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Du kannst sie nicht sehen. Aber sie sehen dich. Mina hat sich verfahren und dann bleibt auch noch ihr Auto stehen. Weil sie keine andere Wahl hat, wagt sie sich ins Dunkel des nahegelegenen Waldes. Plötzlich hört sie eine Frau rufen. Sie winkt Mina zu sich, ins Innere eines seltsamen Gebäudes. Als die Tür hinter ihr zuschlägt, findet sich Mina mit drei Fremden in einem Raum mit einer Glaswand wieder … Bei Einbruch der Nacht schaltet sich das Licht ein und draußen tauchen die Watchers auf. Was sind das für Kreaturen? Warum halten sie Menschen gefangen und überwachen sie? Und was passiert mit denen, die sie außerhalb des Bunkers fangen?
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Englischen von Helga Köller
Impressum
Die australische Originalausgabe The Watchers
erschien 2021 im Verlag Head of Zeus Ltd.
Copyright © 2021 by A. M. Shine
Diese erste deutsche Übersetzung von The Watchers erscheint mit Erlaubnis von Bloomsbury Publishing Plc.
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Laetwina/99design
Lektorat: Jörn Rauser
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-153-0
www.Festa-Verlag.de
Prolog
John
Auch an den hellsten Tagen wirkte der Wald finster. Es schien, als verbargen die uralten Bäume ein schreckliches Geheimnis vor der Sonne, verwoben deshalb ihre Äste ineinander und breiteten einen schwarzen Schleier unter dem Himmel aus. Stellenweise brach das Licht in dünnen, dunstigen Säulen hindurch, aber es reichte nicht aus, um Wärme zu spenden. Irgendein Licht war immer noch besser gewesen als gar kein Licht, denn es sagte John alles, was er wissen musste: dass es noch Hoffnung gab. Er hatte allen Grund weiterzulaufen. Schließlich befand er sich an einem unnatürlichen Ort, an dem sich die Schatten nie lichteten – als hielte jemand einem eine graue Linse vor die Augen. Er sehnte sich nach Farbe und Licht, um sich einen Weg bahnen zu können, doch zwischen den Bäumen gab es nichts davon. Stunden waren in dieser nicht enden wollenden, lautlosen Vorhölle vergangen, in der nichts als Johns panische Atmung die Stille durchbrach. Dennoch war kein Ende in Sicht. Und die goldenen Lichtfäden begannen allmählich zu verblassen.
Die Behausung hatte er bei Tagesanbruch verlassen, da waren die ersten Risse in dem schwarzen Himmel zu sehen gewesen. Zuvor hatte sich John zwei volle Tage ausgeruht, um wieder zu Kräften und auf die Beine zu kommen und alles zu retten, was ihm vom Leben geblieben war. So viele gescheiterte Versuche lagen hinter ihm. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er nahe dran war. Ihm fehlten nur noch ein paar Meter. Er hatte einen Kompass in die Erde gezeichnet und an den wenigen blauen Flecken am Himmel so gut es ging abgelesen, wo Norden war. Anschließend war er im Uhrzeigersinn vorgegangen, um alle Richtungen zu überprüfen und einen Ausweg aus dem Wald zu finden. Aber er konnte immer nur so weit laufen, dass er vor Einbruch der Dämmerung zurück war. Und nie war es weit genug. John folgte den Spuren, die er auf dem Hinweg hinterlassen hatte, um wieder in die Arme seiner Frau zurückzufinden, manchmal geschah dies aber erst wenige Minuten vor der Dämmerung – und es wurde jeden Tag später.
Früher hatte er seiner Frau oft Geschenke mitgebracht. Ciara hatte schon immer eine Schwäche für Überraschungen gehabt, gleichgültig wie albern, billig oder kindisch sie auch sein mochten. Da gab es zum Beispiel die Plüschtiere, die er an der Tankstellenkasse gekauft hatte. Sie saßen jetzt auf dem Bett in ihrem Gästezimmer, die Glasaugen zum Fenster gerichtet, weil Ciara die Vorstellung hatte, sie würden die Aussicht genießen. Es gab aber auch Pralinen und Blumen, sogar ein Körbchen praller Erdbeeren, die er am Straßenrand gekauft hatte – immer wenn John glaubte, dass etwas seine Frau zum Lächeln bringen könnte, dann gehörte es schon fast ihr.
Und nun kehrte er nur noch erschöpft, entmutigt und jedes Mal mit leeren Händen zu ihr zurück. Er konnte ihr nicht einmal falsche Hoffnungen machen, ohne sich der Schuld bewusst zu sein, sie belogen zu haben. Denn sie würden niemals nach Hause kommen. Es gab einfach keinen Ausweg. Und er brachte es nicht übers Herz, ihr das offen zu sagen.
Die Schuld an allem gab John sich selbst. Ciara wusste nichts davon. Er glaubte einfach nicht, es erwähnen zu müssen, denn ganz gewiss war nur er allein schuld, und er hatte kaum die Kraft, ein Wort darüber zu sagen, geschweige denn das Offensichtliche auszusprechen. Schließlich hatte er sie zu dem Ausflug gedrängt, obwohl er doch wusste, dass sie es vorgezogen hätte, zu Hause zu faulenzen, wie sie es an den Sonntagen liebte, ohne einen Schritt vor die Tür zu machen. Es war, als bestünde an diesem einen Tag die Welt ausschließlich aus ihrem neuen Haus. Sie war wie ein Kind mit einem Puppenhaus voller Träume, das immer noch nicht glauben kann, dass es ganz allein ihm gehört. So gab es keinen einzigen Stuhl und keine einzige Lampe, die sie nicht angehimmelt hatte. Das Haus war alles, was sie sich je gewünscht hatte – und doch nur eine weitere Sache, die sie verlieren musste.
Ihre letzte warme Mahlzeit war ein altmodisches, deftiges Frühstück gewesen – Johns einzige Spezialität – mit dicken Scheiben Sauerteigbrot, die krumm wurden, egal wie er sie schnitt. Er erinnerte sich noch genau daran. Das Eigelb war wie immer ausgelaufen. Wenn er mit der Pfanne hantierte, trommelte Ciara jedes Mal mit den Fingern auf den Tisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Herr über die Eier wurde, hatte sich seit ihrem Kennenlernen zwar nicht vergrößert, aber es machte ihre Sonntage doch etwas spannender. Er hätte jeden Bissen genießen sollen, statt das Frühstück wie etwas Gewöhnliches zu behandeln, das immer da sein würde und so normal war wie Sonnenlicht, frische Luft und alle anderen Dinge, die man für selbstverständlich hält. Er hatte am Fenster über der Küchenspüle gestanden und einen Becher übertrieben lange abgewaschen, um zu lauschen, wie er unter dem warmen Wasser quietschte. Das hohe Gras der fernen Felder hatte unter dem sommerlichen Blau wie Wimpern gewirkt, die ihm zuzwinkerten.
In diesem Augenblick kam ihm der Gedanke, einen Ausflug zu unternehmen. John stellte sich vor, dass es ein vollkommen schöner Tag werden würde; ein Tag, dessen gemeinsame Erinnerungen nie verblassen könnten. Wenn er nur gewusst hätte, welches Grauen solche Ideen hervorzubringen vermochten.
