The West Wind – Reich aus Licht und Dornen (The Four Winds 2) - Alexandria Warwick - E-Book

The West Wind – Reich aus Licht und Dornen (The Four Winds 2) E-Book

Alexandria Warwick

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Beschreibung

Ein verräterischer Gott, düstere Geheimnisse und ein Weg, auf dem die Verführungen lauern ... Das Booktok-Phänomen von Alexandria Warwick endlich auf Deutsch!

Brielle hat ihr Leben der Abtei gewidmet. Sie hat noch nie einen Mann berührt. Doch als sie im Wald einen verletzten Fremden findet, kann Brielle nicht anders, als ihm zu helfen. Diese schicksalshafte Begegnung führt sie in die Unterwelt, wo die Luft nach Verfall riecht und das tückische Feenvolk regiert. Dort entdeckt sie, dass der Mann, dem sie geholfen hat, in Wirklichkeit ein Gott ist: Zephyr, der Westwind, Bringer des Frühlings. In der Unterwelt kann Brielle nur Wenigen vertrauen, vor allem nicht Zephyr. Er ist hinterlistig und gefährlich – doch noch nie hat sie jemand so sehr in seinen Bann gezogen … 

Magisch, spicy und absolut unwiderstehlich – eine packende Forbidden Love-Romantasy, inspiriert von der schottischen Ballade "Tam Lin" sowie dem Mythos von Hero und Leander. Auch einzeln als Standalone lesbar!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alexandria Warwick

The West Wind

Reich aus Licht und Dornen

Aus dem Englischen von

Anne-Marie Wachs und Simone Jakob

arsEdition

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Vollständige eBook-Ausgabe der Softcoverausgabe München 2025

Text Copyright © Alexandria Warwick 2024

Titel der Originalausgabe: The West Wind

Die Originalausgabe ist 2024 bei Simon & Schuster (Australia) Pty Limited

Suite 19 a, Level 1, Building C, 450 Miller Street (PO Box 448), Cammeray, NSW 2062 erschienen.

© 2025 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

arsedition.de/service

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Anne-Marie Wachs und Simone Jakob

Lektorat: Kanut Kirches

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung

des Originalcovers von Story Wrappers LLC

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining

im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

ISBN eBook 978-3-8458-6118-0

ISBN Printausgabe 978-3-8458-6108-1

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Liebe Leser:innen,

The West Wind – Reich aus Licht und Dornen ist ein fiktives Werk, doch es behandelt Themen, die emotional herausfordernd oder belastend wirken können. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Bitte achtet gut auf euch. Wenn euch Inhalte nahegehen oder ihr euch davon betroffen fühlt, sprecht mit euren Freund:innen oder eurer Familie – oder holt euch professionelle Unterstützung. Ihr müsst damit nicht allein bleiben.

Wir wünschen euch alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Eintauchen in diese fantastische Geschichte.

Euer Team von arsEdition

Teil 1 Die Fromme

1

Vor mir liegt ein Mann bäuchlings auf der Erde, und wenn mich nicht alles täuscht, ist er tot.

Tot, oder nicht weit davon entfernt. Er ist vollkommen reglos. Keine Bewegung deutet darauf hin, dass er noch atmet. Ein Wirrwarr aus schmutzstarrendem, von goldenen Strähnen durchzogenem Haar klebt ihm am Kopf, und durch die feinen Locken krabbeln Insekten.

Ich stelle meinen Korb mit den gesammelten Perlblumen beiseite und trete einen Schritt näher heran. Eine Windböe fegt durch den uralten Wald, hier, wo einsam der Berg thront. Hier in Carterhaugh, dieser von dichten Wäldern voller Moos und Farn geprägten Region, verstummt die Welt, sobald sich der Wind legt. Hier dringt kein Geräusch besonders weit. Auch kein Vogelgesang. Nicht einmal Schreie.

Ich stupse das Bein des Mannes leicht mit der Stiefelspitze an. Er rührt sich nicht. Offensichtlich ist er vom Pfad abgekommen, hat sich verirrt – der letzte Fehler seines Lebens. Wenn er tot ist, dann muss die Abtei davon in Kenntnis gesetzt werden. Wenigstens wird er eine angemessene Beerdigung erhalten.

Ich knie mich neben ihn, und die vom vielen Regen vollgesogene Erde gibt unter meinem Gewicht nach wie ein weicher Schwamm. Schnell streife ich meine dünnen Lederhandschuhe über, erst dann berühre ich das Gesicht des Mannes.

Es ist warm. Selbst durch das Leder spüre ich die Wärme seiner Haut.

Ich wuchte den Mann auf den Rücken. Als er zusammenzuckt und dann wieder erschlafft, keuche ich erschrocken auf. Ich habe mich geirrt. Der Fremde ist nicht tot.

Seine Augen sind mit Blutergüssen bedeckt und grotesk geschwollen, die Nase ist durch einen Bruch furchtbar entstellt. Zwischen aufgesprungenen Lippen blitzen weiße Zähne hervor. Dass seine Haut sonnengeküsst ist, lässt sich wegen all der Blessuren nur erahnen. An seinem Haaransatz klebt verkrustetes Blut.

Ich hocke neben ihm, überlege. Der intensive Rauchgeruch, der meinem Kleid anhaftet, erinnert mich an die Klingen, die in der Schmiede darauf warten, gehärtet zu werden.

Die Kleidung des Mannes hat, genau wie sein geschundenes Gesicht, eindeutig schon bessere Tage gesehen. Er trägt eine schlammbespritzte Tunika, dazu einen schweren, grünen Mantel. Seine Hose ist am Knie zerrissen und gibt den Blick auf muskulöse Beine frei, die in abgetragenen kniehohen Stiefeln stecken.

»Lass dich nicht vom äußeren Schein täuschen«, sage ich leise zu mir selbst.

Ich kenne die Geschichte dieses Mannes nicht. Er könnte ein Reisender sein. Vielleicht hat er sich in der Dunkelheit von Carterhaugh verirrt und nicht mehr nach Thornbrook gefunden, seinem eigentlichen Ziel? Kilkare liegt nur neun Meilen südwestlich von hier – mit einem Fuhrwerk ist es eine halbe Tagesreise entfernt. Doch seine Verletzungen lassen vermuten, dass ihn jemand hier abgeladen hat in der Annahme, er wäre tot oder würde bald sterben. Woher stammt dieser Mann? Und, noch wichtiger, wer hat ihn so zugerichtet und aus welchem Grund? Die Luft schimmert vor goldenen Klängen. Glockengeläut schallt von den Berghängen als Echo zurück. Sieben Schläge zeigen die heilige Stunde an und ich bin bereits zu spät, ich bin auf der Suche nach den Heilpflanzen zu weit gelaufen.

Ein letztes Mal werfe ich einen Blick auf den reglosen Fremden zu meinen Füßen und balle die Hände zu Fäusten, während die Glockenklänge schließlich verhallen. Wer weiß, womöglich ist dieser Mann den Feen begegnet. Immer wieder bekommt man zu Ohren, dass Sterbliche vom Feenvolk unter die Erde verschleppt und gefangen gehalten werden. Wenn man den Geschichten Glauben schenken kann, ist es auch der Äbtissin von Thornbrook einmal so ergangen. Doch selbst wenn ich ihm helfen wollte, wäre es mir nicht möglich. Mutter Mabel betont zwar stets, dass die Tore von Thornbrook allen Hilfe Suchenden offen stehen, allerdings dürfen nur Frauen die Abtei betreten.

Ich stehe auf, und während mir klar wird, dass dieser Mann schutzlos hier liegen bleiben wird, wenn ich gehe, regt sich ein kaltes Gefühl in meinem Magen. Doch ich habe keine andere Wahl.

Ich schnappe mir meinen Korb und fliege förmlich den Hang hinauf, auf dem gewundenen Pfad nach Norden. Eine Lücke zwischen den Bäumen vor mir gibt den Blick auf den imposanten Turm der Abtei frei. Er thront über den moosüberwachsenen Mauern, die das weitläufige Gelände umfrieden.

Thornbrook ist Triumph gewordener blasser Stein. Wie in der Schrift nachzulesen ist, wurde die Anlage von den frommsten Akolythinnen des Vaters mit eigenen Händen errichtet, indem sie die mächtigen Steinblöcke den Berg hinaufgezogen und drei Geschosse hoch aufgetürmt haben. Farne verdecken nun den unteren Teil und sind in die Ritzen des Mauerwerks gekrochen.

Ins Torhaus kann man auf zwei Wegen gelangen: einmal durch einen breiten Torbogen für Fuhrwerke und zum anderen durch eine kleine Tür für jene, die zu Fuß unterwegs sind. Beide sind als Schutzmaßnahme gegen das Feenvolk gesichert. Ich winke der Torwächterin, und sie zieht sofort das Eisengitter hoch.

Das Klostergebäude mit seinem offenen Kreuzgang kommt in Sicht und ich eile über den grasbewachsenen Hof zum Dormitorium und die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Sobald ich in meiner kleinen Zelle bin, wechsle ich mein graues Alltagskleid gegen meine Albe – das lange weiße Gewand, das wir bei der Messe tragen – samt Zingulum, dem Gürtel, den ich um meine kräftige Taille lege und mit einem Knoten schließe. Diejenigen, die ihr ewiges Gelübde abgelegt haben, schließen das schmale weiße Band mit drei Knoten. Doch so weit bin ich noch nicht.

Schweißüberströmt erreiche ich die Kirche, wo sich die Töchter von Thornbrook versammelt haben, ein Meer aus Weiß, von dem sich nur die rubinroten Stolen der Akolythinnen abheben.

