The Wizard - Wenn Worte töten - Light Novel - Shi Wu - E-Book

The Wizard - Wenn Worte töten - Light Novel E-Book

Shi Wu

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Beschreibung

Der 18-Jährige Cheng Jinxi wird angeklagt, in nur einer Nacht ein Dutzend seiner Verwandten umgebracht zu haben. Während der Polizist Liang Yuanfeng alles dafür gibt, Beweise für seine Unschuld zu finden, bekennt sich Cheng Jinxi zu der Tat. Das Urteil: lebenslange Haft. Sieben Jahre später ereignen sich bizarre Mordfälle. Um diese aufzuklären, erhält Liang Yuanfeng die Genehmigung, Cheng Jinxi als Verstärkung aus dem Gefängnis zu holen. Dieser verfügt nämlich über eine besondere – allerdings auch sehr gefährliche – Gabe. Seine Macht bringt zuweilen Verzweiflung und Schmerz, doch Liang Yuanfeng glaubt an das Gute in dem jungen Mann, und so lassen auch die Gefühle nicht lange auf sich warten …

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Seitenzahl: 506

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

 

Charakterdiagramm

Prolog

 

Liang Yuanfeng brachte seinen Wagen schräg vor dem Revier zum Stehen. Er sprang hinaus, verschwendete keinen Gedanken daran, die Autotür zu schließen, und stürmte in die Wache. Im Vorbeilaufen warf er dem Polizisten am Empfang die Autoschlüssel zu. »Park für mich!«

Er ignorierte den Fahrstuhl, hastete drei Stockwerke hinab und stieß eine Brandschutztür auf. Sein Ziel war die Gewahrsamszelle, aus der gerade zwei uniformierte Polizisten einen jungen Mann in Handschellen abführten.

»Stopp! Geben Sie mir einen Moment!«, rief Liang Yuanfeng den Beamten zu. Die tauschten kurz Blicke und drehten sich dann zu ihm um. Der Hauptkommissar befand sich noch in der Zelle. »Wartet hier!«, befahl Liang Yuanfeng erneut, ehe er die Gewahrsamszelle betrat. Eilig fischte er sein Handy aus der Hosentasche. »Ich habe Beweise!«, verkündete Liang Yuanfeng, suchte eine Videodatei heraus und hielt Kriminalhauptkommissar Li Mingguang das Handy vor die Nase. »Jemand hat zufällig gefilmt, wie Cheng Jinxi vor dem Hauseingang von Cheng Tongfang steht, das Gebäude aber nicht betritt! Und nach etwa fünfzehn Minuten geht er wieder. Ist alles auf Video!«

Etwas widerwillig nahm der Hauptkommissar das Handy in die Hand. »In diesem Fall«, begann er und blickte stirnrunzelnd auf das Display, »geht es aber nicht nur um Cheng Tongfang.« Er spulte das Video vor und zurück. »Woher hast du das?«

»Im Haus schräg gegenüber, im ersten Stock, wohnt ein Spanner. Der wollte eigentlich nur das Zimmer einer Studentin filmen.«

»Du hast ihn doch nicht verprügelt, oder?«, knurrte der Hauptkommissar, wohl wissend, wie sein Kollege tickte.

»Nein«, entgegnete Liang Yuanfeng sofort. »Der Augenzeuge war sehr gewillt, die Polizei bei der Aufklärung zu unterstützen.«

Kommissar Li taxierte ihn kurz und gab ihm dann mit einem Seufzen das Handy zurück. »Yuanfeng, Cheng Jinxi hat bereits gestanden.«

»Er kann es nicht gewesen sein! Das ergibt keinen Sinn! Er ist gerade achtzehn geworden, er unterliegt dem Erwachsenenstrafrecht. Das wird sein Leben zerstören!«, sagte Liang Yuanfeng aufgebracht. »Hauptkommissar Li, lassen Sie mich nur zehn, nein, fünf Minuten mit ihm sprechen! Wenn er sein Geständnis widerruft, können wir die Sache noch umkehren! Wir dürfen den wahren Mörder nicht entkommen lassen.«

Natürlich wusste Li Mingguang, dass an der Sache etwas faul war. Niemand hielt es für möglich, dass ein solch zierlicher Jugendlicher in nur einer Nacht vier Häuser abgeklappert und insgesamt zwölf seiner Verwandten umgebracht haben sollte. Doch das Problem war, dass er alles gestanden hatte. Und das spielte der Staatsanwaltschaft und der Polizei in die Karten, die dem enormen Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt waren – obwohl das Ergebnis zahlreiche Unstimmigkeiten aufwies. Und da Hauptkommissar Li spürte, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte, sah er gern über diese Unstimmigkeiten hinweg. Doch er wusste auch, dass der Polizist vor ihm nicht lockerlassen würde, also gab er nach. »Du hast fünf Minuten.«

»Danke schön.« Liang Yuanfengs Gesicht hellte sich auf, als der Hauptkommissar den zwei Polizisten befahl, den jungen Mann zurückzubringen.

Cheng Jinxi nahm erneut in der Gewahrsamszelle Platz. Ruhig musterte er Liang Yuanfeng.

»Ich kann beweisen, dass du nicht am Tatort warst.« Mit diesen Worten legte Liang Yuanfeng sein Handy zwischen sie beide auf den Tisch und spielte das Video ab. »Du hättest das nicht gestehen müssen«, sagte er sanft. »Widerrufe deine Aussage und ich helfe dir, schnell einen Anwalt zu finden. Dann bist du aus der Sache raus.«

Cheng Jinxi verfolgte die Bewegungen des Polizisten. Da das Gespräch nur fünf Minuten dauern sollte, hatte man ihn nicht an den Tisch gekettet. Als er nun die Hände ausstreckte, um nach dem Handy zu greifen, hielt ihn niemand auf.

Liang Yuanfeng beobachtete lächelnd, wie er sich das Video ansah. »Du musst nur …« Weiter kam er nicht, denn Cheng Jinxi schmetterte das Handy mit voller Wucht gegen die Betonwand.

»Was zur Hölle soll das?!« Während Liang Yuanfeng schockiert das zerbrochene Beweismittel anstarrte, hatte Li Mingguang den Jungen bereits an den Schultern gepackt. Cheng Jinxi wehrte sich nicht. Unschuldig dreinblickend sah er zu dem Hauptkommissar hoch. »Darf ich jetzt gehen?« Es klang, als würde ein Schüler mit seinem Lehrer sprechen.

Liang Yuanfeng hatte sich derweil wieder gefangen. Wütend haute er mit beiden Händen auf den Tisch. »Findest du das etwa lustig?! Egal wie sehr du deine Verwandten gehasst hast, jetzt sind sie tot! Willst du deswegen ernsthaft dein Leben wegschmeißen und den Mörder ungeschoren davonkommen lassen?«

Cheng Jinxi schien die Wut nicht nachvollziehen zu können. Mit leicht geneigtem Kopf blinzelte er den tobenden Polizisten an. »Was veranlasst Sie zu glauben, dass ich nicht der Mörder bin?«

»Du standest nur am Eingang, wie sollst du das gemacht haben? Erklär’s mir!« Liang Yuanfeng hatte das starke Bedürfnis, den Jungen zu schütteln. Wie konnte er der Sache nur so gleichgültig gegenüberstehen?

Liang Yuanfeng wusste, dass seine Vorgesetzten Zweifel an Cheng Jinxis psychischer Verfassung hatten. Nur ein gefühlloser Unmensch wäre zu so einer Tat imstande. Laut den Gutachten zweier Psychologen war Cheng Jinxis Geisteszustand jedoch ganz normal.

Mittlerweile glaubten nur noch Liang Yuanfeng und einige seiner Kollegen, dass Cheng Jinxi unschuldig war und versuchte, jemanden zu decken.

Bei seiner Festnahme hatte Liang Yuanfeng gesehen, wie sich der junge Mann mit einer Umarmung und einem warmherzigen Lächeln von seiner kleinen Nichte verabschiedet hatte. Dem Polizisten war klar, dass der Junge kein Unmensch war, doch wen wollte er schützen? Außer seiner fünfjährigen Nichte hatte er keine Verwandten mehr.

Für einen kurzen Moment wirkte es so, als würde Cheng Jinxi etwas sagen wollen, dann wandte er sich jedoch wieder an Hauptkommissar Li. »Darf ich gehen?«

Li Mingguang wollte ihn am liebsten würgen und die Wahrheit aus ihm herausquetschen, allerdings hielt ihn das äußerst unschuldige Gesicht des jungen Mannes davon ab.

Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gebogen, wodurch es aussah, als würde er schmunzeln. Sein Blick war klar und sein Äußeres gepflegt. Zudem war er sehr hübsch. Die Frauen im Team hatten bereits mit einem Lineal in ihren Händen über die Länge seiner Wimpern diskutiert. Und selbst die allseits bekannte Schönheit aus der Verwaltung hatte nach einem Blick in den Spiegel nur zugeben können, dass sie mit Cheng Jinxi nicht mithalten konnte.

Hinzu kam das sanfte Gemüt des Jungen. Ihn anzuschreien und mit den Händen auf den Tisch zu schlagen, war schon das Äußerste der Gefühle.

Li Mingguangs Blick fiel auf Cheng Jinxis schmale Handgelenke. Die Handschellen hatten ihre Spuren hinterlassen, sodass sie nun mit blauen Flecken übersät waren. Als er daraufhin in das Gesicht des Jungen sah, wurde ihm wieder bewusst, wie jung dieser Mann mit den unschuldigen Zügen noch war. Und wie er mit allen kooperierte. Er hatte alle Fragen beantwortet, alles zugegeben und als man ihn nach dem Tatverlauf gefragt hatte, war er bemüht gewesen, eine gute Geschichte abzuliefern. Hatte man ihn auf die Logikfehler hingewiesen, hatte er angestrengt die Stirn gerunzelt, als grübelte er über einer schweren Matheaufgabe. Und als man auch die neue Antwort infrage gestellt hatte, hatte Cheng Jinxi angegeben, sich nicht mehr zu erinnern. Dabei hatte er höflich gelächelt, sodass den Ermittlern nichts anderes übrig geblieben war, als die Aussage hinzunehmen.

