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Die Theorien der Literatur sind eine seit Jahrzehnten etablierte Buchreihe, die auf Ringvorlesungen an der Universität Augsburg zurückgeht. Bd. VII enthält erstmals einen thematischen Schwerpunkt: Es geht um die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten. Im Fokus stehen dabei nicht Künste wie Musik und Bildende Kunst, sondern konkrete Ausformungen wie die Symphonik, die Malerei, der Comic oder der Film. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen einzelnen Kunstformen, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArt Studies untersucht werden.
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Theorien der Literatur
Band VII: Literatur und die anderen Künste
Günter Butzer / Hubert Zapf
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0061-4
Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Literaturtheorie in dem Sinn, wie sie von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstanden wird, ist nichts Abgehobenes oder nur Abstraktes, sondern stellt eine eigenständige, transdisziplinäre Form des Nachdenkens über Texte, kulturelle Prozesse, Symbolsysteme und Modelle menschlicher Selbstinterpretation dar. Sie ist daher in ihrer Bedeutung, wie die Literatur selbst, nicht auf den innerakademischen Bereich begrenzt, sondern potenziell von allgemeinerem Interesse. Das breite Spektrum von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, das sich mit ihr seit jeher verbunden hat und das sich im Repertoire klassischer Positionen von der Antike bis zur Moderne niederschlägt, hat sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal entschieden erweitert durch neuere Ansätze, die sich im kritischen Dialog mit der Geschichte der Literaturtheorie herausgebildet haben und die mittlerweile zu wesentlichen Bezugspunkten eines zunehmend globalisierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses geworden sind.
Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe Theorien der Literatur konzipiert, in der bislang sechs Bände erschienen sind. Auch die Beiträge des nun vorliegenden siebten Bandes beziehen sich auf beide im Untertitel angesprochenen Seiten der literaturtheoretischen Debatte – auf ihre in lang zurückreichenden Reflexionsprozessen herausgebildeten Grundlagen und auf die in den vergangenen Jahrzehnten formulierten neuen Perspektiven, die oft unter Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen ästhetische Zeichenprozesse beleuchten und in ihren verschiedenen historischen, kulturellen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen herausarbeiten. Diese beiden Pole markieren ohnehin keinen binären Gegensatz, denn einerseits bleiben auch die innovativen Ansätze der neueren Zeit noch im Gestus des radikalen Neuaufbruchs auf die Geschichte der Begriffs- und Diskursbildung angewiesen, die sich mit der kulturellen Evolution der Literatur und Literaturtheorie entwickelt hat. Und andererseits entfalten die klassischen Positionen im Rahmen neuer Fragestellungen und interdisziplinärer Impulse teilweise eine erstaunliche Aktualität, die sie als unverzichtbaren Bestandteil auch gegenwärtiger Orts- und Funktionsbestimmungen von Literaturtheorie erscheinen lässt.
Dieser Dialektik von Tradition und Innovation ist auch der vorliegende Band der Reihe treu geblieben. Er setzt jedoch insofern einen neuen Akzent, als er mit dem Thema „Literatur und die anderen Künste“ erstmals einen thematischen Schwerpunkt etabliert. Im Fokus steht dabei nicht die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten im Allgemeinen, sondern zu konkreten Kunstformen. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen den Künsten, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArts Studies analysiert werden. Er versammelt Arbeiten, die die Bild-Text-Beziehungen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werken der Naturkunde, aber auch im modernen Comic behandeln, ebenso wie Studien, die die Konkurrenz der Künste in der Renaissance und ekphrastische Verfahren in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts untersuchen. In zwei Aufsätzen stehen die Rolle der Symphonik als Leitkunst für die Literatur der Romantik und der Moderne sowie die Relation von HipHop und Literatur im Zentrum. Ein Beitrag befasst sich mit der medialen Transposition eines literarischen Texts in unterschiedliche filmische Formate, ein weiterer thematisiert die Beziehung von Literatur und Film aus der Perspektive der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans. Die abschließenden Studien leuchten das intermediale Potenzial des Dramas aus und beschäftigen sich mit den interdiskursiven Bezügen von Literatur und Religion. Wie die vorherigen Bände der Reihe, sind auch die vorliegenden Beiträge aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2015/16 und im Sommersemester 2016 an der Universität Augsburg stattfand. Zu den beteiligten Fächern gehören Kunstgeschichte und Filmwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik, Germanistik und Romanistik sowie Theologie und Vergleichende Literaturwissenschaft.
Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Tillmann Bub vom Francke Verlag für die ausgezeichnete Kooperation, insbesondere auch Claire Zander und Kathrin Windholz für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck vorbereitet haben, sowie der Kurt-Bösch-Stiftung zugunsten der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Es ist beabsichtigt, die Reihe sowohl als Vorlesung als auch in Publikationsform fortzusetzen.