Bevor ich den Gebetsraum betrete, wasche ich mir im Becken gleich neben dem Eingang die Hände. Sobald ich gereinigt bin, gehe ich in den hinteren Teil der Kirche und lasse mich unauffällig in einer Bankreihe neben einer anderen Novizin nieder. Sie scheint mich nicht zu bemerken, sondern hält den Blick fest auf den weißen Marmoraltar gerichtet, der mit einem scharlachroten Tuch verhüllt ist und auf dem drei Ewiglichter brennen – Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Weiter vorn steigt Mutter Mabel die Stufen zum Altarraum hinauf, wo sich auch die Plätze für den Chor befinden. Sie schreitet weiter zum Presbyterium, um sich uns dann mit erhobenen Händen, die Handflächen nach oben zeigend, zuzuwenden. Direkt hinter dem Altar fällt durch ein grünes Glasfenster ebensolches Licht auf das Altartuch und die liturgischen Gegenstände.

Wie auf Befehl senken wir alle gleichzeitig den Kopf.

»Ewiger Vater, unsere Herzen sind weit geöffnet. Geleite uns durch die kommenden Monate, während wir uns dem Zehnt nähern.« Ich hebe die gefalteten Hände an die Stirn, wie auch der Rest der Gemeinde. Mutter Mabels Gebet wird zu einem leisen Raunen. Meine Gedanken schweifen ab.

Es scheint mir sehr plausibel, dass der Mann Opfer eines Angriffs wurde. Die Feen, auch die Unterirdischen genannt, haben ihre Gründe. Sie müssen sich auf die engen Tunnelgänge und lichtlosen Höhlen beschränken, sie sind nicht befugt, die Städte der Sterblichen zu betreten, sie dürfen nicht regieren und keinen Rat abhalten, obwohl sie sich, Jahrhunderte bevor wir Sterblichen sie unter die Erde vertrieben haben, hier in Carterhaugh angesiedelt hatten. Doch im Schutz des Waldes mit seinen verhüllenden Schatten lockt es viele von ihnen hinauf an die Oberfläche.

Was den Mann betrifft … Ich sollte gar nicht über ihn nachdenken. Ich bin hier im Haus des Vaters, seine Mauern und Türen bilden ein kostbares Refugium. Was würde er von mir denken, wenn er wüsste, dass in meinem Kopf neben ihm noch ein anderer Mann Platz hat? Mit Mühe schiebe ich meine ketzerischen Gedanken beiseite und hebe den Blick zu den Ewigen himmlischen Gefilden. Unser Vater, der Schöpfer zweier Reiche. Carterhaugh: idyllisch, voller Fülle, ohne Makel. Und Untererden: eine in der Tiefe dahinfaulende Saat.

»Lasst uns die Sieben Gebote rezitieren«, fordert uns Mutter Mabel auf; ihre Worte hallen in der Kirche wider.

Pflichtbewusst wiederholen wir die sieben Vorschriften.

»Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht begehrlich sein und du sollst deine Mutter und deinen Vater ehren. Du sollst deinen Gott nicht verleugnen. Du sollst den Feiertag ehren.« Und zuletzt: »Du sollst nicht lügen.«

»Indem wir diese Gebote in den Stoff unseres Lebens einweben, erfüllen und erneuern wir unser Gelübde«, fährt Mutter Mabel fort. »Mögen wir immer ehrenvoll und rechtschaffen handeln.«

Meine Hände sind schweißnass. Ehrenvoll. Wie ehrenvoll ist es, einen Mann im Wald zurückzulassen, als Opfer für alle möglichen heimtückischen Wesen?

»Mögen wir uns demütig von unserem Glauben leiten lassen. Mögen wir vor dem Vater keine Geheimnisse haben.«

Ich öffne schlagartig die Augen, als ich merke, wie in die Ordensgemeinschaft Bewegung kommt.

»Und möge es uns niemals nach dem Fleisch eines Mannes gelüsten«, sagt Mutter Mabel und sieht mich dabei an.

2

Ich hebe den Arm und lasse den Hammer auf das glühende Metall niedersausen. Der misstönende Klang breitet sich aus und erstirbt dann in der drückenden Hitze des Schmiedefeuers.

Ein weiterer Schlag. Mein Rücken, meine Schultern sind angespannt, die Muskeln brennen, kämpfen gegen die wachsende Erschöpfung an, doch auch das ist mir vertraut. Geschmolzenes Eisen, geformt und abgekühlt. Sobald der Dolch fertig ist, wird er zu den anderen gelegt, die darauf warten, nach Untererden gebracht zu werden. Auch wenn es bis zum Zehntritus noch Monate dauert, haben die Vorbereitungen längst begonnen.

Nieder schwingt der Hammer. Die Arbeit ist nie zu Ende. Die einzelnen roten Haarsträhnen, die sich aus meinem langen Zopf gelöst haben, kleben mir an Hals und Stirn. Meine Haut leuchtet scharlachrot – eine unglückliche Begleiterscheinung, wenn man so blass ist wie Milch.

Während der Arbeit denke ich an Carterhaugh. An das Feenvolk und seine Neigung zur Gewalt. Ein voller Tag ist vergangen, seit ich im Wald auf den Mann gestoßen bin. Ich habe mir eingeredet, ich würde ihn vergessen, doch meine Gedanken wandern zurück zu seinem malträtierten Gesicht und den Fragen, die mich quälen.

Als die Klinge an Farbe verliert, gehe ich wieder zur Esse hinüber, wo auf einer großen Steinplatte das Feuer brennt, und schiebe die Waffe in die Glut. Mit sicherer Hand betätige ich den Blasebalg. Er dehnt sich aus, saugt die Luft ein und stößt sie zischend aus, woraufhin die Kohlen aufflammen.

Hämmern, wieder erhitzen, hämmern, wieder erhitzen. So wird es weitergehen, bis der Dolch in die richtige Form gebracht ist. Mit meiner schweren Zange fasse ich den Erl der Klinge und bearbeite das Metall auf dem Amboss. Ein kleines Stück splittert ab und hinterlässt auf meiner Kuhlederschürze einen Brandfleck. Nach einer weiteren Stunde Hämmern tauche ich den Dolch in einen Wassereimer. Laut zischend härtet das Eisen aus. Ich betrachte es prüfend von allen Seiten. Sein silbriger Schein wird heller, wie bei einem Stern, und ich verspüre ein angenehmes Gefühl der Befriedigung.

Während die Waffe auf dem Tisch auskühlt, konzentriere ich mich wieder auf meine Umgebung und halte inne. Draußen, das sehe ich durch die niedrige Türöffnung, ist es Nacht geworden.

Meine Handflächen werden feucht, allerdings nicht wegen der Hitze. Vor zwei Stunden ist die Abendmesse zu Ende gegangen, doch nach dem Gottesdienst begebe ich mich mit Erlaubnis von Mutter Mabel oft noch einmal in die Schmiede, um bei angenehmeren Temperaturen zu arbeiten. Albern, diese Angst vor der Dunkelheit. Der Schein meiner Laterne ist hell genug. Ich sage mir selbst, dass es ausreicht.

Ich lege die Schürze ab, hänge sie an einen Haken neben der Tür und werfe meinen ledernen Werkzeuggürtel auf den Tisch, sodass es laut poltert. Zum Schluss lösche ich das Feuer. Ich schüre die Kohlen, schaue zu, wie die kältere Luft von draußen an ihren glimmenden Rändern leckt, bis das Glühen erstirbt. Kurze Zeit später ist die Esse erloschen.

Draußen stelle ich meine Laterne auf die Erde und achte auf einen festen Stand. Im Schatten der Schmiede ziehe ich meinen Dolch und beginne mit einer kleinen Reihe von Übungen. Ich steche zu und gehe in Deckung, hole zu einem Stoß von oben aus, greife von unten an. Auch wenn mir mein früherer Schwertschmiedelehrer die Grundlagen beigebracht hat, ist es doch Mutter Mabel, die darauf besteht, dass ich meine Fertigkeit mit dem Dolch genauso perfektioniere wie meine Schmiedekunst. Nur wenige wissen es, doch sie ist eine ausgebildete Schwertkämpferin.

Schweißüberströmt, mit jagendem Puls stecke ich meinen Dolch schließlich in die Scheide und gehe eilends zurück zum Hauptgebäude, dessen Fenster ich in einiger Entfernung erleuchtet sehe. Die Badestube ist zu dieser Zeit leer, sodass ich die seltene Gelegenheit habe, mich in Ruhe zu waschen, ohne mir irgendwelche spitzen Bemerkungen anhören zu müssen, ich würde zu viel Platz in Anspruch nehmen.

Lange liege ich im Zuber und lasse meine Haut einweichen, schrubbe mir Staub und Ruß vom Körper und begebe mich dann mit nassem, zum Zopf geflochtenem Haar in meine Kammer. Sanft streift das kühle Leinen meines Nachthemds über meine Haut. Die Glocke läutet zur neunten Stunde – dem Beginn der Ausgangssperre.

In meiner Zelle angekommen, entzünde ich die Kerze auf dem Nachttisch. Bernsteinfarbenes Licht fällt warm auf die verputzten Wände. Wie alle Zellen in Thornbrook ist auch meine spartanisch eingerichtet. Es gibt nur wenige persönliche Dinge. Die Schrift liegt neben meinem Tagebuch aufgeschlagen auf dem Tisch.

