Theater und Ethnologie -  - E-Book

Theater und Ethnologie E-Book

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Beschreibung

In Zeiten der Globalisierung nehmen interkulturelle Kontakte im Theater zu und sie wirken sich auf Produktionsprozesse und Ästhetik aus. Der Umgang mit Menschen anderer kultureller Prägung und die damit verbundenen Vorstellungen des 'Eigenen' schließen an Grundfragen der Ethnologie an. Ebenso wie diese produziert das Theater Diskurse über das 'Andere', wobei sowohl in der Theaterwissenschaft als auch in der Ethnologie ein besonderes Interesse am Performativen besteht. Der vorliegende Sammelband erprobt ethnologische Perspektiven auf die Arbeiten zeitgenössischer Theatermacher/innen und -autoren/autorinnen, die mitunter – wie Katrin Röggla oder Rimini Protokoll – selbst mit ethnologischen Verfahren arbeiten. Dabei wird nicht nur die ästhetische und performative Beschaffenheit der Inszenierungen und Theatertexte in den Blick genommen, sondern diese werden auch unter anthropologischen und politischen Aspekten betrachtet.

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Theater und Ethnologie

Beiträge zu einer produktiven Beziehung

Natalie Bloch / Dieter Heimböckel

A. Francke Verlag Tübingen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb/dnb.de abrufbar.

 

Umschlagabbildung: Clemens Concept & Design, Trier

 

 

 

© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

Inhalt

VorwortEthnologie – Theater – Interkulturalität1. Interkulturalität (und Theater)2. Ethnologie (und Interkulturalität)3. Ethnologie – Interkulturalität – TheaterDichte AufführungenRimini Protokoll: Das Feld in der FerneHunger for Trade: Multisituiertes TheaterFazit: zur Konvergenz von Theater und EthnologieC’est du ChinoisEdit KaldorC’est du ChinoisDas Theater des unwissenden Lehrmeisters‚Zigeuner‘ als Maske des FremdenI. Die Erfindung der ‚Zigeuner‘II. Alterität als MaskeIII. Verstetigung der MaskeHautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der GegenwartDer fremde Blick auf das EigeneWeiß-Sein als Norm im deutschsprachigen Repertoiretheater: Kritik an Institution und ÄsthetikAlternative Perspektiven für das Repertoiretheater der GegenwartWie das Fremde zum Eigenen wurdeAm Anfang war die RevolutionZwischen Verwurzelung und Nomadentum: théâtre populaire und décentralisationAvantgarde und théâtre populaire – Einheit oder Antagonismus?Nationalistische und antisemitische Abgründe des théâtre populaireVom théâtre de la révolution zur révolution théâtraleFazitVom Avantgardetheater zum WelttheaterAm Anfang war das AvantgardetheaterAuf dem Weg zum ‚Welttheater‘… Como el musguito en la piedra, ay si, si, si…Inklusionen des FremdenAuf dem Weg zu einer universellen Tanzsprache: „hier Folter, da Vögelchen“Schlingensief, das Operndorf und AfrikaDas Operndorf – Soziales Projekt oder abgedrehte Künstlerphantasie?Primitivismus und interkulturelles Theater im 20. JahrhundertSchlingensiefs Selbstinszenierung als ‚Kulturklauer‘Das Scheitern des erweiterten Kunstbegriffs am LebenSchlingensiefs Afrika-ImaginationenSchlingensiefs theatrale Afrika-InszenierungenSchlingensiefs Selbstinszenierung als ‚Kulturbringer‘Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ auf dem Theater und in der Bildenden Kunst nach 9/111. Humanistische Ethik versus öffentliche Konstruktion des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ nach 9/112. Die Erfindung der Zentralperspektive als westliche Blickordnung3. Die Absage von Bühnenaufführungen und ihre mediale Rezeption4. Milo Raus The Civil Wars als interkulturelles Theater5. SchlussfolgerungenMenschen, Fremde, Tiere1. Die großen Trennungen2. Rimini Protokolls Tiere und Labore3. Natur und Gesellschaft in HeuschreckenEthnologie auf der Bühne?1. Vorüberlegungen2. Literarisierte Ethnologie? Ethnologische Praktiken in der Literatur?3. Literarisierte Ethnologie und Hubert Fichte4. Literarisierte und dramatisierte Ethnologie?„I always look for groups that challenge each other“1. Einleitende GedankenKollektive Arbeitsprozesse im TheaterImprovisationInterkulturalität2. Zwei Beispiele aus der TheaterpraxisArabqueen oder Das andere Leben (2010)Hakoah Wien (2012)3. Zur besonderen Funktion des Komischen4. SchlussIch bin ich und bin der andereEine künstlerische Reflexion zu den Projekten Faust-Exhausted und Ich bin ich und bin der andereDas Projekt Faust-ExhaustedDas Unbehagen an der MehrsprachigkeitÜbertitel als HindernisVom Vortrag zur Lecture PerformanceIch bin ich und bin der andere als künstlerische ForschungAusblickeDie Tragödie und das Fremde1. Mania Thebaia2. Struktur: Differenz und Gemeinsamkeit3. Eignung der Tragödien4. Die Tragödie und das FremdeAutorinnen und Autoren

Vorwort

Natalie Bloch, Dieter Heimböckel (Luxemburg)

Mit dem Verhältnis von Theater und Ethnologie nimmt dieser Tagungsband ein vielschichtiges und komplexes Gefüge in den Blick, das in disziplinübergreifenden Beiträgen und in Hinblick auf das Gegenwartstheater untersucht wird. Dabei wird zum einen die Frage gestellt, inwieweit die Ethnologie theoretisch und analytisch zu einem erweiterten Verständnis aktueller Internationalisierungs- und Interkulturalitätsprozesse im zeitgenössischen Theater beizutragen vermag; zum anderen werden theatrale Arbeiten untersucht, die selber einen ethnologischen, d.h. verfremdenden, Blick auf das Eigene werfen. Denn das Theater des 21. Jahrhunderts weitet den Blick in die Welt: Verschiedenste Spielarten internationaler Koproduktionen und Theaterfestivals zeugen von einem Internationalisierungstrend, der im Zuge der Globalisierung alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Mit dieser (veränderten) strukturellen Ausrichtung nehmen allerdings nicht nur interkulturelle Kulturkontakte zu, sie wirken sich auch auf den Produktionsprozess und die theatrale Ästhetik aus und rücken damit den Aspekt der Interkulturalität, wie die vorliegenden Beiträge dokumentieren, zusätzlich in den Fokus der Auseinandersetzung. In dieser Entwicklung ist jedoch nur unter Vorbehalt ein Fortschritt in Hinblick auf interkulturelle Verständigung oder Kompetenz zu sehen. So ist die Frage, wie Andere oder Fremde im Theater vorkommen, repräsentiert und damit interpretiert werden, von größter Brisanz und beinhaltet politische und ethische Dimensionen, wie beispielsweise die aktuelle Debatte um das Black-Facing oder die Kritik postkolonialer Theoretiker an einer unreflektierten Form des Interkulturalismus vorführen. Wie schon andernorts betont wurde, sind Fremdheitsdarstellungen jedoch auch „Bestandteil einer reziproken Beziehung“,1 die weit über die kulturelle Andersartigkeit hinausweist. Somit sind sie immer auch eine Darstellung des Eigenen, die sowohl ganze Nationen wie auch einzelne Subjekte für ihre Selbstvergewisserung benötigen. Das Ineinandergreifen von kulturellen, ästhetischen und ethnischen Aspekten in Theaterproduktionen mit einer interkulturellen Ausrichtung lässt insofern eine Verknüpfung von theaterwissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive hinsichtlich der Untersuchung dieser Theaterformen sinnvoll erscheinen. Darüber hinaus ist die Erforschung interkultureller Phänomene im Theater mit ähnlichen Schwierigkeiten wie die Ethnologie konfrontiert, nämlich mit der Suche nach einem adäquaten Kulturbegriff, der für den Umgang mit dem Fremden grundlegend ist. Denn in Anbetracht der kulturellen Vielfalt und der Hybridität der Kulturen ist der klassische Dualismus von Eigenem und Fremdem kaum aufrechtzuerhalten. Dementsprechend hat man sich in der ethnologisch, kulturanthropologisch und postkolonial fundierten Kulturtheorie von einem ‚Containermodell‘ der Kultur verabschiedet – unter anderem mit der Konsequenz, dass die Beschäftigung mit dem, was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden ist, sondern bereits „vor der eigenen Haustür“2 beginnen kann.