Augsburg, im November 2017 Günter Butzer und Hubert Zapf
Bild und Text in der frühneuzeitlichen Naturkunde
Text und Bild galten in der frühneuzeitlichen Naturkunde und insbesondere der Zoologie als gleichrangige Erkenntnismittel. Zum einen verdankte die Naturkunde des 16. und 17. Jahrhunderts einen wesentlichen Impuls der humanistischen Aufarbeitung antiker Schriften; dabei bildete etwa Plinius’ Historia Naturalis einen zentralen Bezugspunkt der nachantiken Betrachtung der Natur. Zum anderen musste sich diese Revision an den Kenntnissen exotischer Tiere messen lassen, die zunächst die spanischen und portugiesischen, dann vor allem die niederländischen Seefahrer aus Amerika und Asien nach Europa brachten. Die Basis der frühneuzeitlichen Naturkunde bestand also in der Auswertung antiker Texte; für die Einordnung bislang unbekannter Arten boten hingegen Bilder eine primäre Orientierung. Ihr epistemologischer Wert erschließt sich daraus, dass die Protagonisten der Naturgeschichte – besonders prominent Konrad Gessner und Ulisse Aldrovandi – Künstler anstellten, die nach Bildvorlagen ebenso wie lebenden Tieren und Präparaten Darstellungen von hoher mimetischer Raffinesse anfertigten. Ein berühmtes Beispiel sind zwei Vipern, die Jacopo Ligozzi, Hofkünstler der Medici, für Aldrovandi gezeichnet hat. Indem Ligozzi die Schlangen als Trompe-l’oeil darstellte – die Tiere scheinen sich, ornamental in einander verschlungen, auf dem mit zwei Textblöcken beschriebenen Blatt zu winden –, verschärfte er die Suggestionskraft der Darstellung so weit, dass die Gefährlichkeit der Giftschlangen geradezu greifbar erscheint.1
Das argumentative Potential der Bilder versuchten die Autoren auch für ihre Publikationen zu nutzen. Konrad Gessner ordnete etwa die Einträge in seiner vierbändigen, ab 1551 erschienenen Historia Animalium um die Darstellung des jeweils beschriebenen Tiers an, wobei der Text das Bild durch Verweise einbezieht. Die für den Druck benutzten Holzschnitte erreichen selten die ästhetische Qualität der Zeichnungen; gleichwohl vermögen sie wesentliche Merkmale der Tiere zu veranschaulichen. Ein berühmtes Beispiel ist die Darstellung eines Paradiesvogels im dritten Band, das zugleich die methodischen Schwierigkeiten der Erfassung exotischer Fauna aufzeigt, die jeweils nur an raren Einzelexemplaren vollzogen werden konnte. Als Vorlage scheint eine Zeichnung von Konrad Peutinger gedient zu haben, dem jedoch lediglich der Balg des Vogels vorgelegen war. Da diesem vermutlich bereits vor seinem Export nach Europa die Füße entfernt worden waren, entstand dort die Annahme, der Paradiesvogel habe keine Füße und verbringe sein gesamtes Leben im Flug.2 Sie verfestigte sich so sehr, dass der Paradiesvogel bereits in Joachim Camerarius’ ab 1592 erschienen Symbola et Emblemata zum Sinnbild für ein vergeistigtes Leben überhöht war.3
Bild und Text trugen somit gleichermaßen zu einer für die frühneuzeitliche Naturkunde bezeichnenden Ambivalenz bei: Einerseits tradierte die Rezeption der antiken Schriften auf Mythen und Legenden beruhende Informationen auch dann, wenn diese durch die eigene Anschauung falsifiziert waren, andererseits war auch die empirische Erfassung, mit der überkommene Annahmen kritisiert werden sollten, kaum gegen Fehldeutungen gefeit, da gerade im Falle exotischer Fauna oft nur einzelne Exemplare untersucht und keine überindividuellen Merkmale festgestellt werden konnten. Im Folgenden soll an einer Motivgeschichte des Krokodils vom 15. bis ins 18. Jahrhundert dargelegt werden, wie sich bestimmte Stereotype in der Darstellung der Tiere etablierten und tradiert wurden, und damit die frühneuzeitliche Ikonographie des Krokodils umrissen werden. Die These lautet, dass die Übernahme bestimmter Formeln aus dem Bereich der Hochkunst die naturhistorischen Illustrationen selbst dann noch stilisierte, wenn die Augenzeugenschaft der Autoren die entsprechenden Eindrücke bereits falsifizieren konnte.
Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet ein Blatt aus der Peregrinatio in Sanctam Terram, Bernhards von Breydenbach 1486 publiziertem Reisebericht über seine Pilgerfahrt nach Jerusalem. Der Holzschnitt zeigt in streumusterhafter Anordnung acht Tiere, die Bernhard und seine Gefährten auf ihrer Route über Ägypten gesehen haben wollen, darunter eine Giraffe und ein Einhorn sowie rechts oben ein Krokodil. Alle sind durch Inschriften bezeichnet, so auch das Krokodil als „Cocodrillus“.1 Eine schwarze Linie rahmt das Bild, unter ihr versichert Bernhard die Betrachter der Wahrhaftigkeit der Darstellung: „Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sacra.“2
Schon die Darstellung des Krokodils lässt daran jedoch Zweifel aufkommen: Furchtbar gewunden erscheint das echsenähnliche Wesen mit dem langen, nach oben gereckten Hals, den übermäßig langen Gliedmaßen mit gekrümmten Krallen und besonders dem in Form einer 8 zweifach gerollten Schwanz.