Die anderen Novizinnen müssen sich einen Raum teilen, doch da ich die Klingenschmiedin bin und zu ungewöhnlichen Zeiten komme und gehe, habe ich am Ende des Flurs im Ostturm ein Zimmer für mich allein. Von meinem Fenster aus blicke ich auf die Hochlande im Norden und auf den Strom – eine dunkle, von weißen Wellenkämmen aufgewühlte Linie, einige Meilen gen Osten. Sie trennt Carterhaugh von dem Reich, das als die Graulande bekannt ist.

Mit der Schrift und meinem Tagebuch in der Hand lege ich mich ins Bett und öffne es beim letzten Eintrag, der die ganze Seite füllt und meine Gedanken von gestern Abend festhält.

Woher kam dieser Mann? Ich weiß es nicht, aber die Frage lässt mich nicht los.

Nachdenklich spiele ich mit dem Daumen an der Seite herum und klappe das dünne, in Leder gebundene Buch schließlich zu. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Dieser Mann bleibt ein Rätsel.

Ich lege meine Aufzeichnungen beiseite und spreche ein Abendgebet, das mit einem leisen»Amen« endet. Bleibt nur noch die Schrift. In Gänze umfasst sie sieben Teile: Das Buch des Schicksals, das Buch der Nacht, das Buch der Trauer, das Buch der Wahrheit, das Buch des Ursprungs, das Buch des Wandels, das Buch der Macht. Die einzelnen Abschnitte sind sowohl Geschichte als auch moralischer Kompass und wurden von der ersten Person niedergeschrieben, die dem Vater Gefolgschaft gelobt hatte: Sie bilden das Fundament unseres Glaubens.

Ich wende mich dem Buch des Schicksals zu und fahre dort fort, wo ich gestern aufgehört habe. Doch die Buchstaben verschwimmen mir vor den Augen, als wären sie frisch niedergeschrieben und die Tinte von jemandem verwischt worden. In Gedanken bin ich woanders. Ich schließe die Augen und denke immer noch an den Fremden, der still und reglos im Wald lag. Sein furchtbar entstelltes Gesicht hat sich mir eingeprägt.

Vom Temperament her bin ich nicht im Geringsten impulsiv. Ich bin nicht der Fluss, der sich einen Weg durch das Gestein gräbt, sondern der Felsbrocken in diesem Fluss. Wahrscheinlich ist der Mann schon fort, von den Unterirdischen in die Tiefe verschleppt, dorthin, wo nur die wahrhaft heimtückischen Wesen zu hausen wagen, und doch …

Ich reiße die Augen auf. Die Dunkelheit zeichnet Gestalten an die Decke.

Ich drehe mich auf die Seite und blicke zur flackernden Kerzenflamme. Sie bedeutet Sicherheit. Ein kleines bisschen Licht. Und trotzdem spüre ich den Schweiß in meinen Achselhöhlen, als wüsste mein Körper schon um meinen Entschluss, bevor ich ihn fasse. Dunkel liegt die Nacht über Carterhaugh. Diese Wälder sind nicht sicher. Der Mann ist schutzlos, hat kein Licht. Doch wenn ich meine Laterne dorthin mitnähme, würde das reichen, um wohlbehalten durch den Wald zu gelangen?

Ich verfluche mein weiches Herz, schlage die Decke zurück und werfe mir den Mantel über, die Laterne nehme ich fest in die Hand. Solange ich vor dem Morgengrauen zurück bin, wird Mutter Mabel nichts davon erfahren.

Ich laufe hastig, bewege mich im Schatten der Säulengänge, schaffe es, ungesehen zu bleiben, und schlüpfe wie ein Gespenst in den Bereich der Außenanlagen, auf den von Bäumen gesäumten, kopfsteingepflasterten Hof, der still im Dunkeln daliegt. Das Gewächshaus befindet sich gegenüber von einem offenen Gatter zu meiner Linken, darin ist auch ein kleiner Schuppen, in dem Eimer, Gartengeräte und ein Karren stehen, mit dem man schwere Lasten transportieren kann. Um zu vermeiden, dass die Räder quietschen, schmiere ich die Achsen und werfe eine Decke auf die Ladefläche. Glücklicherweise komme ich ohne weitere Zwischenfälle ans Tor.

Da nachts niemand das Tor bewacht, muss ich es quälend langsam selbst öffnen. Das Quietschen ist so laut, dass man es wahrscheinlich bis nach Kilkare hört. Ich blicke mich über die Schulter um und bekomme von der Kälte Gänsehaut.

Nichts. Keine Bewegung, kein Geräusch. Die Angst, entdeckt zu werden, treibt mich weiter an. Sobald die Öffnung groß genug ist, ziehe ich den Karren hindurch und lasse das Gitter hinter mir wieder herunter. Die eiserne Barriere ist alles, was Thornbrook vor dem Feenvolk schützt.

Es ist ein langer Weg durch die Dunkelheit. Der Mondschein fällt silbern auf die Erde und ich bin dankbar für das Licht. Rumpelnd rollt das Gefährt über das holprige Gelände.

Ich setze meine Schritte vorsichtig, denn die Unterirdischen treiben des Nachts gern ihr Unwesen. Es ist nicht mehr weit. Ich halte die Laterne hoch, sodass ihr orangefarbener Schein die Umgebung erhellt. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich genau hier den Pfad verlassen, um Perlblumen zu sammeln …

Und dort liegt der Mann.

Er befindet sich an ebender Stelle, an der ich ihn zurückgelassen habe, auf der schmutzigen Erde, die Gliedmaßen von sich gestreckt. Ein merkwürdiger Anblick. Er scheint mit dem Waldboden zu verschmelzen, an seinen Oberkörper schmiegen sich Farne, als wollten sie ihm Trost und Zuneigung schenken. Ich bin erleichtert, dass sich seine Brust hebt und senkt.

Nachdem ich meine Laterne auf der Erde abgestellt habe, ziehe ich mir meine Handschuhe über und lege ihm die Arme seitlich an den Oberkörper. Meine Taille hat den dreifachen Umfang von seiner und meine Arme sind muskulös. Daher erfordert es nicht viel Kraftaufwand, ihn in den Wagen zu hieven. Ich decke ihn zu, damit er es warm hat.

Der Rückweg scheint Ewigkeiten zu dauern. Da eines der Karrenräder nicht richtig ausgerichtet ist, holpert das Gefährt, und von der Anstrengung brennen mir die Oberschenkel. Und doch ziehe ich ihn immer weiter den Berg hinauf. Irgendwann flacht die Steigung für eine Weile ab, dann geht es von Neuem bergauf. Im Osten wird der Himmel schon heller, bald werden die Farben die Welt zurückerobern.

Als ich die bröckeligen Mauern des Klosters erreicht habe, bin ich schweißgebadet. So kurz vor der Morgendämmerung wäre es töricht, den Karren wieder auf das Gelände zu schieben. Ich stelle ihn vor dem Eingang ab, wuchte mir den Mann quer über die Schultern und betrete das Klostergelände über das Torhaus.

An der Rückseite der Schmiede entlang, dort, wo beständig Rauchgeruch in der Luft hängt, führt ein ausgetretener Pfad. Nach ein paar Schritten bleibe ich stehen, um den Mann auf meinen Schultern noch einmal zurechtzurücken. Auch wenn seine Kleidung vor Schmutz starrt, geht von seiner Haut ein süßlicher Duft aus, nach Moos und Sonnenschein. In der Schmiede kann ich ihn nicht verstecken, denn Mutter Mabel kommt oftmals unangekündigt hier vorbei. Ich habe nur wenige Möglichkeiten: das Infirmarium oder meine Zelle. Ihn in die Krankenräume zu bringen, wäre das Beste, doch ich fürchte, die Infirmaria würde ihn trotz seiner Verletzungen vor die Tür setzen und ihn den Naturgewalten überantworten. Ich kann ihn nicht im Stich lassen. So viel weiß ich. Einzig mein Schlafraum wird ihm Schutz bieten.

Ich lausche angestrengt, während ich das Gewächshaus durchquere, an den Hochbeeten mit Gemüse und Heilkräutern vorbeigehe und das Klostergebäude betrete. Zwischen den Steinsäulen sind Stimmen zu hören, wie durch einen Nebel. Wer mag zu dieser Zeit auf den Beinen sein? Die Ausgangssperre hat vor Stunden begonnen.

Ich verlangsame meine Schritte und biege um eine Ecke. Vor mir liegt ein dunkler, stiller Gang, den kleine flackernde Lichtinseln etwas erhellen. Nur wenige Augenblicke darauf taucht an seinem Ende eine große, kantige Silhouette auf.

Das Blut gefriert mir in den Adern.

Ich wage es nicht, mich zu rühren, auch wenn meine Muskeln unter dem Gewicht des Mannes protestieren. Mutter Mabel ist zu weit von mir entfernt, als dass ich erkennen könnte, ob sie in meine Richtung schaut, aber irgendetwas hat ihren Blick auf sich gezogen. Als der Schmerz in meinem Kreuz nicht mehr auszuhalten ist, entschlüpft mir ein Wimmern.

Ihr Kopf fährt zu mir herum. Sie steht im Schatten, doch ich sehe ihre schimmernden Augen, den goldenen Glanz ihrer Schlangenhalskette.

»Mutter Mabel«, ruft jemand.

Sie zuckt zusammen und wendet sich hastig der dunkeläugigen Fiona zu, einer der Novizinnen. »Was machst du hier zu dieser Stunde? Wieso bist du wach, meine Liebe?« Die beiden verschwinden in entgegengesetzter Richtung durch eine Tür, die zur Kirche führt.