Ciara saß in der Ecke der Couch und hatte die flauschigen Socken an den Füßen, die zu ihren Sonntagsklamotten gehörten. Sie lächelte wie immer, wenn er zur Tür hereinschaute, summte vor sich hin und schaltete durch die Kanäle, auf der Suche nach einem Film, der ihm gefallen könnte. Niemals war es um sie gegangen. Wenn sie sich in seinen Arm schmiegte, wusste er nicht, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren. Das war ihr vollkommener Sonntag, und für eine lange Zeit änderte sich daran auch nichts. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als John alles ruinieren musste.
»Komm schon«, sagte er und klatschte in die Hände. »Wir gehen auf Abenteuerreise!«
Sie betrachtete ihn mit aufgerissenem Mund und diesem wunderbar erstaunten Blick, wie sie es immer tat, wenn er sie überraschte. Ciara hielt mit dem Daumen über der Fernbedienung inne und warf einen beinahe betrübten Blick auf den Fernseher. Eigentlich hatte sie keine Lust, und John wusste das ganz genau. Ihr Sonntag hatte zu seinem natürlichen Rhythmus gefunden, und Ciara hatte die kommenden Stunden bereits geplant, so wie ein routinierter Schiffskapitän, der vertraute Gefilde durchkreuzt. Dennoch beschloss sie, mitzuspielen und all seine Wünsche zu erfüllen, solange sie nur zusammen waren.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie und beugte sich vor, wobei sie die Aufregung vortäuschte, die John so begierig aufnahm, als wäre sie echt.
»Connemara«, erwiderte er. »Es ist nicht weit von hier, und seit wir hergezogen sind, haben wir nur die Hauptstraßen befahren. Lass uns weiter vordringen und auf Entdeckungstour gehen. Blauer Himmel, Berge und Schafe!«
»Schafe?«
»Die sind hier wirklich überall«, antwortete er lachend und breitete die Arme aus. »Kilometerweit gibt es nichts anderes als Schafe.«
»Okay, mein Hübscher!« Sie erhob sich von der Couch und stakste mit steifen Beinen zu ihm hinüber. »Ich fahre, wohin du willst.« Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Außerdem hattest du mich schon gewonnen, als du ›Schafe‹ gesagt hast.«
»Da draußen gibt es nur … ein Schaf neben dem anderen«, antwortete er grinsend und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du kannst dir eins aussuchen, das packen wir dann hinten in den Wagen.«
Das war der Moment, in dem er seine Frau noch in einem Haus in den Armen gehalten hatte und nicht in einem Gefängnis aus Glas und Beton; das war der Moment, in dem er sie hätte retten können. John wünschte sich, Ciara ein wenig länger gehalten zu haben. Wenn er sie doch nur gefragt hätte, was sie wirklich tun wollte, auch wenn er es längst gewusst hatte. Wahrscheinlich hatte sie schon ein halbes Dutzend Filme für ihn ausgesucht. Mit ihrer tiefen, theatralisch klingenden Stimme würde Ciara die Beschreibung vorlesen und er würde den jeweiligen Gewinner bestimmen. Vielleicht wäre ein besserer Ehemann nicht so egoistisch gewesen. In seinen Ohren klang ein Tag auf der Couch inzwischen geradezu himmlisch.
John blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rang nach Luft, die wie Schimmel in seine Lunge drang. Die Jahreszeiten hatten keinen Einfluss auf das Waldgebiet. Eine ewige Kälte war dort gefangen und stieg als Nebel aus den tieferen Schächten auf. Es war ein Friedhof aus Bäumen mit schwarzer, weicher Erde, die auch an trockenen Tagen feucht und mit einer albtraumhaften Aura aus Tod und Fäulnis versehen war. Die Stille wirkte zermürbend. Johns unbeholfene Schritte wurden von allen Seiten nachgeahmt, ihr schwindelerregendes Echo führte seine Sinne in die Irre. Unbedingt musste er den Kurs beibehalten. Schließlich hing Ciaras Leben davon ab, dass er nicht vom Weg abkam.
Die finsteren Tiefen des Waldes machten einen urwüchsigen und trügerischen Eindruck. Wie in einem Spiegellabyrinth traktierten sie Johns Augen und verleiteten ihn, an sich zu zweifeln. Zu oft hatte er schon innegehalten, um den gerade zurückgelegten Weg mit dem vor ihm liegenden zu vergleichen, ohne dabei einen Unterschied festzustellen. Vor seinem geistigen Auge kreiste eine Krähe über dem Wald – als würde irgendein Tier das wagen – und beobachtete ihn, John, während er immer wieder denselben übermächtigen Teil der Hölle umrundete wie eine Ratte in einem Laufrad.
Er konnte sich nicht erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen waren, als das Auto schließlich am Waldrand liegen blieb. Sie waren durch so viele Serpentinen gekurvt, dass er mit jedem weiteren Kilometer die Orientierung verloren hatte. Er hätte die Landkarte aufschlagen sollen, wie Ciara gesagt hatte. Er hätte überhaupt viele Dinge anders machen sollen.
»Aber es ist doch kein Abenteuer, wenn wir ganz genau wissen, wohin wir fahren«, hatte er jedoch erwidert und leicht den Kopf gedreht, um ihr zuzuzwinkern, während sie im Handschuhfach wühlte.
»Okay«, kicherte sie und lehnte sich wie ein Kind im Schulbus zurück, das seinem ersten Tag aufgeregt entgegenblickt. »Keine Karte! Dann solltest du dir aber lieber die Strecke merken, damit wir wieder nach Hause finden, klar?«
»Keine Sorge, ich verspreche, dich in einem Stück heimzubringen.«
John hatte Ciara gegenüber noch nie ein Versprechen gebrochen, und in diesem Augenblick dachte er, dass sich daran auch nichts ändern würde. Sie redeten und lachten die ganze Zeit, bewunderten die sonnenüberflutete Umgebung, folgten den Straßen, die ihnen gefielen, und entschieden sich jedes Mal für die weniger befahrene, auf der das Auto dann wie in einem Sturm hin und her schaukelte. Die steinigen Berge waren von Lichtflecken marmoriert und selbst die eintönigste Weide wogte wie ein farbenfrohes Band. Schon bald gab es kilometerweit weder Häuser noch andere Autos oder Schafe zu sehen. Irgendwann machten sich sogar die Vögel rar. Wohin auch immer ihr Abenteuer sie führte, es schien ein toter Ort zu sein, den selbst die Tiere zu meiden wussten.
»Sollten wir vielleicht lieber umkehren?«, fragte Ciara mit einem unterdrückten Gähnen.
»Wir fahren noch ein Stück«, erwiderte er und drückte ihren Oberschenkel. »Irgendwas muss es an der Ziellinie ja geben.«
John hatte so viele Gelegenheiten gehabt, das zu verhindern, was ihnen jetzt bevorstand. Aber wie hätte er es ahnen können? Er war die Fahrt so oft in Gedanken durchgegangen, als spielte sich immer derselbe Film in seinem Kopf ab. John stellte sich vor, dass er auf dem Rücksitz saß und sich selbst anbrüllte, anzuhalten und umzukehren, um seine Frau vor dem zu beschützen, was in dem Wald lauerte. Doch sein früheres Ich konnte ihn nicht hören. Dieser ignorante Mistkerl fuhr einfach immer weiter.