 

Die vorliegenden Beiträge diskutieren mit unterschiedlichen Ansätzen – wie den Postcolonial und Performance Studies, aber auch der Kulturanthropologie und soziologischen Theorien – interkulturelle Theaterproduktionen, Inszenierungen und -texte ebenso wie institutionelle und strukturelle Entwicklungen des Theaters und dokumentieren so aktuelle Forschungspositionen. Sie gehen insgesamt auf eine internationale Tagung zurück, die vom 26. bis zum 28. Juni 2014 an der Universität Luxemburg ausgerichtet wurde und dort Teil eines größeren Forschungsprojekts zum Thema Prozesse der Internationalisierung im Theater der Gegenwart ist. Zu danken ist in diesem Zusammenhang der Universität Luxemburg für die Förderung des Projekts und Christopher Balme dafür, dass er als Herausgeber von Forum Modernes Theater die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe unterstützt hat.

Esch-sur-Alzette, im Mai 2016

Ethnologie – Theater – Interkulturalität

Ein Ausblick zur Einführung

Dieter Heimböckel (Luxemburg)

Der Annäherungsprozess zwischen Theater und Ethnologie, der sich in den 1960er Jahren angebahnt hat, stand von vornherein unter Fragestellungen, die bis heute von interkultureller Relevanz sind. Das hat zum einen mit dem disziplinären Selbstverständnis der Ethnologie als einer Wissenschaft zu tun, die traditionell ihre Aufgabe im Studium der Unterschiede zwischen den Kulturen sieht, und ist zum anderen auf eine Theaterentwicklung zurückzuführen, bei der die Überschreitung kultureller Grenzen zur Erschließung neuer ästhetischer Erfahrungen und Ausdrucksmittel seinerzeit eine Art „Theaterrebellion“ in Gang gesetzt hat.1 Wer über Ethnologie und Theater in diesen Jahren sprach, sprach zwangsläufig auch immer, wenngleich nicht unbedingt explizit, über Interkulturalität.

Angesichts der globalen Blickrichtung des Theaters seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert verwundert es nicht, dass sich Theater und Ethnologie in der Zwischenzeit weiter einander angenähert haben. Die Bedeutung, die im Bereich der Theaterwissenschaft der Performance-Theorie und -Ästhetik in der jüngeren Vergangenheit beigemessen wurde,2 zeugt vielmehr von der Nachdrücklichkeit, mit der sie den Austausch mit der Ethnologie vollzogen hat. Der Reflexion über Interkulturalität ist dieser Austausch allerdings nicht unbedingt zugutegekommen. Woran das liegt, in welcher Form Ethnologie und Theater dieses Defizit befördert haben und inwieweit neuere Ansätze der Interkulturalitätsforschung zur (theoretischen) Fundierung der Grundlagen beider Felder und ihrer ‚Kooperation‘ beitragen können, soll im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen. Dabei entspricht es ihrem einführenden Charakter, dass sie den Zusammenhang von Ethnologie, Theater und Interkulturalität allenfalls kursorisch in den Blick nehmen. Sie sollen einerseits als eine Art begrifflich-heuristischer Referenzrahmen für die in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge dienen, andererseits aber auch weitere Denkanstöße zur Komplexitätserweiterung der Interkulturalitätsforschung vermitteln.3

1.Interkulturalität (und Theater)

Im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs hat sich die Rede über Interkulturalität als eine zentrale Größe der Auseinandersetzung mit Themen, Problemen und Phänomenen, die sich aus dem Zusammentreffen und der Interaktion unterschiedlicher Kulturen ergeben, mittlerweile fest etabliert. Es wird sogar behauptet, wir lebten im „Zeitalter der Interkulturalität“.1 Vielleicht müsste man eher sagen, unser Zeitalter sei so interkulturell wie nie, denn anders als interkulturell lässt sich die Geschichte der Menschheit wohl nicht vorstellen.

Was passiert aber eigentlich im Theater, wenn es sich für Interkulturalität interessiert? Strebt es interkulturelle Verständigung an, oder stellt es sie nur aus? Erstreckt sich Interkulturalität lediglich auf das inszenierte Stück, oder schließt es auch das Personal – Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Beleuchter etc. unterschiedlicher nationaler oder ethnischer Abstammung – mit ein? Erfüllt es einen Vermittlungsauftrag, und/oder geht – gewollt oder nicht gewollt – mit Interkulturalität eine Form der Vereinnahmung einher? Und wenn das Theater sich für Interkulturalität interessiert, ist es dann zwangsläufig auch ein interkulturelles Theater? Gibt es womöglich ein Ideal des interkulturellen Theaters? Diese Fragen sind so ohne Weiteres nicht zu beantworten, und es ist auch nicht mein Ziel, dies hier zu leisten. Interessant ist freilich der Umstand, dass die Problematik der Beantwortung unter anderem dem Sachverhalt zugeschrieben wurde, dass wir es mit einem vergleichsweise offenen Theorie- und Arbeitsfeld zu tun haben, das angesichts des beschleunigten Globalisierungsprozesses zu einer „große[n] Unübersichtlichkeit“ beigetragen habe.2 Am Ende mag es ein wenig einfach sein, die Globalisierung, wie es so häufig geschieht, für alle Probleme verantwortlich zu machen, die aufgrund einer nicht mehr eindeutigen bzw. schwieriger gewordenen Verständigung über Gegenstände, Sachverhalte usw. entstanden sind. In unserem Fall liegt einer der Gründe für die angesprochene Einschätzung womöglich im Begriff der Interkulturalität selbst. Zwar ist von einer „unentbehrlichen Denknotwendigkeit unserer Zeit“ die Rede,3 aber im gleichen Atemzug wird zugegeben, dass kaum Klarheit darüber bestehe, was Interkulturalität bedeute,4 was sie „eigentlich ist bzw. sein soll“, wie es noch vor Kurzem in einem Grundlagenartikel zur „Black Box ‚Interkulturalitat‘“ schlagwortartig formuliert wurde.5 Wenn solche Unkenrufe aus dem Revier der Interkulturalitätsforschung in die Welt gesendet werden, dann mag es wenig verwundern, warum Theater und Theaterwissenschaft, wenn sie sich mit dem Thema beschäftigen, einen gewissen Eindruck der Orientierungslosigkeit hinterlassen. Aber mir scheint hier weniger eine Orientierungslosigkeit bestimmend zu sein, sondern genau das Gegenteil: – eine Art – sagen wir – Voreingenommenheit bezüglich dessen, was Interkulturalität ist, so als wäre es keiner weiteren Erwägung mehr wert, darüber jenseits der Vorstellung nachzudenken, dass es sich um eine Begegnungskonstellation zwischen zwei voneinander deutlich abgrenzbaren Kulturen und/oder ihren Repräsentanten handeln würde.