Ganz leise steige ich die schmale Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Außer Atem oben angekommen, öffne ich geräuschlos die Tür und verschließe sie mit einem leisen Klicken hinter mir.

Sofort werden meine Knie weich, und der Mann rutscht mit dem Gesicht nach unten auf meine Pritsche. Gleich darauf sinke ich erschöpft zu Boden.

Das war viel zu knapp.

Das Fleisch eines Mannes zu berühren, ist eine schwere Sünde. Einen Mann im eigenen Zimmer zu beherbergen, ohne Aufsichtsperson? Allein bei dem Gedanken schnürt es mir die Kehle zu. Wir alle kennen die Geschichten: von Ordensfrauen, die kurzerhand verbannt wurden, in die Kälte hinausgeschickt, weil sie ihr Gelübde gebrochen hatten.

Kein Zuhause.

Keine Wärme.

Kein Sinn im Leben.

Kein Gott.

Aber – der Mann.

Ich stehe auf, um mir meinen Gast im matten Schein der noch brennenden Lampe genauer anzusehen. Unter seiner zerrissenen Tunika verbirgt sich eine glatte, muskulöse, mit spärlichem braunen Haarwuchs bedeckte Brust. Ich schiebe den Stoff beiseite und entdecke noch weitere Wunden. Wurde er verprügelt? Wenn ja, dann ist das nicht das Werk des Feenvolks. Für die Unterirdischen ist Gewalt ein endloses Spiel, das ihnen Freude bereitet und niemals aufhören soll, sondern immer weiter verlängert wird. Wieso jemanden nur brechen, wenn man seinen Körper biegen und aufschlitzen und verdrehen kann?

Ich rücke die Beine des Mannes gerade, die so lang sind, dass sie über den Rand meiner Pritsche herabhängen. Anschließend durchwühle ich die Truhe am Fußende meiner Schlafstatt. In ihr bewahre ich meine wenigen weltlichen Besitztümer auf. Vor langer Zeit hatte ich ein anderes Leben.

In einem kleinen geflochtenen Körbchen verwahre ich eine Vielzahl an Salben und Balsamtiegeln, die noch von meiner Mutter stammen. Ich schraube ein Fläschchen auf und gebe eine kleine Menge Salbe in meine behandschuhte Handfläche, sodass das Leder davon glänzt.

Den schlimmsten Blutergüssen widme ich mich zuerst – denen unter seinem Kinn. Während die Schwellung in seinem Gesicht allmählich zurückgeht, pflücke ich ihm Blätter und kleine Zweige aus dem Haar und streiche ihm die Locken aus dem Gesicht. Seine Augen sind geschlossen, die Wimpern wirken federleicht und auf den Wangen sind ein paar Sommersprossen. Die Farbe seiner Augen bleibt mir verborgen.

Und dann läutet, unvermeidlich, die Glocke: Morgengrauen.

Und es klopft an der Tür.

3

Es rüttelt am Türknauf. »Brielle!«, ruft jemand unwirsch.

Mein Puls schnellt in die Höhe, und ich bin schon beinahe an der Tür, bis mir einfällt, dass ich sie versperrt habe.

»Mutter Mabel will mit dir sprechen.« Wieder Gerüttel. Der Türrahmen ächzt. »Wieso hast du abgeschlossen?«

Ich blicke zur Tür, zum Bett, zum Fenster. In meinen Ohren rauscht das Blut. Und lähmend kalt strömt es hinab in meine Glieder. Noch zwei, drei, vier Herzschläge später stehe ich wie angewurzelt da.

Die Töchter von Thornbrook erhalten bei ihrer Aufnahme ins Noviziat einen Schlüssel zu ihrer Zelle, doch nur selten benutzen sie ihn auch. Ich habe meinen in zehn Jahren nur zwei Mal verwendet. Heute ist dieses zweite Mal.

»Ich ziehe mich um«, krächze ich. Im Flur hallen Schritte, denn alle sind auf dem Weg zur Kirche.

Draußen ist ein Schnauben zu hören. »Tja, das will wirklich niemand sehen. Danke für deine Rücksichtnahme.«

Ihre Beleidigung ist nicht mehr als ein entferntes Ärgernis. Was soll ich mit dem Mann machen, der auf meiner Pritsche liegt? Und wieso hat man mich vor der Messe einbestellt? Kann es sein, dass Mutter Mabel mich bei meiner Rückkehr aus dem Wald gesehen hat?

Mit zitternden Händen befreie ich mich aus dem verschwitzten Nachthemd und ziehe ein sauberes Kleid über, dabei kämpfe ich mit den Knöpfen an der Vorderseite. Durchs Fenster sehe ich, dass sich der Himmel über der schlafenden Welt violett verfärbt hat, und am Horizont zeigt sich ein goldener Streifen.

»Schaffst du es noch in diesem Leben?«

Obwohl uns die Tür voneinander trennt, zucke ich zusammen. Aber ich darf mir nicht die Blöße geben und die Besucherin merken lassen, dass es mich trifft. Über meinen unerwarteten Gast werfe ich eine Decke – mehr kann ich gerade nicht für ihn tun. Was auch immer nun kommen mag, ich lege es in des Vaters Hände.

Als ich die Tür entriegle, steht vor mir eine zierliche Frau in einem grauen, langärmligen Kleid, wie es alle Töchter von Thornbrook tragen, und über den Arm hat sie eine saubere Albe gelegt. Sie heißt Harper und ihr Wesen lässt sich mit drei Worten ziemlich gut beschreiben: böse, aufbrausend, teuflisch.

Was die ersten beiden Eigenschaften angeht, sind diese ihrer engsten Freundin Isobel vorbehalten. Die letzte ist nur für mich reserviert.

Ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln. »Du siehst aus wie eine Kuh.«

»Wenigstens hab ich nicht das Hirn einer Kuh.«

Harper wirkt über diese unerwartete Erwiderung überrascht. »Wie bitte?« Sie richtet sich etwas auf, reicht mir aber kaum bis zur Nasenspitze.

Bevor Harper einen Blick in mein Zimmer werfen kann, schnappe ich mir mein Gewand vom Haken, ziehe die Tür energisch hinter mir zu und schließe sie von außen ab.

Harpers seewasserfarbene Augen werden schmal. »Hast du etwas zu verbergen?«, fragt sie leise und stellt sich mir in den Weg.

»Ich habe ein Recht auf Privatsphäre«, murmle ich. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.«

Es erfordert heldenhafte Anstrengung, sich nicht von ihr einschüchtern zu lassen. Ich schaue mich im Flur um. Er wird nur von wenigen Lichtquellen erhellt. Die Novizinnen sind bereits gegangen, wir sind allein.

»Hat Mutter Mabel nun nach mir geschickt oder nicht?« Wenn dem so ist, darf ich mich nicht verspäten. Säumigkeit ist ein Grund für Bestrafung.

Harper verzieht den Mund zu einem spöttischen Lächeln. Ihr langes, glänzend schwarzes Haar liegt ihr zum Zopf geflochten auf dem Rücken. »Du bist eine dumme Ziege, Brielle. Und gibst dabei keine gute Figur ab.« Hämisch grinsend schüttelt sie den Kopf. »Keine Sorge. Mutter Mabel erwartet dich nicht. Sie würde sich wegen dir gar nicht die Mühe machen.«

Vor Scham steigt mir das Blut ins blasse Gesicht. Wenn ich keine Kuh bin, bin ich eine Ziege oder ein Schwein oder eine Ratte oder irgendeine andere nutzlose Kreatur. Es hätte mich nicht überraschen sollen – dieser Besuch hatte einzig und allein den Zweck, mich zu schikanieren.

Innerlich kochend stehe ich da, während Harper den Gang entlang davonstolziert. Sobald sie nicht mehr zu sehen ist, schlägt mein Herz langsamer. Die Glocke läutet dreimal: einmal für den Vater, einmal für den Sohn, einmal für den Heiligen Geist. Und ich bin eindeutig zu spät dran für den Gottesdienst.

Thornbrook ist eine weitläufige Anlage, deren Herzstück das Klostergebäude selbst ist, und die offenen Kreuzgänge verlaufen in alle vier Himmelsrichtungen. Die Kirche, das größte der Gebäude, befindet sich im Nordteil des Klosters und bildet den Mittelpunkt des frommen Lebens. Auf der Ostseite ist das Dormitorium mit den Abtritten und dem Badehaus am Ende des lang gestreckten Baus. Das Refektorium liegt auf der Südseite des Klosters. Dort kommen die Töchter von Thornbrook zu den Mahlzeiten zusammen.

Nach der Messe begeben wir uns zum Frühstück. Das dunkle, kühle Refektorium heißt mich willkommen, als ich mich hinter meinen Mitschwestern durch den Eingang schleiche. In der steinernen Halle stehen genug einfache Holztische und lange Bänke, dass hier gut einhundert Menschen Platz finden. Die Ostwand hat offene Fenster, durch die der schwere, nach Lehm riechende Wind hereinweht.

In der Halle ist es so still, dass nur das Schlurfen der Pantoffelsohlen auf dem Boden zu hören ist. Ich nehme mir eine Schüssel und gebe einen Löffel Haferbrei aus dem Topf hinein. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen. Meistens habe ich morgens keinen Hunger, doch ich zwinge mich zum Essen, denn ich weiß, dass die nächste Mahlzeit erst wieder nach einem anstrengenden, arbeitsreichen Vormittag zu erwarten ist.