Das Bild ist einer von sechsundzwanzig Holzschnitten, die der niederländische Künstler Erhard Reuwich, der Bernhard auf der Reise begleitet hatte, für die Peregrinatio angefertigt hat. Dass Bernhard und Reuwich nicht alle der dargestellten Tiere mit eigenen Augen gesehen haben können, versteht sich schon in Anbetracht des Einhorns. Die Beobachtung von Krokodilen erwähnt der Text hingegen bei der Schilderung einer Nilfahrt. Reuwich dürfte jedoch keine Gelegenheit gehabt haben, die Tiere detailliert zu studieren; eher scheint er sich bei der Darstellung an Vorlagen aus mittelalterlichen Bestiarien und Enzyklopädien orientiert zu haben.3 Frederike Timm zufolge muss Reuwichs Augenzeugenschaft an der Vorprägung dieser Bild- und Texttradition relativiert werden.4
Im Gegensatz zu anderen von antiken Autoren beschriebenen Exoten wie Nashörnern, Nilpferden oder Haien war die Kenntnis von Krokodilen während des Mittelalters nämlich nicht verblasst. Bartholomäus Anglicus erwähnt Krokodile in De proprietatibus rerum ebenso wie Vinzenz von Beauvais im Speculum maius.5 Noch älter ist die Beschreibung von Krododilen im Liber Monstrorum, einer frühmittelalterlichen Abhandlung über die drei Arten von Monstren und Ungeheuern, die dem anonymen Verfasser am Schrecklichsten erscheinen, nämlich Wundermenschen, gefährliche Tiere sowie Drachen und Schlangen. Der mittlere Themenblock enthält einen Eintrag über Krokodile, demzufolge die am Nil heimischen Tiere sowohl am Ufer als auch im Wasser lebten, überwiegend dösten, aber vom Geruch von Menschenfleisch erregt werden könnten, auf das sie gierig seien.6 Als deskriptive Auflistung bildet der Liber Monstrorum eine Ausnahme in der mittelalterlichen Tradition der Naturbetrachtung, die hauptsächlich von dem Bestreben geleitet war, in Naturphänomenen Gleichnisse geistlich-moralischer Maximen zu erkennen. Ihre berühmteste Ausformung ist bekanntlich der Physiologus, eine seit der Spätantike nachweisbare Sammlung von Tierbeschreibungen, die jeweils als Beispiele christlichen Verhaltens ausgelegt werden. Bis ins 13. Jahrhundert überliefert, beinhalten einige Physiologus-Handschriften auch Kapitel über Krokodile. Sie beschreiben das Krokodil als menschenfressendes Mischwesen aus Schlange und Löwe, das seine Opfer beim Verschlingen betrauert. Damit ist auf das Phänomen der sogenannten Krokodilstränen angespielt, denn tatsächlich sondern verschiedene Arten von Krokodilen während des Fressens ein Tränensekret ab; der Physiologus deutet dies als Heuchelei und vergleicht das Krokodil mit Mächtigen und Raffgierigen, die am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott ihre eigenen Missetaten beweinen, dann aber keine Gnade mehr finden, sondern zur Hölle fahren.7 Diese Deutung übernahm noch Konrad von Megenberg in seinem 1348 bis 1350 entstandenen Buch der Natur, das als erste Naturkunde in deutscher Sprache zu den einflussreichsten Lehrbüchern des Mittelalters zählt.
Neben dieser moralisierenden Auslegung von Texten gab es im Mittelalter, wie Johannes Tripps aufzeigte, auch bildhafte Arrangements von Krokodilen. Krokodilhäute wurden aus Ägypten nach Europa exportiert, wo sie als Zeichen der Allmacht Gottes ins Bildprogramm gotischer Kirchenbauten integriert werden konnten; dies entspricht einer gängigen Gleichung von Krokodilen mit dem biblischen Leviathan (Hiob 40, 25–32). Krokodile konnten aber auch als Drachen gelten; ihre Häute wurden besonders dort in Kirchen aufgehängt, wo ein Drachenkampf zu den regionalen Heiligenlegenden gehörte. Bis heute erhalten blieb ein Präparat in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Mantua, das dort um 1500 befestigt wurde. In Metz, wo der Hl. Klemens das Oberhaupt einer Drachenbrut gebannt haben soll und sich die Einwohner im Gegenzug zum christlichen Glauben bekannten, wurde das aus Teilen einer Krokodilhaut angefertigte Modell des Drachen nicht nur in der Kirche aufbewahrt, sondern auch bei Prozessionen getragen.8 Der Drachenkampf bzw. -bann ist ein Topos mittelalterlicher Heiligenlegenden und verweist meist auf den Sieg des Christentums über das Heidentum.
Als Erhard Reuwich also ein krallenbewehrtes Ungetüm in Holz schnitt und als Krokodil bezeichnete, mögen ihn zwei Traditionen geleitet haben: Die moralisierende Deutung älterer Texte in der Tradition des Physiologus, zu der keine eigene Kenntnis der Tiere nötig war und in der das Krokodil zum Sinnbild schlechten Verhaltens geraten war, und die bildhafte Ausstellung manipulierter Krokodilpräparate, die den Leviathan, aber auch Drachen und den Satan selbst porträtieren konnten. Ob Bernhard von Breydenbach und seinem begleitenden Künstler überhaupt daran gelegen war, die vielleicht am Nil beobachteten Tiere zu dokumentieren, oder ob sie in der Erwähnung des allegorisch stark aufgeladenen Geschöpfs womöglich negative Reiseerlebnisse kompensieren wollten, sei dahingestellt. Reuwichs Holzschnitt beinhaltet jedenfalls die früheste druckgraphische Darstellung eines Krokodils in Europa und zählt damit zu den bedeutendsten Tierdarstellungen der Inkunabelzeit.
