The Witches of Silent Creek 2: Zweites Herz - Ayla Dade - E-Book
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The Witches of Silent Creek 2: Zweites Herz E-Book

Ayla Dade

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Beschreibung

**Teil 2 der spannenden Romantasy-Dilogie** Seitdem Helena nach Silent Creek gezogen ist, eine mysteriöse Kleinstadt an der schottischen Küste, weiß sie, dass dunkle Mächte existieren – sogar in ihr. Mehr noch, die Studentin gerät mitten in einen intriganten Hexenkrieg. Verraten von ihrer großen Liebe Tyrael Burnett weiß Hel nicht mehr, wem sie noch vertrauen kann. Einzig und allein der charismatische Declan Sinclair scheint sie zu verstehen, weshalb sich Hel immer mehr zu ihm hingezogen fühlt. Aber sie ahnt auch nichts von dem Fluch, der in ihm wohnt, und genauso wenig von dem Schwur, den Tyrael geleistet hat, um Helena vor einem furchtbaren Schicksal zu bewahren. Entdecke den zweiten, magischen Romantasy-Roman der SPIEGEL-Besteller Autorin Ayla Dade! Persönliche Leseempfehlung von der Autorin und Bloggerin Jennifer Bright (@wort_getreu): »Ein grandioser Fantasyauftakt voller spannender Geheimnisse und Plottwists, großen Emotionen, mitreißenden Charakteren und einem absoluten Six Of Crows Flair!« //Dies ist der zweite Band der mystisch-magischen Dilogie »The Witches of Silent Creek«. Alle Romane der romantischen Hexen-Fantasy: -- Band 1: Unendliche Macht -- Band 2: Zweites Herz//  Diese Reihe ist abgeschlossen.

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ImpressDie Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Ayla Dade

The Witches of Silent Creek 2: Zweites Herz

Seitdem Helena nach Silent Creek gezogen ist, eine mysteriöse Kleinstadt an der schottischen Küste, weiß sie, dass dunkle Mächte existieren – sogar in ihr. Mehr noch, die Studentin gerät mitten in einen intriganten Hexenkrieg. Verraten von ihrer großen Liebe Tyrael Burnett weiß Hel nicht mehr, wem sie noch vertrauen kann. Einzig und allein der charismatische Declan Sinclair scheint sie zu verstehen, weshalb sich Hel immer mehr zu ihm hingezogen fühlt. Aber sie ahnt auch nichts von dem Fluch, der in ihm wohnt, und genauso wenig von dem Schwur, den Tyrael geleistet hat, um Helena vor einem furchtbaren Schicksal zu bewahren.

Dies ist der zweite Band der mystisch-magischen Dilogie »The Witches of Silent Creek«. Alle Romane der romantischen Hexen-Fantasy:

Band 1: Unendliche Macht

Band 2: Zweites Herz

Diese Reihe ist abgeschlossen.

Wohin soll es gehen?

Vita

Buch lesen

Danksagung

© Frank Böker

Ayla Dade wurde 1994 geboren und lebt in einer Hafenstadt im Norden Deutschlands. Neben dem Jura-Studium entdeckte sie das Schreiben für sich und veröffentliche bereits erfolgreiche Liebesromane, unter anderem die bekannte Winter-Dreams-Reihe. Ihr Herz schlägt für authentische, mitreißende Geschichten und dramatische Plottwists. Wenn sie nicht gerade neue Welten erschafft, widmet sie sich ihrer Liebe zum Gesang, Hund und Pferd und dem Sport.

»Für Jenny. You are a golden thing in this heavy, heavy world.«

STAMMBÄUME

VORBEMERKUNG

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Auf der Seite 445 findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Ayla Dade und das Carlsen-Team

HELENA

Ein nebliger, trüber Film. Mehr sah ich nicht. Nur gedämpft drangen Stimmen zu mir durch. Tief, verzerrt. Irgendwo ein stetes Hämmern, rhythmisch, widerhallend. Eine Berührung glitt über meinen Körper. Ein feiner Tanz, kühle Finger, bedachte Bewegungen. Die Person wusste genau, was sie tat. Ich jedoch hatte keine Ahnung. Aber eines war sicher: Ich würde sterben. Die Gewissheit kam in Wellen, jede stärker und höher als die vorherige. Ein verdammter Tsunami. Meine Glieder gehorchten mir nicht mehr, doch ich konnte fühlen, wie noch immer warmes Blut über meine Hand sickerte. Schützend presste ich sie über den offenen Schnitt in meiner Bauchdecke.

In diesem Moment, in dem mir das Leben entglitt, dachte ich bloß, wie mächtig sie war. Diese Sache mit der Liebe. Und wie dumm von mir, ihr zu verfallen, wie dumm, mich dieser verheerenden Blindheit hingegeben zu haben. Denn nicht die Schmerzen waren es, die mich wie pure Folter zerfraßen, sondern er.

Tyrael Burnett. Finlay. Finlay …

Mein bester Freund hatte mich verlassen, belogen und verraten. Es war sein Glück, dass mir nur noch wenige Atemzüge blieben. Ansonsten würde ich diejenige sein, die ihm ein Messer ins Herz rammte, sobald er mir unter die Augen trat.

Ohne zu zögern.

»Mach die Augen auf, Mädchen.«

Ein düsteres Raunen, dicht an meinem Ohr. Aber sein Verlangen war unmöglich. Ich konnte mich nicht regen. Einen Moment später spürte ich, wie langgliedrige Finger meine Lippen teilten. Sie trugen den Geschmack von Eisen mit sich.

»Hier. Iss.«

Es kam mir wie ein Wunder vor, dass mein Kiefer reagierte. Doch das, was ich schmeckte, war himmlisch. Wenn auch undefinierbar. Salzig, mit einer rauchigen Note.

»So ists gut.« Wieder der Finger zwischen meinen Lippen. Mehr Essen. »Weiter. Immer weiter. Gleich gehts wieder.«

Die Stimme behielt recht. Noch während ich auf dem dritten Ding kaute, durchströmte mich eine ungeahnte Welle der Energie. Die Trägheit in meinen Gliedern schwand. Schlagartig riss ich die Augen auf und …

… blickte in den ausgemergelten Totenschädel eines Düsteren. Ich schrie auf. Ein heiserer, rauer Ton. Ich wollte von ihm wegrobben, doch ein stechender Schmerz in meiner Magengegend hinderte mich daran. Der Düstere lächelte, aber es wirkte nicht wie aus der Überheblichkeit seinesgleichen geboren. Eher mitfühlend. Traurig. Aber warum?

Mit dem Kinn deutete er auf meine Wunde. »Es wird noch eine Weile wehtun, aber ich habe dafür gesorgt, dass deine rechte Niere schadlos wieder zusammengewachsen ist.«

»Meine … was?«

»Deine Niere. Sie war das reinste Schlachtfeld.«

O Götter. Ich senkte den Blick. Meine Handgelenke lagen in Ketten. Weißes Pulver überzog das Eisen, und Blutkrusten zierten meine Finger. Zittrig hob ich sie von der rot getränkten Bluse und erkannte statt des Schnitts bloß noch eine wulstige Narbe. Eine weitere, die nun meinen Körper zierte. Er war ein Kriegsgemälde.

Ich sah auf. »Aber wie …?«

»Indem ich mit meiner Macht in dein Organ eingegriffen und einem Toten in den Sphären der dunklen Magie befehligt habe, seine Niere anzuzapfen.«

»Anzuzapfen?«

Er nickte. »Damit ich deine neu züchten konnte.«

Meine Augen weiteten sich. »Du … du bist ein Nekromant?«

»Herzlichen Glückwunsch, hundert Punkte.«

»Aber wieso solltest du … wieso …«

»Ich dir helfen sollte?« Der Düstere neigte den Kopf. Mit seinem langen schwarzen Fingernagel fuhr er sich nachdenklich über das Kinn. Schütteres Krausehaar lag in vereinzelten Löckchen auf seinem Schädel. »Weil Baal es verlangte.«

Weil Baal es verlangte.

Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Geschehnisse der letzten Stunden. Spar Cave. Das blinde Mädchen, für das Tyrael mich verraten hatte. Coraëls Hinterhalt. Und schließlich der Anführer des Düsteren Volks, der mich mit sich gerissen hatte.

Ich schlang die Arme um den Oberkörper und sah mich um. Wir befanden uns in einer winzigen Zelle. Das einzige Licht stammte von einer Fackel in der brüchigen Gesteinswand. Es war so schummrig, dass ich hinter den dicken Gitterstäben des Verlieses nur eine tiefe Schlucht erkennen konnte, umgeben von einem spiralförmigen Gang. Eine Gänsehaut kroch über meine Arme, obwohl eine fast unerträgliche Hitze herrschte.

»Lachlan!« Von draußen klirrte eine Eisenkette gegen die Gitterstäbe. »Bist du fertig mit ihr?«

Coraëls Stimme zu hören, war wie ein Schlag ins Gesicht. In mir hatte die leise Hoffnung gewohnt, ihr Verrat wäre ein Hirngespinst meines geschwächten Zustands gewesen. Aber als die jüngste der Burnetts sich in die Zelle schob und das fahle Licht der Fackel ihr bleiches Gesicht erhellte, gab es keinen Zweifel. Die Ähnlichkeit zu ihrem Bruder nahm mir die Luft zum Atmen. Sie war Tyrael wie aus dem Gesicht geschnitten, ihr Lächeln genauso höhnisch wie seines, als wir uns das erste Mal begegnet waren.

»So sieht man sich wieder, Iversen.«

»Fahr zur Hölle«, zischte ich.