Der Speiseplan in Thornbrook ist schlicht. Es gibt immer Brot, Wein, Gemüse und Obst, selten Fleisch, und wenn, dann nur für Kranke. Da ich nicht den Fehler mache, das Wasser zu trinken – wer weiß, ob das Feenvolk sich an den Brunnen zu schaffen gemacht hat –, zapfe ich einen Becher Wein aus dem Fass und gehe dann an einen freien Tisch am hinteren Ende des Saals. Wenige Augenblicke später öffnet sich die Tür. Die anderen Novizinnen und ich nehmen Haltung an.

In ein schweres, weißes Gewand gekleidet, kommt Mutter Mabel herein. Eine goldene, exakt symmetrisch ausgerichtete Stola, an deren beiden Enden der Dreifaltigkeitsknoten aufgestickt ist, wärmt ihr die Schultern. Die Akolythinnen tragen die rote Stola der Diakonie, die den Dienst an Gott repräsentiert. Die goldene Stola hingegen steht für Autorität in Glaubensdingen.

Die Äbtissin von Thornbrook ist hochbetagt, auch wenn sie äußerlich mittleren Alters zu sein scheint. Sie hat weder Falten im Gesicht noch schlaffe Haut unter dem Kinn. Aufrecht wie eine hohe Pinie scheint sie durch den Speisesaal zu schweben, hin zu ihrem erhöhten Sitzplatz.

Als sie auf das Podest steigt, gleitet ihr Blick durch den Saal. Ihr weißblondes Haar trägt sie zum Dutt gebunden. Unter blassen Brauen, von denen eine durch eine Narbe geteilt wird, sehen uns scharf dreinblickende schwarze Augen an. Viele behaupten, sie seien einmal blau gewesen.

Laut manchen der älteren Akolythinnen wurde Mutter Mabel vor Jahrzehnten einmal in Untererden gefangen gehalten, als sie sich geopfert und zum Austausch gegen Geiseln angeboten hatte. Auf diesem Weg wollte sie drei Novizinnen retten, die zuvor wiederum vom Herrscher von Untererden entführt worden waren, und irgendwie hat sie es geschafft, trotzdem zu entkommen. Niemand weiß, was in der Zeit geschah, die sie dort unten verbracht hat. Sie kam zurück nach Carterhaugh und sah aus wie eine Unsterbliche – trug das Zeichen ewigen Lebens.

»Erhebt euch zum Tischgebet.«

Die Sitzbänke scharren auf dem Boden, als die Frauen aufstehen. Mit geneigtem Kopf, die Hände vor dem Körper gefaltet, sprechen wir wie aus einem Mund.

»Ewiger Vater, segne dieses Mahl, das unseren Körper nährt, und stärke die Bande, die uns mit dir verbinden.«

Ich hebe den Kopf. Mutter Mabel sieht mich so eindringlich an, als wollte sie mich mit ihrem Blick durchbohren.

Mit einem leisen »Amen« und weichen Knien lasse ich mich zurück auf die Bank sinken. Weiß sie von meinem Ungehorsam? Dem Mann in meinem Bett? Noch kann ich es nicht sicher wissen. Nach dem Gebet essen wir schweigend und nutzen die Gelegenheit, um über unser Verhältnis zum Vater nachzudenken. Ich konzentriere mich auf das Essen, mein Löffel kratzt über den Boden der Tonschale. Schließlich richtet Mutter Mabel ihre Aufmerksamkeit auf jemand anderen und ich kann wieder frei atmen.

Am Tisch schräg gegenüber sitzt Harper mit den pechschwarzen Haaren neben der eloquenten Isobel. Harper hat das Kinn hochmütig gereckt, eine Königin mit ihren Untertanen. Wenn ich die Augen schließe, denke ich an das, was ich erduldet habe: Beleidigungen wie Peitschenschläge, dornige Worte, die mich mit brutaler Wucht treffen. Grausamkeit in all ihren Facetten.

Natürlich wäre keine Herrschaft komplett ohne eine Truppe geifernder Gefolgsleute. Heute haben sich drei Novizinnen zu Harper und Isobel gesellt, begeistert, endlich in ihren Kreis aufgenommen worden zu sein. Es schmerzt mich, wenn ich daran denke, dass ich einmal gern an ihrer Stelle gewesen wäre.

Das Frühstück endet, wie es beginnt: schweigend. Alle tragen ihr Geschirr in die Küche und gehen dann an ihre vormittäglichen Aufgaben.

Die Abtei umfasst ein Gelände von fast zwanzig Morgen Land innerhalb ihrer Mauern. Außer dem Hauptgebäude gibt es ein Gewächshaus, Ställe, ein paar Lagerhäuser, eine Weinkellerei, Felder, auf denen verschiedene Getreidesorten angebaut werden, und die Schmiede. Auf dem Rest des Geländes befinden sich viele Bänke und Schatten spendende Bäume, wo gebetet oder meditiert werden kann. Wie alle Klöster versorgt sich Thornbrook selbst. Und es gibt immer etwas zu tun.

Diejenigen von uns, die zur Gerstenernte eingeteilt wurden, versammeln sich beim Schuppen im Garten. Am Abend des Zehntritus, wenn ein weiterer sieben Jahre währender Kreislauf zum Ende kommt, werden wir Milch und Gerste auf die Fenstersimse und unsere Türschwellen stellen, als Schutz vor dem Feenvolk in der Nacht, wenn der Schleier zwischen den Reichen durchlässig wird.

Eine Frau schnappt sich die Kordel. Eine andere nimmt die Sicheln und eilt zu den in der Ferne liegenden Feldern. Zwei weitere greifen sich die Eimer. Was bleibt? Der Karren.

Für solche Arbeit bin ich wohl geschaffen.

Die Räder des Handwagens rumpeln über den Pfad. Eine milde Brise streicht durch das hohe Gras, biegt die Halme in wogenden Wellen.

Ich schneide die Gerste mit gebeugtem Rücken und die sengende Sonne brennt auf meinen Nacken, bis meine Kleidung schweißgetränkt ist. Wieder und wieder schweifen meine Gedanken zu dem bewusstlosen Fremden. Aber jedes Mal konzentriere ich mich von Neuem auf meine Arbeit. Zur Mittagszeit legen wir eine Pause zum Essen und für das persönliche Gebet ein, danach machen wir uns erneut an die Erntearbeit, binden die Gerste zu Garben, damit sie trocknen kann, bis die Glocke zur dritten Stunde schlägt.

Unterricht gibt es zwei Stunden am Tag, außer an Feiertagen. Lesen, Schreiben, Astronomie, Arithmetik, Geometrie. Bevor ich zur Bibliothek eile, bleibt mir noch genug Zeit für eine Katzenwäsche im Badehaus. Nach dem Unterricht wird im Refektorium das Abendessen eingenommen, anschließend folgt eine Stunde Gottesdienst. Als ich hinter den anderen Frauen die Treppe im Dormitorium hinaufgehe, flackern die Fackeln an der Wand, auch wenn es in den Gängen der Abtei keine Fenster gibt, durch die eine Brise hereindringen könnte. Ich bin schon den halben Flur entlanggegangen, da sehe ich, wie Harper von ihrer Türschwelle aus misstrauisch zu mir herübersieht.

Ich habe ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Ich kann förmlich sehen, wie hinter diesen eiskalten Augen ihre Gedanken kreisen, bis sie zuschnappen wie eine Falle. Harper ist gerissen. Sie durchschaut die Feinheiten menschlichen Verhaltens.

Ich senke den Blick und eile zu meiner Zelle. Sie beobachtet mich, bis ich die Tür hinter mir abgeschlossen habe.

Das Mondlicht fällt auf die konturlose Gestalt auf meiner Pritsche, noch immer liegt der Fremde unter der Decke. Seit heute früh hat er sich nicht bewegt. Das macht mir Sorgen. Ist er womöglich schwerer verletzt, als ich ursprünglich angenommen habe? Aber ich kann es nicht riskieren, ihn zur Infirmaria unserer Abtei zu bringen. Bleibt die Frage: Was mache ich mit einem Mann, der nicht aufwacht?

Nachdem ich meine Handschuhe übergestreift habe, trete ich neben die Pritsche und nehme die Decke weg, taste an seiner Schädelbasis unterhalb der golden glänzenden Locken entlang. Keine merkliche Schwellung. Das ist ein gutes Zeichen. Wenigstens ist sein Atem nun gleichmäßiger, leise und friedlich.

»Wer bist du?«, flüstere ich. »Woher kommst du?«

Der Mann antwortet nicht.

4

Zehn Meilen südwestlich von Thornbrook liegt Kilkare, eine Ansammlung von Lehmziegelhäusern, die sich in ein flaches Tal kauern, wo der Mur und der Twee zusammenfließen. Wie alle Städte in Carterhaugh ist es von einer mit Eisenspitzen bewehrten Steinmauer umgeben. Die Einwohner dieser Stadt halten an manchen der älteren Bräuche zur Bekämpfung des Feenvolks fest, und so ist um die Mauer herum zusätzlich ein breiter Ring aus Salz zum Schutz aufgeschüttet.

Am Tor hält man uns an. Die Fuchsstute, die unseren Karren zieht, scharrt mit dem Vorderhuf, als der Torwächter unsere Ladung, die Kisten mit den Waren, durchsucht. Neben Mutter Mabel sind wir, ich inbegriffen, zehn Novizinnen, die dieses Prozedere abwarten.

Der Torwächter hebt die Hand. »Alles in Ordnung.«

Fiona führt die Stute an den Zügeln voran und der Wagen setzt sich in Bewegung. Im Gänsemarsch trotten wir die breite, unbefestigte Straße entlang. Jeder einzelne Baum ist hier gefällt worden, jedes Hälmchen Gras zertrampelt. Kilkare ist eine dunkle Narbe mitten im üppigen Grün von Carterhaugh.