Die Vorbildfunktion von Reuwichs Bildern wird etwa daran augenfällig, dass sein Krokodil noch in einer frühen deutschen Ausgabe von Sebastian Münsters Cosmographia, erschienen 1546 in Basel, als Illustration eines Abschnitts über Ägypten diente.1 Diese folgte auf die zwei Jahre zuvor erschienene lateinische Erstausgabe, die bekanntlich zu den enzyklopädischen Hauptwerken der Renaissance zählt. Sie führt die von Hartman Schedel modernisierte Tradition der Weltchronik fort und beinhaltet einen auf sechs Bücher verteilten chronologisch-geographischen Überblick der Weltgeschichte vom biblischen Schöpfungsbericht bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Zentraleuropa; nur die beiden letzten Bücher behandeln Asien, Afrika und Amerika.
Tiere spielen in Münsters geographisch orientiertem Werk eine untergeordnete, in ihrer teils sensationellen Charakterisierung jedoch nicht zu unterschätzende Rolle. Im Bereich der vertrauten Länder Mitteleuropas gilt das Interesse an Tieren vornehmlich dem Nutzwert. Je weiter der Text jedoch von seinem Entstehungsort fortführt, desto mehr Betonung liegt auf dem Befremdlichen und Sensationellen der Fauna. Im Niemandsland jenseits der Überprüfbarkeit orientierte sich Münster an den Überlieferungen der antiken Literatur. Die Bücher über Asien und Afrika geben hinsichtlich der Fauna meist Plinius und Strabo wieder; die Mitteilungen über Amerika beschränken sich auf Auszüge aus den Briefen Amerigo Vespuccis.2
Dass Reuwichs kleines Scheusal in frühen Ausgaben der Cosmographia zu sehen ist, ist erstaunlich, hatte Münster doch mit Rudolf Manuel Deutsch einen namhaften Künstler für die Illustrationen seines Buchs engagiert, der für die Erstausgabe auch ein Krokodilbild angefertigt hat. Deutschs Bild dürfte die erste naturnahe Darstellung eines Krokodils in der Druckgraphik sein. Das Tier stolziert, das Maul halb geöffnet, in Seitenansicht von links nach rechts durch eine steinige Uferlandschaft, die links unten an ein fließendes Gewässer grenzt. Wesentliche Merkmale von Krokodilen, so die kegelförmigen, teils über den Kiefer ragenden Zähne, die fünf Finger mit Krallen an den Händen sowie die Nackenspalte, sind für eine Identifikation der Ordnung ausreichend wiedergegeben.3 Gleichwohl weist die Darstellungen auch Unstimmigkeiten auf, insbesondere den zu klein geratenen Kopf, der wie ein entfleischter Schädel aussieht; womöglich hat sich Deutsch an einem Präparat in entsprechendem Zustand orientiert. Für ein Präparat als Vorlage spricht bei diesem Bild – ebenso wie bei den meisten folgenden – im Übrigen die für Krokodile ungewöhnliche Stellung der Extremitäten, da Krokodile meist mit seitlich abgewinkelten Extremitäten liegen, während eines ihrer seltenen Läufe hingegen schwierig zu beobachten sind.
Das Bild illustriert einen Textabschnitt über die antike ägyptische Stadt Arsinoe, den Münster hauptsächlich aus Strabons Geographie übernommen hat. Dort habe es einen Kult gegeben, bei dem ein als heilig geltendes Krokodil von Priestern mit Opferspeisen gefüttert worden sei. Es folgt ein Abriss über Verhalten und Merkmale der Tiere, der u.a. die Frage aufwirft, ob Krokodile eine Zunge haben oder nicht, auf das wundersame Wachstum der Tiere hinweist, die aus kleinen Eiern schlüpften, und die Gefährlichkeit der Krokodile andeutet. Auch Münster erwähnt im Übrigen Krokodilstränen, deutet sie aber nicht moralisch, sondern bezeichnet sie als sprichwörtlich.4
Münsters Verzicht auf eine christlich-moralische Gleichung ist programmatisch für die Cosmographia: Zwar legitimierte auch Münster seine Studien mit der seit den mittelalterlichen Enzyklopädien topischen Motivation, im Studium der Dinge die Weisheit Gottes zu entziffern.5 Ihm war allerdings weniger an einem theologisch begründeten Weltbild und einer auf die Endzeit hinweisenden Historiographie gelegen; die Cosmographia profanisierte Wissen, wie Detlef Haberland ausführte, um der Gelehrtenwelt der Renaissance ein Handbuch der Staaten und sozialen Systeme, kulturhistorischen Entwicklungen und naturgeschichtlichen Besonderheiten bereitzustellen. Sie stellt damit einen „Paradigmenwechsel von größtem Ausmaß“ und gewissermaßen einen Endpunkt der Chroniktradition dar, an deren Stelle im 16. Jahrhundert bereits die Spezialisierung auf einzelne Bereiche der Naturkunde tritt.6
Für diese war auch der Rang der Bilder von zentraler Bedeutung. Bereits die mittelalterlichen Enzyklopädien waren in illuminierten Prachtausgaben erschienen, doch erst die Druckgraphik hatte zu einer Verbreitung illustrierter Bücher jenseits der höchsten gesellschaftlichen Eliten geführt.7 Entgegen einer im Mittelalter dominierenden Skepsis am Erkenntniswert konkreter Abbildungen, die insbesondere von Augustinus formuliert worden war, hatte in epistemologischer Hinsicht bereits Schedel Bilder als genuine Informationsmedien hervorgehoben.8