Sie grinste. »Ich fürchte, da sind wir bereits.« Cora wandte sich an den Düsteren und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du kannst gehen.« Als er sich nicht regte, zuckte ein Muskel an ihrem Kiefer. »Ich sagte, du kannst gehen, Lachlan. Ich übernehme jetzt.«

Der Düstere erhob sich. Kurz hielt er inne und sah ihr in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand.

»Ist was?«

Der Düstere ließ seine Hand in der Hosentasche verschwinden. Ich erkannte, wie er darin wühlte, als würde er etwas suchen. Plötzlich nahm er sie wieder heraus, fuhr sich mit leeren Fingern über den Schlund, der einst sein Mund war, und schüttelte den Kopf. »Mir war nur, ich hätte etwas in deinen Augen erkannt.«

»Ach.« Cora hob eine Braue. »Und was?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Lachlan antwortete. »Den tiefen Wunsch eines Mädchens, gesehen zu werden.«

Der Düstere ließ ihr keine Zeit, etwas zu entgegnen. Noch während Coraël seine Worte verarbeitete, schlurfte er auf seinen nackten Füßen die Zelle hinaus. Erst als seine Schritte sich entfernten, kam sie wieder zu sich. Mit einem animalischen Ausdruck um die Lippen ging sie vor mir in die Hocke. Über dem Wangenknochen besaß sie dasselbe Muttermal wie Tyrael. Die Erkenntnis jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Du solltest dankbar sein.«

Ich funkelte sie an. »Dafür, dass ihr mich in Ketten legt?«

»Wir haben dir dein Leben gerettet.«

»Ihr habt mich entführt!«

»O nein.« Sie lachte. Es klang nicht nach ihr. »Du wurdest uns geschenkt, meine Liebe. Welch großzügige Geste meines Bruders.«

Ich presste die Zähne zusammen. Coras Grinsen wurde breiter.

»Was denn, zu früh? Schmerzt dein kaputtes Herzchen, wenn du an ihn denkst?« Ihr Lächeln wurde zu einem Zähnefletschen. »Jeder hat dich vor ihm gewarnt. Es war deine eigene Dummheit, ihm zu vertrauen, Iversen.«

Ich spürte Wut. Nicht auf sie, sondern auf mich. Denn Cora hatte recht. Sie alle hatten mich gewarnt. Isobel. Kamryn. Sileas. Merlin. Mein Großvater.

Ich war so dumm gewesen.

»Es ist nicht so schlimm, wie du denkst.« Coraël setzte sich in den Schneidersitz. Doch irgendetwas an ihr war seltsam. Die Ränder ihres Körpers schienen … zu flimmern. »Nicht alle Düsteren sind schlecht.« Ihr Blick huschte zu dem schwarzen Mal an meinem Hals. »Und hier wird dich keiner verstoßen.«

»Wie kannst du das sagen, wenn du jeden Tag damit verbracht hast, die Menschen vor den Düsteren zu beschützen?«

In ihren dunklen Augen blitzte etwas auf. Aus der Ferne gellte ein Schrei zu uns herüber. Sie ignorierte ihn. »Wir waren Opfer einer schrecklichen Manipulation, Helena.«

»Wie bitte?«

»Die Oberen lassen uns im Glauben, die Düsteren wären schlecht. Sie wollen von ihrer kranken Folter ablenken, derer sie uns unterziehen.«

»Coraël, das ist –«

»Hast du deine eigene Zeremonie vergessen?«

Ich zuckte zusammen, denn nein, das hatte ich nicht. Noch immer hörte ich die Peitschenhiebe, wenn ich nachts die Augen schloss. Noch immer spürte ich sie, wenn ich schweißgebadet aus den schrecklichen Träumen erwachte, in denen Myrahs Feuerpeitsche sich mit meinem Rücken vereinte. Und noch immer spürte ich die Narben.

»Ja«, hauchte Cora. »Dachte ich mir.«

»Nur weil die Oberen anderen Leid zufügen, sind die Düsteren nicht besser. Was ist mit deiner Familie? Deinen Eltern und deinen … deinen …« Ich biss mir auf die Unterlippe. Das Wort wollte nicht heraus.

»Meinen Brüdern?« Als ich nichts entgegnete, schnaubte sie. »Von welchem sprechen wir? Archibald, der sein eigenes Blut für die Anerkennung der Oberen verraten würde, oder doch eher Tyrael, der dir ins Gesicht lacht, bevor er dir das Messer in den Rücken rammt?«

»Tyrael hätte dir niemals etwas Böses getan, Cora.«

»Welch Ironie.« Sie gab ein dreckiges Lachen von sich. »Diese Worte aus deinem Mund, während du wegen ihm in diesem Drecksloch beinahe verreckt wärst.«

Sie hatte recht. Er hatte mich verraten. Mir vor acht Jahren das Herz herausgerissen, mich glauben lassen, Fin wäre tot, nur um mir noch einmal das Herz zu zerschmettern, bevor er mich in den Abgrund geworfen hatte. Dennoch …

»Du bist seine Familie. Er würde für euch sterben.«

»Wenn du meinst.«

»Hat er dir je etwas Schlechtes getan?«

»Ich bin hier.« Sie hob eine Braue. »Wegen ihm, oder?«

»Das hat er nie gewollt.«

»Wieso nimmst du ihn in Schutz?«

»Tue ich nicht. Aber ich bleibe gern bei der Wahrheit.«

»Nun, die Wahrheit, liebe Iversen, ist …« Sie ging in die Knie und schlich wie eine Raubkatze vor, bis ihr Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war. »… der wahre Tyrael existiert nicht mehr. Sein Herz wurde vergiftet. Seine Seele verdorben. Der Finlay, nach dem du dich verzehrst und an den dein verkümmertes Herz sich erinnert, ist tot.«

Ihre Worte trieben einen Dolch in mein Herz. Die glühende Spitze bohrte sich durch mein Fleisch direkt in meine Seele. Vor meinem inneren Auge blitzte Finlays braun gebranntes Gesicht auf. Die goldenen Haare.

Cora verdrehte die Augen. Sie zog sich zurück und neigte den Kopf. »Du bist dümmer, als ich dachte.«

»Da musst du von dir selbst sprechen«, entgegnete ich. »Du fühlst dich von den Düsteren angezogen, nicht ich, oder?«

Coraël verzog den Mund. »Du bist lächerlich, Iversen. Von Anfang an gewesen. Keine Kräfte.« Sie grinste boshaft. »Eine Missgeburt von Mutter.«

Das hätte sie nicht sagen sollen. In mir wallte ein verborgenes Gefühl auf, düster und mächtig, stark und intensiv. Ein bebender Hurrikan, der sich aufbäumte und mit jeder Bewegung impulsiver wurde. Doch bevor er den höchsten Punkt erreicht hatte, fiel er plötzlich in sich zusammen.

Coraël lachte. »Keine Chance, Süße.« Sie erhob sich. Mit dem Stiefel stieß sie gegen meine Ketten. »Das Pulver solltest du inzwischen kennen, oder nicht?«

Ich senkte den Blick. Als ich die feine weiße Substanz auf dem Eisen entdeckte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Okkultes Pulver.«

»Korrekt.« Cora kicherte. »Zwar nicht in so hohen Mengen wie in der Spar Cave, aber deine Kräfte nützen dir hier gar nichts. Obwohl ich bezweifle, dass sie überhaupt von Nutzen wären.«

Zu meinem Erstaunen entfuhr mir ein Knurren.

Coraël seufzte. »Ach, Schätzchen. Besser, du gewöhnst dich schnell an deine neue Situation. Es wird kein Tyrael kommen, um dich zu retten, das ist gewiss.«

»Warum tust du das?« Meine Stimme war kaum ein Hauchen in der hohen Zelle. »Wir könnten entkommen, Cora. Gemeinsam. Das Lichte Volk würde dir zuhören. Sie würden verstehen. Es könnte alles gut werden und –«

»Es wird niemals wieder gut!« Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer gehässigen Fratze. Beinahe wirkte sie unmenschlich. Ich hörte ihren rasselnden Atem. »Du hast keine Ahnung, worum es geht und wofür wir kämpfen. Was die Welt braucht. Du weißt nicht, wer sie bedroht. Wer die wahren Feinde sind. Du siehst nur, was du sehen willst. Aber wir, Helena …« Sie machte ein paar langsame Schritte auf mich zu. Ihre Stimme wurde leiser. Cora wirkte wie in einem Wahn. »Wir kämpfen für mehr. Wir blicken tiefer, um unsere Ansicht des Friedens zu erreichen.«

»Eure Ansicht des Friedens ist eine Diktatur!«

Schmerz. Purer, alles einnehmender Schmerz. Mein Kopf wollte bersten. Alles in mir verlangte danach, mir die Hände auf den Schädel zu pressen, doch die Ketten hinderten mich daran. Das Dröhnen schwoll an. Ein feiner, hochelektrisierter Faden, der sich durch meine Schläfen schlängelte und mir das Hirn wegpustete. Ein Gefühl wie pures Gift.

Ich schrie, bis ich nach Luft schnappen musste, und dann wieder. Und wieder. Irgendwann wurde ich heiser, aber der Schmerz klang nicht ab. Ich kippte vornüber und presste die Stirn auf den Boden, in Erwartung kühlen Gesteins, aber alles an diesem Ort glühte.

»Tut weh, nicht wahr?« Ein bittersüßer Singsang. »O ja, o ja. Es geht noch schlimmer, Helena. Soll ich es dir zeigen?«

Sie wollte, dass ich um Gnade bettelte. Dass ich sie anflehte aufzuhören. Cora wollte meine Schwäche sehen. Und ich würde lieber sterben, als sie ihr zu zeigen.

