einem kräftigen Anstrich.
Ich hatte kaum Zeit, mein Werk zu bewundern, bevor der Gehilfe zurückgerannt kam. Hinter ihm folgte etwas langsamer der Arbeiter. Er trug die Schüssel mit Blut und passte sorgsam auf, nicht einen einzigen Tropfen davon zu verschütten. Der Locknapf war für uns ein wichtiges Werkzeug. Der Spook hatte einen ganzen Vorrat davon in Chipenden und sie wurden speziell nach seinen Wünschen angefertigt.
Aus der Tasche des Spooks nahm ich eine lange Kette. An einem großen Ring am Ende waren drei kürzere Ketten befestigt, die jeweils in einem kleinen Metallhaken endeten. Diese drei Haken befestigte ich in den drei Löchern am Rand der Schüssel.
Als ich die Kette hochnahm, hing die Schüssel gerade darunter, sodass wir sie ohne große Mühe in die Grube senken und sie sanft in der Mitte absetzen konnten.
Das eigentlich Schwierige dabei war, die drei Haken zu entfernen. Dabei musste man sehr vorsichtig sein, damit sie sich aus den Löchern lösten, ohne dass die Schüssel dabei umkippte und das Blut auslief.
Das hatte ich stundenlang geübt, und obwohl ich sehr nervös war, schaffte ich es schon beim ersten Versuch, die Kette einzuholen.
Jetzt hieß es nur noch abwarten.
* * *
Wie ich bereits erwähnte, sind Boggarts so gefährlich, weil sie sich von Blut ernähren. Normalerweise sind sie ziemlich schlau und geschickt, aber wenn sie fressen, denken sie sehr langsam und brauchen eine Weile, um Dinge zu verstehen.
Das amputierte Bein steckte immer noch in dem Spalt im Kirchenboden, und der Boggart saugte eifrig das Blut daraus, aber sehr langsam, damit er möglichst lange etwas davon hatte. So sind die Reißer, sie saugen und schlürfen und denken an nichts anderes, bis sie plötzlich feststellen, dass sie immer weniger Blut bekommen. Sie wollen mehr davon, aber jedes Blut schmeckt anders, und sie wollen genau das, was sie zuletzt gesaugt haben, denn das mögen sie besonders.
Der Boggart würde also mehr von dem Blut des Priesters haben wollen, und wenn er bemerkte, dass der Körper vom Bein getrennt wurde, würde er ihm folgen. Deshalb hatten die Arbeiter den Priester auf den Wagen legen müssen. Mittlerweile musste er schon am Rand von Horshaw sein, und jedes Klipp-Klapp der Pferdehufe entfernte ihn weiter von dem wütenden Boggart, der nach seinem Blut lechzte.
Ein Reißer war wie ein Bluthund und dieser hier hatte eine ziemlich gute Vorstellung von der Richtung, in die der Priester verschwunden war. Er würde auch merken, dass er sich immer weiter entfernte. Und dann würde er noch etwas wahrnehmen, nämlich dass sich mehr von dem, was er wollte, ganz in der Nähe befand.
Dafür hatte ich die Schüssel in die Grube gestellt. Deshalb nannte man sie auch Locknapf. Es war das Mittel, um den Boggart in die Falle zu locken. War er einmal in der Grube und fraß, mussten wir schnell sein und konnten uns keinen einzigen Fehler leisten.
Ich blickte auf. Der Gehilfe stand am Gerüst, die eine Hand an der kurzen Kette, bereit, den Stein herunterzulassen, während der Arbeiter mir gegenüberstand, die Hand am Stein, um ihn genau zu lenken, wenn er sich senkte. Sie sahen beide kein bisschen ängstlich aus, nicht einmal nervös, und es war ein gutes Gefühl, mit solchen Leuten zusammenzuarbeiten. Leute wie sie wussten, was sie taten. Wir hatten alle unseren Teil beigetragen, hatten getan, was zu tun war, und das so schnell und so gut wie möglich. Ich war zuversichtlich. Ich hatte das Gefühl dazuzugehören.