Abb. 1: Flugblatt mit der Darstellung eines Nilkrokodils
Den Holzschnitten in der beinahe durchgehend illustrierten Cosmographia kommt Mathew McLean zufolge über einen illustrativen ein ordnender Wert zu, denn ihr Layout unterteilt und betont einzelne Textstellen. Zugleich steigerte die dichte und teils hochwertige Bebilderung die Attraktivität der Publikation.9 Nicht zufällig sind dabei Exoten wie das Krokodil in größerem Format hervorgehoben, galt ihnen doch ein seit der Entdeckung Amerikas gesteigertes Interesse in der europäischen Gelehrtenwelt. Münsters Kompilation antiker Texte über Krokodile ist insofern programmatisch, als die frühneuzeitliche Naturkunde auf die Herausforderung der neuen oder zumindest seit der Antike nicht mehr in Europa gesehenen Arten mit der Auswertung der antiken Literatur reagierte; die Texte des Altertums, nicht die moralisierenden Deutungen des Mittelalters, bildeten die methodische Grundlage der neuzeitlichen Naturgeschichte. Deren weiterhin bestehende theologische Verpflichtung wird aus dem Beibehalten jenes Providentia-Topos ersichtlich, der die Erforschung der Natur als Weg zur Erkenntnis der Weisheit Gottes preist. Münsters Bemühungen, akkurate Bilder von besonders bizarr geformten Tieren wie Deutschs Krokodil, aber auch eine Kopie nach dem berühmten Rhinozeros von Albrecht Dürer in den Text einzufügen, scheint auf eine charakteristische Einstellung dieses Topos in der Frühen Neuzeit zu reagieren, der zufolge das Wirken der Natur bzw. der göttlichen Schöpfung in ihren ungewöhnlichen Ausformungen besonders deutlich zu erkennen sei; wie Lorraine Daston aufzeigte, bildete diese – mit „Neugierde“ unzureichend übersetzte – curiositas gleichsam den Nukleus der frühneuzeitlichen Epistemologie.10
Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Druckgraphik setzte eine regelrechte Kaskade von naturkundlichen Darstellungen ein. Einzelne Bilder wie Dürers Rhinozeros wurden über Jahrhunderte kopiert und fanden selbst noch in Publikationen Verwendung, die sich mit dem Tier durchaus nicht befassen, sondern mit seinem hohen Wiedererkennungswert nur mehr eine generelle Exotik markieren.11 Diese Entwicklung betraf die Wissenszirkulation in der Sphäre der Gelehrtenwelt ebenso wie im populären Bereich, wo einzelne Bilder in Flugschriften und Einblattdrucken verbreitet wurden.
Deutschs Krokodil etwa diente 1564 als Vorlage für eine Reihe von Flugblättern, die das Bild in diversen Variationen in einen neuen Kontext setzen.12 Ein in Straßburg gedrucktes Exemplar zeigt das Bild in der charakteristischen Anordnung zeitgenössischer Flugblätter – das Bild wird also zwischen eine ausführliche, von Reizwörtern geprägte Überschrift und einen erläuternden Text gesetzt – doch bei der insgesamt erkennbaren Orientierung an der Vorlage irritiert auf dem Blatt der median nach oben gerollte Schwanz des Krokodils (Abb. 1); im Übrigen wurde die landschaftliche Einfassung auf einen Hügel reduziert. In der für Sensationsnachrichten typischen Betonung einer authentischen Darstellung des Unglaublichen verschärft die Überschrift den Appellcharakter des Layouts:13 „Warhafftige Beschreibung eines grausamen erschröcklichen grossen Wurms/wölcher zu Lybia in Türckey/an der babylonischen Gräntzen wunderbarlicher weiß gefangen und umbbracht worden ist/der da in Latein Crocodili/und auff Teütsch Lindwurm genennet würt.“
Damit ist ein Teaser für die im Text anschließende Geschichte gesetzt, die denn auch eine Drachentötermär im Ambiente eines Orientalismus avant la lettre bietet. Sie beschreibt das furchtbare Treiben eines Krokodilpaars, das zwei Jahre lang Land und Menschen bei der Stadt „Libia“ terrorisiert habe. Auftritt dann ein Christ in türkischer Gefangenschaft, der sich vom Fang der Tiere seine Freiheit verspricht und sich, nachdem er die Hilfe Gottes erfleht hat, auf die Jagd macht. Er baut eine Falle, die List geht auf, Männchen und Weibchen fallen in die Grube, wo beide 30 Tage lang unter wildem Geschrei vegetieren; das Geschrei der Krokodile sei so schrecklich gewesen, dass es in der nahgelegenen Stadt eine Welle von Fehlgeburten ausgelöst habe. Der Held hingegen hat nun nicht nur seine Freiheit errungen, sondern wird gefeiert und belohnt. Abschließend wird die Hilfe des allmächtigen Gottes gepriesen und der Text nimmt eine Wendung: Der Verfasser gibt in der ersten Person an, er selbst habe „in Libia“ seinem Helden eines der Krokodile abgekauft und wolle nun die Kenntnis der Geschichte einer breiten Öffentlichkeit nicht vorenthalten.