Der Schmerz schwoll an. Qualvolle Laute entkamen meinem Mund, während mir Galle die Kehle hinaufwanderte. Ich übergab mich. Bittere Säure floss unter meine am Boden liegende Wange, ein säuerlicher Gestank stieg mir in die Nase. Jeden Augenblick würde mein Kopf bersten.

In einem letzten Versuch, Coraël zu erreichen, sah ich auf. Doch es wirkte, als wäre die liebevolle Burnett-Schwester längst von der Dunkelheit verschlungen. Das sonst glänzend schwarze Haar war stumpf, auf der porenfreien Haut lag ein gräulicher, fettiger Schimmer, und in ihren Augen erkannte ich keine Spur des einst tiefgründigen Blaus, das mich vom Schiff auf das Festland Silent Creeks geführt hatte.

»Schlaf gut, Süße.«

Der Schmerz wurde übermächtig. Blitz und Donner beherrschten meine Nerven. Mein Körper zuckte. Ich übergab mich ein weiteres Mal. Dann wurde alles schwarz.

Ohnmacht.

Die schönste Form der Dunkelheit im Schatten ohne Licht.

TYRAEL

Ein Lächeln, das keines war. Es lag auf ihrem Gesicht, bevor ich verschwand. Auch dann noch, als ich ging. Vor acht Jahren, in dem trüben Schimmer der Dämmerung vor ihrem Haus. Nach unserer letzten Umarmung. Als hätte sie gewusst, dass ich nicht wiederkommen würde. Als hätte sie gewusst, dass dieser Moment unser letzter war, bevor das Band zwischen uns reißen würde. Als hätte sie den verdammten Abgrund längst gesehen, der sich zwischen uns auftun würde.

Und jetzt wieder. In der Sekunde, in der Helena in Baals Armen verschwand, erkannte ich es. Dasselbe traurige Lächeln, das von Abschied und Enttäuschung sprach. Nicht einmal der Tod hätte meinem Herzen mehr Licht gestohlen als dieser Ausdruck. Kein Schatten dieser Welt hüllte mich in größere Finsternis als Helenas schreiende Seele.

»Ty …« Ëmilles Stimme war bloß ein brüchiger Hauch in der hohen Grotte. »Warum …?«

»Es musste sein.« Ich biss die Zähne zusammen und drückte den Körper des bewusstlosen Mädchens an mich. Meine Beine wollten nachgeben. Jeder verdammte Muskel in meinem Körper protestierte, doch jetzt war nicht die Zeit, um sich auszuruhen. Der Fluch konnte mich mal kreuzweise.

Grimmig sah ich mich in der Höhle um. Die Düsteren waren ihrem Herrscher gefolgt und verschwunden, doch die anderen hatten noch nicht mitbekommen, was in unserer Zelle geschehen war. Didre rutschte hinter Isobel von deren Heralchiro. Sie humpelte, presste sich eine Hand auf den Nacken, als würde sie etwas schmerzen. Archie streckte seinen Arm nach ihr aus, doch unsere Cousine schüttelte ihn ab und schritt entschlossen an ihm vorbei.

In der Zelle unter uns hievte Sileas ein paar tote Azlata auf ihren Fledermausdrachen wie eine Fracht, die entsorgt werden musste. Der Everstone-Zwilling hatte eine schlimme Platzwunde. Blutverkrustete Strähnen klebten ihr im Gesicht, und das Kämpfen mit ihrem Element hatte ihr rußige Wangen verschafft. Sie kletterte auf ihr Flugwesen, krabbelte über die Toten und rauschte über die Grotte Richtung Ausgang.

Mein Blick huschte über den See, bis ich ihn fand: In einer Zelle mir gegenüber stützte sich Nathaniel auf seinen Stock. Sein Blick bohrte sich in meinen, und seine Lippen waren zu einer festen schmalen Linie zusammengepresst. Er wirkte alt. Gebrochen. Doch seine hellen Augen waren gestochen scharf. Helenas Augen.

Noch wusste er nicht, dass seine Enkelin fort war. Doch sobald er es herausfand, würde er handeln.

Ich wandte mich ab – und begegnete Ëmilles anklagendem Blick. »Was?«

»Sie war eine von uns.«

»Lass gut sein, Ëm.« Ich pfiff durch die Zähne. Keine zwei Sekunden später erschien Exodia vor der Zelle. Ihre Iriden leuchteten in einem trüben, schlammigen Braun. Keine Spur von Freude. »Gehen wir.«

Ëmille regte sich nicht. »Du hast sie verraten und gegen das Gesetz verstoßen.«

»Ich verstoße ständig gegen das Gesetz.«

»Aber du verrätst keine Freunde!«

»Helena war keine Freundin.« Und das war nicht gelogen. Sie war mehr. Viel mehr. Aber das würde nie jemand erfahren.

Der Kampfstaub hatte Ëmilles Haar grau gefärbt. Eine lange Schramme zog sich über sein Auge bis zu seinem Mund und sein Hemd war kaum mehr als ein herunterhängender Stofffetzen. »Ich erkenne dich nicht wieder.«

»Ich bin niemand, den man wiedererkennen kann, Ëm. Stereotypen musst du anderswo suchen.« Meine Miene blieb grimmig. »Ich war gestern, wer ich gestern war, und bin heute, wer ich heute bin.«

»Natürlich bist du das.« Ëmille schnaubte. »Und das entschuldigt alles, nicht wahr? Du bist, wie du bist, und jeder muss es akzeptieren. Der mysteriöse Tyrael. Stellt keine Fragen, denn er ist unser Allheiliger.«

»Willst du wirklich diskutieren?« Ich verengte die Augen. »Jetzt?«

Er funkelte mich an.

Ich verzog die Lippen zu einem hämischen Grinsen. »Schön. Fangen wir doch damit an, dass du die First Ministerin von Schottland auf dem Gewissen hast. Oh, schau nicht so. Denkst du, ich bin dumm?«

Eine ganze Weile schwieg er. Dann: »Es war nötig.«

»Sicher.« Ich wandte mich ab und humpelte durch das lose Geröll, das von den Wänden auf den Boden gerieselt war. »Wasch deine eigene Dreckwäsche, bevor du in der anderer wühlst, Ëm.« Ich hielt inne. »Und kümmere dich um dein Kind, das uns beinahe alle abgeschlachtet hätte.«

»Ohne Aleen hätten wir den Hinweis auf das blinde Mädchen nie erhalten.«

Mit letzter Kraft hievte ich den Körper besagten Mädchens auf Exodia und zog die Sattelgürtel fest um ihren Rumpf. »Doch, hätten wir. Irgendwie.« Ich krallte meine Hände in die Stacheln meines Flugwesens und blickte zu Ëmille. »Aber ohne sie hätten wir keine Schlacht wie diese hinter uns.« Ich zögerte. »Ohne sie wäre Cora noch da.«

Ëmilles Gesichtszüge entgleisten. Ich zog mich ohne ein weiteres Wort auf Exodia und trieb sie an. Mein Körper sackte nach vorne. Schlaff presste ich mich an ihren Hals, die Finger lose um ihr Halsband gelegt. Der Flugwind kühlte meine erhitzten Wangen. Meine Heralchiro spürte meine Erschöpfung und buckelte, wenn ich zurückrutschte, um mich zu halten. Der Tunnel der Spar Cave war eng. Exodia knurrte, als ihre Flügel die weißen Mineralwände streiften.

Ich achtete nicht darauf, wer mir folgte. Ich sah nicht zurück. Mein Herz war gelähmt, und das war ein verdammt seltsames Gefühl. Neu. Und unerwünscht.

Mein Flugwesen brach hinaus ins Freie. Die schwarze Oberfläche der Nordsee funkelte unter dem satten Sternenhimmel, und ein salziger Geruch wehte mir in die Nase, legte sich mir auf die Lippen. Tief in mir echote ein warmes Kichern, kurz darauf das strahlende Gesicht Helenas, als wir zum ersten Mal gemeinsam geflogen waren. Nach dem Sprung aus dem Turm des Colleges. Es war, als spürte ich ihren rasenden Herzschlag unter meiner Hand noch immer. Ihre erhitzte Haut, nachdem mein Finger versehentlich über ihre gestrichen hatte.

Ich riss die Augen auf und zwang die Erinnerungen ins Nichts. Bebende Flügelschläge durchbrachen die Nacht. Irdische würden sie als ein nahendes Gewitter wahrnehmen.

Exodia machte einen plötzlichen Schlenker, als Grünspecht neben uns erschien. Auf dem Rücken des grün gefleckten Tiers saß Nathaniel in einer aufrechten, stolzen Haltung. Das schüttere Haar wehte im Wind, seinen Gehstock nutzte er als Gerte. Doch der Blick, mit dem er mich traktierte, war alles andere als anmutig. Die Züge waren vor unbändiger Wut verzerrt. Sein Ruf wurde von einer Böe davongetragen, aber ich verstand ihn dennoch. Vermutlich, weil ich auf diese Frage wartete, seit Baal verschwunden war.

»Wo ist Helena?«

Ich ignorierte ihn und gab Exodia einen Klaps. Sie verstand, pirschte vor und ließ den alten Mann hinter uns.

»Wo zum Teufel ist meine Enkelin, Burnett?«

Er wollte uns einholen, aber kein Heralchiro war wie Exodia. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sein Flugwesen so zu trainieren wie ich. Wie ein fliegender Jaguar rauschte sie durch die Nacht, unter uns die geheimnisvolle Nordsee, in der Ferne die Klippen der Isle of Skye. Ich lauschte Exodias Flügelschlägen und gab mich dem Schmerz hin, der in meiner Seele wohnte. Blaue Augen dominierten meine Gedanken, weißblondes Haar, ein Lächeln, das keines war.