Die Luft riecht nach geschmolzenem Metall, und als die Sonne hinter dem Berggipfel hervorkommt, flutet sie das Tal mit ihrem Vormittagslicht. Markttag – der erste des Monats. Auch wenn Thornbrook autark ist und sich selbst versorgt, verkaufen wir hier viele von unseren Erzeugnissen – Kräuter, Wein, frisches Brot –, was den Menschen in der Umgebung zugutekommt.

Auf der Hauptstraße herrscht Chaos. Wagenräder graben tiefe Furchen in den Schlamm. Notdürftig bekleidete Kinder flitzen zwischen den Pferden durch den Dreck, dass es spritzt. Den Straßenrand säumen allerorten Tische, Stände und Geschäfte, Händler schwenken ihre Waren, Kunsthandwerker verkünden lautstark ihre Preise, als hätten sie vor, heute ihr Geschäft aufzugeben. Die Schmiede, in der ich einst gelernt habe, bläst eine Straße weiter ihren Rauch in die Luft. In der Ferne durchbricht der weiße Turm einer Kathedrale das Einerlei der lehmfarbenen Gebäude der Stadt.

»Ihr wisst Bescheid, meine Damen«, sagt Mutter Mabel und deutet auf einen freien Platz zwischen zwei Marktständen, wo wir den Karren abspannen. »Ich hole rasch ein paar Süßigkeiten. Irgendwelche Wünsche?«

Harper drängt sich nach vorn. »Zuckerplätzchen, bitte.« Erwartungsvoll schaut sie in die Runde, als würde sie damit rechnen, dass ihr jemand widerspricht. Ein paar Frauen sehen zu Boden.

Mutter Mabel nickt gedankenverloren. Harper blickt enttäuscht drein.

»Ich werde sehen, ob es welche gibt«, sagt die Äbtissin. »Sonst noch wer? Brielle?«

Auch wenn ich eine Schwäche für Himbeertörtchen habe, erwidere ich bloß: »Nein danke.« Ich bin nicht besonders erpicht darauf, Harpers Zorn auf mich zu ziehen, und meine Vorliebe erscheint mir ohnehin zu unbedeutend, um sie zu äußern.

»Gut. Fiona, begleitest du mich?« Sie deutet auf die junge Frau mit der hellen Haut und die beiden gehen in Richtung der Bäckerei.

Voller Verachtung schaut Harper Fiona hinterher. Es läuft mir kalt über den Rücken, denn mit genau diesem Blick aus schmalen Augen hat sie mich auch schon bedacht.

Die Novizinnen tratschen untereinander. Sie behaupten, Fiona werde die nächste Ordensangehörige sein, die das ewige Gelübde ablegen und damit ihr Leben Gott weihen darf. Ich hoffe sehr, dass es nicht so kommt. Zehn Jahre lang habe ich gelernt und gebetet, alles getan, um eines Tages zur Akolythin ernannt zu werden – einer Hirtin des Vaters. Weil den neuen Akolythinnen so viel Wissen vermittelt werden muss, kann jedes Jahr nur eine einzige Novizin in diesen Rang aufsteigen. Und trotz meines Fleißes mache ich mir Sorgen, dass ich in den Augen der Äbtissin wieder nicht gut genug dafür bin. Sieht Mutter Mabel denn nicht, wie sehr ich mir wünsche, dem Vater zu dienen? Diesmal muss ich es sein. Unbedingt.

Ich spüre Blicke im Rücken, als ich die Kiste mit Messern vom Wagen zu meinem Tisch trage. Nachdem ich den Deckel geöffnet habe, entferne ich eine Lage weißen Stoff und mache mich daran, die Schmiedestücke auszuwickeln.

»Gib mir das Tuch.«

Ich schaue hoch. Isobel streckt über den Tisch gebeugt die Hand danach aus.

Ich drücke das Leinengewebe fest an mich und runzle die Stirn. »Das brauche ich für meine Messer.« Ein schneeweißer Hintergrund, um die metallenen Klingen zu präsentieren.

»Und wir brauchen es für den Wein.« Harper steht jetzt neben ihr. Beide tragen den Anhänger mit dem Dreifaltigkeitsknoten, den wir nie ablegen dürfen. Meiner hängt unter meinem Kleid.

»Ihr habt schon eine Tischdecke«, entgegne ich. Genau genommen zwei.

Isobel grinst habgierig. Ihre Zähne blitzen perlweiß in ihrem dunklen Gesicht. »Wir wollen aber die hier.« Sie reißt mir das Tuch aus der Hand und dreht sich dabei so schnell weg, dass mir der Stoff um die Beine peitscht und Isobels zahlreiche Zöpfe mit den lockigen Enden beinahe gegen meine Wange schlagen. Gemeinsam mit Harper breitet sie mein Tuch auf dem Tisch aus. Die beiden Novizinnen wollen Krüge mit Wein feilbieten.

Ich spüre eine Beklemmung, die ich gut kenne. Wie leicht es für sie ist, mich aus der Fassung zu bringen! Ausgerechnet heute brauche ich Klarheit. Ohne einen klaren Kopf komme ich mit meinem derzeitigen Problem, dem geheimnisvollen Fremden in meiner Zelle, nicht weiter.

Das Geschäft läuft vormittags gut. Die Sonne steigt höher und meine Haut wird klebrig vor Schweiß. Noch vor dem Mittag habe ich vier Dolche und zwei Küchenmesser verkauft. Als es Stunden später auf dem Markt langsam leerer wird, kommt eine in einen Mantel gehüllte Gestalt in unsere Richtung, und die Menge macht ihr den Weg frei, teilt sich vor ihr wie Ähren auf dem Feld, wenn der Wind bläst.

Ihr geschmeidiger Gang fällt mir auf. Unter der hochgeschlagenen Kapuze dominieren zwei dunkle Augen das aschfahle Gesicht der Frau. Sie sind so stumpf wie Stein, als hätte ihr jemand glatte schwarze Kiesel in die Augenhöhlen gesetzt.

Ich richte mich ein Stück auf und meine Hand wandert zum Dolch an meinem Hüftgurt. Feenvolk. Wie ist es einer ihrer Frauen gelungen, durch das eiserne Stadttor zu gelangen?

Als die Frau vor meinem Tisch stehen bleibt, rennt Fiona davon, wohl in der Hoffnung, die Äbtissin zu finden oder zumindest die Obrigkeit zu alarmieren. Ich habe Angst davor, mich zu hastig zu bewegen, weil ich nicht weiß, was dann passieren könnte.

»Keine Schmiedemarke auf der Klinge«, bemerkt die Fremde leise und mit heiserer Stimme. Sie deutet auf die Dolche auf dem Tisch und hebt den Blick ihrer steinernen Augen, um meinem zu begegnen. »Seid Ihr die Schmiedin?«

»Sie wurden in Thornbrook gefertigt«, flüstere ich. Diese Frau ist klein, ihr Körper unterentwickelt und knochig, das kann auch ihr langer Mantel aus Schafsleder nicht verdecken. Als sich ihre pergamentartigen Lippen öffnen, kommt eitriges Zahnfleisch zum Vorschein. Beim Anblick dieser hässlichen Kreatur fällt es mir schwer zu glauben, dass das Feenvolk Carterhaugh vor langer Zeit mit uns Menschen geteilt hat.

»Von Eurer Hand?«

Ich schaue mich um und stelle fest, dass der Marktplatz nun völlig leer ist, denn die Kunde von der ungebetenen Besucherin hat sich in der Stadt in Windeseile verbreitet. Die Frau hat recht: Ich habe das Feuer zum Leben erweckt, den Hammer geführt, und doch trägt die Klinge kein Zeichen, das darauf schließen lässt, wer sie hergestellt hat. Ich hatte nie den Mut, mir einen eigenen Stempel anzufertigen.

Sie schürzt die Lippen. Unter ihrer Kapuze wirbeln Schatten, selbst im hellsten Sonnenschein. »Ich bin hier, weil ich ein Messer suche. Man soll den Zehnt nie unterschätzen. Ihr versteht sicherlich.«

Meine Handflächen werden feucht, sodass sie am mit Leder umwickelten Griff des Dolches kleben. Sie wagt es, den Zehnt zu erwähnen? Hier?

»Darf ich?« Die Frau greift nach einer der Klingen, die in einer Scheide steckt, und ich nicke, sehe zu, wie sie die Waffe aus der schützenden Umhüllung zieht.

»Ah!«, ruft sie vor Schmerz, und das Messer rutscht ihr aus den grotesk langen Fingern und fällt klirrend auf den Tisch. Erschrocken weiche ich zurück.

Wimmernd hält sich die Fremde die Hand an die Brust, beißt die Zähne zusammen. Eisige Furcht durchfährt mich. »Es tut mir sehr leid.« In Panik sehe ich mich um. Harper versteckt sich hinter Isobel, die sich an eine andere Novizin klammert. Alle drei kauern hinter dem Karren. »Ich kann Euch eine Heilerin holen –«

»Es ist nicht Eure Schuld.« Sie öffnet die Hand, auf deren faltiger grauer Haut sich große weiße Blasen zeigen. »Mir hätte klar sein sollen, dass eine von einer Sterblichen geschmiedete Klinge Eisen enthält.« Sie lächelt schmallippig und lässt die verletzte Hand in der Manteltasche verschwinden.