Das einzig erhaltene Exemplar dieses Flugblatts beinhaltet eine handschriftliche Notiz: „Vidi Rostochij, war achzehen II Schuh lang. Hat 66 Zenen“. Wolfgang Harms vermutete wegen dieser Eintragung sowie des reißerischen Texts, dass das Flugblatt als Souvenir eines fahrenden Schaustellers angefertigt wurde, der ein Krokodilpräparat im deutschsprachigen Raum vorführte.14 Das Präparat könnte Ingrid Faust zufolge stark manipuliert worden sein und so als Orientierung für den Holzschneider gedient haben, das Tier mit gerolltem Schwanz darzustellen.15
Bild und Text des Flugblatts tragen somit dazu bei, Kenntnisse über Krokodile neuerlich zu verunklären. Zur Hochzeit der sogenannten Türkengefahr – nach der ersten Belagerung Wiens 1529 – scheint der Text nicht zufällig eine Drachentötung durch eine christlichen Helden im osmanischen Raum zu beschreiben und damit eine etablierte Erzählform des Kampfs gegen das Heidentum zu aktivieren, zumal die Überschrift mit der Übersetzung von Krokodil als Lindwurm deutlich die mittelalterliche Gleichung von Krokodilen und Drachen aufleben lässt; bereits Münster hatte jedoch zwischen beiden unterschieden.16 Dem Text des Flugblatts entspricht die bildliche Verzerrung des Krokodils durch den gerollten Schwanz, der Deutschs Bild mit jenem Reuwichs zu verbinden scheint.
Dieses Bilddetail kann als Pathosformel der Drachendarstellung gelten. Mehrfach gewundene oder gerollte Schwänze sind bereits auf Tierdarstellungen antiker Sarkophage zu sehen; lückenlos zieren sie dann die Darstellung von Drachen, Basilisken und Meeresungeheuern bis weit in die Frühe Neuzeit. Als prominente Beispiele seien nur der Drache auf Paolo Uccellos Darstellung des Heiligen Georg von 1470 oder jener auf Raffaels Heiliger Margarete erwähnt. In der Bildpraxis, Drachen als Mischwesen aus Merkmalen verschiedener, potentiell für den Menschen gefährlicher Tiere zu gestalten, verweist der Schlangenschwanz nicht nur auf die in der Genesis begründete negative Assoziation der Schlange.1 Insbesondere in der Spätrenaissance, als sich gewundene Bewegungen als stilistisches Prinzip etablierten, geriet die Schlangenform, die Figura serpentinata, in den Fokus der Kunsttheorie. Bereits Leonardo da Vinci hat in seinen Tierstudien über diese Windungen als ein motorisches Prinzip der Tierwelt nachgedacht; auf einem Studienblatt, das mehrere Federskizzen von Drachenkämpfen zeigt, notierte er: „Die schlangenartige Bewegung ist die vorrangigste Bewegung bei Tieren und ist zweifach, denn die erste erfolgt längs, die zweite der Quere nach.“2 Und 1584 empfahl Giovanni Paolo Lomazzo bekanntlich die Schlangenwindung in seinem Trattatto dell’arte della pittura als eine Grundlage des Gestaltideals, wofür er als Zeugen immerhin Michelangelo aufrief; für Lomazzo war die Anwendung der Schlangenlinie nichts weniger als „das ganze Geheimnis der Malerei.“3
War die formale Betonung der Schlangenbewegung im 16. Jahrhundert also von der Kunsttheorie verbürgt, erklären Quellen der selben Zeit auch den besonderen Gehalt des Schlangenschwanzes als Symbol für List und Tücke. So zeigt eine Allegorie des Irrglaubens von Antonius Eisenhoit die personifizierte Häresie als schöngewachsenen Frauenakt, der jedoch mit Hirschhufen und Eselsohren sowie den Köpfen eines Drachens und eines Stiers zum Mischwesen mutiert. Neben Bibel, Rosenkranz und Geldbeutel ist ihr ein Mantichor als Begleittier zur Seite gestellt. Von besonderem Interesse ist jedoch der lange Schlangenschwanz, der der Häresie aus dem Steißbein wächst und, zu zwei Rollen gewunden, im rechten Vordergrund in Form einer Pfeilspitze ausläuft. Eine Beischrift erläutert die Bedeutung der einzelnen Motive. Drachenkopf und Stierkopf stünden demnach für Irrlehre und Wildheit, Bibel und Rosenkranz für den erlogenen Gottesnamen und Scheinheiligkeit, der Geldbeutel für Gier. Der Schlangenschwanz schließlich verdeutliche Hinterhalt: „Cauda serpent insidias.“4
Der gerollte Krokodilschwanz auf dem Straßburger Flugblatt mag nur ein Beispiel für die Verzerrung naturkundlichen Wissens auf der populären Ebene des 16. Jahrhunderts sein; tatsächlich folgte auf ihn eine in Antwerpen angefertigte Kopie, auf der das Krokodil jedoch aus einem Gewässer steigt, sodass der Schwanz nicht zu sehen ist. Damit ist nicht nur die offenbar auch von Zeitgenossen für unwahrscheinlich befundene Darstellung eliminiert, sondern zugleich auf die amphibische Lebensweise von Krokodilen hingewiesen. Der Text auf dem Antwerpener Flugblatt beinhaltet denn auch nicht die Geschichte des Drachentöters, sondern eine niederländische Übersetzung des entsprechenden Abschnitts aus Münsters Cosmographia.5 Doch obwohl dieses Flugblatt belegt, dass im 16. Jahrhundert durchaus an der Darstellung von Krokodilen mit gerollten und gewundenen Schwänzen gezweifelt wurde, hielt diese sich, konsolidiert von Kunsttheorie und Symboldenken, mit erstaunlicher Beharrlichkeit.