Ruhig warteten wir auf den Boggart.
* * *
Ein paar Minuten später hörte ich ihn kommen. Zunächst klang es, als ob der Wind durch die Bäume rauschte.
Aber es war kein Wind. Kein Lüftchen regte sich, und in einem schmalen Streifen Sternenhimmel zwischen dem Horizont und dem Rand der Gewitterwolken war die Mondsichel zu sehen, die das Licht der Laternen ergänzte.
Der Arbeiter und sein Gehilfe konnten natürlich nichts hören, da sie nicht die siebten Söhne eines siebten Sohnes waren, so wie ich. Also musste ich sie warnen.
»Er kommt. Ich sage euch, wenn er hier ist.«
Mittlerweile waren die Geräusche seines Näherkommens lauter geworden, es war fast wie ein Schreien, und ich konnte noch etwas anderes hören, ein tiefes, dröhnendes Grollen. Es näherte sich schnell über den Friedhof und bewegte sich geradewegs auf die Schüssel mit dem Blut in der Grube zu.
Anders als ein normaler Boggart ist ein Reißer mehr wie ein Geist, besonders wenn er gerade gefressen hat. Selbst dann können ihn die meisten Menschen nicht sehen, aber sie können ihn auf jeden Fall spüren, wenn er sich in ihrem Fleisch verbeißt.
Selbst ich konnte nicht viel sehen – nur eine rosafarbene, formlose Gestalt. Dann spürte ich einen Luftzug im Gesicht und der Reißer tauchte in die Grube ab.
»Jetzt!«, sagte ich zum Arbeiter, der daraufhin seinem Gehilfen zunickte. Der fasste die kurze Kette fester, doch noch bevor er daran zog, ertönte aus der Grube ein Geräusch, so laut, dass wir es alle hören konnten. Ich warf einen kurzen Blick auf meine Begleiter und sah, dass sich ihre Augen vor Furcht vor dem, was da unter uns vor sich ging, weiteten und sie die Zähne zusammenbissen.
Das Geräusch kam von dem fressenden Boggart. Es hörte sich an wie das durstige Schlabbern einer riesigen Zunge, vermischt mit gierigem Schnaufen und dem Knurren eines großen Raubtiers. Uns blieb kaum mehr als eine Minute, bis er die Schale ausgeleert hatte. Dann würde er unser Blut riechen. Er war jetzt aggressiv und wir alle standen auf seinem Speiseplan.
Der Gehilfe lockerte langsam die Kette und der große Stein senkte sich gleichmäßig herab. An einem Ende brachte ich ihn in die richtige Position und am anderen Ende der Arbeiter. Wenn sie die Grube exakt ausgehoben hatten und der Stein genau die Größe hatte, die auf der Zeichnung angegeben gewesen war, dann sollte es eigentlich kein Problem geben. Aber ich musste immer an den letzten Lehrling des Spooks denken, den armen Billy Bradley, der dabei gestorben war, als er versuchte, einen Boggart wie diesen zu bannen. Der Stein hatte sich verkantet und er hatte seine Finger unter dem Rand eingeklemmt. Bevor sie ihn aus dieser Falle befreien konnten, hatte der Boggart seine Finger abgebissen und sein Blut ausgesaugt. Er war kurz darauf an dem Schock gestorben. Sosehr ich auch versuchte, es zu verdrängen, ich musste die ganze Zeit an ihn denken.
Das Wichtigste war, den Stein gleich beim ersten Mal an die richtige Stelle zu setzen – natürlich ohne mir dabei die Finger einzuklemmen.
Der Arbeiter überwachte die Arbeit, was normalerweise der Steinmetz getan hätte. Auf sein Kommando hielt der Gehilfe die Kette fest, als der Stein nur noch ein paar Millimeter über dem Rand schwebte. Dann blickte er mich mit sehr ernstem Gesicht an und zog eine Augenbraue hoch. Ich blickte hinab und bewegte mein Ende des Steins ein klein wenig, sodass er genau am richtigen Platz zu sein schien. Ich überprüfte seine Position noch einmal und nickte dem Arbeiter dann zu, der seinem Gehilfen ein Zeichen gab.