Nachdem der Wagen liegen geblieben war, wollte Ciara warten, bis irgendjemand vorbeikäme. Allerdings hatten sie keine Ahnung, wo sie sich überhaupt befanden, und außerdem war auch der Akku des Handys leer. John hatte an dem Motor herumgefummelt und ihn wie ein versierter Mechaniker unter die Lupe genommen, obwohl er in Wirklichkeit keinen Schimmer davon hatte. Wirklich merkwürdig war aber, dass sogar seine Armbanduhr stehen geblieben war. Hinter ihnen erstreckte sich kilometerweit die verlassene Straße, und es schien fraglich, wie lange sie ohne Nahrung und Wasser durchhalten würden. In den Nächten wurde es ebenso dunkel wie kalt, und Ciara war trotz ihrer Jugend nicht in der Lage, den beschwerlichen Rückweg zu Fuß auf sich zu nehmen. John sah nur eine einzige Möglichkeit, und da sie ihm vertraute, erhob sie keine Einwände. Sie betraten den Wald an einer Stelle, wo die Straße in schwarze Erde und Geröll überging, und traten dort in die Schatten, die den zurückliegenden Weg in einer undurchdringlichen Dunkelheit verschwinden ließen.
In den letzten Monaten hatte er beobachtet, wie Ciara immer schwächer wurde. Kaum öffnete sie einmal die müden Augen und wirkte wie betäubt, als wäre die Luft ein Opiat, das sie abstumpfen ließ und allmählich auslaugte. Es gab zu wenig Nahrung, um alle vier Mäuler zu stopfen, und niemand konnte seinen Durst stillen, weil sie das Wasser miteinander teilen mussten. Ciaras Haut, früher einmal so weich wie weiße Seide, wirkte jetzt trocken und war mit Flecken übersät, die sie nicht wegwischen konnte. Der strapaziöse Kampf ums Überleben ließ sie in einem grausamen, unaufhaltsamen Tempo altern.
Ein klügerer Mann hätte vielleicht gewartet, bis der Winter vorbeiging und die Tage wieder länger und die Nächte kürzer wurden. Aber dieser bitterkalte Dezember hatte sich als tödlich erwiesen. Krankheiten und Verletzungen waren unvermeidlich geworden. So starben sie einen langsamen Tod, und es brach ihm das Herz, dass seine Frau vor seinen Augen dahinvegetierte wie eine Rose ohne Sonnenlicht.
Zwar fürchtete er sich vor dem Gedanken, Ciara mit dieser Frau allein zu lassen. Aber wenigstens wusste sie, wie man überlebte. Den Ballast aus Freundlichkeit und Zuversicht hatte sie längst abgeworfen und schleppte inzwischen ausschließlich das Wesentliche herum. Nur gehörten diese Eigenschaften für Ciara eben zum Leben dazu, und John spürte, dass die Frau sie lediglich als Schwäche betrachtete. Irgendwie brachte Ciara immer noch ein Lächeln zustande, wobei ihre grünen Augen mit oder ohne Tränen funkelten. Wenn sie abends zusammensaßen, schmiegte sie sich in seine Arme, und er streichelte ihr Haar, bis ihre Atmung flacher wurde und sie in einen unruhigen Schlaf fiel. So wie er es sonntags und an all den anderen Tagen immer getan hatte, die sie wie etwas Heiliges hüteten, das sich nie wiederholen sollte.
Der Wald wurde immer noch dunkler, und John zwängte sich nach wie vor durch das Gewirr von Blättern und Ranken. Seine blutverschmierten Handflächen waren aufgerissen. Doch kein Ende kam in Sicht. Die Bäume schienen sich um den ganzen Erdball zu erstrecken und schneller nachzuwachsen, als er ihnen je entfliehen konnte. John wusste zwar, dass Ciara nie so weit gekommen wäre, aber er würde weiterkämpfen und sein Leben für sie geben, wenn das Schicksal ihm dies ermöglichte. Er stolperte weiter und wollte erst aufhören, wenn die Viecher ihn fanden, daran gab es keinen Zweifel. Totes Holz brach unter seinen Füßen wie morsche Knochen, während er nach einem Ausweg suchte, um diesem verfluchten Ort endlich zu entkommen.
John hatte die Wesen noch nicht gesehen. Selbst die Frau aus der Behausung, über die sie zufällig gestolpert waren, hatte nur vage Andeutungen hinsichtlich ihres Aussehens gemacht. Ihre Ahnungslosigkeit schien sie selbst allerdings weniger zu beunruhigen als John. Die Frau begnügte sich offenbar damit, sich über Wasser zu halten, indem sie ein Leben ohne eine Zukunft führte, ohne jeden Bezug zur Gegenwart und der einfachsten Freuden und Annehmlichkeiten beraubt.
Alle anderen hielt sie für Ballast, vor allem den Jungen. Johns Versuch, Hilfe zu finden, hatte sie als Selbstmordkommando abgetan und ihn darauf hingewiesen, dass die Stollen der Wesen über den gesamten Wald verteilt waren und weit darüber hinausreichten. Sobald die Dämmerung hereinbrach, sperrte sie die Tür zu der Behausung ab, denn so lautete die Regel, und auf diese Weise hatte sie bis heute überlebt.
John fiel nach Luft ringend und völlig entkräftet auf die Knie. In seinem Kopf drehte sich alles, bunte Punkte tanzten vor seinen Augen, die im letzten Tageslicht umso heller wirkten, als die Schatten den Wald überfluteten und die unzähligen Wurzeln verbargen, die den Boden wie Fallen säumten. Er verschränkte die Arme fest vor der Brust und versuchte, den Schmerz zu unterdrücken, der sämtliche Nervenfasern und jedes gequälte Organ verzehrte. Niemals würde er hier herausfinden, in der Dunkelheit erst recht nicht. Vor seinem geistigen Auge sah John sie schon um ihre Schächte herumschwärmen und darauf warten, dass der letzte, tödliche Sonnenstrahl vom unsichtbaren Horizont verschwand. Seine Fantasie wurde von den Geräuschen beflügelt, die jede Nacht hinter dem Spiegel hervordrangen, wo die Wesen saßen, um sie aus unerfindlichen Gründen zu beobachten, als wären sie Kinder, die in ein Goldfischglas starren und daran klopfen.
Plötzlich erfüllten ihre Schreie den Wald. Es war zu spät. John hatte sie nie im Freien gehört, weit entfernt von der Behausung, deren Betonhülle sie all die Monate beschützt hatte. Ihre Stimmen klangen so nahe, so ohrenbetäubend, dass John erwartete, jeden Moment überfallen zu werden. Aber wie konnte das sein? Die Behausung lag doch einen ganzen Tagesmarsch hinter ihm. Hatte er sich etwa verlaufen? Ohne Tageslicht und einen die Richtung weisenden Kompass konnte er nicht nachvollziehen, welcher verschlungene Pfad ihn hierhergeführt hatte, wo das Laub von ihren donnernden Leibern bebte, während sie seiner Fährte und den Spuren folgten, die er in dem schwarzen Schlamm hinterlassen hatte.
An den Abenden vor seinem Aufbruch hatte John seine Frau in den Armen gehalten und davon geträumt, sie zu überraschen. Aber nicht mit noch mehr Teddybären, davon quoll das Gästebett längst über. Er hatte sich das gemeinsame Weihnachtsfest in ihrem wunderbaren Haus vorgestellt. Wenn er nur einen Ausweg fände, könnten sie zu ihrer liebsten Jahreszeit zu Hause sein und dieser herzzerreißende, erstaunte Blick würde zurückkehren und sie mochte wieder lachen und sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen. Und dann würde alles wieder genau so sein, wie es einmal gewesen war.