Hauptkommissar Li seufzte und zog Cheng Jinxi am Ellenbogen hoch. »Du kannst gehen.«

»Vielen Dank«, sagte Cheng Jinxi und schenkte dem Hauptkommissar sogar noch ein freundliches Lächeln, das diesem jeglichen Wind aus den Segeln nahm. Liang Yuanfeng hingegen eilte um den Tisch, um beide aufzuhalten. Bevor er jedoch Cheng Jinxi packen und ihm das Lächeln aus dem Gesicht schütteln konnte, hielt sein Vorgesetzter ihn auf. »Yuanfeng, es reicht!«

»Weißt du, was die im Gefängnis mit Jungen wie dir anstellen? Du wirst deren Spielzeug!«, brüllte Liang Yuanfeng Cheng Jinxi entgegen. Zornesröte breitet sich auf seinem Gesicht aus, während Li Mingguang ihn vehement zurückhielt.

Die Worte brachten Cheng Jinxi zum Lachen. Dann wurde sein Blick ernst und er erwiderte: »Woher wollen Sie wissen, dass nicht ich sie zu meinem Spielzeug mache?«

Liang Yuanfengs Augen weiteten sich und für einen kurzen Moment war er sprachlos. Hauptkommissar Li befahl den zwei Polizisten, Cheng Jinxi abzuführen. Der nickte Liang Yuanfeng und Li Mingguang noch höflich zu, ehe er brav mit den Beamten mitging. Das Lächeln verließ dabei nicht seine Lippen, nicht einmal, als er die zwei Männer hinter sich streiten hörte.

Man brachte ihn zu einem Gefangenentransporter, in dem bereits andere Straftäter warteten. Als er einstieg, sorgte der Anblick des Jungen für Unruhe, die die Beamten sofort unterbanden.

Einer der Polizisten setzte sich als Vorsichtsmaßnahme neben Cheng Jinxi. Die Hand am Schlagstock ruhend beobachtete er die anderen Häftlinge. Erst als der Wagen sich in Bewegung setzte und einige Kilometer Strecke gemacht hatte, sah der Polizist zu Cheng Jinxi. Auch er verstand nicht, warum der Junge gestanden hatte, gab es doch keine Beweise, die in irgendeiner Weise seine Schuld feststellen konnten. Trotzdem hatte er die Morde zugegeben und auf die Vertretung durch einen Anwalt verzichtet. Die Polizei hatte tagelang mit der Staatsanwaltschaft gestritten, während die Presse sich nur so auf den Fall gestürzt hatte. Der Polizist teilte Liang Yuanfengs Glauben an die Unschuld des Jungen, jedoch beharrte dieser stur darauf, der Täter zu sein. Die Lage hatte sich am Ende so zugespitzt, dass die Staatsanwaltschaft ihn nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt hatte. Cheng Jinxi hatte eine lebenslange Haftstrafe erhalten.

Ein höfliches Lächeln umspielte nun die Lippen des Verurteilten, als er den Blick des Polizisten bemerkte. Dieser seufzte nur und sagte: »Kommissar Liang meint es nur gut. Seit er dich verhaftet hat, plagen ihn Gewissensbisse. Er will den wahren Täter finden, aber wenn du dich querstellst, können wir nichts tun.«

Cheng Jinxi blieb einfach nur still sitzen. Vielleicht wusste er nicht, was er sagen sollte, vielleicht war er aber auch nur zu faul, um darauf einzugehen. Obwohl der Polizist keine Antwort bekam, hakte er nicht weiter nach. Das Urteil war gefallen. Jetzt noch Fragen zu stellen, hatte keinen Zweck mehr. Als der Transporter sein Ziel erreichte und die Gefangenen an die Verantwortlichen der Strafanstalt übergeben wurden, drehte sich der Polizist noch einmal um, bevor er ging. Er hielt inne und wandte sich ein letztes Mal an Cheng Jinxi. »Du …«, begann er zögerlich, »solltest da drinnen gut auf dich aufpassen.«

»Werde ich, danke. Und richten Sie bitte auch Kommissar Liang meinen Dank aus.« Als würde er einen hohen Gast verabschieden, verbeugte sich Cheng Jinxi leicht. Der Polizist schaute nur verdutzt, dann ging er, während er sich ratlos den Nasenrücken massierte.

Auch Cheng Jinxi setzte sich in Bewegung und folgte den anderen in die Anstalt. Dabei zog er viele neugierige Blicke auf sich, bis schließlich der Gefängnisdirektor herbeieilte und ihn von der Gruppe trennte. Er durchsuchte Cheng Jinxi in einem separaten Raum und führte ihn danach persönlich in seine Zelle. Warum er eine gesonderte Behandlung erhielt, hinterfragte Cheng Jinxi nicht. Er lächelte den Direktor nur brav an. Dieser musterte ihn mehrmals. Es war klar, dass Cheng Jinxis Aussehen ein Problem darstellte und Ärger verursachen würde. Aus diesem Grund hatte ihn wahrscheinlich auch Liang Yuanfeng angerufen und nachdrücklich darum gebeten, sich um den Jungen zu kümmern.

Doch hier gab es jede Menge Typen, die Ärger machten. Solang die Sicherheit der Häftlinge gewährleistet war, drückte der Gefängnisdirektor allerdings auch mal ein Auge zu. Daher ließ er den Handel der Insassen mit Alkohol, Tabak oder Kaffee zu, wenn dies nicht die Ordnung störte. Auf dem Weg zur Zelle schritt der Direktor grimmig dreinblickend voran, Cheng Jinxi folgte direkt dahinter, geführt von zwei Aufsehern. Der Neuankömmling fiel jedoch auf wie ein bunter Hund, und schon bald schlenderte eine Gruppe von Insassen auf ihn zu. Der Gefängnisdirektor konnte sie schlecht ignorieren, also hielt er an und sprach sie mit starrer Miene an. »So früh schon frei? Habt ihr eure Arbeit bereits erledigt?«

Der Anführer der Gruppe antwortete grinsend: »Natürlich, sonst wär’n wir nich’ hier. Wir befolgen doch immer brav Ihre Regeln. Wollten uns nur unseren neuen Freund hier ansehen.«

Verglichen mit den anderen Insassen war er nicht besonders groß und wirkte eher unscheinbar als bedrohlich. Trotzdem bereitete dieser Typ dem Direktor und den Wärtern die meisten Kopfschmerzen. Man hatte ihn aus einem illegalen Boxring in Thailand geholt. Wenn er durchdrehte, konnten selbst mehrere Wärter ihn nicht bändigen.

»Wenn ihr euch so langweilt, geht doch auf den Sportplatz und steht uns hier nicht im Weg.« Der Gefängnisdirektor funkelte die Truppe vor ihm an.

»Sie sind ja so beschäftigt. Ich kann unserem kleinen Freund hier doch alles zeigen.« Grinsend sah der Ex-Boxer Cheng Jinxi an. Von Kopf bis Fuß musterte er ihn. Er hatte ein neues Opfer gefunden. »Hey, Kleiner, ich führ dich rum, wie wär’s? Wir sind doch jetzt Nachbarn.«

Die Gruppe hinter ihm johlte. Der Direktor wollte sie gerade zurechtweisen, da ergriff Cheng Jinxi das Wort: »Deinem Herzen geht es nicht gut.« Sein Tonfall war sanft und ruhig.

Verwirrt drehte sich der Direktor um und sah, wie Cheng Jinxi dem aufdringlichen Insassen ein kleines Lächeln schenkte. Wie ungerührt ihn das lässt.

»Hä? Nein, meinem Herzen geht’s super.« Zwar ließ ihn das kurz stutzen, doch er fing sich schnell wieder und so fand auch das Grinsen zurück in sein Gesicht.

»Dein Herz schlägt zu schnell«, sagte Cheng Jinxi. Von den Handschellen abgesehen machte er einen durch und durch entspannten Eindruck, als wäre er für einen kurzen Plausch stehen geblieben. »Du bekommst keine Luft mehr.«

Mit einem Mal erstarrte der Ex-Boxer. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und ihm das Herz schwer gegen die Brust klopfte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er bekam keine Luft. Als würde ihn jemand würgen.

»Atemnot fühlt sich nicht gut an, oder? Jetzt kannst du nicht einmal mehr gerade stehen.« Cheng Jinxi klimperte nur mit seinen langen Wimpern. Seelenruhig beobachtete er, wie der Typ vor ihm zu Boden glitt. Die umstehenden Insassen traten panisch zurück. Schockiert sahen sie, wie ihr Kumpel sich an die Kehle griff und sich auf dem Boden wälzte.

Niemand wagte es einzugreifen.

Der Mann quälte sich robbend vorwärts, geradewegs auf Cheng Jinxi zu. Da kam der Gefängnisdirektor wieder zu sich. »Schnell, bringt ihn auf die Krankenstation!«, befahl er.

Die zwei Wärter warfen sich einen flüchtigen Blick zu, dann wichen sie von Cheng Jinxis Seite, um dem sich auf dem Boden wälzenden Straftäter aufzuhelfen. Dieser kämpfte allerdings so stark gegen eine wohl unsichtbare Macht an, dass die zwei ihn nicht auf die Beine bekamen.

Cheng Jinxi beobachtete das Geschehen ohne jegliche Gemütsregung. »Dich so sterben zu lassen, wäre allerdings ein Gefallen.«

Plötzlich bekam der Mann wieder Luft. Rasend vor Wut kroch er auf Cheng Jinxi zu. Die Wärter versuchten mit Leibeskräften ihn davon abzuhalten.