»Burnett’s Castle«, flüsterte ich. Exodia schnaubte als Zeichen des Verstehens. Dann dämmerte ich weg.

Die bebende Landung riss mich aus meinem erschöpften Schlaf. Exodia tippelte auf dem geteerten Wegstreifen voran in Richtung Burnett’s Castle, durchschritt den Rundbogeneingang, neigte die Vorderbeine und senkte den Kopf. Träge raffte ich mich auf und rutschte über ihren Schädel. Es gelang mir gerade noch, das blinde Mädchen vom Sattel zu schnallen und sie in meine Arme gleiten zu lassen, als Grünspechts Landung den Boden erzittern ließ. Das Tier wirkte desorientiert und schwankte. Genau wie sein Hüter war es ein merkwürdiger Geselle.

»Du!« Nathaniel kletterte von seinem Heralchiro, das Gesicht war wutverzerrt. Hinter ihm, noch hoch am Himmel, durchbrachen dunkle Schemen die trübe Nebelwand. Die anderen näherten sich. »Dreckskerl von Burnett! Du sagst mir sofort, wo Helena ist, oder ich werde dich köpfen, Junge, hörst du?«

»Nun, viel Spaß dabei.« Ich warf mir das Mädchen über die Schulter und wandte Nathaniel den Rücken zu, da spürte ich seinen Angriff wie eine Lawine, die auf mich zuraste. Der alte Mann brachte meine Beinmuskulatur unter seine Kontrolle, und der Fluch zehrte so sehr an mir, dass ich seinen Angriff nicht parieren konnte. Meine Knie sackten zu Boden. Das Mädchen rutschte von meiner Schulter, landete mit einem dumpfen Poltern neben mir. Der Schmerz in meinen Beinen pulsierte. Lautlos kniff ich die Augen zusammen, als ich plötzlich Nathaniels Griff in meinen Haaren spürte. Grob riss er meinen Kopf zurück. Sein Gesicht schwebte über meinem. Er bleckte die Zähne. Braune Flecken auf einem gelben Gebiss.

»Wo ist meine Enkelin?«

»Offensichtlich nicht hier.«

Er zerrte noch gröber an meinen Haaren. Mein Zustand war jämmerlich. An besseren Tagen hätte dieser Mann es nicht einmal in meine Nähe geschafft, doch heute war ich ein nichtsnutziges Wrack.

»Du sagst mir, wo sie ist, oder ich schlitz dir die Kehle auf!«

»Nur zu. Ich verrate es dir nur ungern, aber mein Tod wird dir deine Frage auch nicht beantworten.«

»Aber er wird mir Genugtuung bereiten!« Er knurrte, schüttelte mich. »Genugtuung, Burnett!«

Der Schmerz in meinen Beinen erreichte mein Rückgrat. Ein krachendes Zerschmettern. Mit einer stumpfen Axt. Wieder und wieder. Doch schlimmer war die Scham, es ertragen zu müssen.

»Letzte Chance: Wo ist sie?«

»Sie ist in der Anderwelt.« Der Kies knirschte, als Ëmille von Windschneider rutschte und seine Stiefel den Boden erreichten. Die Stofffetzen seines Hemds wehten im Wind. Er ignorierte mich. »Baal hat sie mitgenommen.«

Der Schock lockerte Nathaniels Züge. »Sie ist … Baal hat … was?!«

»Sie mitgenommen«, wiederholte Ëmille. »In die Anderwelt.«

Einen Augenblick sah der alte Mann ins Nichts, bis er plötzlich den Arm hob und seinen Ellbogen auf mich niederschmettern ließ. Er traf meinen Wangenknochen. Ein Knacken durchbrach die Luft. Ich ging zu Boden, sah Sterne, bis mein Kampfinstinkt die Führung übernahm. Schnell rollte ich zur Seite, bevor Nathaniels Stiefel die Stelle erreichte, an der gerade noch mein Kopf gelegen hatte. Mit einem Grollen stürzte er sich auf mich, doch ich hob mein Bein und trat ihm in die Rippen. Keuchend taumelte er zurück, ich hingegen sprang auf.

»Du hast etwas damit zu tun!«, brüllte Nathaniel. Sein Finger zitterte, als er auf mich zeigte. »Sie war bei dir, Burnett, und ich weiß, was für krumme Spielchen du spielst!«

»Hat er nicht«, log Ëmille.

»Doch.« Ich wischte mir das Blut von meinem Wangenknochen. »Habe ich.«

»Ty …«

»Ich brauche niemanden, der für mich lügt, Ëm. Ich stehe zu meinen Entscheidungen.« Mein Blick wanderte zu Nathaniel. »Du willst wissen, was passiert ist?« Ich spuckte das Blut in meinem Mund auf den Rasen. »Gut, hier ist die Wahrheit: Helena ist fort, weil ich sie eingetauscht habe.«

»Du … was?«

Mit dem Kinn deutete ich neben mich. »Für das Mädchen.«

»Für das …« Nathaniels Blick wanderte über mich hinweg zu dem dürren Häufchen Elend, das neben dem Steinbrunnen lag. Ihr rostbraunes Haar war verfilzt, das Nachthemd vergilbt. Nathaniel blinzelte. Der Blick des alten Mannes wirkte leer. Er sah so lange auf das Mädchen hinab, dass ich schon dachte, er würde jemanden in ihr erkennen, doch dann …

Sein Arm stieß vor. Ruckartig lenkte ich meine Hand in Richtung Steinbrunnen, tastete nach meinem Element und vollführte einen inneren Freudentanz, als sich die Moleküle des Wassers mit meiner Macht verhakten. Schnell befehligte ich sie zu mir. Nathaniels Feuer schoss auf mich zu, ehe meine Wassersalve auf sie traf. Asche rieselte zu Boden. Unter anderen Umständen wäre es nur ein minimaler Kraftaufwand gewesen, ein Kinderspiel, doch ich keuchte vor Anstrengung. Verfluchte Scheiße.

Nathaniel holte ein weiteres Mal aus. Ich versuchte, erneuten Zugang zum Wasser zu finden, doch vergebens. Ëmille machte Anstalten einzugreifen, aber ich gab ihm mit einem stummen Befehl zu verstehen, dass er sich raushalten sollte. Ich brauchte niemanden, der meine Kämpfe ausfocht.

In der nächsten Sekunde fraßen sich Nathaniels Flammen in meinen Arm. Ich sackte auf die Knie, presste die Lippen aufeinander und gab mir jede Mühe, nicht laut aufzuschreien.

»Ich schwöre, ich bringe dich um«, raunte Nathaniel. Ich erkannte seine Stimme nicht wieder. Er klang kalt wie die schottische Nacht. »Und ich kenne keine Gnade, Junge!«

»Was ist hier los?«

Eine Wassersalve ergoss sich über meinen Körper. Die Flammen wurden gelöscht. Zurück blieben ein brutaler Schmerz und eine tiefe Fleischwunde, deren verbrannter Geruch mich würgen ließ. Wasser troff mir aus den Haaren über das Gesicht, einzelne Strähnen klebten mir in der Stirn. Meine Mutter rannte über den Hof. Auf die Züge ihres Gesichts war kriegerischer Hass gemalt, als sie Nathaniel fokussierte.

Sie hob die Hände in seine Richtung. »Du wagst es, meinen Sohn anzugreifen, Iversen?«

»Wenn er es gewagt hat, meine Enkelin Cruachain zu überlassen? Nun, ja, Elsbeth, dann wage ich es tatsächlich!«

»Er hat was?« Meine Mutter hielt inne. Ihre dunklen Augen weiteten sich. »Tyrael, ist das wahr?«

»So wahr wie die Knochengabe der Götter«, sagte ich.

Jemand schnappte nach Luft. Als ich aufsah, erkannte ich Archibald. Mein Bruder saß kerzengerade auf seinem Heralchiro, umklammerte das Halsband und blickte mit Schock in den Augen auf mich herab. »Schwöre es bei deinem Schöpfer, Tyrael.«

»Im Namen Anus, ich habe Helena Iversen der Anderwelt überlassen.« Ich kniff die Augen zusammen, denn die Verbrennung an meinem Arm weckte schwindelerregende Schmerzen. »Ist Raven anwesend?«

»O nein, du Dreckskerl.« Nathaniel versperrte mir den Weg. »Ich werde dich –«

Meine Mutter brachte den alten Mann mit einer Hand zum Schweigen. »Er wird reden, Nathaniel. Ich gebe dir mein Wort, dass er reden wird.«

»Ach, werde ich das?«

Mom verengte die Augen. »Ja, Tyrael, wirst du. Aber du nützt niemandem mehr irgendetwas, wenn du nicht mehr kämpfen kannst. Geh deinen Arm heilen.«

»Wie gütig.« Ja, ich war ein Arschloch. Aber der Kummer wollte mich zerstören, und die einzige Möglichkeit, ihn zu verbergen, war, mein kaltes Herz zu offenbaren.

Ich wandte mich an Ëmille. »Bring das Mädchen in Ghislaines altes Zimmer. Such Baba Greer und erzähle ihr alles. Ich hole Raven und komme nach.«

Ëmille runzelte die Stirn. »Wenn du alles sagst, meinst du –«

»Alles. Ja.«

Er nickte knapp, dann hob er das Mädchen in seine Arme und verschwand über den Hof. Mom starrte mich an. Nathaniel ballte die Hände zu Fäusten und machte den Eindruck, jeden Moment in Flammen aufzugehen, weil er mich nicht in Stücke reißen durfte. Exodia stampfte mit dem Fuß auf. Das Beben hallte über den Hof. In diesem Moment erreichten uns auch die anderen. Isobel und Sileas landeten.