Das waren Johns letzte Gedanken, als sich die Beobachter – die Watcher – um ihn versammelten.
Dezember
1
Mina
Kurz bevor der Motor den Geist aufgab, wurde das Armaturenbrett dunkel. Die roten Kontrollleuchten waren seit dem Einbruch der Dämmerung die einzigen farbigen Flecke gewesen, alles andere lag in einer Mischung aus Schwarz und Weiß unter dem aschfahlen Mondlicht. Die Scheinwerfer hatten weder geflackert noch allmählich nachgelassen, bevor der Wagen mit knirschenden Reifen auf dem gefrorenen Untergrund zum Stehen kam und die Nacht die Straße mit einem einzigen ungeduldigen Happen verschluckte. Danach gab es nichts als diese lichtlose Stille, auf die sich Mina keinen Reim zu machen wusste.
»Das ist deine Schuld«, flüsterte sie dem Papagei auf dem Rücksitz zu, dessen Käfig zwischen zwei Mänteln klemmte; dabei war ihr natürlich klar, dass sie ihm keinen Vorwurf machen konnte.
»Nimm einfach irgendeine Landstraße«, hatte Peter mit dieser heiseren Raucherstimme gesagt, bei deren Klang Mina jedes Mal ans Aufhören dachte. »Die führen alle in die gleiche Richtung, und du brauchst nur ein paar Stunden. Der Vogel wird auch keine Probleme machen. Tim hat mir erzählt, dass er sich nur aufspielt, wenn er hungrig ist.«
Peter hatte in seinem ganzen Leben kein einziges Mal hinter dem Steuer gesessen. Obwohl er seit 50 Jahren tagtäglich wie ein Loch soff, hatte er immer noch nicht genug. Er sah wie ein Mann aus, der schon alles gesehen hatte; wie ein Weiser und Seher mit Geheimnissen, von denen andere nur träumen konnten. Vielleicht vermittelten seine Augen unter den buschigen Augenbrauen diesen Eindruck, oder es war sein grau melierter Bart, der umso heller schimmerte, wenn der Mund mit den dunklen, vergilbten Zähnen von irgendetwas plapperte. Tatsächlich hatte Peter nichts anderes gesehen als den Boden von tausend Pint-Gläsern, und das Trinken hatte ihn furchtbar altern lassen.
Mina hatte vor dem Pub gesessen, bevor die dunklen Wolken von der Bucht hereinzogen und Regen mitbrachten. Die Pfützen breiteten sich bereits wie Geschwüre auf dem unebenen Kopfsteinpflaster der Straße aus. Der Regen störte sie eigentlich nie, und er kam gewiss nicht überraschend, da sie den Himmel wie ein Gesicht lesen konnte und wusste, wann er überquoll, nämlich lange bevor die Tränen fielen. Aber das hier war weit entfernt von der viel gepriesenen goldenen Zeit des Herbstes. Das gekräuselte rostbraune Laub, das den Dichter zu Stift und Papier zog, gehörte der Vergangenheit an, dies hier bedeutete das Ende des Jahres, denn die tristen, laublosen Dezembertage waren längst angebrochen. Und Mina stand das erste Weihnachtsfest ohne ihre Mutter bevor. Nie zuvor hatte sich ein düsterer Himmel so passend angefühlt.
Am liebsten lenkte sie sich ab, indem sie andere Menschen beobachtete, was sie auch an diesem Nachmittag wieder zum Pub geführt hatte. Die Quay Street mochte sie von allen Treffpunkten am liebsten, dort gab es Kaffee und Aschenbecher auf den Tischen, außerdem war immer eine Bedienung in Hörweite, die einem etwas Stärkeres bringen konnte. Den oberen Abschnitt der Straße hatte man mit leuchtenden Wimpeln geschmückt, deren Farben den Feierlichkeiten entsprechend wechselten, immer über Nacht und immer ohne Zeugen. Die malerischen Ladenfronten und Restaurants ließen diesen Teil wie ein Postkartenmotiv wirken, sodass er die Menschen ebenso anzog wie das offene Meer die Möwen. Die Tische und Stühle des Pubs standen hinter Windschutzwänden, die in den Böen auch hin und wieder umkippten, aber sie hielten die Menschen von Mina fern, trennten die Künstlerin von ihren Objekten – die, im Gegensatz zu ihr, wahrscheinlich irgendwelche Orte aufsuchen mussten oder Freunde hatten, die sie treffen wollten. Mina rief sich wieder und wieder ins Gedächtnis, dass sie doch ganz gut allein zurechtkam, und eines Tages würde sie sich das auch sicher glauben.
Inzwischen war der Kaffee kalt geworden und schmeckte ebenso bitter, wie er schwarz aussah. Auf der Suche nach dem perfekten Gesicht ließ Mina den Blick über die gesamte Straße schweifen, während der Stift über dem Papier schwebte wie ein Turmfalke, der darauf wartet zuzuschlagen. Die frische Brise erschwerte ihr Vorhaben, da die Passanten die Köpfe gesenkt hielten und nicht stehen blieben. Bei eisigem Wetter war es noch schlimmer, denn dann wickelten sie sich bis oben hin in dicke Schals, sodass man nur noch die Augen sehen konnte.
Seit Monaten sammelte Mina Fremde, wie sie es nannte. Sie musste nur einen Blick auf ein Gesicht werfen, um seine Feinheiten zu erkennen und es sich einzuprägen. Ihr Skizzenbuch war voller Gesichter, auf jeder einzelnen der vom Regen feucht gewordenen, kaffeefleckigen Seiten prangte eines. Das Buch bestand aus recyceltem Papier, darauf erfand sie mit Leichtigkeit Gesichter, die sie lange genug ablenkten, damit sie ein wenig Ruhe fand.
Da gab es den Obdachlosen mittleren Alters mit dem fröhlichen bärtigen Gesicht und den freundlichen Augen. Seine Stupsnase ließ die behaarten Wangen noch größer erscheinen, was ihm das Aussehen einer streunenden Perserkatze verlieh. Er hatte einen kahlen Kopf und buschige Augenbrauen, deren borstige Haare sich so stark nach oben bogen, dass sie Mina an eine französische Filigranarbeit erinnerten. Wenn sie ihn sah, grüßte er mit Guten Morgen, Guten Tag oder Guten Abend, als würde er ständig die Sonne beobachten. Manchmal warf sie ihm ein paar Münzen zu, manchmal schenkte sie ihm aber auch nur ein Lächeln. Er wirkte gar nicht wie ein Bettler, während er nur so dasaß, als wartete er darauf, dass sich sein Glück wendete oder die Sonne unterging, je nachdem, was zuerst eintrat.
Und dann gab es da noch den älteren Herrn mit dem Oberlippenbart. Seine Züge waren vom Alkohol gezeichnet, als könnte sein Körper ihn nicht abbauen, weshalb sich der Fusel unter der Haut sammelte und auf Nase und Wangen austrat. Seine Augen schwammen förmlich in dem Zeug. Wenn er irgendwann mal starb, würde niemand nach der Todesursache fragen, und die Flecke auf seiner Haut würden verblassen.