Die Kette musste nur noch ein paar Zentimeter weiter gelockert werden, dann glitt der Stein auf Anhieb in Position und schloss den Boggart in der Grube ein. Der Reißer stieß einen Wutschrei aus, den wir alle deutlich hören konnten. Aber das machte nichts, weil er gefangen war und man keine Angst mehr vor ihm zu haben brauchte.
»Gute Arbeit!«, rief der Gehilfe, sprang vom Gerüst und grinste bis über beide Ohren. »Passt perfekt!«
»Jo«, witzelte der Arbeiter trocken, »als ob er dafür angefertigt worden wär.«
Ich war ungeheuer erleichtert und froh, dass alles vor-bei war. Als dann der Donner grollte und ein Blitz direkt über uns den Stein beleuchtete, sah ich erst, was der Steinmetz hineingemeißelt hatte, und war auf einmal ungeheuer stolz.
Der große griechische Buchstabe Beta mit einem diagonalen Strich bedeutete, dass unter diesem Stein ein Boggart lag. Die römische Zahl eins rechts darunter besagte, dass es sich um einen bösartigen Boggart der ersten Kategorie handelte. Es gab zehn Kategorien und die Boggarts der Klassen I bis IV konnten einen Menschen töten. Und darunter verkündete mein eigener Name, Ward, dass ich es gewesen war, der die Gefahr gebannt hatte.
Ich hatte meinen ersten Boggart gebannt! Und noch dazu einen Reißer!
Als ich zwei Tage später nach Chipenden zurückkehrte, musste ich dem Spook alles erzählen, was geschehen war. Danach ließ er mich es noch einmal von vorn erzählen, kratzte sich dann seinen Bart und seufzte tief auf.
»Was hat der Arzt denn zu meinem dummen Bruder gesagt?«, wollte er wissen. »Glaubt er, dass er wieder gesund wird?«
»Er schien das Schlimmste überstanden zu haben, aber es war noch zu früh, um Genaues zu sagen.«
Der Spook nickte bedächtig. »Nun, Junge, das hast du gut gemacht«, sagte er. »Mir fällt nichts ein, was du hättest besser machen können. Also nimm dir den Rest des Tages frei. Aber lass dir das nicht zu Kopf steigen. Morgen kehren wir zum üblichen Tagesablauf zurück. Nach der ganzen Aufregung musst du erst mal wieder in einen normalen Rhythmus kommen.«
Am nächsten Tag ließ er mich doppelt so hart arbeiten wie normalerweise. Der Unterricht begann kurz nach Sonnenaufgang und beinhaltete das, was er »praktische Übungen« nannte. Obwohl ich jetzt selbst einen Boggart gebannt hatte, war ich noch lange nicht davon befreit, Übungsgruben zu graben.
»Muss ich wirklich noch eine Boggart-Grube schaufeln?«, fragte ich müde.
Der Spook warf mir einen vernichtenden Blick zu, sodass ich die Augen niederschlug und mich ziemlich ungemütlich fühlte.
»Glaubst du etwa, dass du das jetzt nicht mehr nötig hast, Junge?«, fragte er. »Nun, das hast du, also werde nur nicht selbstgefällig. Du musst immer noch eine Menge lernen. Du hast vielleicht deinen ersten Boggart gebannt, aber du hattest gute Leute, die dir geholfen haben. Vielleicht musst du eines Tages die Grube selbst graben, und zwar schnell, um ein Leben zu retten.«
Nachdem ich die Grube ausgehoben und mit Salz und Eisen bestrichen hatte, musste ich üben, den Locknapf in die Grube zu senken, ohne einen Tropfen Blut zu verschütten. Da es ja nur Teil meiner Übungen war, benutzten wir natürlich kein echtes Blut, sondern Wasser, aber der Spook nahm die Sache sehr ernst und wurde normalerweise sehr ärgerlich, wenn ich es nicht auf Anhieb schaffte. Aber diesmal hatte er keine Gelegenheit dazu. Ich hatte es in Horshaw geschafft und war bei der Übung genauso gut, und zwar gleich zehnmal hintereinander. Trotzdem lobte mich der Spook mit keinem Wort, was mich ein wenig kränkte.