»Was ist los?«, fragte Sileas. »Warum steht ihr hier?«

»Tyrael hat Helena verstoßen«, sagte Archibald. »In die Anderwelt.«

Stille. Dann –

»WAS?!« Isobels Stimme war von einer so schrillen Lautstärke, dass sich der weiße Heralchiro unter ihr aufbäumte. Sie umklammerte das Halsband, wandte jedoch nicht den Blick von mir ab. »Dein Bruder lügt, oder? Sag mir, dass er lügt, Ty!«

Ich schnaubte. »Weißt du, Archie, es ist verwunderlich. Du leckst den Oberen die Füße, bist aber schockiert, wenn ich ihren Befehl ausführe?«

»Die Oberen haben dir befohlen, meine Enkelin zu verbannen?«

»Habt ihr vergessen, was während ihrer Zeremonie geschah, oder wart ihr ganz einfach blind?« Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich wollte diese Situation so schnell es ging hinter mich bringen. Der Schmerz war übermenschlich. Nicht mein Arm. Auch nicht der Fluch, der an mir zehrte. Sondern der Gedanke an Helena. An ihre gequälten Züge, nachdem sie die Wahrheit über mich herausgefunden hatte. Ihr gebrochenes Herz, dessen Trauer sich so offensichtlich in ihren Augen gespiegelt hatte, nachdem ich sie verraten hatte.

Bittere Galle stieg mir in die Kehle. Mein Gesicht war eine grimmige Maske. »Sie besitzt das Mal der Düsteren. Die Oberen wollten sie töten. Sie hätte keine Woche mehr unter unseresgleichen überlebt. Ausländische Clans hätten Helena gejagt. Fanatische Anhänger des Palasts sie gefoltert.« Kurz glitt mein Blick zu Archibald. »Wer weiß, wer von uns sich als Monster entpuppt hätte. Ich habe ihr einen Gefallen getan, indem ich sie verbannt habe. Ihr und unserem Volk. Morrigan wird sich nun um sie kümmern.«

»Einen Gefallen?« Isobel glitt von ihrem Heralchiro. »Sie hätte unter unserem Schutz gestanden!« Ihr Gesicht war wutverzerrt. »Bist du irre, Burnett? Denkst du allen Ernstes, in Cruachain wird sie verschont? Denkst du, dort ist sie in Sicherheit?«

Keiner von ihnen wusste, was ich wusste. Keiner von ihnen hatte Myrahs zischende Stimme an jenem Tag gehört.

Baba Greenblood wird sie ausweiden, Tyrael. Ich werde mich an ihrem Blut laben. Düstere verzehren wir zum Frühstück, wusstest du das? Wir sind das Lichte Volk, wir sind mächtig, und das solltest du endlich verstehen. Ich fürchte nur, es muss auf die harte Tour geschehen. Wie wäre es, wenn du zusiehst, während das Leben aus ihren Augen erlischt, hm?

Mein Plan war nicht der beste. Aber er war der einzige. Ich konnte bloß allen Göttern danken, dass Myrah derart leidbesessen war, dass mein Verrat und die anschließende Trauer sie mehr reizten als der Gedanke, Helena selbst zu töten. Vielleicht würde Helena mir niemals verzeihen, aber ich würde auch in tausend Jahren noch daran festhalten, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch ich würde mich lieber selbst zerstückeln, als irgendjemandem von diesem Deal zu erzählen. Meine düsteren Gefühle gehörten mir. Und ich betete, sie würden irgendwann einfach wieder tot sein.

»Es ist egal, was ich denke«, sagte ich. »Befehl ist Befehl.«

Nathaniel wankte. »Du jämmerlicher –«

»Tyrael hat recht.« Archibalds Stimme klang näher als zuvor. Ich hatte nicht bemerkt, dass er von seinem Flugwesen heruntergerutscht und zu uns herangetreten war. Sein ansonsten makelloses Gesicht wies erhebliche Verletzungen auf. »Wenn die Oberen es befohlen haben, hat er das Richtige getan. Wir sollten es nicht infrage stellen.«

Ich sah meinen Bruder an. Seine Mundwinkel formten ein winziges Lächeln. Ein Zeichen seiner Hoffnung, dass wir endlich auf derselben Wellenlänge waren. Wenn er wüsste, wie falsch er damit lag.

»Wo ist meine Tochter?«, fragte meine Mutter, während sie sich umsah. »Coraël fehlt!«

Wir alle sahen zu Boden. Niemand von uns wagte es, ihr die Wahrheit zu sagen. Niemand wollte derjenige sein, der den höllischsten Schmerz in ihrem Herzen erweckte, den es gab.

»Abgehauen«, murmelte ich schließlich. »In die Highlands.«

Mom blinzelte. »Schon wieder?«

»Du weißt, wie rebellisch sie ist.« Mir kamen diese Worte so locker über die Lippen, dass es mich selbst schockierte. »Eigensinnig bis in den Himmel.«

Elsbeth schnaubte. Ihr Blick glitt in die Ferne, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich hoffe für sie, dass sie nicht wieder wochenlang fortbleibt.«

»Erfahrungen tun ihr gut«, sagte ich und hasste mich gleichermaßen für diese dreckige Lüge. »Sie wird wiederkommen.«

Es war nicht meine Mutter, die antwortete, sondern Sileas. Zischend schüttelte sie den Kopf. »Du bist unglaublich. Ich kann nicht in Worte fassen, wie enttäuscht ich von dir bin, Ty.« Ihre Stimme klang zaghafter als sonst. Der schlagfertige Ton war brüchiger Trauer gewichen. Ihre hellen Augen bohrten sich in meine. Ich erkannte Wut. Unglaube. Zerbrochenheit. Sileas sah mich an, als würde sie in mir jemanden suchen, den sie einst gekannt hatte, obwohl es ihn nicht mehr gab. »Abend für Abend gibst du vor, die Welt vor Monstern zu retten. Aber das ist heuchlerisch, denn du selbst bist das größte von ihnen. Maledictus pulchritudo.« Ihre Miene verzog sich zu einem angewiderten Ausdruck. »Ich hoffe, bald schon wird allen klar, wie verdorben dein Herz doch ist.«

»Das nimmst du zurück, Sileas«, zischte meine Mutter. »So sprichst du nicht über meinen Sohn!«

»Aber er ist nicht mehr dein Sohn, Elsbeth.« Sileas lächelte traurig. »Nicht wirklich, oder?«

Diese Worte gruben sich in das letzte bisschen lebendes Herz, das noch in mir schlug.

DIDRE

Es war dieses Gefühl, als ich ihn ansah.

Tyrael.

Diese einnehmende, erdrückende Schwere. Ein tiefes Knurren erwachte in mir, während ich seine angespannten Züge musterte, den stumpfen Ausdruck in seinen Augen. Er erzählte in einem derart gleichgültigen Ton von dem Befehl der Oberen und seinem Verrat an Helena, dass jeder ihm diese Geschichte mühelos abkaufte. Auch ich hätte es getan, wenn nicht in dieser Sekunde etwas Sonderbares geschehen wäre: Aus Tyraels Körper erhoben sich Schwaden.

Sie sahen aus wie schwarzer Rauch. Im ersten Moment dachte ich, er qualmte. Keuchend krallte ich die Finger in das flauschige Fell von Isobels Flugdrachen. Sie war längst heruntergerutscht und zu Tyrael gestürmt, aber mich hätten keine zehn Pferde zu Archie hinuntergebracht. Hier oben war mein Herz in Sicherheit. Ich fragte mich, weshalb niemand bemerkte, dass Tyrael ganz offensichtlich rauchte, bis … bis ich plötzlich zu der Erkenntnis kam, dass es niemand sehen konnte. Niemand außer mir.

Eiseskälte flutete mich. Mit geöffnetem Mund starrte ich meinen Cousin an, sein Körper umhüllt von dunklem Nebel. Was zur Hölle war das?

Einen Moment später erreichte sie mich. Diese tiefe, uralte Trauer. Sie kam aus dem Nichts, schwoll an und breitete sich in mir aus wie ein weiter Schatten, der alles ummantelte. Der Duft von Tannen und Zimt stieg mir in die Nase. Tyraels Duft. Aber er war viel zu weit weg. Wie konnte ich ihn riechen, wenn er …

O Götter. Meine Macht. Sie flatterte! Die fremde Traurigkeit vereinte sich mit ihr. Mein Chaos war wie ein störrischer Jagdhund an der Leine, ich hatte sie nicht unter Kontrolle. Unter mir tippelte Isobels Heralchiro unruhig mit den Füßen, scharrte mit den Krallen in der Erde. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, doch er protestierte mit einer störrischen Bewegung seines Kopfes.

»Aber er ist nicht mehr dein Sohn, Elsbeth«, hörte ich Sileas hinter einem dumpfen Rauschen sagen. »Nicht wirklich, oder?«

Nach diesen Worten veränderte sich etwas. Ein Schaudern erfasste mich, als der Rauch um Tyraels Körper langsam zu Boden sank und sich dort verdichtete. Die Trauer in mir schwoll an. Ich bemühte mich um eine aufrechte Haltung, versuchte, meinem Schwindel nicht zu verfallen, während ich meinen Cousin näher ins Auge fasste. Tyraels Miene wirkte unbekümmert und nüchtern, aber … das, was ihn umgab, es … Auf irgendeine Weise sprachen diese Schwaden zu mir. Gaben mir ohne Worte zu verstehen, dass Tyrael litt. Unfassbar litt. Seine Qualen waren zerstörerisch. Sie könnten einen ganzen Kontinent vernichten.