Das Nachdenken über Interkulturalität im Zusammenhang mit dem Theater hat etwa Mitte der 1970er Jahre eingesetzt und seinen vorläufigen Höhepunkt in den 1990er Jahren erreicht. Inzwischen ist es geradezu ein Topos, davon auszugehen, dass ohne das Interkulturelle die Theatergeschichte gar nicht denkbar wäre.6 „Theatre has always been intercultural“.7 Im Zuge solcher Festschreibungen sind weitere Auseinandersetzungen und Vertiefungen mit diesem Thema weitgehend zu den Akten gelegt worden. Es wird vielmehr, wenn von Interkulturalität die Rede ist, regelmäßig allem Anschein nach davon ausgegangen, dass Klarheit über ihren begrifflichen Horizont besteht. „Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und dem Fremden hat eine lange Tradition im europäischen Theater, Nathan der Weise und Andorra sind Dauerbrenner im Theater“,8 lautet es noch kürzlich in einem Vortrag, der sich dem interkulturellen Theater widmete. Wenn es sich bei „Nathan der Weise“ um ein interkulturelles Theaterstück handelt, wie verträgt sich damit die Diagnose, dass, zumindest in der deutschen Theaterlandschaft, „Interkulturalität […] wie ein Fremdwort“ wirke?9 Offenkundig sind hier jedoch unterschiedliche Interkulturalitätsbegriffe am Werk, denn im Falle „Nathans“ wird Interkulturalität als eine religiöse Dreiecks- und Austausch-Beziehung inszeniert, von der die formale Gestaltung dieses Dramas weitgehend unberührt bleibt. Anders verhält es sich dagegen, wenn es um den durch Einwanderer aus Korea im 8. Jh. geprägten japanischen Hoftanz bugaku geht oder aber um die in Mexiko ab dem 16. Jahrhundert um sich greifenden Autos sacramentales, „die die katholischen Zeremonien der spanischen Kolonialherren mit indianischen Ritualen vermischten“,10 um die Rezeption der Commedia dell’arte in der französischen Klassik oder um die westlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts von Artaud, Brecht und Craig bis Wilson. In diesen Fällen handelt es sich um Formen der Rezeption, Aneignung und Vermischung, die in Auseinandersetzung mit einem Theater stehen, das in kulturell anders geprägten Kontexten entstanden ist, und die sich sowohl auf den Inhalt als auch auf Struktur, Inszenierung und Sprache des jeweiligen Stücks auswirken können. Damit wird allerdings eine differentia specifica in das Verhältnis von Theater und Interkulturalität eingezogen, die auf ein Theater hinausläuft, „bei dem sich Individuen unterschiedlicher ethnischer Identität begegnen oder Elemente sich völlig fremder Theatertraditionen aufeinander stoßen.“ Der Konvention entsprechend soll also dann von interkulturellem Theater die Rede sein, „wenn es sich um verschiedene ethnische Kulturen handelt und unterschiedliche Einzelsprachen gesprochen werden.“11

Sind wir mit Blick auf die eingangs gestellte Frage, was denn eigentlich passiert, wenn sich das Theater für Interkulturalität interessiert, ihrer Beantwortung einen Schritt näher gekommen? Nimmt man die allgemeine Diskussion zum Maßstab, so lässt sich zumindest festhalten, dass von dem Befund einer interkulturellen Konstellation im theatralen Raum in concreto nicht notwendigerweise auf ein interkulturelles Theaterstück geschlossen werden kann. Umgekehrt haben wir es beim interkulturellen Theater mit einem für das Verhältnis von Interkulturalität und Theater spezifischen Fall zu tun, der es uns ermöglichen soll, aus ihm wiederum Schlussfolgerungen für das Verhältnis selbst zu ziehen. Bei der begrifflichen Einschränkung auf solche Inszenierungen, in denen Elemente aus mehr oder weniger deutlich zu unterscheidenden Kulturen verarbeitet werden, stellt sich allerdings der Verdacht ein, dass damit Differenzen markiert werden, durch die das Fremde gleichsam sicht- und fassbar gemacht werden soll. Anders lässt sich nicht erklären, warum in der Theaterwissenschaft und nicht nur hier die Tendenz vorherrscht, dann von interkulturellem Theater zu sprechen, wenn sich westliche – europäische oder europäisch-amerikanische – Elemente mit außereuropäischen verbinden. Der dahinter stehende Wille, die europäische Theatertradition nicht dominant werden zu lassen, um solchermaßen dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entgehen, wird nicht nur durch die Überbetonung der Differenz und damit durch das offenkundige Wissen über das, was das Eigene und Fremde ist, partiell zurückgenommen; er führt auch – wenn auch nicht unbedingt beabsichtigt – zur Stärkung eines Containermodells von Kultur zu Lasten eines Verständnisses von Kultur als plurale tantum.12 Problematisch ist dabei nicht, dass es Differenzen gibt, sondern dass vermeintlich gewusst wird, was dies- und jenseits der Grenze liegt, die die Differenzen bloßlegt. Dahinter verbirgt sich eine Verstehensbemühung, die immer schon und auch heute, wenn von interkultureller Kommunikation und ihren Zielen die Rede ist, auf die Herstellung von Eindeutigkeit ausgerichtet ist. Interkulturalität sollte es jedoch nicht um die Herstellung von Eindeutigkeit, sondern um deren Infragestellung gehen. Sie schließt Verstehen zwar nicht aus, aber es ist nicht ihr primäres Anliegen. Denn ein solches Anliegen zielt darauf, das, was verstanden werden soll, den Voraussetzungen eines ,Denkens-wie-üblich‘ (im Sinne von Alfred Schütz) anzupassen.13 Insofern geht nach meinem Verständnis mit Interkulturalität der (kultur-)anthropologische Ausbruch aus diesem Denken-wie-üblich einher. Darauf wird im weiteren Verlauf noch einmal einzugehen sein.

2.Ethnologie (und Interkulturalität)

Während im Denken-wie-üblich Kultur ihre Ontologie bewahrt, zielt Interkulturalität darauf ab, sie zu durchkreuzen. Durchkreuzen heißt gleichzeitig, Irritationen zu erzeugen, das Üblichsein in eine Art Unvertrautheit zu überführen. Ein solches Interkulturalitätsverständnis ist in besonderem Maße inspiriert durch die Ethnologie und ihre Theorie- und Methodendiskussion der letzten 40–50 Jahre, eine Diskussion, die, wenn man sich jüngste Publikationen vor Augen führt, immer noch nicht abgeschlossen ist.1 Die moderne Ethnologie gilt nicht von ungefähr als eine Disziplin, die im Sinne Foucaults vor allem „ein ständiges Prinzip der Unruhe, des Infragestellens, […] des Bestreitens dessen“ bildet, „was sonst hat als erworben gelten können.“2 Insofern ihre kritische Selbstreflexion auch in andere Disziplinen hineingetragen wurde, blieb auch die Interkulturalitätsforschung – in welchem Fach auch immer – davon nicht unberührt.

Die durch James Clifford und George E. Marcus Mitte der 1980er Jahre auf den Weg gebrachte Writing Culture-Debatte hat freilich die Unruhe und Verunsicherung so weit in das Fach hineingetragen,3 dass als Ausweg aus der sich krisenhaft zuspitzenden Selbstbefragung unter anderem vorgeschlagen wurde, überhaupt keine Ethnografie mehr zu betreiben.4 Mit ihrer prinzipiellen Infragestellung der Repräsentierbarkeit radikalisierte Writing Culture noch einmal die Grundannahme Clifford Geertz’, dass ethnologische Schriften Fiktionen, dass sie, wie es in seiner Dichten Beschreibung heißt, etwas „Gemachtes“ und „Hergestelltes“ seien.5 Denn so sehr sich mit Geertz der Blick darauf, was Ethnografie eigentlich ist, verändert hat, so deutlich scheint bei ihm eine Art Wahrheit in der Beschreibung des Anderen und damit dessen Repräsentierbarkeit als möglich auf. Für ihn bleibt, auch wenn die Repräsentation erschüttert wird, „ein liberal-humanistisches Verständigungsideal verbindlich“.6

Anders dagegen Clifford und Marcus. Was mit ihnen problematisiert wird, sind nicht so sehr die Spezifika kultureller Bedeutungssysteme, die Frage nach der Bedeutung der Dinge, sondern die Frage, wie sich das Fremde auf eine Weise darstellen lässt, dass es nicht in der vermeintlich objektivierten Perspektive des Betrachters so aufgeht, als wären die Kulturen etwas Fixes oder Fixierbares. „Cultures do not hold still for their portraits.“7 Mit dieser Position ging vor allem die auch aus dem Postkolonialismus bekannte Frontstellung gegenüber hegemonialen Standpunkten der Repräsentation und des mit ihr verbundenen Othering oder des „Verandern“, wie es Werner Schiffauer einmal nannte, einher.8 Mit dem „Verandern“ ist die grundsätzliche Frage berührt, ob eine Beschreibung des Fremden überhaupt möglich sei, wenn doch die Beschreibung den Fremden erst hervorbringe. Im „Othering“ werde, so Spivak, ein „Different-Machen“ betrieben,9 das die Differenzen erst erzeugt, die zu analysieren das vorgebliche Ziel ist. Einer Wissenschaft, die als „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ gilt,10 ist damit gewissermaßen ihr disziplingeschichtlich verbürgter Gegenstand abhanden gekommen. Ob das ihre von Bruno Latour verkündete ,Rückkehr aus den Tropen‘ erklärt,11 ist nicht auszuschließen; als sicher darf freilich gelten, dass „das Feld als autonomer Ort mit festen raum-zeitlichen Grenzen, als Heimat einer homogenen Kultur, in die die Ethnographen als Fremde zu Besuch kommen“,12 sich aufgelöst hat. Stattdessen sind ihre Positionen, eingebettet in eine „multi-sited ethnography“,13 mobil und vielfältig. In den Worten des Ethnologen Christoph Antweiler: „In der modernen Ethnologie geht es nicht mehr nur um außereuropäische und einfache Gesellschaften, sondern um Gruppen und Netzwerke irgendwo auf dem Globus“,14 was u.a. auch erklärt, warum die Ethnologie, zumal in den letzten 30–40 Jahren, im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Fragen der Repräsentation die Nähe zur Kunst sucht. Jedenfalls ist das wechselseitige Interesse von Kunst bzw. Kunstbetrieb und Ethnologie durch zahlreiche Tagungen und Publikationen im zurückliegenden Dezennium bezeugt.15