Ihrer Wirkung vermochte sich offenbar auch Konrad Gessner nicht zu entziehen, der den Eintrag über Krokodile in seinem Thierbuch mit zwei Holzschnitten illustrieren ließ, deren größerer ein Nilkrokodil mit einem wenn nicht gerollten, so doch S-förmig nach oben geschnellten Schwanz zeigt. Die Darstellung widerspricht zunächst Gessners Beschreibung der Tiere, die nach einem Überblick über die Nomenklatur in den europäischen Sprachen hauptsächlich antike Kenntnisse über äußere Merkmale, Verhalten, Verbreitung und Fortpflanzung auflistet, um anschließend auch Besonderheiten wie die Nutzbarkeit von Krokodilen in Küche und Pharmazie zu nennen. Unter den Merkmalen betont Gessner insbesondere die harte Panzerung der Krokodile mit Schuppen, die sie annähernd unverletzbar mache und auch den Schwanz überziehe. In der Kompilation aller verfügbaren Quellen bleiben Gessners Ausführungen selten ohne innere Widersprüche, und so bietet auch sein Kapitel über Krokodile einige Ungereimtheiten, denn auf die Beschreibung des Krokodils als panzerstarrendes Geschöpf folgt eine Szene, in der es ebenso grausam wie agil erscheint:
Aber wann die vom Hunger wütend werden/sollen sie sich so grausam erzeigen/daß sie mit einem Schlag ihres Schwanzes auch die allerstärcksten darnieder schlagen/und sie so dann im Grimm aufffressen.1
Auch wenn dieser Passus nicht behauptet, dass Krokodile ihre Schwänze wie auf den Bildern recken und rollen könnten, gibt er einen vagen Hinweis auf die mögliche Verbreitung entsprechender Vorstellungen; sie mag von den zeitgenössischen Bildern angeregt gewesen sein.
Zu den spektakulärsten Krokodildarstellungen dieser Zeit zählt ein Aquarell aus dem Besitz Erzherzog Ferdinands II.2 Das heute Jacopo Ligozzi zugeschriebene Blatt zeigt ein Krokodil in Seitenansicht vor einer Flusslandschaft. Die Merkmale des Krokodils sind naturnah erfasst, insbesondere die Zähne, die Nackenspalte sowie die mit Schwimmhäuten verbundenen Zehen des hinteren Beinpaars. Allerdings ist der Körper des Tiers caudal nach oben gerichtet; aus der Bewegung ergibt sich ein Schwung, in dem der Schwanz in anatomisch unmöglicher Enge nach vorne gebogen ist. Zwei Details scheinen das Tier in einen erzählerischen Zusammenhang zu setzen: In Hintergrund der Landschaft befindet sich eine antikisierend gestaltete Stadtansicht, den linken Vordergrund schließt hingegen ein Haufen menschlicher Knochen ab, darunter ein Schädel und eine Hand.
Das Bild zählte zu einem Konvolut von 100 Blättern, die Ferdinand II. bei Ligozzi in Auftrag gegeben zu haben scheint.3 Sie zeigen überwiegend adriatische Meeresfauna; die Tiere sind überwiegend in Seitenansicht vor neutralem Hintergrund oder allenfalls auf der Andeutung eines Sandstrandes angeordnet sind. Nur eine kleine Gruppe des Codex weist eine umfangreichere landschaftliche Einfassung auf. Wie die Zeichnungen, die Ligozzi für Aldrovandi geschaffen hat, belegt auch diese Sammlung den erkenntnistheoretischen Wert der Bilder, deren Informationsgehalt allein aus Ligozzis präziser Erfassung entsteht.4
Das Krokodilblatt nimmt einen hybriden Status ein, da nicht die Konzentration auf das Tier, sondern die landschaftliche Kontextualisierung es charakterisiert. Christina Weiler meint in den Knochen im Vordergrund die ikonographische Andeutung einer Seelenwanderung zu erkennen, bei der das Krokodil eine Reinkarnation des verstorbenen Menschen darstelle.5 Eher scheint der Knochenhaufen jedoch auf das Potential des Tiers hinzuweisen, Menschen zu fressen; vergleichbare Fraßattribute finden sich auf zahlreichen Darstellungen von Raubtieren im 16. Jahrhundert.6 Die Ruinenkompartimente im Hintergrund mögen hingegen, wie Weiler schreibt, in einem gängigen ikonographischen Sinn auf das Wiederaufleben der Antike und nicht zuletzt die damit verbundene Neubewertung auch der antiken Naturkunde verweisen;7 die auffälligen Obelisken dürften allerdings auch als Verweise auf Ägypten als Verbreitungsgebiet von Krokodilen zu verstehen sein.8 Selbst im Kontext einer zoologischen Bildersammlung hat jedenfalls die Anatomie der Krokodile den Künstlern Schwierigkeiten bereitet. Auch hier deutet die übermäßige Biegung des Hinterleibs auf die gängige Verzerrung der Darstellung.