Als Nächstes kam die Androidin, wie Mina die Frau genannt hatte. Ihre symmetrischen Gesichtszüge wirkten so markant und makellos und ihre Alabasterhaut so glatt, dass sie nicht echt sein konnte. Jedes Detail schien bewusst hervorgehoben worden zu sein, um ihre Schönheit zu optimieren, als hätte ein Wissenschaftler im weißen Kittel dabei die Finger im Spiel gehabt. Dass sie außergewöhnlich groß war, gab ihrem Aussehen den letzten Schliff wie ein multifunktioneller Roboter mit athletischen Fähigkeiten. Science-Fiction-Autoren hatten gewiss jahrzehntelang von dieser Frau geträumt.
Dreimal hatte Mina sie inzwischen gezeichnet, und ihr Gesicht hatte auf jedem Bild gleich ausgesehen. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so traurig schien oder es so gut verbergen konnte. Es ist nicht leicht, ein Lächeln zu unterdrücken, denn das Glück findet immer einen Weg nach außen, Schwermut hingegen kann wie ein dunkles Geheimnis vergraben werden. Trauer macht sich auch ohne Tränen bemerkbar, und das Gesicht dieser Frau machte einen ganz und gar ausdruckslosen Eindruck. Woher sie auch kommen oder wohin sie gehen mochte, sie schien zwischen einer Vergangenheit und einer Zukunft gefangen zu sein, die ihre Mundwinkel daran hinderten, sich zu heben.
Bei der nächsten Zeichnung hielt Mina inne. Es handelte sich um ein Selbstporträt, das nach einem Glas zu viel entstanden war. Zwischen einem unersättlichen Aschenbecher und zwei Weinflaschen hindurch hatte sie so lange ihr Spiegelbild angestarrt, bis es zurückzulächeln schien. Wirklich ironisch, unter den gegebenen Umständen.
Das war sie, von der eigenen Hand mit so viel Aufrichtigkeit und Verachtung erschaffen, dass es eine Rolle spielte. Am nächsten Morgen hätte Mina die Zeichnung am liebsten herausgerissen, aber vielleicht gehörte sie ja genau dorthin, eine Verlorene inmitten all der fremden Menschen. Weder besser noch anders, nur ein weiteres Gesicht, das nach seiner momentanen Mimik beurteilt wurde, festgehalten in einer freudlosen, erbärmlichen Sekunde, während das Leben an den Rändern ausfranste.
Die Augen wirkten, als bräche Mina gleich in Tränen aus, selbst der Eyeliner konnte das nicht kaschieren, seine schwarze Farbe betonte die Schwermut sogar noch. Mit einem Desinteresse, das an Ablehnung grenzte, starrten sie durch Mina hindurch. Die Lippen wirkten eigenartig, weil sie so lange gelächelt hatte, bis es unangenehm wurde, und sich heute noch jedes Wort wie eine lästige Pflicht anfühlte. Die Nase machte einen akkuraten und schnurgeraden Eindruck. Und wirkte langweilig. Das herzförmige Gesicht und die hohen Wangenknochen schienen ihr total gewöhnlich zu sein. Auch alles andere war unoriginell. Kleine Ohren, ein properes Kinn. Sogar die Zähne sahen gerade und tadellos aus, auch wenn man sie auf dem Bild gar nicht erkennen konnte.
Das pechschwarze Haar war zu einem fransigen Bob mit Pony geschnitten, was Mina damals für eine gute Idee gehalten hatte, inzwischen war sie sich aber nicht mehr so sicher. Was immer sie auch tat, um eine gewisse Individualität vorzutäuschen, genauso gut könnte sie aus einer Fabrik stammen. Sie hatte ein Allerweltsgesicht und sah durchschnittlich aus, wie konnte da von Schönheit die Rede sein?
Wäre ihr dieses Gesicht auf der Straße begegnet, hätte sie es nicht gezeichnet, sondern Ausschau gehalten und weitergesucht. Es geht schon wieder los. Mina atmete tief durch, schlug das Buch zu und steckte es in die Tasche. Sie hasste diese Stimmung: mürrisch und melodramatisch, wie ihre Schwester sagen würde. Und das, obwohl der vorherige Abend einer der besseren gewesen war. Mit ihrem schwarzen Kleid hatte sie alle vom Kartenspiel abgelenkt – die Rechnungen wurden bezahlt und für die Miete war gesorgt. Genügte das etwa nicht, um ein Lächeln vorzugaukeln?
Die ersten Regentropfen fielen wie träge, schlampige Warnschüsse herab. Auch wenn der Hauptschlag noch bevorstand, war keine Sirene nötig, um die Straße leer zu fegen. Mina nahm ihren kalten Kaffee und verzog sich in den Pub, wo Peter am Bartresen schwankte wie ein gebrochener Mast nach zu vielen Stürmen. Es war noch früh genug, um ihm folgen zu können, aber schon zu spät, um es noch wirklich zu wollen. Sein Gesicht hellte sich immer auf, wenn er Mina im Pub entdeckte. Er war alt und hässlich und sie das genaue Gegenteil.
»Oben in Connemara gibt’s diesen Typen, der seltene Vögel, Papageien und was weiß ich nicht alles, sammelt«, erzählte er. »Und ich hab da diesen Papagei. Na ja, eigentlich gehört er gar nicht mir, sondern Tim. Wir verkaufen ihn aber zusammen. Es ist ein Goldsittich, und er ist ’n hübsches Sümmchen wert. Ein Goldsittich«, wiederholte er langsam, wobei er jede Silbe betonte.
Mina hatte noch nie von einem Tim gehört. Sie fand die Vorstellung merkwürdig, dass Peter irgendwo außerhalb des Pubs Freunde hatte. Sie warf einen Blick in Richtung des Barmanns Anthony, der am Guinness-Zapfhahn lehnte und mit einem Grinsen im Gesicht zuhörte. Er mochte um die 30 sein und hatte schwarzes, an den Seiten grau meliertes Haar. Dabei sah er gut aus, wie ein früher James Bond, doch ihm fehlte das Charisma, um dieser Ähnlichkeit Leben einzuhauchen.
»Wie nennt man den Vogel noch mal?«, fragte er und forderte Peter zum gefühlt millionsten Mal auf, es zu sagen.
»Gold-sit-tich«, wiederholte dieser. Anthony lachte und schlurfte davon, um Mina mit einem Mann allein zu lassen, der vermutlich wesentlich mehr getrunken hatte, als sie ahnte.
Es wollten Gläser mit schwarzem Guinness und frischem bräunlichem Schaum nachgefüllt werden. Tassen und Untertassen klirrten, Stühle wurden quietschend über den Boden geschoben. Alles schien hölzern und warm und keine Stimme zu laut. Anthony machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, klopfte den Satz heraus und presste neues Pulver hinein, ließ Wasserdampf in der Milch gurgeln und verbrannte sie fast. Die Kasse öffnete sich mit einem Klingeln und schnappte wieder zu, Musik spielte und alles verwob sich zu einer tröstlichen Decke aus vertrauten Geräuschen. Der Pub schien ein sicherer Ort und so lange zeitlos zu sein, bis die Lichter erloschen und die letzte Bestellung aus dem Zapfhahn sprudelte.
Die Fenster waren beschlagen. Das Geplauder und die Atemluft, Sandwiches und Suppen erschufen ein heißes, heilsames, fast ekelerregendes Klima, das in einer Luftschleuse gefangen war und nur nach draußen wogte, wenn die Tür geöffnet wurde, sehr zum Missfallen derer, die der kalten Brise misstrauten; einst hatte sie Leben gestohlen, jetzt stahl sie die Wärme.
»Und du möchtest, dass ich den Vogel für dich nach Connemara bringe?«, fragte Mina, die Hände um das Glas mit dem heißen Whiskey gelegt, dessen Dampf ihr in die Nase stieg.