Insofern ist es geradezu folgerichtig, dass die Ethnologie, will sie sich nicht mit ihrer Selbsteskamotierung zufrieden geben, sich methodisch neu ausgerichtet und sich dabei einer deutlicheren Prüfung ihres Tuns unterzogen hat. Und das geschah und geschieht immer noch einerseits dadurch, dass der Entstehungsprozess von Dokumenten stärker reflektiert wird – Stephen Tyler etwa nennt dies eine Ethnografie des Sprechens, indem darüber nachgedacht wird, wie ethnografische Aussagen zustande kommen, wie gesprochen und wie etwas Gesagtes als Wahrheit anerkannt wird.16 Andererseits geschieht dies auf der Grundlage einer kollaborativen Ethnografie: Die „Kollaboration verändert das traditionelle anthropologische Setting. Die Ethnographen sind nun nicht mehr nur ‚teilnehmende Beobachter‘, sondern auf vielfältige Weise in das Geschehen involviert. Sie werden zu eigenständigen Akteuren im Feld, zum Subjekt der Pläne anderer, zur Figur in den Texten anderer etc.“.17 Kollaboration und Sprache bzw. Metareflexion leisten, wenn sie auch das Problem der Repräsentation nicht abschließend ausräumen, doch einer Multiperspektivierung des ethnografischen Gegenstandes Vorschub und tragen damit zugleich zur kritischen Hinterfragung von Kategorien wie Kultur, Fremde oder Differenz bei.

Die kritische Hinterfragung hat allerdings in der Ethnologie meines Wissens nicht dazu geführt, dass sie das Verhältnis zur Interkulturalität geklärt oder zumindest weit ausgreifend reflektiert hätte. Die Ethnologie gilt entweder „per se“ als interkulturell,18 oder aber es wird mit dem Beiwort „interkulturell“ ein kulturvergleichendes Verfahren bezeichnet, bei dem es um die Prüfung nomologischer Hypothesen, das heißt: um den Nachweis gesetzmäßig auftretender Kulturerscheinungen geht.19 Gerade aber mit diesem Verfahren, das unter anderem darauf ausgerichtet ist, „weit entfernte Kulturen in Beziehung zu setzen“,20 um strukturelle Ähnlichkeiten zu erfassen, wird ein Kulturbegriff in die Ethnologie reimportiert, der noch von abgrenzbaren, an räumlichen Vorstellungen gebundenen Einheiten ausgeht, die durch den Vergleich einander gegenüberstellt werden. Der Vergleich voneinander separierbarer Einheiten wird dabei durch das ,inter‘ zusätzlich gefestigt, insofern er an ein geläufiges, vor allem durch die interkulturelle Hermeneutik befördertes Verständnis von Interkulturalität anschließt, demzufolge Kulturen weltweit identifiziert, beschrieben und objektiv voneinander abgegrenzt werden können.21 Dieses Verständnis ist aber inzwischen aus unterschiedlichen Richtungen einer kritischen Revision unterzogen worden, und es wird allenfalls noch dort reaktiviert, wo es um begriffliche Abgrenzungen oder um die Durchsetzung ethnozentrischer Positionen bzw. politisch-ökonomischer Interessen geht.22

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Ethnologie sich als interkulturell versteht, erinnert insofern an die nicht sonderlich theoriegeleitete Interkulturalitätsreflexion im Feld des Theaters. Das hat zur Konsequenz, dass es hier wie dort, wenn auch so vielleicht nicht intendiert, zur Übernahme und Applikation eines eher retrograden Kulturbegriffs kommt. Die Annäherung an aktuelle Interkulturalitätspositionen könnte hier zur theoretischen Neubestimmung beitragen, indem der in der beständigen Neuauslegung liegende Projekt- und Prozesscharakter der Interkulturalität mit der produktiven Verunsicherung, die Ethnologie und Theater gleichermaßen auszeichnet, verklammert wird. Mit dem Projekt der Interkulturalität ist dabei methodisch die Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen assoziiert, durch die gewohnte Selbstverständlichkeiten und Sehgewohnheiten hinterfragt werden sollen. Denn Interkulturalität hat etwas mit Risiko zu tun: Wer sich darauf einlässt, verlässt eingetretene Pfade. Interkulturalität geht aus meiner Sicht insofern einher mit dem eingangs bereits angesprochenen kulturanthropologischen Ausbruch aus dem, was Alfred Schütz einmal als „Denken-wie-üblich“ bezeichnet hat.23 Im Denken-wie-üblich ist das Fremde das aufgefasste Andere. Es ist wie das Eigene eine Setzung, dessen das Denken-wie-üblich bedarf, damit es sein Üblichsein bewahrt. Die Rede vom Eigenen und Fremden – Klaus Scherpe nennt es die notorische Zweierbeziehung –,24 trägt insofern zu dessen Stabilisierung bei. Es ist gewissermaßen die begriffliche Grunddichotomie aller interkulturellen Vergleiche, deren Nichthintergehbarkeit dazu führt, dass das Fremde in Schach gehalten wird. Wohin aber „oder wem ein Zeichen oder ein einzelnes kulturelles Element gehört“,25 ist nicht erst jetzt, aber vor allem in Zeiten forcierter Uneindeutigkeiten immer schwieriger zu beantworten. Das gilt auch und erst recht dann für das Theater, wenn das Fremde „als Prozeß einer kulturellen Transformation“ begriffen wird.26 Denn das Fremde wird auch hier noch als ein distinktives Merkmal begriffen, das im Vergleich mit dem eigenen Theater eindeutig identifizierbar ist.

3.Ethnologie – Interkulturalität – Theater

Der im Kontext von Ethnologie und Theater verhandelte Begriff der Interkulturalität ist prinzipiell immer auch danach zu hinterfragen, ob er nicht doch ontologisch verfestigte statt antiessentialistische Vorstellungen von Kultur transportiert.1 Die Beantwortung der Frage, wenn sie ins Allgemeine gehen soll, hängt freilich nicht vom Begriff der Interkulturalität alleine ab, so als würde mit ihm eine Setzung nach Art einer Quasi-Ontologisierung erfolgen, sondern auch von der jeweiligen Forschungsrichtung und ihrer analytischen Praxis. Es geht dabei neben dem Kulturbegriff, der zugrunde gelegt wird, um den Standpunkt des Beobachters und seine Bereitschaft, die eigene Position immer wieder aufs Spiel zu setzen und die interkulturelle Praxis zur „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“ zu nutzen.2 Von dieser Warte aus liefert die neuere Forschung weitere Ansatzmöglichkeiten, Interkulturalität nicht als Substanzbegriff, sondern als „Kultur-im-Zwischen“ und „Prozess“ bzw. als „Projekt“ zu begreifen – eine Vorstellung,3 die Richard Schechner bereits in den 1970er Jahren in Ansätzen und speziell für das Theater stark gemacht hat.