Und dann geschah es. Aus dem Nichts pirschte meine Macht vor, drängte sich hinein in den Rauch, dessen Barriere fester und geschützter war, als ich angenommen hätte. Abrupt schnürte sich mir die Luft zu. Ich röchelte, fasste mir mit der Hand an die Kehle, schnappte nach Sauerstoff, aber es kam nichts an. Niemand schien etwas zu bemerken. Aller Augen waren auf Tyrael gerichtet, doch ich starrte wie gebannt auf das feuchte Gras, in das die Schlieren sickerten. Kurz darauf erzitterte der Boden – und ich bekam wieder Luft.

»Was war das?« Panisch sah Izzy sich um, zückte ihren Dolch. »Ein Düsterer?«

»Wohl kaum.« Elsbeths schlanke Statur wirkte angespannt. Binnen Sekunden war sie in Kampfposition. Der Boden erzitterte erneut. »Irgendetwas geht hier vor sich. Macht euch bereit.«

Verzweifelt versuchte ich, meine Macht zurückzudrängen, aber sie gehorchte mir nicht. Das Chaos war längst außer Kontrolle, und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass niemand erfahren durfte, was in dieser Sekunde in mir vorging. Denn, bei allen guten Göttern, das war auf keinen Fall normal.

»Archie«, hörte ich Tyrael sagen. »Geh rein und hol Verstärkung. Und Di …« Tys Blick bohrte sich in meinen. Meine Macht labte sich an den tiefen Schatten seiner Iriden. Kurz runzelte er die Stirn, und ich dachte schon, er spürte etwas, doch dann: »Bringe die toten Azlata von Sileas’ Heralchiro in den Hinterhof und verbrenne sie, bevor …«

Weiter kam er nicht, denn der Boden riss. Isobel gab einen erstickten Laut von sich. Sie streckte den Arm aus und zerrte Archie beiseite, dessen Fuß beinahe abgestürzt wäre. Nathaniel starrte mit offenem Mund und geweiteten Augen auf den Erdspalt, seinen Gehstock fest umklammert.

»So eine Scheiße«, knurrte Sileas, während sie in Kampfposition ging. »Ich bin müder als ein gerittener Affe, meine Fresse!«

Voller Entsetzen blickte ich auf den Boden. Ich erkannte nichts als Schwärze, einen Wirbel der Qualmschwaden, bis …

O Himmel!

»Bljersk!« Archie stieß die Hand vor, als schleimige Klauen aus dem tiefen Loch herausschossen. Sie klammerten sich in die Erde und zogen sich hoch. »Er bewegt sich nicht! Der Boden! Wie ist das möglich?« Mein Cousin streckte beide Arme von sich, als wollte er eine Wand verrücken. Sein Gesicht war angestrengt verzerrt. »Ich kann nicht … die Erde bewegt sich nicht!«

Isobel riss den Arm in die Höhe und schleuderte eine Wasserladung aus dem Brunnen auf das Wesen, das in diesem Moment seinen deformierten Kopf aus der Erdöffnung streckte. Es ergoss sich über seine schleimige Haut, doch nichts geschah. Ich starrte wie gebannt auf dieses Ding.

Das Ding, das ich erschaffen hatte. Ich fühlte meine Macht in dem Wesen pulsieren, doch ich hatte keine Ahnung, was ich tun konnte, um sie zurückzuziehen.

Tyrael taumelte rückwärts. Er hob eine Hand, versuchte, das Wasser im Brunnen zu befehligen, doch mehr als ein Plätschern brachte er nicht zustande. Sein verbrannter Arm hing schlaff an seiner Seite hinab. Er presste sich eine Hand an die Schläfe, schloss die Augen, riss den Kopf in alle Richtungen, und ich … ich spürte seinen Schmerz! Mehr noch: Ich nutzte ihn, um das Wesen voranzutreiben. Was zur Hölle geschah hier?

»Didre!« Elsbeth baute sich vor dem dämonischen Wesen auf, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Sie versuchte, an seine Nerven zu gelangen. Ich erschrak. Hatte sie meine Magie gespürt? »Bring die verletzten Azlata in Sicherheit!«

Ah, das war es. Sie wollten mich aus der Schusslinie wissen. Wie immer. Weil es nie anders gewesen war. Ich, Didre Greenblood, war keine Kämpferin. Ich war ein dicker Stein, der nicht im Weg liegen durfte. Wenn sie wüssten, was hier vor sich ging, würden sie ihren Dolch wohl eher in mein Herz rammen. Ohne Gnade.

Kein Bedauern um die Slowburn Didre Greenblood.

Mein Blick huschte zu den Opfern der Spar Cave. Sie lagen auf den Flugdrachen verteilt, festgeschnürt mit den Sattelgurten. Es wäre vernünftig, sie fortzubringen, aber ich konnte unmöglich verschwinden. Nicht, wenn dieses abnormale Ding, das gerade aus dem Erdriss kroch, meiner Magie entstammte. Ich konnte die Menschen, die ich liebte, nicht in ihr eigenes Unglück stürzen – und hinterher mit den Schuldgefühlen leben, wenn etwas schiefging.

Meine Entscheidung war gefallen.

Mit Schwung rutschte ich von Isobels Flugdrachen herunter. Meine Stiefel landeten in dem Moment auf der feuchten Erde, in dem Archibald wieder aus der Burg stürmte – Dalziel, Merlin, Fryda und Arthur im Schlepptau. Das fuchsrote Haar der Andersons leuchtete in der tiefen Nacht wie verglühendes Feuer. Im Gegensatz zu uns trugen sie ihre Jagdmontur. Beim Anblick des Wesens weiteten sich ihre Augen.

»Bei den Göttern!«, spuckte Dalziel aus. Schlitternd kam er vor uns zum Stehen. »Was ist das?«

»Eine Missgeburt, die gleich ihr Leben verliert«, knurrte Tyrael. Sein Ton klang grimmig wie eh und je, aber er schwankte. Etwas stimmte nicht mit ihm. Seine Aura zerrte an mir. Eine magnetische Kraft, die mich zu ihm ziehen wollte. Für die Dauer einer Millisekunde glitt sein Blick zu mir. Seine dunklen Augen bohrten sich direkt in meine. Mein Magen machte einen Satz. Doch der Moment war zu schnell vorbei, um zu deuten, was er dachte. Schon wandte er sich ab.

»Dad.« Tyrael streckte seinen gesunden Arm aus. Ich hielt es für ein Wunder, dass mein Cousin die Kraft aufbringen konnte, mit seiner verbrannten Haut noch einen Kampf antreten zu wollen. Aber so war er. Unser gebrochener Held. »Gib mir deinen Dolch.«

Dalziel runzelte die Stirn. »Warum?«

»Jetzt ist keine Zeit für Fragen.« Tyrael machte einen Satz zur Seite und krallte sich die Waffe seines Vaters aus dessen Hüftgurt. »Du kannst mir später danken, wenn ich dafür gesorgt habe, dass dieses Ding seinen Kopf verliert.«

Keine Sekunde später erhob sich das Wesen aus dem Erdriss. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um seine Augen zu erkennen. Kleine rote Stecknadeln in einem riesigen schwarzen Schädel. Der Mund nichts weiter als ein schleimiger Schlund mit langen, spitzen Zähnen. Es besaß keinen Körper. Die vier Beine führten direkt zum Kopf, und sie waren … sie waren mit Dornen übersät! Aus ihren Spitzen quoll giftgrünes Sekret.

Isobel schnappte nach Luft. »Es besitzt kein Hirn! Ich kann meine Macht nicht einsetzen!«

»Geht in den Nahkampf!«, rief Nathaniel. Er hob seinen Gehstock. Aus dem Ende kam eine messerscharfe Spitze. »Und weicht seinen Beinen aus!«

»Berührt auf keinen Fall das Sekret!« Dalziel zückte eine Kurzwaffe und positionierte sich neben seine Frau.

»Ich habe das ungute Gefühl, dass dieses Zeug nicht unbedingt ein Waldmeisterpudding ist«, murmelte Sileas, während sie ein Flammenschwert heraufbeschwor.

Das Wesen gab einen Laut von sich, der nicht von dieser Welt war. Der Boden erzitterte. Mein Puls beschleunigte sich. In mir wütete das Chaos, raste in jeden Winkel, warf sich gegen meine Brust, brach aus mir hervor, ohne dass es jemand mitbekam, und verzehrte sich an Tyraels Schwaden, während ich …

Ich spürte den Herzschlag des Wesens. Meine Macht wisperte. Sie gab Befehle. Und plötzlich pirschte das Monster vor, stürzte sich auf Isobel.

Sie schrie, und ich rannte los. Das hier war mein Fehler. Und wenn ich bei dem Versuch sterben würde, meine Freundin zu retten, ich würde sie nicht für meine Fehler büßen lassen. Doch in dem Moment, in dem ich mich zwischen Isobel und das Wesen werfen wollte, riss mich ein Arm mit brutaler Härte zurück. Schmerzhaft landete ich auf dem Boden. Ich verzog das Gesicht. Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Als die Sterne in meinem Sichtfeld schwanden, erkannte ich ein verschwommenes Rot.

»Fr… Fryda?« Ich blinzelte. »Was …«

»Bist du verrückt?« Die Stimme von Isobels Mutter zischte nah an meinem Ohr. »Willst du dich in den sicheren Tod stürzen, oder was?«

Wie bitte? Hatte die herrische Anderson, in deren Venen die Grausamkeit zu Hause war, mir etwa gerade das Leben retten wollen?

»Ich …«

»Du wirst nicht –« Doch ihr Satz endete in einem Laut, der mir eine Gänsehaut bereitete. Er war Schrei und Röcheln zugleich. Und als mein Blick über ihre Schulter wanderte, erkannte ich den Grund hierfür. Ein Bein des Wesens hatte sich in Frydas Rücken gebohrt. Wegen mir! Meine Macht befahl ihm, seine Tentakel in die Leiber der anderen zu schmettern, und ich konnte nichts anderes tun, als zuzusehen.