»Ah!« Cheng Jinxi lachte auf, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Weißt du, wie sich Ertrinken anfühlt? Das solltest du mal erleben.«

Eben noch wütend, begann der Ex-Boxer mit einem Mal zu röcheln. Seine Lungen schienen sich wie aus dem Nichts mit Flüssigkeit zu füllen. Er hatte schon einmal Lungenblutungen gehabt und kannte daher das Gefühl. Er wollte die Flüssigkeit loswerden und begann, Wasser zu spucken. Woher all das plötzlich kam, konnte sich keiner erklären.

Der Straftäter krallte sich in den Stoff vor seiner Brust und starrte den unschuldig dreinblickenden Cheng Jinxi an, der lediglich dastand und auf ihn herabsah.

Cheng Jinxis hübsches Gesicht, die langen Wimpern und der Welpenblick lösten in seinen Mitmenschen unweigerlich Mitgefühl aus. Er hatte das Antlitz eines Engels, nur dass seine schönen Lippen die Worte eines Dämons formten.

Der Ex-Boxer hatte sich schon oft in lebensbedrohlichen Situationen befunden. Er verstand es, sich aus jeder Gefahr zu winden – all seine Kraft aufzubringen, um zum Licht am Ende des Tunnels zu gelangen. Doch in diesem Fall war da kein Licht. Zum allerersten Mal in seinem Leben spürte er nackte Todesangst.

Er wusste, dass er nach Hilfe rufen oder um Vergebung flehen sollte, aber er brachte keinen Mucks heraus. Da war nur Wasser, das er unentwegt ausspuckte. Er konnte nicht sprechen, nicht atmen. Und dann stieg ihm plötzlich ein merkwürdig vertrauter Geruch in die Nase.

»Kommt dir der Geruch bekannt vor?«, fragte Cheng Jinxi und neigte den Kopf. »Wie fühlst du dich? Dein Kind hat sich genauso gefühlt, als du es im Fass heruntergedrückt hast.«

Da fiel es dem Häftling plötzlich ein. Dieser Geruch. Sein Kind. Er hatte es ertränkt. In einem der Fässer, die seine Mutter sonst zum Einlegen von Gemüse verwendet hatte. Nachts hatte er dann den Leichnam im Fischteich seines Nachbarn entsorgt und von diesem sogar eine große Menge Geld erpresst. Geld, mit dem er nach Thailand abgehauen war. Seine alte Mutter hatte er zurückgelassen. All diese Erinnerungen prasselten auf ihn ein.

So war also der Geruch …

Das Bild seines im Wasser zappelnden Kindes erschien vor seinem inneren Auge.

So hat sich das also angefühlt …

Cheng Jinxi sah zu, wie das Röcheln und Husten allmählich verstummten. Als der Mann sich nicht mehr bewegte, wandte sich Cheng Jinxi an die anderen in der Gruppe. »Möchte mich hier noch jemand herumführen?«, fragte er höflich.

Die Gefangenen schüttelten nur langsam die Köpfe und wichen zurück. Am liebsten wären sie weggelaufen, doch keiner von ihnen wollte Cheng Jinxis Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Einer der Gefängniswärter beugte sich hinab, um die Atmung des Mannes zu überprüfen. Aus dessen Mund floss immer noch Wasser, doch er atmete nicht mehr. Die Wärter warfen dem Gefängnisdirektor einen panischen Blick zu.

Auch Cheng Jinxi sah zu ihm. »Können wir gehen?«, fragte er, als wäre nichts gewesen.

Der Direktor brauchte einen Moment, um sich aus seiner Schockstarre zu lösen. Er nickte. »Ja, natürlich. Folge mir.« Bevor er sich jedoch in Gang setzte, wandte er sich an die zwei Wärter. »Du kümmerst dich um den … Patienten. Und du holst Bettzeug für unseren neuen Insassen. Seine Zelle ist im zweiten Stock, Nummer 10.«

Der Wärter, der sich um Cheng Jinxis Bettzeug kümmern sollte, zuckte zusammen und eilte los. Um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht führte der Gefängnisdirektor Cheng Jinxi weiter. Wie Moses, der das Meer teilte, wichen die Insassen zurück und machten so Platz für die beiden.

»Da vorne ist der Sportplatz, wenn du dich bewegen willst. Dort ist der Gemeinschaftsraum, da kannst du fernsehen. Manchmal zeigen wir dort Filme.« Noch immer etwas neben sich stehend führte der Direktor Cheng Jinxi durch die Anstalt, allein seine Instinkte trieben ihn voran. Der junge Mann neben ihm nickte nur brav. »Ich bevorzuge Ruhe.«

Das Gedankenkarussell des Direktors kam langsam zum Stehen. Cheng Jinxi wirkte nicht, als ob er plante, jeden hier zu massakrieren. Das beruhigte ihn ein wenig. Als er die Treppen zum zweiten Stock hinaufging, kramte er einen großen Schlüsselbund hervor. Mit dem passenden Schlüssel öffnete er eine Tür. »Das ist deine Zelle.«

Cheng Jinxi trat ein und sah sich um. Die Zelle war geräumig, hatte ein Fenster, ein Bett, einen Schreibtisch und sogar ein eigenes Badezimmer. Lächelnd drehte er sich zu dem Direktor um, der nur mit Mühe die Fassung wahrte.

»Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten. Und ich denke, dass niemand mehr versuchen wird, mir Ärger zu machen. Sie können also beruhigt sein«, versicherte Cheng Jinxi sanft. »Ich sollte mich bei Kommissar Liang für seine Fürsorge bedanken.«

Der Gefängnisdirektor war sich nicht sicher, ob der Junge von seiner Verbindung zu Liang Yuanfeng wusste. Als ihm allmählich dämmerte, was sein Gegenüber meinte, seufzte er. Gewiss würde ab dem heutigen Tage niemand mehr auf die Idee kommen, ihn aufzusuchen und sich mit ihm anzulegen. Im Umkehrschluss bedeutete das aber auch, dass der Direktor Cheng Jinxi nicht frei herumlaufen lassen konnte, falls doch ein Idiot es wagen sollte, ihn zu provozieren.

»Gut. Dann … wenn du nicht gerne rausgehst, kann ich dir sonst etwas Gutes tun? Vielleicht ein Tablet? Allerdings ohne Internetzugriff.« Der Direktor bemerkte die blauen Flecken an Cheng Jinxis Handgelenken und erst da fiel ihm auf, dass dieser die Handschellen noch trug. Vorsichtig befreite er den Jungen davon.

Cheng Jinxi schüttelte den Kopf und rieb sich die wunden Handgelenke. Dabei ließ er den Blick schweifen. Er wirkte wie jemand, der sein frisch bezogenes Eigenheim begutachtete. »Ein paar Bücher wären schön. Und ein Notizheft mit einem Stift. Das reicht schon.«

Dass der Junge so wenige Ansprüche stellte, wunderte den Direktor. »Wie wäre ein Bücherregal? Und ein Sofa zum Lesen?«, schlug er vor.

»Gerne, ich danke Ihnen.« Mit einem aufrichtigen Lächeln drehte Cheng Jinxi sich um.

»Kein Problem. Yuanfeng wollte, dass ich mich um dich kümmere …«, murmelte der Direktor und erinnerte sich an das Telefonat mit seinem Neffen, bei dem dieser hoch und heilig geschworen hatte, dass der Junge kein Mörder sei. Beim Gedanken daran verzog der Direktor das Gesicht.

Cheng Jinxi schien zu wissen, was ihm durch den Kopf ging. »Kommissar Liang ist ein guter Mann. Obwohl ich alles gestanden habe, glaubt er an meine Unschuld.« Dann fiel Cheng Jinxi noch etwas ein und ergänzte entschuldigend: »Sagen Sie ihm bitte, es tut mir leid, dass ich sein Handy zerstört habe.«

»Oh, ach, nicht der Rede wert. So was kann man neu kaufen.« Der Direktor winkte ab. Das erklärte, warum Liang Yuanfeng ihn nicht vom Handy, sondern vom Revier aus angerufen hatte.

Einer der Wärter kam zusammen mit einem Häftling herein. Sie brachten dem Neuankömmling Decke, Kissen, Laken und andere Alltagsgegenstände. Der helfende Häftling war selbst gerade erst zwanzig und musterte Cheng Jinxi neugierig, ehe er sich mit gesenktem Blick an die Arbeit machte und das Bett bezog. Während sich Cheng Jinxi bedankte, sah sich der Gefängnisdirektor um. Die Zelle war zuvor Politikern und Prominenten vorbehalten gewesen, die ihre Haftstrafen komfortabel absaßen und nach ein, zwei Jahren, manchmal nur wenigen Monaten, Platz für den nächsten machten. Vielleicht passte es ganz gut, so dachte er, dass Cheng Jinxi nun hier einzog. »Auf dem Schreibtisch liegt der Tagesplan«, merkte der Gefängnisdirektor nach einem kurzen Räuspern an. »Sieben Uhr morgens aufstehen, Morgengymnastik, danach Frühstück und dann verteilen wir … die Arbeit.« Eine schlechte Idee, kam ihm in den Sinn, und fügte schnell hinzu: »Ignoriere den Plan, wenn du deine Ruhe haben möchtest. Das Telefon dort an der Wand ist direkt mit meinem Büro verbunden. Melde dich, wenn du etwas brauchst. Dreimal am Tag bekommst du Mahlzeiten gebracht, sag mir ruhig, was du essen möchtest. Und wenn du an die frische Luft willst, kannst du mich auch rufen, dann begleite ich dich.«

Der Direktor hoffte natürlich, dass er nicht rausgehen und auf andere treffen würde, das wusste Cheng Jinxi. »Das ist nicht nötig, ich bin lieber allein. Ich werde nicht rausgehen, außer Sie brauchen mich«, versicherte der Junge schmunzelnd.