Interkulturalität kann insofern zur weiteren Klärung der für das Verhältnis von Ethnologie und Theater spezifischen Voraussetzungen beitragen; sie kann aber auch, wie ein Blick in die Geschichte und jüngere Vergangenheit zeigt, selbst das Vehikel für eine von ethnologischen Prämissen geleitete Theaterarbeit und umgekehrt für eine durch das Theater inspirierte Kulturanthropologie sein. „Dass Theatertheoretiker, Theaterschaffende und Anthropologen bzw. Ethnologen wichtige Berührungspunkte und gemeinsame Interessen entdeckten, hängt […] mit der Affinität der westlichen Avantgarde bereits um 1900 und dann wieder in den 1960er Jahren zum außereuropäischen Theater und zu Ritualen zusammen.“ Auf der anderen Seite existiert in der Ethnologie, bedingt durch die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen und deren oralen Tradition, „ein spezifisches Interesse am Performativen“.4 Das Bedingungsverhältnis, in dem Theater und Ethnologie stehen, wird sinnfällig in der Zusammenarbeit zwischen Richard Schechner, Clifford Geertz und Victor Turner in den 1970er und 80er Jahren einerseits und angesichts der Wirkung, die Turners Ritualtheorie auf die Theaterwissenschaft in den 1990er Jahren ausgeübt hat, andererseits. „Whether practitioners and scholars of either discipline like it or not, there are points of contact between anthropology and theatre; and there are likely to be more coming”, so Schechners einführende Prognose in seiner Abhandlung Between Theater and Anthropology.5 Gerade Schechner ist es auch, der nach eigener Aussage Anfang/Mitte der 1970er Jahre damit beginnt, den Begriff der Interkulturalität – er spricht ursprünglich von „interculturalism“ zur Abgrenzung von Phänomenen des „internationalism“ – in die theoretische Diskussion einzuführen,6 wobei er damit neben seinen eigenen Projekten vor allem Arbeiten von Peter Brook, Jerzy Grotowski und Eugenio Barba in Zusammenhang bringt. An diesen Arbeiten ließe sich exemplifizieren, was interkulturelles Theater ist bzw. sein könnte. Doch das ist nicht die Aufgabe meines einführenden Ausblicks, noch will ich in dieser Hinsicht den nachfolgenden Beiträgen vorausgreifen. Wenn es aber um das Verhältnis von Ethnologie und Theater geht, kann die Interkulturalitätsforschung bzw. können interkulturell avancierte Perspektivierungen die Funktion haben, zu einer theoretischen und tendenziell auch analytischen Flankierung dieses Verhältnisses beizutragen. Ebenso können umgekehrt Ethnologie, Theateranthropologie und das Theater selbst als Ort inszenierender und inszenierter Interkulturalität auf das Verständnis von Interkulturalität verändernd und erweiternd einwirken. Grotowski, Brook, Barba, Turner und Turnball haben nach Schechner auf eine Weise zusammengearbeitet, die interkulturell und interdisziplinär zu nennen ist.7 Wer sich für die Beziehung von Ethnologie und Theater interessiert oder sogar einen Beitrag zur Ethnologie des Theaters leisten will, kann hinter dieser Position nicht mehr zurück.8. Sie bildet vielmehr die Grundlage, von der aus es erst zu Weiterungen, Korrekturen oder Verschiebungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema kommen kann.

Dichte Aufführungen

Zur Ethnologie des postdramatischen Theaters

Christopher Balme (München)

Der Titel meines Beitrags bezieht sich auf eine der wohl einflussreichsten ethnologischen Publikationen der vergangenen vierzig Jahre, Clifford Geertz’ Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung, „The Interpretation of Cultures“, sowie den darin enthaltenen Essay über den balinesischen Hahnenkampf: „Deep Play: Notes on the Balinese Cock Fight“. Diese Aufsätze können gleichsam als Gründungsdokumente der Theaterethnologie betrachtet werden. Der dort entfaltete Begriff der „dichten Beschreibung“ entwickelt eine Methode, die anstelle teleologisch ausgerichteter funktionalistischer Erklärungsmodelle eine hermeneutische Interpretation privilegiert. „Dichte Beschreibung“ kann auch als Aufführungsanalyse für Ethnologen bzw. für ethnologisch ausgerichtete Theater- oder Performance-Wissenschaftler bezeichnet werden. Geertz notiert:

Das Ziel dabei ist es, aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle der Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen.1

Geertz’ Verwendung einer Dramen- und Theatermetaphorik zur Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene verlieh dem Text einen paradigmatischen Status innerhalb der Performance Studies, die sich in der von Richard Schechner vorgegebenen Ausrichtung eher als Sozial- denn als Geisteswissenschaft verstand.2

Während Geertz und vor ihm Milton Singer, ein Mitbegründer der so genannten ‚interpretativen‘ Ethnologie, noch dem Konzept des Textes verhaftet blieben, wählte der Ethnologe Victor Turner einen anderen Weg: Sein Konzept des sozialen Dramas sowie seine Studien zum Ritual bereiteten den Boden für die Performance Studies und verstärkten die Bande zwischen Ethnologie und der neuen Disziplin nachhaltig. Dwight Conquergood, ein in den Performance Studies arbeitender Ethnologe, bezeichnet Turner sogar als den „undisputed founding father“ der performativen Wende innerhalb der Ethnologie. Im Zeichen dieser Wissenschaftsgenealogie wird Geertz lediglich die Rolle des „influential in-law“ zugebilligt, „having married into the ‚culture as performance‘ family from the powerful ‚culture as text‘ clan.“3 Natürlich gibt es signifikante Differenzen, die auch den grundlegenden Unterschied zwischen Kunst- und Sozialwissenschaft markieren: Beim Hahnenkampf geht es im Gegensatz zur Kunst schließlich um etwas: für die Hähne um ihr Leben, für die menschlichen Teilnehmer um ihr Geld, wie die komplexe Beschreibung des Wettsystems deutlich macht.

Ob Hahnenkampf, Hochzeit oder hinduistisches Ritual: Dichte Beschreibungen gehen von einem örtlich und kulturell klar definierten, geradezu ‚umhegten‘ performativen Phänomen aus, um es dann in eine semantische Beziehung zu dem es bestimmenden Kulturgefüge zu setzen. Es gilt – wenn man es so will – das Prinzip der raumzeitlichen Kontiguität. In diesem engen Geflecht besteht auch die Affinität zur theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse, die von einer Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern ausgeht. Der Hahnenkampf-Essay von Geertz erschien Anfang der 1970er Jahre, Milton Singers Arbeiten über Cultural Performance ein Jahrzehnt früher,4 Victor Turners einschlägige Arbeiten in den 1970er und 1980er Jahren.5

Wenn wir heute die Beziehung zwischen Theater und Ethnologie betrachten wollen, müssen wir selbstredend an die aktuellen Ansätze der Ethnologie anknüpfen. Dem Thema der Tagung folgend, geht es darum, eine theaterfremde Wissenschaft, die Ethnologie, auf den Gegenstand ‚Theater‘, vor allem auf die interkulturell bzw. global erweiterten Spielformen von Theater zu applizieren. Meine Überlegungen hierzu gehen von drei ‚Wenden‘ innerhalb der Ethnologie aus, die das frühere Modell, wenn nicht in Frage stellen, so doch methodologisch und epistemologisch neu konturieren.

Die erste Wende heißt ‚multi-sited ethnography‘ und steht vor allem mit einem Aufsatz von George Marcus aus dem Jahr 1995 in Verbindung: „Ethnography in/of the World system: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“. Anstelle einer Perspektive, die sich einem einzigen Ort widmet – „intensively-focused-upon single site of ethnographic observation and participation“ – tritt ein Fokus auf multiple, oft geographisch entfernte Lokalitäten, die mit einander in Verbindung stehen.6 Der von Marcus als „world system“ betitelte Begriff signalisierte eine Auseinandersetzung mit Globalisierung und dem Befund, dass die Kulturen, für die sich die Ethnologie üblicherweise interessiert, nicht mehr dort sind, wo sie hätten sein sollen bzw. manchmal dort sind, aber auch woanders. Der Dorfbewohner aus Kerala ist ein Gutteil des Jahres in den Golf-Staaten als Wanderarbeiter unterwegs, der junge Samoaner versucht sein Glück als Rugby-Spieler in Japan. Mit anderen Worten fordert Marcus, die Ethnologie müsse methodisch und theoretisch auf die von Arjun Appadurai Anfang der 1990er Jahre beschriebenen „five dimensions of global cultural flow (…) ethno-, media-, finance-, techno- und ideocapes“ reagieren:

These landscapes thus are the building blocks of what (extending Benedict Anderson) I would like to call imagined worlds, that is, the multiple worlds which are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe.7

Die multiplen Welten der kulturellen Globalisierung stellen die Ethnographie vor besondere Herausforderungen angesichts deren „committed localism“: „Ethnography is predicated upon attention to the everyday, an intimate knowledge of face-to-face communities and groups.“8 Der Fokus auf das Lokale verbindet die Ethnologie mit der Theaterwissenschaft, die ebenfalls einem ‚committed localism‘ verpflichtet ist, und zwar in Form von ‚face-to-face-communication‘ und Gemeinschaftsbildung, die beispielsweise Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen9 vielfach beschrieben hat.