Fryda wurde in die Luft gehoben. Ihre Glieder hingen hinab wie ein Häschen im Maul eines Wolfs. Mein Körper war wie gelähmt. Mein Hirn war wie gelähmt. Alles taub vor Schock. Die Macht übernahm jegliche Kontrolle in mir. Ein furchterregender Tunnelblick. Mein Kopf bewegte sich vor und zurück, im selben Rhythmus wie seine Tentakel, während seine Saugnäpfe sich an Fryda labten.

»Mutter!« Isobel stürzte vor, doch Tyrael war schneller. Er stürmte an ihr vorbei, hob den Dolch seines Vaters und sprang, doch er manipulierte seine eigenen Muskeln nicht, um an Höhe zu gewinnen. Er konnte nicht. Tyrael erreichte nicht ansatzweise die Höhe, der es bedurfte, um Fryda zu erreichen. Kaum einer bemerkte es, weil jeder mit den Beinen des Wesens zu kämpfen hatte, doch ich hatte nur Augen für meinen Cousin. Seine Aura drängte sich mir auf, gab mir unmissverständlich zu verstehen, wie es in ihm aussah, während meine Macht diese düsteren Impulse nutzte, um den Dämon am Leben zu halten. Wir waren ein monströses Team, und er hatte keine Ahnung.

Archibald erreichte Tyrael. Routiniert ging er in die Hocke, und sein Bruder nutzte diese Hilfestellung wie einen Springbock, rammte dem Ding treffsicher den Dolch in den oberen Strang des Beins und …

… nichts geschah. Die Spitze der Waffe prallte zurück, als wäre die Haut des Wesens ein undurchdringbarer Widerstand. Tyrael fiel zu Boden, und auch Archie konnte ihn nicht vor diesem Sturz bewahren. Er musste seinen Fokus darauf verwenden, nicht von einem tanzenden Stacheltentakel aufgespießt zu werden. Tyrael biss die Zähne zusammen, aber die Schmerzenslaute konnte er damit nicht zurückdrängen.

»Fryda!« Arthur Andersons Schreie wurden panisch. Mein Blick raste zu Isobels Mutter, die noch immer schlaff in dem Griff des Wesens hing. Aus ihrem Rücken quoll tiefrotes Blut. Ihre Tochter hieb in alle Tentakel, Sileas malträtierte den Kopf des Wesens mit Feuerspeeren, Nathaniel und Archie wichen Angriffen aus, Dalziel und Elsbeth kämpften Rücken an Rücken gegen vier seiner Beine, Merlin heulte auf und ich … ich wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, dieses Ding sofort verschwinden zu lassen.

Meine Schritte trugen mich vorwärts. Ich fiel auf die Knie. Ein stechender Schmerz durchzog meinen Körper. Auf allen vieren kroch ich weiter, bis ich Tyrael erreicht hatte. Unter schweren Lidern blickte er zu mir auf. Sein Wimpernkranz war von den Göttern gesegnet, die Wangenknochen geschliffen scharf.

»Di …«

»Es tut mir leid«, keuchte ich atemlos. »Es tut mir so leid!« Panisch umfasste ich seinen Dolch, entwand ihn seinem schwachen Griff und positionierte ihn über seinem Herzen. »Ich muss … muss das …«

»Wa…«

Ich stieß zu. Der spiegelglatte Obsidian durchbohrte Tyraels Fleisch. Seine Augen weiteten sich, als ihm bewusst wurde, was ich getan hatte. Blut sickerte auf meine Hände, meine Arme. Tränkte sein Hemd. Es war überall. Ich hielt den Dolch umklammert, meine Augen geweitet, die Lippen geteilt.

Zitterndes Kinn, bebender Schock.

Tyrael starrte mich an. Fassungslosigkeit dominierte seine attraktiven Züge. Er röchelte. »Di …«

»Es tut mir leid.« Tränen strömten mir über das Gesicht. Plötzlich hörte ich das Wesen hinter uns aufjaulen. Ich wirbelte herum.

Das Wesen kreischte. Flackerte. Ich erhob mich, doch meine Beine konnten mich kaum halten. Langsam öffnete ich den Mund. Und dann stieß ich einen Schrei aus, so falsch und so schrill, wie noch nie ein Laut über meine Lippen gekommen war. Alle sahen zu mir.

»Tyrael!« Mit dem Finger deutete ich auf meinen Cousin. »Das Vieh hat seinen Dolch zurückgeschmettert! Er wurde getroffen!«

Die Zeit stand still. Für einen Moment regte sich niemand außer dem Wesen, das mehr und mehr in sich zusammensank. Frydas Körper landete auf dem Boden. Ich hatte es geschafft.

»Mein Sohn!« Elsbeth stieß Nathaniel beiseite und stürzte vor. »Tyrael!« Sie warf einen Blick über die Schulter, während sie über den Hof stürmte. »Holt Ghislaine! Und Raven! Sofort!«

Ein heilloses Durcheinander brach aus. Jeder rannte umher, Rufe gellten durch die Nacht. Die Panik der anderen pulsierte in meinen Knochen, aber auch Tyraels Aura, die mehr und mehr zu verschwinden drohte.

Ich warf einen letzten Blick auf meinen Cousin.

Dann rannte ich.

ËMILLE

Burnett’s Castle war wie ausgestorben. Die verletzten Azlata wurden im Keller versorgt, weil er den meisten Platz bot. Kurz bekam ich einen der Heiler zu Gesicht, wie er ausgelaugt und käsebleich das Anwesen verließ, und sah einen anderen, der mit neuen Zutaten wieder erschien. Ich trug das Mädchen durch die hohen Korridore, vorbei an schweren Gobelins und altem Mobiliar aus feinstem Mahagoni. Das schummrige Licht der Wandlaternen erhellte ihre fahlen Züge. Hin und wieder klirrte Porzellan auf geschwungenen Beistelltischen, wenn meine schweren Schritte das Teegeschirr auf ihnen erzittern ließ.

Die Tür zu Ghislaines altem Zimmer knarrte. Der Mond warf seine großzügigen Strahlen in den Raum. Im Inneren roch es nach modriger Bettwäsche und feuchten Wänden, nach toten Krähen und Magie. Der übliche Geruch des Schlosses. Vorsichtig legte ich das Mädchen auf das Bett und entzündete die Gaslaterne. Das Eisen klirrte, als ich sie in die Hand nahm. In dem schwachen Licht sah ich auf die Unbekannte hinab und erkannte, dass das Mädchen gar kein Mädchen mehr war. Eher eine Frau, die durch ihr mageres Gerippe und das eingefallene Gesicht wesentlich zerbrechlicher und jünger wirkte. Die Augäpfel traten ihr aus den Höhlen, und das schwere Amulett um ihren Hals lag in der tiefen Mulde unter ihren hervorstehenden Schlüsselbeinen. Ich wusste, dass sie lebte, weil ich ihre Hirnströme spüren konnte. Doch sie wirkte tot.

Als die Tür sich leise öffnete, blickte ich auf. Der Schein der Laterne malte einen schwachen Weg durchs Zimmer, und an seinem Ende sah mich eine untersetzte Frau durch einen stahlgrauen Vorhang an langen Haaren an. Die Hälfte ihres Gesichts lag im Schatten, die andere war von tiefen Falten übersät.

»Baba Greer«, sagte ich. »Wie ich sehe, hat dich meine Nachricht erreicht.«

»Pah.« Die alte Frau blies sich das Haar aus dem Gesicht. »Was für eine dumme Idee, mir ein Windgeflüster zu schicken.« Sie betonte das Wort, als würde sie über Abschaum sprechen. »Dein Element hat mich geweckt, Woodward.«

»Das war der Sinn der Sache.«

»Es folgt nie einem Sinn, mich meinen Träumen zu entziehen.«

»Will ich wissen, wie düster sie sind?«

»Düster genug für zwei Leben.«

»Zwei Leben?«

Sie schnaubte. »Was willst du?«

Mit dem Kinn nickte ich zum Bett. »Wir haben das Mädchen aus der Spar Cave gerettet.«

»Spar Cave?« Sie hob eine Braue. »Die Meereshöhle der Isle of Skye?«

Ich nickte, und sie fügte hinzu: »Genauer.«

»Wir sind einer Ixod Veritas begegnet. Das Wesen hat Tyrael verraten, dass wir dieses Mädchen von dort retten müssen, um an die Unendliche Macht zu gelangen.«

Baba Greer starrte mich aus unergründlichen Augen heraus an. Sie verzog keine Miene. Ganze drei Sekunden des Schweigens vergingen, bis sie ein tiefes, heiseres Lachen ausstieß. Mit der Hand schlug sie sich auf den Oberschenkel, japste nach Luft. Ihrer Lunge war deutlich anzuhören, dass sie seit Jahren der Krähendroge verfallen war.

»Die Unendliche Macht …« Sie warf den Kopf in den Nacken und offenbarte eine Reihe gräulicher Stummelzähne. »Ix-Ix-Ixod Ve-ritas.« Mit dem Knöchel wischte sie sich Tränen aus dem Augenwinkel. »Was für ein herrlich amüsantes Märchen.«

»Das ist kein Märchen.«

»Erzähl keinen Krähenschiss, Woodward.« Ihr Grinsen war breiter als mein Selbstbewusstsein, während sie durch den Raum schlenderte und wahllos Dinge in die Hand nahm, um sie zu mustern. »Du und Tyrael seid waghalsig und handelt, offen gestanden, die meiste Zeit übermäßig dumm. Aber selbst ihr wärt nicht von allen guten Göttern verlassen und würdet nach der Unendlichen Macht suchen.«

»Nun, es ist wahr.«

Baba Greer musterte ein Kännchen aus Messing, in dem eine heruntergebrannte Stabkerze steckte. Sie stellte es zurück auf Ghislaines Frisiertisch. Plötzlich vibrierte der Boden. Ein Bild fiel von der Wand, das Glas zersprang.