Erleichtert atmete der Direktor auf. Er hatte schon mit vielen blutrünstigen Verbrechern zu tun gehabt, jemand wie Cheng Jinxi war ihm allerdings noch nie untergekommen. Jemand, der friedlich kooperierte und gleichzeitig in der Lage war, die anderen Insassen zu kontrollieren. »Gut, sehr gut.« Ein freundliches Lächeln erhellte das Gesicht des Gefängnisdirektor. »Schreib eine Liste mit den Büchern, die du haben möchtest, und gib sie dem mit, der dir das Abendessen bringt. Ich kümmere mich auch schnellstmöglich um das Bücherregal.«

Cheng Jinxi verbeugte sich leicht. »Ich danke Ihnen – auch für Ihre weitere Fürsorge.«

»Schon gut, ist ja selbstverständlich. Du bist noch so jung.« Erneut musterte der Direktor den Jungen, den von Kopf bis Fuß eine friedvolle und sanfte Aura umgab. Wäre er nicht selbst Zeuge geworden, wie Cheng Jinxi mit ein paar einfachen Sätzen einen Mann umgebracht hatte – er hätte es für unmöglich gehalten, dass er so vielen Menschen etwas hatte antun können. Auch jetzt kam es ihm so vor, als hätte er sich den Vorfall soeben nur eingebildet.

»Ich … habe eine Frage«, sagte der Gefängnisdirektor zögerlich.

»Nur zu.« Cheng Jinxi lächelte.

»Warum … hast du all deine Verwandten umgebracht?« Der Direktor hatte sich die Details des Falls genau angesehen. Bis auf das Geständnis gab es keine Indizien, die auf Cheng Jinxis Schuld hinwiesen. Bis er den Ex-Boxer leblos am Boden gesehen hatte, war er also ebenfalls von der Unschuld des Jungen ausgegangen. Zwar hatte den Gefangenen die Todesstrafe erwartet, doch er hätte vermutlich noch einige Jahre bis zur Vollstreckung gehabt, oder wäre noch begnadigt worden. Als Urteilsvollstrecker durfte der Direktor nicht zugeben, dass er diesem Mann weit mehr als den Tod gewünscht hatte.

Augenblicklich wich jede Freundlichkeit aus Cheng Jinxis Gesicht. Er wurde still, so still, dass dem Gefängnisdirektor mulmig wurde. Gerade als dieser die Frage zurücknehmen wollte, antwortete Cheng Jinxi: »Sie haben meine große Schwester und ihren Ehemann umgebracht. Und was ich ihretwegen auf mich nehmen musste, steht einem Mord in nichts nach.« Er lächelte, doch war es anders als zuvor. Jegliche Wärme war einer eisigen Kälte gewichen. Seine Stimme war noch immer ruhig, nun indessen messerscharf. »Ich hätte sie mehrmals umgebracht, wenn ich gekonnt hätte. Aber mir fehlte die Zeit.«

»Was ich ihretwegen auf mich nehmen musste …« Der Direktor wusste nicht, was Cheng Jinxi damit meinte, hakte aber nicht nach. Er nickte nur. »Ich verstehe. Danke für deine Antwort.«

»Gerne.« Der eiskalte Blick des Jungen wich dem gewohnt freundlichen. »Wir werden wohl bis zu Ihrer Rente miteinander auskommen müssen.«

Der Direktor wusste, dass Cheng Jinxi eine lebenslange Haftstrafe bekommen hatte, und er wusste auch, dass er dieses Gefängnis bis zur Rente leiten würde. Cheng Jinxi schien bis zu seinem Tod eingesperrt bleiben zu wollen. Doch würde er gehen wollen, könnte ihn gewiss niemand aufhalten. Bei all der Gefahr, die dieser Junge verkörperte, war es besser, sich mit ihm gutzustellen.

»Dann lasse ich dich mal allein. Ruh dich gut aus. Jemand wird dir eine Kleinigkeit zu essen bringen.« Mit diesen Worten drehte sich der Direktor um und verließ die Zelle. Er schloss die Tür und zögerte eine Weile, ehe er ohne abzuschließen ging.

Kaum war die Tür zu, verschwand das Lächeln aus Cheng Jinxis Gesicht. Er trat an das kleine Fenster und sah hinaus. »Das ist ab sofort mein einziger Ausblick. Das habe ich verdient«, sagte er und schien sich bitter grinsend selbst auszulachen. Er ging zum Bett und legte sich hin. Kaum hatte er seine Augen geschlossen, spürte er sie wieder: all die verzweifelten Schreie und Flüche jener, denen der Tod bevorstand. Aus allen Richtungen strömten böswillige Worte geradewegs in sein Ohr. Worte, die keiner auszusprechen wagte, sondern jeder im tiefsten Dunkeln seines Herzens vergrub. Langsam gewöhnte er sich daran. Er akzeptierte sie still, hörte zu, bis der dichte schwarze Nebel sich verflüchtigte und weiterzog. Nur wenn er in tiefen Schlaf fiel, kamen sie zurück, verfestigten sich wie schwarze Materie und türmten sich zu einer dunklen Traumwelt auf – endlos und unnachgiebig.

 

Einen Monat später stand Liang Yuanfeng im Büro des Gefängnisdirektors. Gebannt sah er sich ein Überwachungsvideo an. Kein Wort verließ seine Lippen und auch das Gerede seines Onkels bekam er nur bruchstückhaft mit.

»… Li Mingguang hat mich nur kontaktiert, weil er sich Sorgen um dich macht …«

»… der Fall ist abgeschlossen, du musst nicht weiter ermitteln …«

»… es ist wirklich so passiert, das habe ich mir nicht ausgedacht …«

»… er sagte, er habe es für seine Schwester getan …«

»Hörst du mir eigentlich zu?«

Ein Klaps auf die Schulter holte Liang Yuanfeng aus seinen Gedanken. Einen Moment blickte er in das genervte Gesicht seines Onkels, dann fragte er: »Darf ich … ihn sehen?«

Kapitel 1

 

Li Mingguang erreichte den Tatort. Die Bewohner im zweiten Stock des Hochhauses reckten verängstigt die Hälse, die Panik war ihnen deutlich anzusehen. Das Team der Feuerwehr zog sich bereits zurück und grüßte den Hauptkommissar bei seiner Ankunft. Vier Leichensäcke trugen sie heraus. Kaum hatten sie den Tatort verlassen, übernahmen die Forensiker. Li Mingguang tat es ihnen gleich und stülpte sich Schuhüberzieher und Handschuhe über, ehe er den Ort des Geschehens betrat.

»Suizid einer vierköpfigen Familie. Tod durch Kohlenmonoxidvergiftung. Familienvater Li Tenghua, 48 Jahre; Frau Chen Meijuan, 44 Jahre, und die zwei Söhne Li Shijie und Li Shihao, jeweils 18 und 15 Jahre«, fasste ein Beamter der Kriminalpolizei, der vor dem Hauptkommissar am Tatort angekommen war, für diesen zusammen. »Fenster- und Türschlitze wurden mit Handtüchern abgedichtet.«

Ein ungutes Gefühl beschlich Li Mingguang, als er sich dem Hochhaus näherte. Wodurch dieses Gefühl ausgelöst wurde, konnte er nicht genau sagen. »Wer war als Erstes am Tatort?«

»Chen Meijuans jüngere Schwester. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem der oberen Stockwerke und beide Familien hatten sich für heute verabredet«, antwortete der Beamte. Sein Name war Xu Jiasheng und man hatte ihn erst vor Kurzem zum stellvertretenden Hauptkommissar befördert. Er war vor sechs Jahren Teil des Teams geworden und fiel seitdem durch seine sorgfältige und umsichtige Arbeitsweise auf. Verglichen mit Kollegen im selben Alter verstand er es zudem, Ruhe zu bewahren. Diese gefasste Art hatte Li Mingguang überzeugt, den jungen Polizisten zu seinem Stellvertreter zu ernennen.

»Die Schwester betonte, dass es keinen Grund für den Suizid der vier gab,« fügte Xu Jiasheng zögerlich hinzu. »Li Tenghua ist letzten Monat befördert worden und der ältere Sohn hat ein Stipendium an einer Universität erhalten. Genau das wollten die beiden Familien heute feiern. Außerdem … ist das schon der dritte Fall, der sich diesen Monat in diesem Hochhaus ereignet hat.«

Der Hauptkommissar runzelte die Stirn. Anfang des Monats waren zwei Studentinnen aus dem vierten Stock gesprungen. An der verschlossenen Wohnungstür hatte man keine Einbruchsspuren feststellen können. Die jungen Frauen kannten sich aus der Highschool und waren eng befreundet. Die Familien der beiden konnten sich nicht erklären, was die zwei zum Selbstmord bewegt haben konnte. Nur eine Woche später, im dritten Stock des Wohnhauses, hatte ein junger Familienvater seine Frau und das vier Monate alte Kind mit einem Golfschläger erschlagen, ehe er Selbstmord beging. Laut den Untersuchungen hatte der Mann in einer Bank gearbeitet und war bei seinen Kollegen für seine offene und freundliche Art bekannt gewesen. Seine Frau war ebenfalls in dieser Bank angestellt gewesen, bevor sie in Mutterschutz gegangen war.

Der Fall im vierten Stock ließ sich noch irgendwie durch einen Konflikt zwischen den Freundinnen erklären oder durch eine emotionale Auseinandersetzung, die zum Selbstmord führte; vielleicht hatte es ein Gefecht gegeben und der Sturz war ein Unfall gewesen. Doch der Fall im dritten Stock blieb unerklärlich. Wie konnte ein Mensch sich über Nacht dermaßen verändern? Selbst wenn der Mann im Streit die Kontrolle verloren und seine Frau umgebracht hatte, wieso auch das Kind? Mehr noch, welches Monster musste in diesem Mann geschlummert haben, dass er auf den Kopf eines vier Monate alten Säuglings einen Golfschläger niedergehen ließ?