»Haargenau. Es ist eine Tagestour, länger dauert’s sicher nicht. Du kannst 200 Euro vom Verkaufspreis behalten, allerdings musst du davon auch den Sprit zahlen. Wenn du den Job nicht machen willst, frag ich jemand anders. Aber hör zu, Mina«, flüsterte er mit einem üblen Atem, als er sich herüberbeugte. »Das ist leicht verdientes Geld – und du würdest mir einen Gefallen tun.«
Peter hatte mehr auf dem Schirm, als die Leute ihm zutrauten, aber vielleicht war Mina auch berauscht genug, um auf derselben Wellenlänge wie er zu liegen. Vor einigen Wochen hatte sie im Internet eine Anzeige für ihn aufgegeben, als er ein ramponiertes Cello verkaufen wollte. Das Ding hatte ausgesehen, als hätte er es in einem Wohlfahrtsladen mit Secondhand-Ware aufgegabelt, dennoch war es für 500 Euro weggegangen und Peter hatte 100 davon Mina gegeben. Noch ein paar Freunde wie er, und sie bräuchte ihre Rechnungen nicht wie die Büchse der Pandora zu behandeln.
»Wo genau in Connemara muss ich denn hin?«, fragte sie. »Das Gebiet ist doch eher weitläufig.«
»Ich gebe dir ’ne Karte«, erwiderte er, zwinkerte und nickte. »Der Kerl, also der Käufer, hat mir gesagt, wo er wohnt, und heutzutage kann man sich doch wirklich nicht mehr verfahren.«
»Und wann will er diesen …?«, fragte Mina, die schon vergessen hatte, um was für eine Vogelart es sich handelte.
»Gold-sit-tich«, sagte er, diesmal noch langsamer. »Ich hab gesagt, dass er ihn morgen bekommt.«
»O Mann«, lachte Mina. »Wie nett von dir.«
Der gegen das Fenster klatschende Regen genügte, um die Sache gründlich zu überdenken. Mina hatte ihre kurze Lederjacke angezogen, die den Rücken nicht ganz bedeckte. Wo früher einmal Knöpfe gewesen waren, baumelten jetzt lose Fäden, Ellbogen und Schultern waren zu einem abgewetzten Grau verblasst, das Revers wurde von mehreren Ansteckern verziert. Ihr schwarz-weiß gestreifter Wollpullover war so lang, dass die Ärmel bis zu den Fingern reichten. Wenigstens hatte sie keinen Rock angezogen. Die Jeans steckten in abgestoßenen Stiefeln, denen man zu viele Winter und zu wenig Schuhcreme ansah.
Mina hatte die Leinwand in ihrem Atelier noch nicht angerührt, das leere weiße Ding ging ihr eigentlich schon auf die Nerven, seit sie den Auftrag angenommen hatte; sie war wie ein unerwünschtes Haustier, das permanent nach Aufmerksamkeit hechelt. Auch wenn Auftragsarbeiten anständig bezahlt wurden, hasste sie sie mehr als das Abzählen ihres Kleingelds für eine Tasse Kaffee. Da der Kunde das Sagen hatte, kam ihr die Arbeit wie eine Hausaufgabe vor, als gäbe es auf Kunst nur eine richtige und eine falsche Antwort. Obwohl die Karten es beim Pokern gut mit ihr gemeint hatten und sie genügend eingenommen hatte, um eine Weile über die Runden zu kommen, hatte sie selten so viel Glück gehabt – und 200 Euro waren auch nicht zu verachten; außerdem konnte sie auf der Fahrt den Kopf frei bekommen. Erstaunlich war, dass heißer Whiskey bewirken konnte, dass sie den Transport des Vogels für eine gute Idee hielt.
»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte Peter und gab das Zeichen für die nächste Runde. »Das ist das am leichtesten verdiente Geld, das du je bekommen haben wirst – und das ist die Wahrheit.«
Der alkoholgeschwängerte Optimismus dieses Abends fühlte sich wie eine falsche Erinnerung an, als Mina anhielt und die Karte unter der Windschutzscheibe entfaltete. Im Nachhinein betrachtet hätte sie wahrscheinlich schon eher mal einen Blick darauf werfen sollen, doch als die Straßen noch asphaltiert gewesen waren, war sie an zahlreichen Schildern vorbeigekommen. Die Karte stank nach Peters Wachsjacke und war dermaßen zerfleddert, dass es sie nicht überraschen würde, wenn sie in seiner Tasche gesteckt hatte, seit er sie vor zehn Jahren gekauft hatte. Mina verschob den Sitz, um etwas zu erkennen. Als sie einen Augenblick später die mit Eselsohren gekennzeichnete Stelle fand, wo sie vermutlich gerade mit zwei Rädern im Graben parkte, sah sie auch, dass Peter scheinbar wahllos etwas mit blauem Kugelschreiber eingekreist hatte. Dieser Kreis nahm beinahe die ganze Seite ein. Eigentlich war es egal, wo Mina erwartet wurde, denn sie hatte keinen Schimmer, wo sie sich gerade befand.
»Verdammte Scheiße, Peter«, murmelte sie. »Eine nutzlosere Karte hattest du wohl nicht.«
Auf der weiteren Fahrt wurden die Straßen immer schmaler, das holprige Bankett war längst in Schotter übergegangen, ein verfilzter Grasstreifen strich über den Unterboden des Wagens, während er vorwärtskroch und die Räder in vereiste Pfützen tauchte. Die Landschaft erstarb mit der untergehenden Sonne, und kurz darauf zog ein kalter Nebel über die Sümpfe der Umgebung. Mina suchte den Horizont nach Lebenszeichen ab, nach beleuchteten Häusern in der Ferne oder nach irgendwelchen Hinterwäldlern, aber da war nichts. Selbst die am Hang grasenden Schafe waren verschwunden, der Tag ging zur Neige und alle Tiere schienen sich verzogen zu haben. Still und ungewiss war der Winter, und in Connemara schien er ihr eigentlich nie so düster gewesen zu sein.
Da das Radio nur noch rauschte, lauschte Mina dem müden Rattern des Autos und dem Klopfen ihrer Finger auf dem Lenkrad, während sie auf eine Antwort auf die Frage wartete, die sie sich immer wieder stellte: Wo zum Teufel bin ich? Die Scheinwerfer waren weit und breit die einzige Lichtquelle, und zum ersten Mal seit langer Zeit setzte ihr die Einsamkeit richtig zu. Sie hätte schon vor Stunden bei dem Haus des Käufers ankommen sollen. Gelegentlich warf sie aus dem Augenwinkel einen Blick auf Peters Karte, die aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz lag. Der grasbewachsene Wegesrand und die Kurven schienen ins Nichts zu führen. Die Scheinwerfer konnten nicht viel ausrichten und beleuchteten den immer gleichen dünnen Streifen aus Dreck und Steinen.
»Irgendwelche Ideen?«, fragte sie den Fahrgast auf dem Rücksitz. »Nein? Hab ich mir schon gedacht.«
Selbst ein Anruf von Jennifer wäre ihr jetzt willkommen gewesen, da der Papagei nicht gerade gesprächig war. Allerdings war Mina nach den Gesprächen mit ihrer Schwester immer erschöpft. Jennifer erzählte nämlich meistens ausführlich von ihrem neuen Mann und ihrem neuen Haus und legte selten eine Pause ein, um Luft zu holen. Darauf folgten einige Anekdoten des vergangenen Wochenendes, in denen es um Berge und Wanderungen oder irgendetwas ging, das man auf 50 Fotos festhalten konnte, um sie der Welt unter die Nase zu reiben. Alle waren mit einem Filter aufgenommen worden und ließen den Himmel wie ein billiges Aquarell wirken. Du hättest dabei sein müssen, sagte Jennifer dann. Mina konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen.