Baba Greer runzelte die Stirn. »Warte hier.« Ohne ein weiteres Wort verschwand sie aus dem Zimmer.

Ich setzte mich in den Ohrensessel in der Ecke, dessen rotes Leder bereits einige rissige Stellen aufwies, und kam ihrer Bitte nach. Die Hirnströme der unbekannten Frau machten mich nervös. Sie waren träge, auf gewisse Weise normal, aber dann wiederum auch nicht. Etwas an den Bewegungen wirkte unnatürlich verzerrt. Wie ein versteckter Fehler in einer Gleichung, dafür gemacht, nie jemandem aufzufallen. Ich drang weiter vor und grub in den einzelnen Nervensträngen, aber jegliche Erinnerungen wiesen meinen Eintritt ab. Das war nicht nur seltsam, sondern überaus besorgniserregend. Doch bevor ich weiter in ihrem unergründlichen Hirn wühlen konnte, öffnete sich die Tür wieder, und ich trennte die Verbindung. Baba Greer kam herein, in ihren Armen …

»Ist das dein Ernst?«

Sie sah mich an. »Was denn?«

»Ich dachte, du gehst nachschauen, was hier so ein Beben verursacht hat!«

Sie wedelte mit der freien Hand durch die Luft. »Passiert doch ständig etwas in Silent Creek.«

Ich starrte sie an. »Wo hast du die jetzt her?«

Baba Greer hob die tote Krähe in die Höhe. Der nackte Vogelkörper baumelte in der Luft. »Aus meiner Vorratskammer.«

»Wieso hast du Krähen in deiner Vorratskammer?«

»Wieso nicht?« Sie zuckte die Achseln, pflanzte sich auf den Stuhl vor dem Frisiertisch und zerrte an dem Oberschenkel des Tiers. Mit einem Knacken riss das Bein ab. Die alte Frau zückte einen Stock aus dem Messingeimer neben dem Kamin, spießte das Fleisch darauf auf und begann, das Tier in den Flammen des Kamins zu rösten.

»Also.« Sie drehte ihre Beute. »Was hat es wirklich mit dem Mädchen auf sich?«

»Greer.« Ich beugte mich vor. »Bei der Göttin Brigid: Ich sage die Wahrheit.«

Die alte Frau hob den Blick. Er bohrte sich in meinen, ehe sie den Stock zurückzog und ihre verbliebenen Zahnstummel in das Fleisch des Tiers grub. Es war fast noch roh.

»Fangen wir von vorne an. Du willst mir weismachen, euch wäre eine Ixod Veritas begegnet?« Sie hob eine graue Braue. »In Silent Creek?«

Ich nickte. Sie schnaubte. Ein Stück der Krähe flog ihr aus dem Mund auf den Boden.

»Diese Wesen hüten die Wege zum Baum Avalons. Sie spazieren nicht einfach durch eine Stadt wie diese!«

»Sie ist nicht spaziert!« Ich schauderte bei dem Gedanken daran, wie die Zecke gemeinsam mit Cora in dem ramponierten Reh verschwunden war. »Das alte Karussell war ein Knotenpunkt.«

»Ein Knotenpunkt?« Der Unglaube in ihrem Ton war nicht zu überhören.

»Ja.«

»Im Karussell?«

»Ja.«

Sie betrachtete mich. Dann lehnte sie sich zurück, knabberte an einer Sehne und sagte: »Wer hat sie geöffnet?«

»Was?«

»Die Barriere.« Als sie meinem verwirrten Gesichtsausdruck begegnete, schnappte sie sich in Sekundenschnelle das Kerzenkännchen vom Frisiertisch. Es rauschte durch das Zimmer. Ich war so perplex, dass ich erst in letzter Sekunde den Arm hob und die Luft manipulierte. Die Messingkanne fiel zu Boden.

»Bist du irre?« Ich starrte sie an. »Was sollte das?«

Baba Greer ignorierte mich. »Was hast du im Geschichtsunterricht der Oberen getrieben, Woodward?«

Oh, das wusste ich genau. Ich hatte regelmäßig Blicke mit den schönsten und klügsten azlatekschen Mädchen ausgetauscht, die den ausländischen Clans angehörten.

Als Baba Burnett mein schelmisches Grinsen bemerkte, verdrehte sie die Augen. »Die Knotenpunkte des Baumes Avalons sind kein Gartentor! Nur sehr mächtige Azlata sind dazu imstande, die magischen Algorithmen zu knacken.«

Ich stutzte.

Greer zog ihren verhornten nackten Fuß auf den Schenkel und begann, an dem gelben Zehennagel zu kratzen. »Also?«

Ich gab mir große Mühe, meinen Blick nicht von ihrem Gesicht zu lenken. »Ich kam zu spät, um das mitzubekommen.«

»Wer von euch war dort?«

»Tyrael«, sagte ich schnell. Wenn sein Name fiel, war nichts mehr unmöglich. »Und die anderen.«

»Helena auch?«

»Ja.«

Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Du verschweigst mir etwas.«

Ich zögerte. Tyraels Stimme echote mir im Kopf. Erzähle ihr alles. Ich vertraute nicht vielen Personen, und ganz bestimmt nicht Baba Greer, aber Tyrael war mein engster Freund. Er war wie ein Bruder. Der letzte Rest Familie, der mir geblieben war. Wenn er dieser alten Frau vertraute, konnte ich es auch. Ich verschränkte die Hände ineinander und starrte auf meine Finger. »Aleen.«

»Ah, da haben wir den Braten.«

An meinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Sprich nicht so von meiner Tochter.«

Greer überging mich. Sie warf den abgeknabberten Schenkel zu Boden und widmete sich nun dem Flügel. »Tyrael verdiente sich die Antwort der Ixod Veritas, nehme ich an?«

»Ja.«

»Sicher. Und er wollte wissen, wo er die Unendliche Macht finden würde?«

»Ja.«

Von Greers schmalen Lippen troff Fett. »Und das soll niemanden von euch verwundert haben?«

»Doch.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Uns alle. Aber –«

»Angenommen, ich glaube dir.« Sie schmierte ihre ebenso fettige Hand an dem hochgeschlossenen Nachthemd ab. »Angenommen, ihr wart tatsächlich derart lebensmüde, euch auf die Suche nach dem Heiligen Artefakt zu machen. Was wollt ihr von mir?«

»Das musst du Ty fragen.«

Ihr Blick wanderte zu der unbekannten Frau. Plötzlich warf sie ihre angefressene Krähe auf den Boden, erhob sich und schlenderte zum Bett. »Mit ihr stimmt etwas nicht.«

Ich nickte. »Ist mir auch schon aufgefallen. Ihr Hirn …«

»Ich spüre starke Magie.« Greer verzog das Gesicht. »Etwas Tiefes.«

»Meinst du, die Ixod Veritas hat die Wahrheit gesagt? Denkst … denkst du, die Unendliche Macht schlummert in ihr?«

»Diese Zecken sind dazu bestimmt, die Wahrheit zu sagen, Woodward.« Sie zögerte. »Doch es bleibt ihnen überlassen, diese zu verzerren.« Sie sah mich an. »Wer war ihr Opfer?«

»Was?«

»Die Zecke, idiodoro!«

»Nenn mich keinen Idioten.«

»Wenn sie bezwungen wurde, muss sie das Leben eines anderen anzapfen, um ihre Art der Wahrheit zu sprechen. Also, wer?«

Ich zögerte. Ein Fehler, denn in der nächsten Sekunde krümmten sich meine Zehen vor Schmerz. Die Nerven in meiner Fußsohle brannten, pochten, stachen. Ich zog scharf die Luft ein.

»Ich bin eine äußerst ungeduldige Azlata. Sprich, Junge.«

»Co…« Ich keuchte. »Coraël.«

Abrupt verschwand der Schmerz. Baba Greers Augen weiteten sich. Ihre Hand sank hinab. »Was?«

»Tyrael will sie zurückholen.« Schwer atmend erhob ich mich aus dem Ohrensessel. »Mit der Unendlichen Macht.«

»Mein Enkel ist ein Narr, wenn er glaubt, er wäre imstande, das mächtigste Artefakt der Azlata in seine schmutzigen Hände zu bekommen!« Sie schnaubte und zeigte aufs Bett. »Hat dieses Mädchen sonst noch ein Opfer mit sich gebracht?«

Ich schwieg.

Greer knurrte. »Woodward …«

»Helena.«

Greer fiel alles aus dem Gesicht. Es war einer der wenigen Momente, in denen ihre Züge frei von jeder Härte waren. Überraschung und Schock ersetzten ihren Gram. »Wo ist sie?«

»In Cruachain.«

»Was?«

»Tyrael hat sie Baal überlassen. Für das Mädchen.«

»Was?«

»Er –«

Ich unterbrach mich, als sich die Tür öffnete. Ein schmales Gesicht mit einem Paar ozeanblauer Augen spähte herein. Isobels fuchsrotes Haar war aschgrau. Etliche Schrammen zierten ihr Gesicht. Sie wirkte aufgelöst, stolperte förmlich ins Zimmer. Ein sehr untypisches Verhalten für Isobel.

»Sorry. Ich …« Beinahe verzweifelt blickte sie mich an, woraufhin ich die Stirn runzelte.

»Alles okay, Izzy?«