Am Vorabend hatte man das junge Ehepaar noch den Kinderwagen schiebend und glücklich lachend bei einem Spaziergang gesichtet. Auf dem Rückweg hatten sie die Nachbarn freundlich gegrüßt und niemandem war etwas Verdächtiges aufgefallen. Der Vorfall hatte die Familien des Paares komplett aus der Bahn geworfen, die Eltern der Frau hätten ihrem Schwiegersohn eine derartige Tat niemals zugetraut.

Xu Jiasheng bemerkte die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen des Hauptkommissars und wusste, dass dieser über die zwei Fälle nachgrübelte. Anstatt ihn zu unterbrechen, sah Xu Jiasheng sich erneut um. Etwas abseits bemerkte er einen jüngeren Kollegen, der durch Blickkontakt versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.

»Hauptkommissar Li, ich gehe kurz raus«, informierte Xu Jiasheng und wartete, bis Li Mingguang träge nickte, bevor er zügig zu dem nervös dreinblickenden Kollegen ging. »Kommissar Xu«, flüsterte der. »Ich habe Kommissar Wang hergebracht, aber er steigt nicht mal aus dem Auto! … Was jetzt?«

»Er steigt nicht aus dem Auto?«, wiederholte Xu Jiasheng entgeistert.

»Nein! Was soll ich tun?« Der junge Polizist war erst seit zwei Monaten im Team. Verzweifelt sah er seinen Vorgesetzten an.

Xu Jiasheng runzelte die Stirn. »Der alte Wang ist nun mal ein Angsthase«, sprach er leise und klopfte seinem jüngeren Kollegen auf die Schulter. »Mach dir darüber keinen Kopf und befrage lieber die Nachbarn noch einmal.«

»In Ordnung.« Der junge Polizist nickte und setzte sich dann eilig in Bewegung. Xu Jiasheng seufzte nur frustriert.

Kommissar Wang hieß mit vollem Namen Wang Tielin und war aus demselben Jahrgang wie Li Mingguang. Während Letzterer für seinen Mut und Scharfsinn bekannt war und bereits zahlreiche knifflige Fälle gelöst hatte, was ihn in Windeseile die Karriereleiter hatte hochklettern lassen, war Wang Tielin vor allem durch eines bekannt: seine Feigheit. Schon oft hatte er nach der Ankunft an einem Tatort plötzlich Reißaus genommen. »Nur über meine Leiche!«, stellte er dann klar und ließ sich nicht wieder dazu bringen, an Ort und Stelle des Mordes zurückzukehren, ganz egal wie sehr seine Kollegen ihn auslachten.

Er hatte sich gewünscht, ins Archiv versetzt zu werden und Akten zu wälzen, aber sein damaliger Vorgesetzter hatte das nicht zugelassen. Aus irgendeinem Grund beharrte er darauf, dass Wang Tielin zwei weitere Jahre in der Kriminalabteilung blieb. In dieser Zeit wurde allen bewusst, dass der berühmte Angsthase gar nicht feige war. In vielen brutalen Mordfällen behielt er am Tatort die Ruhe, hatte weder Angst vor Leichen noch vor Blut. Woran lag es also dann? Keiner konnte es sich erklären, und so ertrugen die Beamten der Kriminalpolizei die gelegentlichen Fluchtversuche ihres Kollegen, bis Wang Tielins Reaktion schließlich zu einer Art Indikator wurde. Versuchte er einen Tatort in Todespanik zu verlassen, versetzte es das gesamte Team in Alarmbereitschaft. Man griff sogar auf eine traditionelle Methode der Schicksalsdeutung zurück, um den Kollegen mit dem vielversprechendsten Geburtstag vorzuschicken und den Job schnell und mit größter Vorsicht erledigen zu lassen. Niemand hatte sich mehr über Wang Tielin lustig gemacht, und schließlich war auch sein Wunsch erhört worden und man hatte ihn ins Archiv versetzt – wobei die Kriminalpolizei ihn nie ganz losließ und gelegentlich zu Tatorten bat, damit er sich ein Bild von dem Fall machte.

Xu Jiasheng war einer derjenigen, deren Schicksal als glücksverheißend galt. Während seine Kollegen bei manchen Einsätzen ein ungutes Gefühl bekamen, blieb er in der Regel unbeeindruckt. Doch diesmal war es anders. Allein beim Anblick des Gebäudes lief dem jungen Kommissar ein kalter Schauer über den Rücken. Er ging zum Leiter des Forensikteams und nachdem sie sich kurz flüsternd ausgetauscht hatten, wies dieser seine Kollegen an, sich zu beeilen. Li Mingguang, der das mitbekommen hatte, warf seinem Stellvertreter einen Blick zu. Dieser kam schnellen Schrittes zurück. »Ich habe jemanden angewiesen, Tielin herzuholen«, flüsterte Xu Jiasheng. »Er traut sich nicht mal aus dem Wagen!«

Die Miene des Hauptkommissars verfinsterte sich. Gerade als er etwas sagen wollte, klingelte sein Handy. Ein Blick auf das Display verriet ihm, dass es Wang Tielin war. Er nahm ab. »Was ist los, Tielin?«

»Evakuiert das Gebäude! Mir egal wie, aber alle müssen sofort da raus! Irgendwas stimmt nicht!« Wang Tielin schrie förmlich in den Hörer, wodurch Xu Jiasheng ebenfalls mithören konnte.

»Aber …«, begann Li Mingguang zögerlich. Die Untersuchungen waren noch in vollem Gange – so panisch hatte er den Archivar jedoch noch nie erlebt.

»Kein Aber!«, rief Wang Tielin, ehe nur noch Rauschen zu hören war, so als würde er rennen.

Li Mingguang versuchte, sich einen Reim auf die Geräuschkulisse zu machen, als er plötzlich das Klirren von berstendem Glas wahrnahm, gefolgt von einem Feueralarm. Nach kurzer Unschlüssigkeit drehte er sich zu den Forensikern um. »Sichert den Tatort, dann zieht euch zurück«, rief er und wandte sich wieder an seinen Stellvertreter. »Alle Einsatzkräfte sollen mit der Evakuierung der Bewohner beginnen.«

»Jawohl«, antwortete Xu Jiasheng und lief hinaus, um den Befehl weiterzugeben.

Der Feueralarm dröhnte noch immer, ohne dass irgendwo Rauch oder Flammen zu sehen waren. Einige Bewohner waren daher zuerst nicht sofort gewillt, ihre Wohnung zu verlassen, ließen sich jedoch umstimmen, als ihnen die Polizeibeamten die Dringlichkeit vermittelten. Li Mingguang koordinierte die gesamte Evakuierung und überlegte bereits, wie er den abschließenden Bericht formulieren musste, damit er Wang Tielin aus allem heraushalten konnte. Als schließlich alle Bewohner das Hochhaus verlassen hatten, ging auch er die Treppe herunter. Am Eingang sah er, wie Xu Jiasheng die Einsatzkräfte durchzählte.

»Sind alle da?«, fragte der Hauptkommissar und nahm sein Team selbst in Augenschein. Augenblicklich wusste er, wer fehlte. »Was ist mit Fang Ruolin?«

Auch Xu Jiasheng fiel auf, dass seine jüngere Kollegin nicht da war. Sofort fragte er in die Runde: »Wer hat Kommissarin Fang gesehen?«

»Sie ist noch einmal los, um den Hasen einer Bewohnerin zu holen«, antwortete einer der Polizisten und deutete auf ein Mädchen im Kindergartenalter, das sich weinend an das Bein seiner Mutter klammerte.

»Ich gehe sie suchen.« Mit diesen Worten fuhr Xu Jiasheng herum und wollte zurück ins Gebäude, aber Li Mingguang hielt ihn auf. »Ich gehe«, raunte er. »Du passt auf die Leute auf und erklärst der Feuerwehr gleich den Alarm. Und sorg dafür, dass Wang Tielin im Wagen bleibt.«

»Alles klar«, antwortete Xu Jiasheng und verfolgte, wie sein Vorgesetzter im Hochhaus verschwand.

Li Mingguang dachte an das Mädchen, das von Fang Ruolin aus dem zweiten Stock getragen worden war, während es seinem Hasen nachgeweint hatte. Kaum erreichte er die erste Etage, hörte er seine junge Kollegin schreien. Alarmiert hastete er die restlichen Stufen in den zweiten Stock hoch. Dort sah er sie.

»Messer runter! Und kommen Sie nicht näher!«, schrie Fang Ruolin und umklammerte zitternd ihre erhobene Pistole.

Noch nie hatte der Hauptkommissar die junge Polizistin so verängstigt gesehen. Sie galt als ausgesprochen mutig und verzog bei Einsätzen nie eine Miene, egal wie schlimm der Tatort aussah. Oft scherzte sie, dass sie nur so einen Mumm hatte, weil ihr die ein oder andere Gehirnzelle fehlte. Nun aber stand sie mit kreidebleichem Gesicht da und zitterte wie Espenlaub.

»Stehen bleiben, hab ich gesagt!«, schrie sie. Ihr Blick fixierte jemanden, den Li Mingguang noch nicht sehen konnte, da er gerade aus dem Treppenhaus kam. Plötzlich richtete Fang Ruolin ihre Waffe auf den Boden und feuerte einen Warnschuss ab. Li Mingguang näherte sich schnell und wollte gerade etwas sagen, als Fang Ruolin ihn schon bemerkte. »Hauptkommissar Li!«, rief sie, die Augen stark gerötet.