Wie soll sich aber die Theaterwissenschaft neu positionieren, wenn auch im Theater die gleichen Bedingungen der multi-sitedness vorherrschen wie von Marcus beschrieben?

Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography.10

Um diesen Pfaden, Verbindungen und Schnittstellen gerecht zu werden, schlägt Marcus eine andere Vorgehensweise vor: ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour heißt es, Dingen, Geschichten, Metaphern und Menschen zu folgen: „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multi-sited ethnographic research.“11

Die zweite Wende betrifft die Form der wissenschaftlichen Repräsentation und Präsentation, die auch ethische und ideologische Implikationen hat. Dahinter steht eine von der postkolonialen Theorie formulierte Fundamentalkritik an den Modi wissenschaftlicher Wissensaneignung und -darstellung, die auf eine Verfestigung kolonialer Verhältnisse hinausläuft. Wie kann man die alten, der kolonialen Weltanschauung inhärenten Dichotomien wie eigen/fremd, them and us usw. überwinden? Deshalb fragt der Ethnologe und Theaterwissenschaftler Dwight Conquergood:

What are the rhetorical problematics of performance as a complementary or alternative form of „publishing“ research? What are the differences between reading an analysis of fieldwork data, and hearing the voices from the field interpretively filtered through the voice of the researcher?12

Dies führt schließlich zu der Überlegung, die man als eine Art performativer Wende innerhalb der Ethnologie bezeichnen könnte, die aber analog auf die performance studies zurückwirkt: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“13 Diese wohl radikalste Perspektive wirft grundlegende epistemologische Fragen auf hinsichtlich der Darstellung wissenschaftlichen Wissens und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und dem Gegenstand dieser Beobachtung. Kann eine Aufführung herkömmliche, ‚objektive‘ Formen wissenschaftlichen Schreibens ersetzen oder zumindest als ebenbürtig betrachtet werden? Dieser Vorschlag fügt sich ein in allgemeinere Überlegungen zu Multivokalität, Dialogizität und Selbstreflexion, die alle Geistes- und Kulturwissenschaften in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erfassten.14

Die dritte Wende betrifft die Lokalität der Ethnographie selbst und vor allem das Verhältnis zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘. In seinem Aufsatz „Feld ohne Ferne: Reflexionen über ethnologische Forschung zu Hause – in Hamburg zum Beispiel“, stellt der Münchner Ethnologe Martin Sökefeld fest: „Ethnologie [ist] nicht mehr die Wissenschaft vom ‚Fremden‘ oder ‚kulturell Anderen‘, sondern die Wissenschaft von wechselnden Positionierungen und Perspektiven.“15 Zunehmend werden die Kultur(en) vor Ort zum Untersuchungsgegenstand, was Sökefeld als das Feld ohne Ferne bezeichnet.

Die Frage ist nun, ob und inwiefern eine theaterethnographische Forschung von diesen Ansätzen profitieren und sie anwenden kann? Das möchte ich an zwei Beispielen durchspielen, die jeweils andere Perspektiven beleuchten: an der Arbeit des sehr bekannten Kollektivs Rimini Protokoll und an einem weniger bekannten, internationalen Theaterprojekt, Hunger for Trade, das zwischen 2013 und 2014 am Schauspielhaus Hamburg und in mehreren Ländern realisiert wurde.

Rimini Protokoll: Das Feld in der Ferne

Die Arbeitsweise des ‚Performancelabels‘, so die Selbstbezeichnung von Rimini Protokoll, legt fast paradigmatisch eine ethnologische Wende der Theaterpraxis nahe: Rimini Protokolls Call Cutta kann bereits als kanonisches Beispiel für postdramatisches Theater bezeichnet werden, da es den Zuschauer zum Teilnehmer macht und auf professionelle Darsteller verzichtet. Der ursprüngliche Theater-Zuschauer wird Teilnehmer und selbst Akteur, der eigentlich Unbeteiligte selbst Teil der Performance.1 Das „interkontinentale Theaterstück“ Call Cutta wurde zwischen 2005 und 2012 in mehreren Iterationen aufgeführt. Die erste Variante fand in der titelgebenden Stadt Kalkutta statt; eine zweite wurde in Berlin und weitere, ‚kompaktere‘ Versionen – Call Cutta in a box – in diversen Städten realisiert.

Bei allen Versionen sind die wichtigsten Performer „ausgelagert“. So befinden sie sich – beispielsweise aus mitteleuropäischer Sicht 15.000 km und viereinhalb Stunden Zeitverschiebung östlich – im Infinity Tower, Nordostkalkutta, Indien. Es handelt sich um Angestellte in einem Callcenter. Sie folgen einem vorgegebenen Skript, das nach vielen Seiten offen ist, sie wissen zum Beispiel über Berlin viel, aber ansonsten wenig, obwohl sie den Teilnehmern genaue Anweisungen geben.

Der Anrufer ist Regisseur und der Angerufene der Zuschauer, die Bühne ist das Labyrinth von engen Gassen, Hinterhöfen, Hausdurchgängen und belebten Sträßchen in Hatibagan, Nordkalkutta, jenem ältesten und geschichtsträchtigsten Teil der Stadt. Während der Zuschauer, Knopf im Ohr, durch den Irrgarten geführt wird, auf Skulpturen an den Fassaden schaut, vom Leben längst verblichener Schauspielerinnen erfährt, die just in dem Haus geboren wurden, das er gerade passiert, fühlt er sich vom Strudel von Geschichte und Geschichten erfasst, und die enge, arme, durchaus heitere Nachbarschaft verwandelt sich zu seiner Bühne und er zum Akteur.2

Wie in fast allen ihrer Arbeiten untersuchen Rimini Protokoll in Call Cutta ein im weitesten Sinne soziales Problem, oft in Bezug auf Fragen der Globalisierung, des Neoliberalismus und einer sich verändernden Arbeitswelt. Ob in Kalkutta oder Berlin, die Zuschauer/Akteure/Teilnehmer sind keine Fremden, sondern Einheimische, die ihre eigene Stadt erkunden, obwohl es sein kann, dass der Stadtteil ihm/ihr unbekannt ist. Verknüpft wird diese Tour mit der Erkundung des Callcenter-Betriebs (oder -Business), und vor allem mit dem besonderen Rollenspiel, dem Fingieren von Nähe und Vertraulichkeit, das zum „Aufgabenrepertoire“ der Angestellten gehört.

Die Frage ist, ob und inwiefern von einer ethnologischen oder gar ethnographischen Haltung oder Einstellung gesprochen werden kann? Sind die Zuschauer gleichsam Ethnographen der eigenen Umgebung? Welche Haltung wird von ihm/ihr verlangt? Bei allen kognitiven Dissonanzen, die Aufführungen von Rimini Protokoll gelegentlich auslösen, sind sie edukativ angelegt. Eine Ebene der Projekte scheint stets auf Wissenserwerb ausgerichtet zu sein.