Jennifer hatte vor zwei Tagen angerufen, einmal nach dem Mittagessen und einmal abends. Beide Male hatte Mina das Display des auf dem Tisch vibrierenden Handys angestarrt, auf dem der Name ihrer Schwester feindselig blinkte, die eine Hand zum Annehmen ausgestreckt, die andere blieb untätig liegen. Je länger sie nicht mit Jennifer redete, umso schuldiger fühlte sie sich. Nach dem zweiten entgangenen Anruf hatte Jennifer eine Voicemail hinterlassen, die wie ein Schandfleck auf dem Telefon angezeigt wurde, den Mina noch immer nicht beseitigt hatte. Eigentlich war es egal, ob sie die Nachricht jetzt oder später anhörte.
»Bist du bereit?«, fragte sie den Papagei und entsperrte das Handy. »Das ist meine Schwester. Jetzt kannst du dir den ganzen Scheiß anhören, mit dem ich mich immer rumschlagen muss.«
Mina überraschte es nicht, dass die Nachricht mit einem lang gezogenen frustrierten Seufzer begann. »Warum gehst du nicht ans Telefon? Ich rufe nur an, um zu hören, wie es dir geht. Ich verstehe nicht, warum du es uns so schwer machen musst. Schon klar, ich hab’s kapiert, du bist eine Künstlerin und brauchst Zeit, um … was weiß ich … deine Kunst zu machen. Krieg dein Leben endlich mal auf die Reihe, verstehst du? Du kannst doch nicht so chaotisch weitermachen und immer nur komische Gemälde verkaufen oder … Ich weiß auch nicht. Hör zu, ich ruf nicht mehr an, okay? Du bist jetzt am Ball. Mum hätte das nicht gewollt, Minchen.«
So hatte Minas Mum sie immer genannt. Seit ihrem Tod verwendete Jennifer den Namen, als wäre Minchen eine Tradition, die man innerhalb der Familie weiterreichte wie ein kaputtes Erbstück, das nicht mehr zu reparieren war. Minas Mum war die Einzige gewesen, die sie hatte zusammenhalten können, und der Bruch wurde umso deutlicher, weil Jennifers Leben so verdammt perfekt war. Komische Gemälde verkaufen? Sie hätte sich das gar nicht anhören sollen. Jennifers Nachricht hatte die verfahrene Situation nur noch verschlimmert. Achte auf die Straße. Denk nicht darüber nach. Irgendwann würde sie schon den richtigen Weg finden.
»Reiß dich zusammen, Minchen«, sagte sie. »Alle Wege führen irgendwohin.« Das hatte ihre Mutter immer dann gesagt, wenn das Leben eine unerwartete Wendung genommen hatte.
In diesem Augenblick erloschen die Kontrollleuchten an dem Armaturenbrett, als würde das Cockpit eines Flugzeugs ausfallen, während der Pilot ein unerforschtes Gebiet überquert. Plötzlich wurde die Welt um sie herum finster und still. Nur der Mond glomm noch wie eine trübe Funzel an seinem Platz. Mina rüttelte an dem Zündschlüssel, und als das nichts brachte, kramte sie das Handy heraus und rammte den Finger auf Einschalten, doch das Display blieb schwarz. Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Feuerzeug und berührte einen Schlüssel, einen Lippenstift, einen Stapel Spielkarten, noch einen Lippenstift, und dann ertastete sie es. Klick. Klick. Sie atmete tief durch. So viel Pech auf einmal konnte kein Mensch haben. Klick. Eine einzige heldenhafte Flamme spendete Licht, die ausreichte, um den Tabakbeutel zu finden, ohne weiter in der Tasche herumfingern zu müssen. Für Notfälle hatte sie immer eine vorgedrehte Zigarette dabei – und das hier war definitiv ein Notfall.
Kein einziges Geräusch war zu hören, ihre Atmung schien regelrecht zu dröhnen. Sie sehnte sich nach dem warmen Brummen des Motors, nach irgendwelchen Tönen. Inzwischen zitterten Minas Hände so stark, als gehörten sie zu einem anderen Menschen; zu jemandem, der eindeutig die Nerven verloren hatte. Hektisch zog sie an der Zigarette, steckte sie in den Mund und starrte ins Leere. Als der Vogel mit den Flügeln gegen den Käfig schlug, fuhr Mina im Sitz hoch. Warum war auf einmal alles so laut? Das Scheppern der dünnen, eisernen Gitterstäbe war ohrenbetäubend.
»Bleib locker«, sagte sie, kurbelte das Fenster herunter und wedelte den Rauch hinaus. »Mann, du bist ja schlimmer als deine Schwester.«
Mina löste den Daumen von dem Feuerzeug, sie hatte keine Ahnung, wie viel Gas es noch enthielt, deshalb sollte sie wohl besser nichts davon verschwenden. Die glühende Zigarette musste vorerst reichen. Als die kalte Luft hereinkroch, beruhigte sich der Vogel. Bald war nur noch Mina zu hören, die den Rauch inhalierte und kraftlos wieder ausstieß. Sie hängte den Arm aus dem Fenster und neigte den Kopf zur Seite, um die Sterne zu betrachten. In der gespenstischen Ruhe schloss sie die Augen und dachte an alle möglichen Orte, an denen sie lieber gewesen wäre – überall, nur nicht hier mitten im Nirgendwo.
Sie würde bis zum Sonnenaufgang warten und dann entscheiden, wie es weitergehen sollte. Mina war schon so weit gefahren, dass einfach irgendjemand in der Nähe sein musste, der ihr helfen konnte. Am Morgen würde sicher ein Haus oder vielleicht auch nur ein einfacher Wegweiser zum Vorschein kommen, vielleicht erwachte auch der Wagen auf wundersame Weise wieder zum Leben. Obwohl sie knapp bei Kasse war, würde sie am liebsten zurückgehen und Peter seine Scheißkarte samt Vogel in die Hand drücken, ohne etwas zu berechnen.
»Tja, war wohl nicht meine beste Idee«, murrte sie. »Das kann ich dann wahrscheinlich auch auf die Liste setzen.«
Mina war einfach zu sehr an das laute Stadtleben gewöhnt. Auf der Straße unter ihrer Wohnung trällerte immer irgendein Musiker und spielte dieselben Lieder mit denselben unbeholfenen Akkordwechseln, während die Tauben auf dem Dach trappelten. Abends kamen die Möwen ins Landesinnere und öffneten mit ihren hakenartigen Schnäbeln die Deckel der Mülltonnen, sodass die jetzige Stille ganz unnatürlich wirkte. Diese Stille war aber nichts im Vergleich zu dem Schrei, der wie eine Sirene durch den Abend schrillte, Mina in den Sitz presste und ihr die Zigarette aus den Fingern schlug.
So etwas Wildes und Durchdringendes hatte sie noch nie gehört. Das Geräusch konnte auf keinen Fall von einem Menschen stammen. Und auch von keinem Tier, denn sie hatte seit Stunden keines mehr gesehen. Selbst die Sterne mussten unter dem Lärm gebebt haben. Mina zog den Arm ein und kurbelte das Fenster hoch.