Er hatte jedoch keine Zeit, sie zu trösten. Er zückte seine Waffe und drehte sich, um zu sehen, wer Fang Ruolin so aus der Fassung brachte. Die Gestalt, die er erblickte, konnte man allerdings kaum als Mensch bezeichnen. Vielmehr sah sie wie eine Leiche mit einem Messer in der Hand aus. Sie bewegte sich Schritt für Schritt auf die beiden zu, als wäre sie eine durch Fäden gesteuerte Marionette. Im Nu wich Li Mingguang zwei Schritte zurück und schob Fang Ruolin zur Seite. »Geh du zuerst!«

»Nein, ich gebe Ihnen Deckung!« Die junge Polizistin wischte sich einmal übers Gesicht und umklammerte ihre Waffe noch etwas fester.

Li Mingguang wollte sich nicht als Held aufspielen, doch diese eigenartige Unruhe breitete sich immer weiter in ihm aus. Die Situation war viel zu bizarr. »Du verlässt sofort das Gebäude«, rief der Hauptkommissar. »Das ist ein Befehl!«

»Hauptkommissar Li …« Fang Ruolin sah ihren Vorgesetzten unschlüssig an. Plötzlich vernahmen beide Geräusche aus dem Erdgeschoss. Vermutlich Polizisten, die die Schüsse gehört hatten und helfen wollten.

»Alle verlassen sofort das Gebäude! Verteilt Absperrband und lasst niemanden mehr rein!«, brüllte Li Mingguang hinunter. Als er Fang Ruolin anstarrte, gab diese sich geschlagen. Sie steckte ihre Waffe ein und setzte sich in Bewegung. Ihre Tränen mit dem Ärmel wegwischend stürmte sie die Treppe hinunter, bis sie Xu Jiasheng sah. Er und einige andere Polizisten standen unentschlossen im Treppenhaus und drehten sich erschrocken um, als ihre sonst so toughe Kollegin komplett aufgelöst die Treppe herunterkam.

»Was ist mit Kommissar Li?«, fragte Xu Jiasheng und musterte die Frau von Kopf bis Fuß. Er sah keine Verletzungen.

»Noch oben. Er hat gesagt, wir sollen alle raus und das Gebäude absperren«, schluchzte Fang Ruolin und wischte sich immer wieder Tränen aus ihrem schon ganz rot geriebenen Gesicht. Kurz hielt Xu Jiasheng inne, dann befahl er den Rückzug. Nachdem der Eingang des Gebäudes abgesperrt worden war und er die übrigen Polizisten angewiesen hatte, die Bewohner zu beruhigen, ging er noch mal zu Fang Ruolin. »Was ist da oben passiert?«, fragte er leise.

Allein die Erinnerung ließ die junge Frau wieder zittern. »D… Da war ein Mensch … Also vielleicht war es ein Mensch. E… Er hatte eine riesige Schnittwunde am Bauch. Sah aus, als hätte er sie sich selbst zugefügt. Sein Darm fiel schon heraus! Und … er hatte ein Messer. Er ist immer weiter auf mich zu … Ich habe einen Warnschuss abgefeuert, aber … aber er hat es gar nicht gehört!« Der Schreck von eben steckte Fang Ruolin noch immer in den Knochen. Am ganzen Körper zitternd drehte sie sich zu Xu Jiasheng, griff nach seinem Arm. »Kommissar Xu, war das … war das noch ein Mensch?«

Xu Jiasheng war nicht vor Ort gewesen und wusste nicht, was er sagen sollte. Er klopfte Fang Ruolin nur sanft auf die Schulter und wollte gerade etwas Aufmunterndes sagen, da unterbrach ihn das Klirren von Glas. Instinktiv zog er seine Kollegin zurück, dann blickte er auf und sah, wie jemand aus dem Fenster fiel, geradewegs auf den Asphalt. Als der Körper auf dem Boden aufschlug, konnte man deutlich das Brechen von Knochen hören.

Die Bewohner schrien erschrocken auf.

Es verstrichen lediglich zwei Sekunden, bevor Xu Jiasheng erkannte, wer da aus dem zweiten Stock gefallen war: Li Mingguang.

»Kommissar Li!« Xu Jiasheng stürmte auf den Verletzten zu, wollte ihm helfen, wusste jedoch nicht, wo er ihn anfassen sollte.

Li Mingguang konnte sich nicht rühren, aber seine Augen wandten sich ihm zu. Dann begann er, irgendetwas zu murmeln. Xu Jiasheng kniete sich eilig hin und beugte sich zu ihm hinunter.

»Ab…sperren …«, gab der Hauptkommissar angestrengt von sich.

Xu Jiasheng nickte eifrig. »Ich weiß, ich werde alles absperren, niemand betritt mehr das Gebäude.«

Die Sanitäter kamen in Windeseile und Xu Jiasheng trat zurück. Alle konnten nur besorgt zusehen, wie sie Li Mingguangs Nacken und Wirbelsäule fixierten und ihn vorsichtig auf eine Trage hoben. Die ganze Zeit über war der Blick des Hauptkommissars starr auf Xu Jiasheng gerichtet. Als dieser das bemerkte, näherte er sich der Trage, die Menschen vor ihm hastig wegschiebend. »Kommissar Li, wollen Sie mir noch etwas sagen?«

Li Mingguang öffnete den Mund und Xu Jiasheng beugte sich vor, um die leisen Worte hören zu können. Es dauerte einen Moment, bis er verstand.

»Yuanfeng? Sie meinen Liang Yuanfeng? Soll ich ihn zurückholen?«, fragte er den Verletzten und starrte ihn eindringlich an. Li Mingguang wirkte erleichtert und schloss die Augen. Ein Sanitäter schob Xu Jiasheng zur Seite und setzte dem Verletzten eine Sauerstoffmaske auf. Im Rettungswagen begann man sogleich mit der Erstversorgung. Fang Ruolin, noch immer kreidebleich, stieg mit ein.

Während er den Rettungswagen wegfahren sah, stand Xu Jiasheng wie betäubt da. Erst die leise Stimme eines jüngeren Kollegen holte ihn aus seiner Trance. »Kommissar Liang … wurde doch suspendiert, oder?«

»Red keinen Unsinn!«, zischte Xu Jiasheng. »Er ist beurlaubt.«

Alle Blicke richteten sich auf den jungen Polizisten, woraufhin dieser sofort zusammensackte und den Blick senkte.

Er war erst seit zwei Monaten Teil des Teams und schon davor hatte das Gerücht von Liang Yuanfengs Suspendierung die Runde gemacht. Durch seine Versetzung sollte das Fehlen von Liang Yuanfeng kompensiert werden. Als er die Stelle antrat, war Xu Jiasheng gerade zum Stellvertreter des Hauptkommissars ernannt worden – eine Position, die man zuvor nie besetzt hatte. Mit Blick auf Qualifikationen und Verdienste hätte sich Liang Yuanfeng am besten geeignet, doch aus irgendeinem Grund war er nie befördert worden. Erst später wurde klar, dass Liang Yuanfeng selbst eine Beförderung ablehnte. Warum also sollte er zurückkommen? Immerhin waren alle Positionen im Team inzwischen besetzt.

Xu Jiasheng warf dem Neuzugang einen letzten Blick zu und zog dann sein Handy aus der Tasche. Er wählte Liang Yuanfengs Nummer und wartete. Auch nach dem achten Klingeln nahm niemand ab. »Ich versuche es bei ihm zu Hause. Probier du es weiter übers Telefon«, schlug ein gleichaltriger Kollege vor.

»In Ordnung.« Xu Jiasheng nickte und wandte sich an den jungen Polizisten, der gerade in das Fettnäpfchen getreten war. »Bring du Wang Tielin nach Hause. Erzähl nicht rum, was heute passiert ist. Ich werde dem Polizeichef Bericht erstatten.«

»Jawohl.« Der junge Polizist machte sich sofort auf den Weg, um Wang Tielin einzusammeln, der auf der anderen Straßenseite stand und zum Hochhaus aufblickte. Die beiden fuhren weg und Xu Jiasheng versuchte erneut, Liang Yuanfeng anzurufen, immer und immer wieder. Doch jedes Mal antwortete ihm nur die Mailbox. »Los, Yuanfeng … nimm ab …«

Eigentlich wusste Xu Jiasheng genau, wo er gerade steckte. Doch er konnte nicht direkt dorthin, da die Ermittlungen noch liefen und er Liang Yuanfeng durch sein persönliches Erscheinen nicht in Schwierigkeiten bringen wollte.

Sein Blick fiel wieder auf das von gelbem Absperrband umgebene Wohnhaus. Es wurde langsam dunkel und es gab nur zwei beleuchtete Fenster. Vielleicht hatten die Bewohner in der Eile vergessen, das Licht auszumachen, vielleicht waren aber auch noch nicht alle evakuiert. Um das zu überprüfen, ging einer der Einsatzkräfte eine Liste durch.

Xu Jiasheng starrte nur weiter das in die Jahre gekommene vierstöckige Gebäude an. Durch die zwei Lichter sah es aus wie ein Monster, das im finsteren Nebel lauerte und mit feurigem Blick auf sie herabsah.

Xu Jiasheng wandte sich ab. Er wurde zusehends nervöser und konnte nichts anderes tun, als immer wieder auf die Wahlwiederholungstaste zu drücken und zu hoffen, dass der Mann am anderen Ende abnahm und ihm alles erklärte.

Liang Yuxin war tief in einen Aktenstapel versunken, als es an der Tür klopfte. Er bat die Person herein.

»Herr Direktor!« Ein Gefängniswärter betrat das Büro. In der Hand hielt er einen durchsichtigen Zipper-Beutel, in dem ein Handy vibrierte. »Das gehört Kommissar Liang. Seit zehn Minuten ruft ständig jemand an, vielleicht ist es dringend …«

Stirnrunzelnd nahm der Direktor den Plastikbeutel entgegen und sah auf das Display. Xu Jiasheng. Zögerlich nahm er das Handy heraus. »Sein Polizeirevier ruft an. Ich benachrichtige ihn und kümmere mich darum«, erklärte Liang Yuxin freundlich. »Danke.«

»Gerne.« Ohne ein weiteres Wort verließ der Wärter das Büro.