Dann kamen wir zu einer Übung, die mir wirklich gefiel: der Umgang mit der Silberkette des Spooks. Im Westgarten stand ein zwei Meter hoher Pfosten, über den ich die Kette werfen sollte. Der Spook ließ mich aus unterschiedlichen Entfernungen werfen, und ich musste über eine Stunde lang üben und mir vorstellen, dass ich einmal einer echten Hexe gegenüberstehen könnte, und wenn ich dann nicht traf, würde ich keine zweite Chance bekommen. Die Kette benutzte man auf eine ganz besondere Art und Weise. Man rollte sie über der linken Hand auf und schleuderte sie aus dem Handgelenk, sodass sie wie eine Spirale über den Pfosten niederfiel und sich fest um ihn schloss. Aus einer Entfernung von acht Fuß traf ich mittlerweile neun von zehn Mal, aber wie üblich war der Spook mit seinem Lob recht sparsam.
»Nicht schlecht, denke ich«, sagte er. »Aber bilde dir nichts darauf ein. Eine richtige Hexe tut dir nicht den Gefallen, still zu stehen, wenn du wirfst. Am Ende des Jahres will ich zehn Treffer bei zehn Versuchen sehen und nicht weniger.«
Darüber ärgerte ich mich sehr. Ich hatte hart gearbeitet und war viel besser geworden. Und darüber hinaus hatte ich gerade meinen ersten Boggart gebannt, ohne die Hilfe des Spooks. Ich fragte mich, ob er in seiner Lehrzeit besser gewesen war.
Am Nachmittag durfte ich in der Bibliothek des Spooks allein arbeiten und mir Notizen machen, aber er ließ mich nur bestimmte Bücher lesen. Damit nahm er es sehr genau. Da ich im ersten Lehrjahr war, waren Boggarts mein Hauptfach. Aber manchmal, wenn der Spook etwas zu tun hatte, konnte ich nicht widerstehen, mir auch einige der anderen Bücher anzusehen.
Nachdem ich also genug über Boggarts gelesen hatte, ging ich zu den drei langen Regalen am Fenster und nahm eines der großen ledergebundenen Notizbücher aus dem obersten Regal. Es waren Tagebücher, die Spooks zum Teil schon vor Hunderten von Jahren geschrieben hatten. Jedes davon umfasste einen Zeitraum von etwa fünf Jahren.
Diesmal wusste ich genau, wonach ich suchte. Ich nahm eines der frühesten Tagebücher des Spooks, denn ich war neugierig, wie er als junger Mann wohl mit seiner Arbeit fertig geworden war und ob er besser gewesen war als ich. Er war allerdings Priester gewesen, bevor er mit der Lehre als Spook angefangen hatte, und war daher schon recht alt gewesen für einen Lehrling.
Ich schlug das Buch irgendwo auf und begann zu lesen. Natürlich erkannte ich seine Handschrift, aber wenn ein Fremder so einen Ausschnitt zum ersten Male lesen würde, würde er kaum darauf kommen, dass der Spook es geschrieben hatte. Wenn er spricht, dann in der Sprache des Landes, geradlinig und ohne das, was mein Vater als »Arroganz und Einbildung« bezeichnen würde. Aber er schreibt ganz anders. Es scheint, als hätten all die Bücher, die er gelesen hat, seine Sprache verändert, während ich meist so schreibe, wie ich rede: Wenn mein Vater jemals meine Aufzeichnungen lesen würde, wäre er stolz auf mich und wüsste, dass ich immer noch sein Sohn bin.