»Fuck, was war das denn?«, sagte sie und versank hinter dem Lenkrad.
Mina verriegelte die Türen. Sie fühlte sich plötzlich bedroht und hatte das Gefühl, da draußen schlich irgendetwas herum, das sie nicht sehen konnte. Das Auto war ringsum von einer undurchdringlichen Schwärze umgeben, als wäre es in den tiefsten Ozeangraben gesunken, wo uralte Dinge ohne Zeit und Helligkeit im Verborgenen leben. Mina kletterte auf den Rücksitz, schob den Vogelkäfig beiseite und verkroch sich in der Hoffnung unter den Mänteln, dass sie ihre Anwesenheit an einem Ort verbargen, an dem sie sich einfach nicht sicher fühlte.
»Mach keinen Mucks«, flüsterte sie und zog die Beine an. »Da draußen ist irgendwas.«
Irgendwann beschlugen die Fenster und wurden weiß. Es gab kein knackendes Eis, keinen leise knirschenden Frost, nur die Nacht, die sich über dem Wagen ausbreitete. Selbst der Papagei wusste, dass er den Schnabel halten musste. Während das Gebrüll in Minas Kopf widerhallte, schlang sie die Arme um die Schultern, um sich warm zu halten, und dann lauschte sie, ob der unheimliche Schrei zurückkehrte.
2
Als ein Sonnenstrahl zu Minas Füßen hereinkroch, kam sie wieder unter den Mänteln hervor und schleuderte sie von sich, wobei sie einen von ihnen hinter den Beifahrersitz beförderte. Ihre Gelenke gaben ein übles Knacken von sich, als sie die Beine zwischen den Vordersitzen ausstreckte. In ihren ganzen 33 Jahren hatte sie sich noch nie so alt gefühlt. Der Vogel legte den Kopf schief, schlurfte mit den kleinen rosa Füßen über die Stange und sah Mina fragend an, als wirkte er überrascht von ihrem Anblick. Hinsichtlich der Vogelart hatte Peter immerhin richtiggelegen, denn das Gefieder des Gold-sit-tichs schimmerte jetzt golden in der Sonne, was trotz der misslichen Umstände wunderschön aussah.
Die Windschutzscheibe war in der Mitte mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Um Mina herum knisterte und knackte die gefrorene Umgebung wie brechende Eierschalen. Sie griff nach dem Handy auf dem Beifahrersitz, um irgendjemanden anzurufen, den sie um Hilfe bitten konnte. Jeden außer Jennifer, denn diese hatte sie viel zu lange ignoriert, um sie noch um einen Gefallen bitten zu dürfen. Das Telefon war so kalt, dass der Akku bestimmt hinüber war. Kein gutes Zeichen. Wie erwartet machte es keinen Mucks – tot. Sie warf es in den Fußraum, wo es in den Mantel rutschte. Großartig, der Tag fing ja gut an. Mina lehnte sich zurück und betrachtete den Vogel. »Wie sieht’s aus, Goldi? Holst du Hilfe, wenn ich dir einen Zettel an den Fuß binde?«
Der Vogel trällerte und pfiff und versuchte sich an den misstönendsten Melodien. Für so ein Trara war es viel zu früh. Allerdings hatte Peter gesagt, dass er sich nur melden würde, wenn er Hunger hatte, was jetzt den Lärm erklären würde. Im Kofferraum lag ein Beutel Vogelfutter, der nur ein Trostpflaster für den Kunden war, da er ein Vermögen für einen gelben Vogel springen ließ, der keinen einzigen Ton halten konnte. Mina entriegelte die Tür und setzte argwöhnisch einen Fuß auf den Boden. Wenigstens würde einer von ihnen Frühstück bekommen.
Sie streckte die Arme und stöhnte, legte den Nacken von einer Seite auf die andere, bis es knackte und sich jeder schmerzende Teil für eine Sekunde zu entspannen schien. Alles war gefroren und eisig, die Steine glitzerten unter dem Raureif. Sie warf einen verwunderten Blick auf die Straße vor sich, wo die Schatten in einem dichten Nebel lagen, als würden sie der Sonne aus dem Weg gehen. Das Auto war kurz vor dem Wald liegen geblieben, aber immer noch weit genug davon entfernt, dass die Scheinwerfer ihn nicht beleuchtet hatten, bevor sie erloschen. Eigentlich gab es in Connemara nicht viele Bäume – ein paar windzerzauste Weißdorne vielleicht –, deshalb hatte Mina nicht damit gerechnet, auf einen Wald dieser Größenordnung zu stoßen, in all seinem blattlosen Elend. Irgendwie schien es merkwürdig, dass das Auto direkt am Waldrand zum Stillstand gekommen war, als würde er ihr den Zutritt verweigern. Die Bäume wirkten uralt, brüchig und morsch. Obwohl hinter ihr die Sonne aufging, blieb es im Waldesinneren finster.
Als sie den Weg zurückblickte, den sie gekommen war, musste sie feststellen, dass die Gegend völlig verlassen und kein einziger Vogel zu sehen war. Das karge Land war uneben und hässlich, erhob sich zu Hügeln und tauchte in verborgene Tiefen ab. Alles war in dem gleichen schlammigen Farbton gefärbt wie am Vortag. Sogar die Felsen mit ihren verfärbten Flecken kamen ihr bekannt vor. Sie war stundenlang gefahren und hatte lediglich die Lichtkegel der Scheinwerfer gesehen. Wie sich herausstellte, hatte sie nichts verpasst.
Der mit einer dünnen Eisschicht überzogene Kofferraum öffnete sich knisternd. Selbst das leiseste Geräusch schien lauter geworden zu sein. Die Tüte mit dem Vogelfutter lag neben dem Ersatzreifen und einer halb leeren Wasserflasche. Die musste bereits eine halbe Ewigkeit dort liegen, Mina würde aber trotzdem darauf zurückgreifen müssen. Der Tag brach gerade erst an, und sie wusste überhaupt nicht, wie weit sie laufen musste. Unter Umständen bekam sie erst nach 100 Kilometern wieder etwas zu trinken.
»Bist du bereit?«, fragte sie den Vogel, während er an den Pellets knabberte, die sie in den Käfig gesteckt hatte. Mina hatte Peter gar nicht gefragt, wie viel sie ihm füttern sollte. Andererseits war das auch die Angelegenheit des Käufers, eine Handvoll schien ihr in Ordnung zu sein.
Sie stand mit einer Hand auf dem Autodach an der offenen Tür und starrte völlig unbeeindruckt zum Wald. Unter dem blauen Himmel wirkte er so düster und wenig einladend wie ein Renaissance-Gemälde von Himmel und Hölle. Es hatte keinen Sinn, auf dem Weg noch weiterzugehen, den sie gekommen war, denn der Zustand des steinigen Wegs verschlechterte sich mit jedem Meter. Es sah so aus, als hätte sich eine schwere Maschine einen Weg durch die Bäume gepflügt. Er wirkte wie eine schmutzige Narbe, die die Natur verdecken wollte. Unkraut und dichtes Gestrüpp drangen aus der Wildnis hervor und nichts bewegte sich. Selbst die langen dürren Grashalme rührten sich nicht. Es war totenstill. Mina kratzte sich am Ohr, um sich zu vergewissern, dass sie nicht über Nacht taub geworden war.
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