Nach kurzer Überlegung legte Liang Yuxin das Handy auf den Tisch, erhob sich und verließ ebenfalls den Raum. Sein Ziel war der Wohntrakt des Gefängnisses. Im zweiten Stock ging er durch den Flur und klopfte an der letzten Tür.

Die Person, die ihm öffnete, war Liang Yuanfeng.

»Was ist los, Onkel?«

Der Gefängniswärter warf einen Blick in die Zelle. Auf dem Tisch stand ein Schachbrett und dahinter bot sich ihm ein vertrauter Anblick: Cheng Jinxi, auf einem Sofa lümmelnd mit einem Buch auf dem Schoß. Er spürte den Blick des Direktors, sah hoch und begrüßte ihn schmunzelnd: »Hallo, Direktor Liang.«

»Ich wollte dich nicht unterbrechen«, antwortete Liang Yuxin freundlich und wandte sich an seinen Neffen. »Dein Handy klingelt ununterbrochen. Ein Wärter hat es vorbeigebracht. Es ist Kommissar Xu, also ruf zurück, es scheint dringend zu sein.«

»Aber … ich bin beurlaubt«, murmelte Liang Yuanfeng verwirrt.

Seit seiner »Beurlaubung« wollte er keine Anrufe des Reviers mehr entgegennehmen. Doch seine Kündigungsschreiben an Li Mingguang hatte dieser allesamt zerrissen.

»Außerdem sind Jinxi und ich noch nicht …«, begann Liang Yuanfeng, doch bevor er den Satz beenden konnte, verschob Cheng Jinxi, ohne von seinem Buch aufzusehen, eine Figur auf dem Schachbrett.

»Schachmatt.«

Sprachlos starrte Liang Yuanfeng seinen gefallenen König an. Er wusste, dass Cheng Jinxi ihn so zum Gehen aufforderte, und schnappte sich seinen Mantel. »Bis morgen.«

Cheng Jinxi nickte, sah aber nicht auf.

Liang Yuanfeng und sein Onkel hatten sich bereits daran gewöhnt, dass dem jungen Mann nichts über seine Bücher ging, also verließen sie die Zelle und schlossen die Tür hinter sich. Kaum waren sie im Flur, verfinsterte sich Liang Yuanfengs Miene. Schnurstracks stapfte er voran und ging wortlos in das Büro seines Onkels. Letzterer folgte ihm innerlich seufzend.

Sein Neffe war ein hoffnungsloser Fall. Vor sieben Jahren war er bei ihm im Büro aufgetaucht und hatte gefragt, ob er Cheng Jinxi sehen könne. Nach Rücksprache mit diesem hatte er ihn zu ihm gelassen.

Liang Yuxin ging damals davon aus, dass sein Neffe von Cheng Jinxi persönlich hören wollte, dass er all diese Menschen umgebracht hatte. Doch als Liang Yuanfeng die Zelle nach drei Stunden noch immer nicht verließ, machte er sich Sorgen. Irgendwann informierte ihn die Aufsicht, dass er herausgekommen war. Sofort rannte der Gefängnisdirektor zu ihm. Mit aschfahlem Gesicht kam Liang Yuanfeng ihm entgegen. Er schien neben sich zu stehen, als hätte ihm gerade jemand einen festen Schlag in die Magengrube verpasst. Doch egal wie beharrlich Liang Yuxin auch nachhakte, er wiederholte nur, dass alles in Ordnung sei, und ging.

Zwei Wochen später kam Liang Yuanfeng mit einem Stapel Bücher zurück. Er wollte Cheng Jinxi erneut sehen. Sein Onkel gab klein bei und fragte den Insassen, ob er den Besuch empfangen wolle. Cheng Jinxi schien die Rückkehr von Liang Yuanfeng zwar zu wundern, doch er stimmte zu.

So hatte es angefangen. Solang ihn gerade kein Fall zurückhielt, nahm Liang Yuanfeng sich regelmäßig Zeit, um Cheng Jinxi zu sehen. Sieben Jahre lang, ununterbrochen.

Schon von klein auf besaß Liang Yuanfeng einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ungerechtigkeiten jeder Art lehnte er entschieden ab und unterteilte die Welt in Schwarz und Weiß. Trotz seines Tatendrangs hielt sein Onkel ihn insgeheim als ungeeignet für den Polizeidienst, denn die meisten Kriminalfälle bewegten sich in einer Grauzone. Doch Liang Yuanfeng wollte unbedingt auf die Polizeischule, also ließ Liang Yuxin ihn gehen. Dabei behielt sein Onkel jedoch im Blick, in welche Einheit er kam, und nahm über mehrere Ecken Kontakt zu den Vorgesetzten seines Neffen auf, um sie zu bitten, ein Auge auf ihn zu haben. Liang Yuanfeng war nach Abschluss der Polizeischule noch stürmischer geworden. Trotz seiner impulsiven Art kam er ausgezeichnet mit seinen Kollegen und Vorgesetzten zurecht und zeichnete sich durch hohe Agilität und Reaktionsvermögen aus. Li Mingguang fand Gefallen an dem jungen Polizisten in seinem Team und nahm ihn unter seine Fittiche, wofür Liang Yuxin ihm sehr dankbar war.

Aber die Besuche bei Cheng Jinxi veränderten Liang Yuanfeng. Er wurde stiller, gefasster. Er stürzte sich noch mehr in die Ermittlungen und arbeitete oft Tag und Nacht. Auch sein Hass auf Täter verfestigte sich. Unzählige Male musste man ihn stoppen. Liang Yuanfeng hatte Glück, dass seine Liste an Verdiensten länger als die seiner Fehltritte war, denn trotz aller Klagen gegen ihn beließen seine Vorgesetzten es bei ein paar Verwarnungen.

Liang Yuxin sah, wie sein Neffe sein Lächeln verlor und sich von einem stets gepflegten, sonnigen Mann in einen Kettenraucher verwandelte, der sich immer mehr gehen ließ. Anstatt nach Feierabend mit seinen Kollegen auszugehen, schob er lieber Überstunden, lehnte eine Beförderung aber mit einer Entschlossenheit ab, die der eines Soldaten ähnelte, der bereit war, sein Leben an der Front zu lassen.

Eines Abends tauchte Liang Yuxin mit einer Flasche Schnaps bei ihm auf, aufrichtig besorgt zu erfahren, was mit ihm los sei. Liang Yuanfeng lächelte nur müde und meinte, dass ihm nichts fehle.

Seit einigen Monaten kam er nun fast täglich ins Gefängnis und sein Onkel scherzte, dass sein Vitamin B bald aufgebraucht sei und er mit Beschwerden rechnen müsse, wenn das so weiterging. Daraufhin sah Liang Yuanfeng ihn kurz irritiert an und erkundigte sich dann vorsichtig, an welchem Tag er noch kommen dürfe.

Der Gefängnisdirektor blickte in das todernste Gesicht seines Neffen und versicherte ihm schnell, das sei nur ein Witz gewesen. Er notierte Liang Yuanfengs Besuch und schickte ihn zu Cheng Jinxi. Dann rief er Li Mingguang an und erfuhr, dass sein Neffe suspendiert worden war.

»Offiziell habe ich ihn beurlaubt, damit er sich endlich eine Pause nimmt, aber Yuxin … Er sollte nicht zurück zur Kriminalpolizei.«

Li Mingguang klang gequält, weshalb der Gefängnisdirektor sofort fragte, ob Liang Yuanfeng etwas angestellt habe. Der Hauptkommissar schwieg eine ganze Weile, ehe er sagte: »Vor einigen Monaten hat mich die Behörde für Regierungsethik kontaktiert. Sie vermuten, dass Yuanfeng etwas mit sechs Mordfällen innerhalb der letzten fünf Jahre zu tun haben könnte. Ich habe ihn diesbezüglich persönlich gefragt und er hat es nicht bestritten … Danach habe ich herausgefunden, dass er ein Alibi hat, für alle sechs Morde! Ihm war das bewusst, aber er hat nichts gesagt. Die Behörden haben die Untersuchungen vorerst eingestellt, aber ich konnte ihn nicht so weitermachen lassen. Also habe ich ihn beurlaubt.«

Bei den Worten lief Liang Yuxin kalter Schweiß den Rücken herunter. Er wusste sofort, was Liang Yuanfeng getan hatte. Oder eher, was er mithilfe von Cheng Jinxi getan hatte.

All die Jahre hatte er immer wieder gedacht, dass irgendetwas an Liang Yuanfeng anders war, wenn er Cheng Jinxi ansah. Sein Blick war viel sanfter und nachsichtiger. Anfangs hatte der Direktor geglaubt, sein Neffe habe sich in den Jungen verguckt. Als er ihn darauf angesprochen hatte, hatte Liang Yuanfeng nur lachend den Kopf geschüttelt. Es sei nicht das, was er vermute.

Erst später begriff Liang Yuxin, dass das Verhalten seines Neffen womöglich durch Schuldgefühle beeinflusst wurde. Über eine halbe Stunde lief er ratlos in seinem Büro auf und ab, dann ging er zum Wohntrakt und suchte die letzte Zelle im zweiten Stock auf.

»Wenn du möchtest … kann ich ihn nicht mehr herkommen lassen«, schlug er Cheng Jinxi vorsichtig vor. Dieser war inzwischen ein eleganter junger Mann von fünfundzwanzig Jahren. Er war gemächlicher und nicht mehr der fügsame, sanftmütige Junge von früher. Höflich war er nach wie vor, doch er strahlte auch eine gewisse Unnahbarkeit aus. Außer wenn er mit Liang Yuanfeng zusammen war.