Da tritt Mutter Mabel mit hochgerecktem Kinn vor die Frau. Ihre Augen brennen mit der Heftigkeit von tausend Sonnen. »Ihr habt hier nichts zu suchen.« Sie schiebt die Besucherin vor sich her und zwingt sie, sich mitten auf die Straße zu begeben. »Ich gewähre Euch die Möglichkeit, Kilkare freiwillig zu verlassen. Tut Ihr dies nicht, werde ich den Stadthüter rufen, und der wird nicht so gnädig sein. Überlegt es Euch gut.«

Die Frau sieht mich an. Ihr Blick ist mir unangenehm, doch ich weiche nicht zurück. Sie hat Angst, man merkt es ihr an, oder bilde ich es mir nur ein? Sie zieht ihren Mantel fester um die Schultern und eilt davon, wobei sie noch einmal kurz zurückschaut, bevor sie in einer Gasse verschwindet.

»Sie hat dir doch nichts getan?« Mutter Mabel muss sich sichtlich beherrschen.

»Nein, ehrwürdige Mutter«, antworte ich mit bebender Stimme. Das muss der Schreck sein, denn in meinen Gliedern sirrt eine betäubende Kälte.

Mutter Mabel wirkt erleichtert, ihre Sorgenfalten glätten sich. »Gut«, erwidert sie und blickt über den Platz. »Ich weiß nicht, wie diese Kreatur nach Kilkare gelangt ist, doch wenn eine es durch das Tor geschafft hat, könnten sich noch weitere hier aufhalten. Am besten kehren wir unverzüglich nach Thornbrook zurück.«

Wir haben den Karren noch nicht einmal ausgeladen, da eile ich schon zum Dormitorium, nehme zwei Treppenstufen auf einmal. Mir bleiben noch zehn Minuten, bis die Glocke zum Abendessen läutet.

Meine Schritte hallen auf dem kalten Stein wider. Der Luftzug im leeren Flur bringt die Flammen der Fackeln an den Wänden zum Tanzen. Ich bin schon fast bei meinem Zimmer angekommen, als ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnehme und kurz zögere.

In einer dunklen Nische steht Harper und beobachtet mich.

Die Welle der Angst ist so übermächtig, dass mir für einen Moment der Atem stockt. Wie hat sie es vor mir die Treppe herauf geschafft? Als ich vom Hof aus nach oben ging, war sie mit Isobel in ein Gespräch vertieft, wahrscheinlich schmiedeten sie gerade Pläne, wie sie mich am besten demütigen können. Es spielt keine Rolle, dass wir erwachsen sind. In ihren Augen bin ich Mutter Mabels Liebling. Meine bloße Existenz bedroht die Ambitionen der beiden, denn auch sie sehnen sich nach der roten Stola der Akolythinnen.

»Verfolgst du mich etwa?«, frage ich mit gerecktem Kinn, obwohl mir das Herz bis zum Hals klopft.

Harper tritt ins Licht wie ein Fuchs aus dem Unterholz. »Was versteckst du, Brielle? Was willst du vor fremden Blicken verbergen?«

Sie hat ihre Vermutungen, weiß aber nichts mit Gewissheit. Es macht jedoch keinen Unterschied. Meine Tür ist verschlossen. Nur Mutter Mabel und ich besitzen einen Schlüssel.

»Ich ziehe mich fürs Abendessen um«, bringe ich erstaunlich gelassen hervor.

Sie stellt sich mir in den Weg. »Denkst du etwa, ich wäre blind? Die anderen bekommen vielleicht nichts mit. Sehen nur die vorbildliche Brielle, ohne Fehl und Tadel. Aber ich kann hinter die Fassade blicken.« Noch einen weiteren Schritt, und wir würden uns berühren. Sie ist so zart, verglichen mit mir. »Ich durchschaue dich.«

Ich zittere. Meine Wut und Angst sind überwältigend. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«

»Nein, stimmt.« Sie blickt über meine Schulter und flötet: »Guten Abend, Mutter Mabel.«

»Guten Abend, Harper.«

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Harper lächelt und zeigt ihre weißen Zähne.

Langsam drehe ich mich zu Mutter Mabel um. Sie hat die Hände vor der Brust verschränkt, ihre Stiefel schurren beim Gehen über den Boden. Die schwere Goldkette hängt wie ein Joch um ihren Hals. »Du meintest, es sei dringend«, sagt sie mit kaum verhohlener Verärgerung. »Und was ist nun so dringend, dass ich mich deswegen zum Abendessen verspäte?«

Mit sichtlichem Missfallen verzieht Harper den Mund und deutet auf mich. »Es sieht ganz danach aus, als hätte einer Eurer Schützlinge einen schlimmen Fehler begangen. Ich glaube, Brielle hat einen Fremden in die Abtei gebracht.«

Mir fehlen die Worte. Und ich fürchte, mich zu übergeben, sobald ich den Mund öffne.

Mutter Mabel blickt Harper ernst und missbilligend an. »Das ist eine schwere Anschuldigung. Hast du Beweise, die deinen Vorwurf stützen?«

»Oh ja«, antwortet sie mit gesenktem Kopf, scheinbar der Inbegriff von Frömmigkeit und Demut. »Ich hatte gehofft, ich würde mich irren, doch gestern habe ich etwas gehört. Eine Männerstimme.« Sie schluckt. »Er hat gestöhnt.«

Schweigen. Totenstille. »Ein Mann, hast du gesagt?«

»Ja, Mutter Mabel.«

Egal wie sehr ich gegen die Röte ankämpfe, ich kann nicht verhindern, dass sie mir in die Wangen schießt. Ist der Fremde also endlich aufgewacht?

»Brielle«, sagt Mutter Mabel zu mir, den bohrenden Blick ihrer schwarzen Augen auf mich gerichtet. »Stimmt das?«

Ich denke an unsere Sieben Gebote, das Fundament unseres Glaubens. Und an das siebte, das man am allerwenigsten brechen darf.

Du sollst nicht lügen.

Doch ich habe schon vor Tagen meine Wahl getroffen. Ich habe das Leben dieses Mannes über die Sicherheit von Thornbrook gestellt. Habe keinen Gedanken an die Gefahren verschwendet, die damit für die Abtei verbunden sein könnten. Das Einzige, was mir durch den Kopf ging, waren die vielen offenen Fragen, und vor allem wollte ich jemandem helfen, der Hilfe benötigte.

»Also, meine Liebe?« Die Äbtissin sieht mich eindringlich an, wartet auf eine Antwort.

Mit bleiernen Füßen gehe ich zur Tür, schließe sie auf und trete zur Seite.

Mutter Mabel betritt meine Zelle. Mit schweißnassen Händen knete ich den Stoff meines Kleides. Gut möglich, dass man mich aus dem Orden ausschließt. Mit dieser Entscheidung muss ich leben, und doch nimmt mir eine übermächtige Furcht die Luft, denn alles, was mir wichtig ist, habe ich dafür aufs Spiel gesetzt, diesen Mann zu retten, der mir eigentlich gar nichts bedeutet.

»Harper, kannst du mir bitte behilflich sein?«

Meine Mitschwester stolziert an mir vorbei. »Ja, Mutter Mabel.«

»Kannst du mir diesen geheimnisvollen Gast zeigen?«

Schweigen. »Aber hier war ein Mann! Ich bin mir ganz sicher.«

»Und wo ist dieser Mann nun?«

Mein Herz macht einen hoffnungsvollen Satz, als ich genau hinter den beiden ins Zimmer trete. Das Licht der Fackeln im Flur fällt auf meine Pritsche, wo der Mann heute früh gelegen hat. Doch sie ist leer. Die zerwühlte Decke wurde glatt gestrichen. Die Blutflecke am Boden sind weggeschrubbt. Ich muss an mich halten, um mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

Mein Blick fällt auf das Fenster. Die Läden sind geschlossen, der Riegel vorgelegt. Meine Zimmertür war auch versperrt. Wie in aller Welt hat der Mann es dann geschafft, unbemerkt zu verschwinden?

»Ich habe aber jemanden gehört, Mutter Mabel, ich schwöre es.« Harper sieht sich mit ihren blauen Augen im Zimmer um. »Brielle hat sich merkwürdig verhalten. Ich weiß, dass irgendetwas nicht stimmt.«

Mutter Mabel richtet sich majestätisch zu ihrer vollen Größe auf. »Wenn du das nächste Mal beschließt, meine Zeit mit Albernheiten zu verschwenden, dann wirst du die Peitsche zu spüren bekommen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Harpers verblüfftes Schweigen ist wahrscheinlich das Schönste, was ich je erlebt habe.

»Du hast eine Woche Latrinendienst. Denke über dein Verhalten gründlich nach, und darüber, ob deine Werte mit denen von Thornbrook im Einklang stehen.« Mit diesen Worten verlässt sie meine Zelle und ihre Schritte verhallen.

Es herrscht vollkommene Stille. Harpers Schweigen lässt meine Haut kribbeln, und doch rühre ich mich nicht, wie ein Reh, das auf offenem Feld einem Jäger gegenübersteht.

Langsam bewege ich mich Richtung Tür.

Plötzlich packt Harper mich am Arm und gräbt die Fingernägel tief in meine Haut; ich bin überrascht, dass es nicht blutet. »Ich weiß nicht, was du da versteckst«, fährt sie mich giftig an, »aber ich werde es herausfinden.« Bevor ich sie abschütteln kann, stürmt sie schon an mir vorbei und wirft die Zimmertür hinter sich zu.

Mit zitternden Händen zünde ich meine Lampe an und lasse mich auf den Rand meiner Pritsche sinken, die unter meinem Gewicht ächzt. Ich begreife das nicht. Ein Mensch kann schließlich nicht durch Mauern gehen. Und auch kein Fenster von außen versperren. Selbst wenn die Blutflecke verschwunden sind, ist auf dem Kissen noch die Mulde von seinem Kopf erkennbar, und im Raum hängt ein Duft von Frühling.