Meine These lautet, dass bei Call Cutta eine ethnographische Haltung simuliert wird: Der Teilnehmer – von Zuschauer kann hier nur bedingt die Rede sein – wird zum teilnehmenden Beobachter, der mit der fremden Umgebung und der fremden Person am anderen Ende der Leitung interagiert. Natürlich kann nur von einer Simulation die Rede sein, weil teilnehmende Beobachtung als wissenschaftliche Methode eine völlig andere Zeit- und Raumerfahrung voraussetzt, denn Grundvoraussetzung sind meistens mehrere Monate im Feld. Dennoch ist die vom Teilnehmer erwartete Haltung eher mit Wissenserwerb als mit ästhetischer Erfahrung im engeren Sinne verbunden. Ich will nicht behaupten, dass Wissensaneignung im Mittelpunkt steht, aber sie spielt eine ungleich wichtigere Rolle als in einer normalen Stadttheater-Aufführung eines Klassikers. Je nachdem, wo Call Cutta stattfindet – in Kalkutta oder Berlin – werden den Teilnehmern während der Erkundungstour zahlreiche Informationen mitgeteilt. Dies gilt auch für die fingierte intime Beziehung zwischen Hörer und Sprecher, die ebenfalls zur Botschaft der Aufführung gehört. Sie doppelt gleichsam die fingierte Vertraulichkeit, wie sie als Grundvoraussetzung für das Geschäftsmodell Callcenter gilt. In der strukturellen Anlage der Performance, dem Nachspüren eines bestimmten Weges oder Pfades durch die Stadt, lässt sich eine performative Umsetzung des von Marcus formulierten Appells an die ethnographische Forschung im Sinne eines multisituierten Ansatzes wiederfinden: man folgt einer Sache, der Metapher, einer Person usw. Diese ‚Verfolgung‘ manifestiert sich auf zwei Ebenen: Erstens folgen die Teilnehmer dem vorbestimmten Weg, zweitens der Stimme aus Kalkutta. Diese räumliche Dissoziation zwischen Hörer und Sprecher zeichnet die Konfiguration eines globalen Arbeitsmarktes nach. Auch thematisch, im (performativen) Nachvollzug der Arbeitsbedingungen der Callcenter-Arbeiter in Indien, bewegt sich damit die Performance in die Nähe der Ethnologie: Die Arbeitsethnologie, ‚Anthropology of Work‘, bildet eine eigene und gewichtige Subdisziplin und gehört zum klassischen Arbeitsbereich der Kulturanthropologie.3

Das Thema ‚Arbeit‘ wird in einem weiteren in Istanbul realisierten Projekt vertieft, Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls (2010). Es handelt von „Experten des Alltags“, in diesem Fall von Wertstoffsammlern, auch despektierlich „Müllmänner“ genannt, in Istanbul, ihren Routen, ihren Tagesabläufen, ihrem mikroskopischen Blick auf Müll, der mit einem globalen Markt verbunden ist. Gesucht wird nach wertvollen Metallen wie Kupfer, Stahl oder sogar Gold (der Titel verdankt sich dem bekannten Spruch: „Istanbuls Boden ist mit Gold gepflastert“). Die vier ‚Darsteller‘ sammeln Müll in den Straßen Istanbuls. Sie werden zu Protagonisten eines Theaterstücks, indem sie auch von ihrem Leben und ihrer Kultur, ihren Träumen und Albträumen, Hoffnungen und Sehnsüchten erzählen. Auf einer zweiten Kommentarebene agiert ein türkischer Schattenspieler, Hasan Hüseyin Karabag, der ihre Erzählungen mit den Mitteln des karagöz-Theaters ironisch-komisch kommentiert. Im Laufe des Abends wird immer deutlicher, wie sich der Arbeitsalltag der Protagonisten gestaltet: Da ist einerseits der Kleinkrieg mit den Istanbuler Behörden, andererseits die Bedeutung der Weltmarktkurse für Kupfer, Stahl, Gold, Papier, die ihre Arbeit ständig beeinflusst. Thematisiert wird auch die Beziehung von Rimini Protokoll zu den türkischen Wertstoffsammlern als „Experten“, und deren anfängliche Vorurteile, aber auch Ängste, für künstlerische und ethnographische Zwecke ausgenutzt zu werden. Somit wird in diesem Stück zum ersten Mal „die produktionseigene Metaebene ihres Arbeitsprozesses freigelegt“. Die Fragen, die sich während der ‚Probenphase‘ stellten, werden von den Protagonisten auf der Bühne diskutiert: „Was bedeutet es für einen Wertstoffsammler, sein Leben auf Festivalbühnen auszubreiten? Wie greift das Bühnenunternehmen in seine Existenz ein? Und welche Rollen spielen die Klischees, die die beiden aufeinander treffenden Milieus vom jeweils anderen haben?“4

Die türkischen Wertstoffsammler sind, wie bereits sagt, Beispiele für die inzwischen berühmt gewordenen „Experten des Alltags“, die Rimini Protokoll mit Vorliebe auf die Bühne bringen. Dadurch entsprechen sie in einem gewissen Sinne den neuesten ethnologischen Forderungen nach Multivokalität und Selbstartikulation, hier auf dem Gebiet der darstellenden Künste. Ich erinnere noch einmal an Conquergoods Forderung aus den frühen 1990er Jahren: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“ Was Conquergood in Hinblick auf alternative Darstellungsmodalitäten ethnologischer Forschung formulierte, erfährt hier eine schlichte, aber wirkungsvolle Umkehrung: Das Theater wird zum Darstellungsort ethnographischer Fragestellungen gemacht.

Ein zweiter Aspekt, der die Verbindung zwischen Theater, zumindest postdramatischem Theater, und Ethnologie stärkt, ist die Arbeitsweise der Gruppe. Recherche und Vorbereitung ihrer Projekte haben durchaus einen ethnographischen Ansatz. So formuliert ein Mitglied des Kollektivs, Daniel Wetzel, die Motivation ihrer Arbeit sei das Interesse an anderen Kulturen:

One of the things that drives me, or also my colleagues in our theater work, […] is to open up something new – that is, to gain access to a country, a society, to a way of thinking, to a way of living. Firstly, the experience of getting to know something for oneself, and doing so through personally looking, rather than say, via a medium such as the internet; and secondly, the achievement of new perspectives through the input of outsiders who have a certain distance from the people and situation being explored.5

Der Wunsch, sich Zugang zu einer fremden Kultur zu verschaffen, kann vielleicht als Urtrieb aller Ethnologen bezeichnet werden, da ihr Beruf letztlich darauf beruht, diese Motivation in die Tat umzusetzen. Diese ethnographische Forschungsmethode und Betrachtungsweise wird dann in eine theatrale Form übersetzt, die vor allem dazu dient, den Experten des Alltags einen halbwegs sicheren Rahmen zu gewährleisten, in dem die Nicht-Schauspieler agieren können. Dieses Problem stellt sich bei Audiowalks wie Call Cutta etwas anders, weil die ethnographische Fremderfahrung auf den Teilnehmer übertragen wird. Beiden Ansätzen liegt jedoch ein gemeinsamer Wunsch zugrunde, Wissenserwerb und ästhetische Erfahrung in einem neuen Verhältnis auszubalancieren.

Hunger for Trade: Multisituiertes Theater

Das zweite Beispiel, Hunger for Trade, verkörpert noch expliziter das Problem der multi-sitedness, und zwar sowohl aus einer produktions-ästhetischen als auch aus einer organisatorischen Perspektive. Hunger for Trade: Ein internationales Theaterprojekt über den globalen Nahrungsmittelmarkt wurde am Hamburger Schauspielhaus unter der Leitung von Clemens Bechtel zwischen 2013 und 2014 in Zusammenarbeit mit acht weiteren Theatergruppen und Ländern realisiert.1 Ziel des Projekts war es, ein internationales Theaternetzwerk aufzubauen, das die „Möglichkeiten eines globalen, multiperspektivischen und politischen Theaters erprobt.“2 Das Thema war die globale Nahrungsindustrie und deren vielfältige Verflechtungen. Hintergrund und Ausgangspunkt waren folgende Überlegungen: Seit 2002 seien die Preise für Grundnahrungsmittel in Folge von Spekulation, Umnutzung von Agrarflächen für Biosprit-Gewinnung, klimatischen Veränderungen und dem Anstieg der Weltbevölkerung um fast 180 % gestiegen. Versorgungskrisen und teilweise in Gewalt mündende Protestaktionen in Afrika, Asien und Südamerika 2008 seien genau wie die revolutionären Ereignisse in Ägypten 2010/2011 maßgeblich durch die hohen Nahrungsmittelpreise beeinflusst. Darüber hinaus formiere sich der Nahrungsmittelmarkt neu: Während sich für afrikanische Kleinbauern durch die Preissteigerungen teilweise neue Absatzmöglichkeiten ergeben, komme es in anderen Ländern zu einem Ausverkauf von Agrarflächen an multinationale Konzerne. In Asien und Südamerika werden Bauern von den Feldern vertrieben, die sie seit Generationen bewirtschaften, gleichzeitig werden in Europa Landwirte und Agrarfabriken mit EU-Subventionen unterstützt.3