Liang Yuxin hatte schon oft gesehen, wie die beiden miteinander agierten. Nur so wusste er, dass Cheng Jinxi sehr wohl wütend werden konnte. Einmal hatte dieser in seinem Beisein ein Buch nach Liang Yuanfeng geworfen und ihn dann auch noch schroff aufgefordert, es wieder aufzuheben. Wie versteinert hatte der Gefängnisdirektor die Szene beobachtet und das Schlimmste erwartet. Doch Liang Yuanfeng, der normalerweise lieber seine Fäuste sprechen ließ, war unter dem bösen Funkeln des jungen Häftlings sofort eingeknickt. Der Kommissar, der oftmals Furcht einflößender war als die Verbrecher, die er verfolgte, hatte sich kleinlaut entschuldigt und das Buch aufgehoben. Dieser Anblick war so befremdlich gewesen, dass Liang Yuxin sich plötzlich wie das dritte Rad am Wagen gefühlt und die Zelle klammheimlich verlassen hatte.

Nach seinem Vorschlag erntete der Gefängnisdirektor von Cheng Jinxi nur einen kurzen Blick, der sich anfühlte, als hätte er ihn durchschaut. Als könnte er jede Sorge sehen, die sich in seinem Innern verbarg.

»Wenn Sie nicht wollen, dass er herkommt, sagen Sie ihm das einfach«, antwortete Cheng Jinxi gleichgültig, ohne den Blick von seinem Buch zu heben.

Eine ganze Weile zerbrach sich Liang Yuxin den Kopf, brachte es aber nicht übers Herz, seinem Neffen die Besuche zu untersagen. Denn nur wenn die beiden zusammen waren, zeigte Cheng Jinxi eine Gefühlsregung und Liang Yuanfeng seine sanfte Seite.

Auch auf die Anschuldigungen hatte Liang Yuxin seinen Neffen nicht angesprochen. Stattdessen hatte er ihm vorgeschlagen, im Gefängnis zu arbeiten. So konnte er zumindest ein Auge auf ihn haben und vermeiden, dass er anderswo etwas anstellte. Liang Yuanfeng hatte tatsächlich gewirkt, als würde er es in Erwägung ziehen.

Der Gefängnisdirektor sank in seinen Bürostuhl und reichte seinem Neffen das Handy. Liang Yuanfeng musterte kurz das Display, wunderte sich über die unzähligen verpassten Anrufe und rief dann zurück. Es klingelte zweimal und Xu Jiasheng nahm ab.

»Was ist so dringend?«, fragte Liang Yuanfeng. Ursprünglich lässig gegen den Schreibtisch gelehnt, richtete er sich bei den Worten seines Kollegen kerzengerade auf. »Was ist mit ihm?«

Xu Jiasheng erläuterte knapp die Situation. Niedergeschlagen fügte er hinzu: »Kommissar Li schwebt noch in Lebensgefahr.«

»Wie konnte das passieren? Gibt es noch mehr Verletzte?«, fragte Liang Yuanfeng eindringlich.

»Nein«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Yuanfeng … er will, dass du zurückkommst.«

»Dass ich zurückkomme …?«, murmelte Liang Yuanfeng verwirrt. Zu klar erinnerte er sich an das ernste Gesicht von Li Mingguang an jenem Tag.

»Yuanfeng, du kannst nicht bei der Kriminalpolizei bleiben. Sag mir, wohin du versetzt werden willst, und ich helfe dir.«

Liang Yuanfeng hatte ihm damals nur still sein Kündigungsschreiben gereicht, das Li Mingguang vor seinen Augen durchgerissen hatte. »Du kannst nicht kündigen«, hatte er gegrummelt. »Zumindest jetzt noch nicht.«

Und so war Liang Yuanfeng beurlaubt worden, zumindest so lange, bis er sich eine neue Abteilung ausgesucht hatte. Was Xu Jiasheng jetzt also sagte, konnte er demnach nicht auf Anhieb begreifen. Nach einer langen Pause fragte er: »Wo ist der Tatort?«

»Ich schicke dir die Adresse. Ich warte dort auf dich, Yuanfeng«, antwortete Xu Jiasheng.

»Gut.« Kaum hatte Liang Yuanfeng aufgelegt, erklärte er seinem Onkel in Kurzfassung, was passiert war, warf sich den Mantel über und eilte hinaus.

Wenig später stieg er in ein Taxi, gab dem Fahrer die Adresse und lehnte sich zurück. Auf der Fahrt schwirrten ihm Xu Jiashengs Worte durch den Kopf. Sie waren so schwammig gewesen, dass Liang Yuanfeng sich nicht vorstellen konnte, was ihn in dem Wohnhaus erwartete. Am Ziel angekommen bezahlte er den Fahrer, stieg aus und sah an dem Gebäude vor sich empor.

Das vierstöckige Wohnhaus war ein wenig in die Jahre gekommen. Es gab keinen Fahrstuhl und in jedem Stockwerk lebten etwa sechs Parteien. Die Lage war nicht schlecht und trotz seines Alters hatte man das Haus recht gut in Schuss gehalten, was dem Eigentümer zu verdanken war, der eine Sanierungsfirma beauftragt hatte, um das Gebäude nicht abreißen zu müssen.

Liang Yuanfeng hatte das nostalgisch anmutende Wohnhaus schon oft im Vorbeifahren wahrgenommen. Doch nun sah es anders aus. Etwas, das wie schwarzes Moos anmutete, überzog die Wände vom Erdgeschoss bis zum Dach. Es schien das Gebäude zu umhüllen. In Kombination mit der Spezialeinsatztruppe der Polizei, die sich entlang des Absperrbands positioniert hatte, war es ein mehr als schauriger Anblick.

Während er sich aus Gewohnheit eine Zigarette anzündete, begutachtete Liang Yuanfeng das merkwürdige Moos. Erst als er fertig war, wandte er sich an Xu Jiasheng, der mittlerweile neben ihm stand, und fragte: »Ist noch wer drinnen?«

»Nach bisherigen Zählungen sind noch acht Bewohner im Gebäude. Einer von ihnen … ist laut Kommissarin Fang wahrscheinlich tot. Der Zustand der anderen sieben ist unklar. Wir hatten zwei Drohnen angefordert, aber auf den Videoaufnahmen ist nichts Brauchbares. Vor zwanzig Minuten ist ein Trupp der Spezialeinheit hineingegangen, der Kontakt ist nach fünf Minuten abgebrochen«, erklärte Xu Jiasheng und fügte stirnrunzelnd hinzu: »Hauptkommissar Lis letzte Anweisung war, alles abzuriegeln und niemanden mehr reinzulassen, aber die Spezialeinheit hat das Kommando übernommen. Außerdem sollte ich dich zurückholen.«

Unweit von ihnen sah Liang Yuanfeng den Leiter der Spezialeinheit stehen. Er kannte ihn, beide waren etwa zur gleichen Zeit zur Polizei gekommen. »Hat er gesagt warum?«, wandte Liang Yuanfeng sich wieder an Xu Jiasheng, woraufhin der nur den Kopf schüttelte.

»Er konnte kaum sprechen, hat mich nur angestarrt, bis ich irgendwann begriffen habe, dass er dich meint. Als ich fragte, ob ich dich holen soll, hat er als Antwort nur die Augen geschlossen.«

Liang Yuanfeng fackelte nicht lange. Für ihn galt nach wie vor das Prinzip ›Von nichts kommt nichts‹, weshalb er seine Zigarette ausdrückte und den Stummel zurück in die bereits leere Schachtel packte. »Ich geh rein.«

»Yuanfeng, ich soll niemanden da reinlassen, nicht mal der Trupp der Spezialeinheit ist wieder rausgekommen!«, versuchte Xu Jiasheng ihn aufzuhalten.

Jeder im Team wusste, wie leichtsinnig Kommissar Liang war. Lebensmüde stürzte er sich stets als Erster ins Geschehen und ließ den Rest besorgt zurück. Doch im Team gab es niemanden, der nicht schon einmal von ihm gerettet worden war oder sich hinter ihm vor Kugeln in Deckung gebracht hatte, somit hörten seine Kollegen auf ihn. Die Nachricht seiner »Beurlaubung« hatte dementsprechend hohe Wellen geschlagen. Li Mingguang hatte mit strengem Tonfall klargestellt, dass es sein Befehl gewesen war, und da jeder wusste, dass Liang Yuanfeng vollkommen hinter dem Hauptkommissar stand, konnten die übrigen Kollegen sich nur still auf die Zunge beißen und das Thema auf sich beruhen lassen.

»Kommissar Li hat mich nicht ohne Grund hergerufen. Wie soll ich etwas herausfinden, ohne da reinzugehen?«, fragte Liang Yuanfeng. »Du bleibst hier. Wenn ich in zwanzig Minuten nicht wieder da bin, kannst du den Polizeipräsidenten benachrichtigen. Der kann dann den Tatort als Gefahrengebiet einstufen und das Haus verbrennen oder abreißen lassen, wenn er will.«

»Lass uns lieber noch mal darüber reden …«, begann Xu Jiasheng, doch er wusste, dass es zwecklos war.

Liang Yuanfeng ging zu dem Leiter der Spezialeinheit, wechselte ein paar Worte mit ihm und wollte gerade die Absperrung passieren, um das Gebäude zu betreten, als sein Handy klingelte. Er hatte für jeden Anrufer einen eigenen Klingelton eingestellt, hauptsächlich aus Faulheit, weil er nicht gern angerufen wurde. Jedes Klingeln fungierte somit als Warnung, und da auch seine Kollegen die Klingeltöne unterscheiden konnten, wurde alles um ihn herum still, sobald ein Vorgesetzter anrief. Diesen Ton aber kannte keiner von ihnen. Somit war es umso überraschender, dass Liang Yuanfeng sofort stehen blieb und den Anruf entgegennahm.

»Was ist los?«, fragte er überrascht.