»Na, das war ja ein Schauspiel!«

Ich wirble herum, ziehe das Messer aus der Scheide an meiner Hüfte und ziele damit auf die Brust des Mannes. Er steht in lässiger Pose am Fenster, das jetzt geöffnet ist, eine Schulter an die Wand gelehnt. Als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, mustert er mich mit kleegrünen Augen.

Wir starren einander an, keiner von uns bewegt sich. Die Panik in mir flaut ab und schließlich beruhigt sich auch mein Puls. Es ist der Mann aus dem Wald, merkwürdig zwar, aber kein Wildfremder.

Irgendwoher hat er sich saubere Kleidung beschafft. Er trägt eine grüne Tunika, die ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reicht, und eine eng anliegende Hose, die er sich in die aus dunklem, weichem Leder gefertigten Stiefel gesteckt hat. Er hat breite Schultern, ist aber insgesamt eher von schlanker Statur. Seinen Mantel trägt er nicht. Ich umfasse den Griff meines Messers fester.

»Findet Ihr etwa nicht?«, fragt der Mann und legt den Kopf schräg. Eine vorwitzige Locke fällt ihm dabei in die Stirn.

»Wie bitte?«

»Ein ziemlicher Auftritt, findet Ihr nicht?«

Wenn sein Gesicht mich nicht so ablenken würde, könnte ich mich vielleicht auf das Gespräch anstatt auf seine Erscheinung konzentrieren. Auch wenn die Schwellungen ein Stück weit zurückgegangen sind, bietet er doch einen erbärmlichen Anblick.

Seine Gesichtszüge haben nichts Natürliches. Seine Nase ist offenbar gebrochen und furchtbar schief. Sein Kinn wirkt zu breit und zu spitz, als dass es natürlich wäre. Nur seine Augen sind beeindruckend, von durchscheinender Farbe, und sie mustern mich neugierig von Kopf bis Fuß.

»Habe ich Euch meine rasche Genesung zu verdanken?«, fragt er in einem leisen, melodiösen Singsang. Seine Stimme scheint schwerelos dahinzuschweben. Sie ist zu schön für sein Gesicht.

»Ja«, antworte ich.

»Dann danke ich Euch.« Er senkt das Kinn und sieht mich mit einer Unverhohlenheit an, dass es mir die Röte in die Wangen treibt. »Diese Freundlichkeit muss ich belohnen.«

Nach einiger Überlegung lasse ich den Dolch sinken. Ich spüre keine bösen Absichten bei ihm. »Das ist nicht nötig, doch in Zukunft würde ich es mir zweimal überlegen, eine Frau in ihrem Schlafraum zu erschrecken. Ich hätte Euch so schwer verletzen können, dass Ihr nicht mehr zu retten gewesen wärt.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte er mit amüsierter Miene, »doch ich weiß die Warnung zu schätzen.«

Vor Irritation habe ich meine Mimik nicht ganz unter Kontrolle und ich gehe zurück zu meiner Pritsche, um Abstand zwischen uns zu schaffen. Wenn die Fensterläden verschlossen waren, wie konnte er von außen hereinkommen, und erst recht in den zweiten Stock?

»Wie es scheint, stehe ich in Eurer Schuld.«

»Wie gesagt, eine Gegenleistung ist nicht nötig. Ihr wart verletzt. Jeder hätte in diesem Fall geholfen.«

»Behauptet Ihr.« Mir ist rätselhaft, was er mit dieser Aussage beabsichtigt. »Und selbst wenn, Schulden müssen beglichen werden.«

Sein intensiver Blick lässt mich wieder zum Fenster schauen. Schwer liegt die Dunkelheit über Carterhaugh. Die Einzelheiten zu seiner misslichen Lage, das Warum, das Wie und das Was gehen mich nichts an.

»Ich spüre Eure Neugierde.« Er hebt eine Hand, betrachtet sie von allen Seiten und steckt sie dann in seine Hosentasche. »Was wollt Ihr wissen?«

Ich senke den Blick. Atme tief durch, dann noch einmal.

»Was für ein Unhold hat Euch diese Verletzungen zugefügt?«, frage ich und senke die Lider. Durch die Wimpern sehe ich einen Moment lang seine angespannte Miene, aber zu kurz, um seinen Gesichtsausdruck deuten zu können. Zweifel vielleicht, oder Schmerz.

»Dieser Unhold war leider mein Bruder«, antwortet er achselzuckend. »Was geschehen ist, ist geschehen. Ich bestehe darauf, Euch Eure Freundlichkeit zu vergelten.«

»Es ist nicht der Rede wert.«

»Ein Leben ist sehr wohl der Rede wert. Besagen das nicht auch Eure Lehren?« Er deutet auf meinen Schreibtisch, wo ein dickes Buch liegt, die Schrift.

»Seid Ihr gläubig?«, frage ich interessiert.

Er stößt sich von der Wand ab und zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit bin ich überrascht. Wie geschmeidig! Anders lässt es sich nicht beschreiben. Eine fließende Bewegung seiner Gliedmaßen, Ebbe und Flut.

»Man könnte sagen, dass ich der Frömmigkeit früher sehr zugetan war. Nun habe ich einfach den Glauben verloren.«

Im Turm schlägt die Glocke zur sechsten Stunde, es ist Zeit für das Abendessen. Als der Mann auf mich zutritt, weiche ich weiter zurück und hebe warnend den Dolch. War ich naiv, ihn als harmlos eingeschätzt zu haben?

Er betrachtet meine Waffe, kommt jedoch nicht näher. Vielleicht erkennt er, dass ich die Klinge, wenn nötig, ohne Zögern einsetzen würde. »Ein guter Dolch«, sagt er. »Woher habt Ihr ihn?«

»Ich bin Schmiedin. Ich habe ihn selbst gefertigt.«

Er wirkt nicht sonderlich beeindruckt. »Nun, so etwas sieht man nicht alle Tage.«

Ist das eine Beleidigung oder ein Kompliment? Ich kann es nicht sagen, sein Tonfall ist schwer zu deuten. »Ist der Dolch Eure Waffe der Wahl?«, frage ich, ehe ich mich zurückhalten kann.

Er lacht, und mein Herz setzt einen Schlag aus. »Nein. Ich ziehe den Bogen vor. Dolche können unpraktisch sein. Sie zwingen einen dazu, dem Feind sehr nahe zu kommen, das scheint mir ein Nachteil.«

Hält er also den Dolch für eine unterlegene Waffe? »Man braucht Übung dafür. Dann würdet Ihr Euch vielleicht nicht ungerüstet fühlen.«

Er neigt den Kopf und sieht mich mit seinen leuchtenden Augen an. »Vielleicht.«

In einiger Entfernung höre ich Schritte auf dem Gang, was mir sagt, dass meine Mitschwestern zum Refektorium gehen. Die Mahlzeit kann erst beginnen, wenn alle da sind. Mein Fehlen wird bemerkt werden. Man wird mich nach dem Grund meiner Verspätung fragen.

»Wie heißt denn die Frau, die sich um mich gekümmert hat?«, sagt er. »Die Bitte, mir Euren Namen zu verraten, werdet Ihr mir doch gewiss nicht abschlagen?«

Ich sehe zur Tür. Ich sollte gehen, und doch bleibe ich wie angewurzelt stehen. »Ihr gehört zum Feenvolk.« Auch wenn er nicht aussieht wie einer von ihnen, ergibt sein Beharren darauf, mir die Schuld zu vergelten, nur so einen Sinn. Alles nur, um Kontrolle über jemanden zu erlangen.

»Nein«, sagt er barsch, plötzlich ist da dieser schroffe Ton. »Ich gehöre nicht zum Volk der Feen. Aber ich verbringe viel Zeit in Untererden. Nennt Ihr mir nun Euren Namen oder besteht Ihr darauf, mir ein Rätsel zu bleiben?«

Ich betrachte den Mann und denke über seine Bemerkung nach. Das Feenvolk kann nicht lügen. Das genügt mir. »Brielle«, sage ich. Nur ein Name. Wieso also habe ich das Gefühl, diesem Mann mehr zu geben, als er erbeten hat?

»Brielle«, höre ich meinen Namen aus seinem Mund, warmherzige Neugierde liegt in seiner Stimme, als er ihn ausspricht. »Ein hübscher Name für eine liebreizende Frau. Ich danke Euch, Brielle.« Er legt die Hand auf seine Brust. »Ich bin Zephyr.«

Liebreizend? Er kennt mich kaum. Aber diesen Gedanken behalte ich für mich.

Der Mann – Zephyr – geht geschmeidig zu meinem Schreibtisch und lässt den Blick über die verschiedenen Manuskripte für die Liturgie schweifen. Er schlägt die Schrift auf, schiebt Dokumente beiseite, als hätte er jedes Recht dazu. Ich schließe die Hand fester um den Griff meines Dolches. Finger weg! Aber die Worte schaffen es nicht über meine Lippen.

»Was ist Euer Rang in der Abtei?«, fragt er und sieht mich über die Schulter hinweg mit seinen grünen Augen scharf an.

»Novizin.« Jeden freien Moment habe ich dem geweihten Leben gewidmet, die Beziehung zum Vater vertieft, meine Glaubensfestigkeit geprüft, meine Selbsterkenntnis erweitert, die Bedeutung von Gemeinschaft ergründet. Es war keine geringe Aufgabe.