Hunger for Trade begegnet der Komplexität des beschriebenen Themas mit einem international angelegten Theaterprojekt. Basierend auf einem parallel durchgeführten und vernetzten Rechercheprozess entwickelten Künstler aus vier Kontinenten an neun verschiedenen Theatern bzw. Standorten inhaltlich und formal eigenständige Dokumentar-Inszenierungen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas auseinandersetzen. Zugleich fand ein „Schulterschluss“ zwischen Kunst und Wissenschaft statt, der seinerseits innovative ästhetische Formate zu entwickeln versuchte. Dazu kamen im Projekt verschiedene Strategien zum Tragen: Der öffentliche, künstlerisch-wissenschaftliche Austausch zum Beispiel bei einer internationalen „performativen Konferenz“, die Initiation von neuen Theaterprojekten in neun Ländern mit namhaften Künstlern und deren Vernetzung auf allen Ebenen der Arbeit sowie die nachhaltige und langfristige Verankerung der Thematik durch eine öffentlich nachvollziehbare Recherche, die online durch ein WebDoc dokumentiert wird. WebDoc ist ein Online-Format, das weltweit dem Besucher ermöglicht, dokumentarische Inhalte, z.B. Videos, Texte, Tondokumente oder Bilder, aber auch Diskussionen und Kommentare in leicht zugänglicher Art interaktiv zu erleben.4

Das Projekt gliederte sich in fünf Etappen: eine Auftaktkonferenz im November/Dezember 2013; eine von Januar bis März 2014 andauernde Recherchephase; eine Probenphase (März/April 2014); die ortsverteilten Aufführungen von April bis Juni 2014; und ein „Abschlussmarathon“ im Juni 2014. Die am ursprünglichen Konzeptpapier orientierte Beschreibung des Projekts, das Ende Mai 2014 am Hamburger Schauspielhaus zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wurde, macht bereits deutlich, wie sehr die Theaterarbeit nicht nur ethnologische und ethnographische Fragestellungen aufgriff, sondern auch deren Arbeitsmethoden adaptierte. Die sogenannten ‚core themes‘ – Farming, Trading, Eating, Starving, Politics & Markets, Food Arts – ließen sich ohne weiteres in ein ethnologisches Forschungsprogramm integrieren. So befasste sich das Théâtr’Evasion in Ouagadougou, Burkina Faso im Rahmen ihres Stücks Greve de la faim (Hungerstreik) mit dem Konnex von Hunger und Handel. Das Indian Ensemble aus Bangalore behandelte in einem am dortigen Goethe-Institut aufgeführten Stück Thook die Auswirkungen neoliberaler Reformen auf Nahrung in Indien. Eine Besonderheit dieses Theaterprojekts war der hohe Grad der Vernetzung zwischen den jeweiligen Projekten, die ‚Rechercheaufträge‘ an andere Projekte vergeben konnten, um auf der Forschungsebene der internationalen Verflechtung der Lebensmittelindustrie gerecht zu werden.

Die Innovation des Projekts liegt sicherlich im konzeptionellen Zuschnitt. Die ethnologische Reorientierung hin zu multi-sitedness wurde in den Vorbereitungs- und Recherchephasen umgesetzt. Weniger ‚erfolgreich‘, zumindest im Sinne der öffentlichen Resonanz, waren die eigentlichen Aufführungen und vor allem der ‚Abschlussmarathon‘ am 30.05.2014, an dem alle Projekte im Hamburg online in einer Live-Schaltung hätten gezeigt werden sollen. Große technische Probleme führten dazu, dass dieser Teil nur unzureichend realisiert werden konnte. In einer der wenigen Kritiken des Abends heißt es:

Beim Finale am Freitag sollen die unterschiedlichen Produktionsorte miteinander vernetzt werden. Mit Videobeamern und Laptops haben sich die Macher in den Malersaal des Schauspielhauses zurückgezogen. Das Internet soll die weltweit zeitgleichen Abschlussveranstaltungen über Tausende Kilometer verbinden. Doch es entstehen große technische Probleme: Die Datenverbindungen streiken und Gespräche können nicht geführt werden. Steht die Leitung doch, kommt die Gesprächsführung wegen der schlechten Übertragungsqualität oft über ein Grußwort nicht hinaus.5

Nichtsdestotrotz kann als Fazit gezogen werden, dass Hunger for Trade neuartige Kooperations- und Arbeitsprozesse erprobte, die einerseits ethnologische Forschung und theaterkünstlerische Arbeitsmethoden eng aufeinander bezogen und sich andererseits der Herausforderung ortsverteilter Theaterproduktion stellte.

Fazit: zur Konvergenz von Theater und Ethnologie

Ethnologische Weltaneignung im Theater bedeutet eine Verschiebung von der „Verrätselung der Welt durch die Kunst“, um mit Adorno zu sprechen, hin zu einer Enträtselung und Deutung der Welt und ihrer Zusammenhänge. Dies bedeutet auch eine Neuordnung des Theaterrahmens im Sinne Erving Goffmans. Was wir von Theater erwarten, verändert sich offensichtlich. Am Ende des Hahnenkampf-Aufsatzes zitiert Clifford Geertz den Literaturwissenschaftler Northrope Frye: „Niemand ginge in eine Vorstellung von Macbeth, um etwas über die Geschichte Schottlands zu erfahren; man will erfahren, wie sich ein Mann fühlt, der ein Königreich gewonnen, aber seine Seele verloren hat.“ Geertz fährt selber fort:

So schafft [der Hahnenkampf] etwas, das man vielleicht […] ein paradigmatisches menschliches Ereignis nennen könnte, denn es sagt nicht so sehr, was geschieht, sondern eher, was in etwa geschehen würde, wenn das Leben – was ja nicht der Fall ist – Kunst wäre und so uneingeschränkt wie bei Macbeth und David Copperfield von Gefühlen bestimmt sein könnte.1

Bei allen Konditionalsätzen und Theatermetaphern nimmt Geertz doch eine kategoriale Unterscheidung zwischen Theater und Hahnenkampf und somit zwischen Literatur- bzw. Theaterwissenschaft und Ethnologie vor. Heute aber, im Zeitalter des postdramatischen Theaters, ist es nicht mehr so gesichert, ob man in eine Theatervorstellung geht und nichts über die Kultur Westafrikas, die Arbeitsbedingungen der Callcenter-Angestellten in Kalkutta, die Müllarbeiter in Istanbul oder die globalen Verflechtungen des Lebensmittelmarktes erfahren will. Bei den heutigen dichten Aufführungen heißt es: Wissenserwerb wahrscheinlich, aber ästhetische Erfahrung ohne Gewähr.

C’est du Chinois

Theater für Experten des Nicht-Verstehens

Bart Philipsen (Leuven)

Das Forschungsthema ‚Theater und Ethnologie‘ mag auf den ersten Blick andere Schwerpunkte nahelegen, als den des sprachlich Fremden im geläufigen Sinne. Die Frage der Anderssprachigkeit und die damit zusammenhängenden Verständigungs- und Übertragungsprobleme in internationalen bzw. interkulturellen Theateraufführungen werden in heutigen Produktionen längst mittels eingeblendeten Übertiteln gelöst (oder übersprungen). Die exemplarischen Überschneidungen zwischen ethnologisch-anthropologischen, soziologischen und theaterwissenschaftlichen Interessen situieren sich vor allem seit den grundlegenden Arbeiten von Victor Turner und Richard Schechner in erster Linie im Bereich des kulturell Performativen, wobei sowohl nach der Theatralität und Dramatik bestimmter kultureller Praktiken und Prozesse gefragt als auch auf das Potential zur ästhetischen (und kritischen) Reflexion solcher ‚cultural performances‘ in künstlerischen Praktiken, im Besonderen im Bereich des Theaters, fokussiert wird.1 Das Interesse für ethnologisch-anthropologische Fragestellungen hat in den Theaterpraktiken sowie in der Theaterwissenschaft, vor allem in den USA