Die Naturgeschichten Gessners und Aldrovandis hatten ab dem späten 16. Jahrhundert Kompendien bereitgestellt, die über eine rein naturkundliche Erfassung der Arten hinausgingen; gerade die kulturgeschichtlichen Erweiterungen um Sprichwörter und Symbolwert speisten Material in den frühneuzeitlichen Naturdiskurs ein, das in Allegorien umgesetzt wurde.9
Exemplarisch sind die bereits erwähnten Symbola et Emblemata von Joachim Camerarius, eine vierteilige Reihe von Emblembüchern, die ausschließlich Naturmotive beinhalten. Die einzelnen Bücher sind, da sie je einhundert Embleme beinhalten, als Zenturien bezeichnet; das erste behandelt Pflanzen, die drei übrigen die Tiere der Erde, des Himmels und des Wassers. Als bestechende Leistung dieser Bücher wird heute die Exaktheit zahlreicher Pflanzendarstellungen gewürdigt; als Arzt und Botaniker war Camerarius das Studium in einem eigenen Kräutergarten möglich; überdies bezog er Informationen aus der Korrespondenz mit Gelehrten wie Aldrovandi, Francesco Calzolari und Carolus Clusius.10
Trotz dieser empirischen und um Aktualität bemühten Methoden zeigen die Symbola et Emblemata das Fortleben der mittelalterlichen Allegorese unter neuen Gesichtspunkten auf, denn der ordnende Gedanke des Werks besteht in der Suche nach dem verschlüsselten Sinn hinter der sichtbaren Erscheinung der Natur. Dieser ist jedoch nicht theologisch orientiert, sondern ethisch, denn der Körper und seine Triebe erscheinen als Herausforderung, der nur durch eine kontemplative Lebensweise zu begegnen sei.11
Camerarius versah seine Embleme mit einem kulturhistorischen Apparat, der auf den gegenüberliegen Seiten jeweils eine Auflistung von antiken und modernen Quellen als Belege liefert. In diesem philologischen Zugang zur Naturkunde liegt die Verflechtung von Deskriptivem und Sprichwörtlichem seines Emblembuchs begründet; auch Gessner und Aldrovandi hatten die antike Überlieferung als Basis ihrer naturkundlichen Schriften heran gezogen, in der Auswertung jedoch in verschiedene Sparten unterschieden, die Sprichwörter weiterführend beinhalten.12
Der Ansatz, das naturhistorische Wissen der Antike in Sinnbildern zu visualisieren und zugleich auf abstrakte Sachverhalte umzumünzen, lässt sich an einem Krokodil-Emblem der zweiten Zenturie exemplarisch nachvollziehen. Das Ikon zeigt ein Krokodil an einem Ufer vor offener See, auf der links ein Schiff fährt, rechts einige Felsen eine Insel bilden. Das Tier selbst kauert im rechten Vordergrund, in leichter Aufsicht von rechts nach links gelagert, über dem nackten Leib eines Mannes und vergießt Tränen, wobei sein Schwanz schlängelnd in die Höhe gerichtet ist. Ein zweiter, ebenfalls nackter Mensch nimmt am linken Bildrand mit erhobenen Armen Reißaus. Verstreute Muscheln kennzeichnen die Litoralzone, in der sich das Geschehen abspielt.
Unter dem Lemma „DEVORAT, ET/PLORAT“, gibt das Epigramm Aufschluss über das zu Sehende: „Non equidem ambigui dictis mihi fidere amici,/Certum est, ut lacrymis nec Crocodile tuis.“13 Das Thema des Emblems sind also wiederum die sprichwörtlichen Krokodilstränen als Zeichen falscher Freundschaft, die bereits Plinius beschrieben hatte und die über das Mittelalter durch die Physiologus-Tradition in Europa bekannt blieben, dort allerdings als Mahnung gegen Opportunismus unter Androhung von Höllenstrafen. Camerarius mag im Übrigen hervorragende Abbildungen von Pflanzen verwendet haben; seine Krokodile sind ästhetisch eher unbeholfene Phantasiegeschöpfe, deren Gestaltung hinter dem zeitgenössischen Kenntnisstand zurückblieb. Gleichwohl zeigt auch hier der flammenförmig nach oben züngelnde Schwanz, dass das Detail als Sinnbild des Hinterhältigen verstanden wurde.
Einen charakteristischen Stellenwert erlangten Krokodilpräparate in den Sammlungsräumen frühneuzeitlicher Kunstkammern und Naturalienkabinette. Besonders eindrücklich zeigt etwa das 1599 veröffentlichte Frontispiz zum Sammlungsinventar des italienischen Apothekers Ferrante Imperato das Präparat eines Nilkrokodils, das rücklings von der Decke hängt, sodass sein Rückenpanzer zum zentralen Blickfang der mit zahlreichen Kuriositäten bestückten Zimmerdecke gerät (Abb. 2). Die Belebung des Interieurs mit Besuchern verleiht diesem nicht nur eine die Sammlung gleichsam aktivierende Dynamik.1 Indem der Kupferstich die von Imperatos Sohn gehaltene Führung zweier Edelmänner durch die Sammlung zeigt, offenbart er zugleich den sozialen Prestigegewinn, den bürgerliche Naturaliensammler erzielen konnten; Imperato selbst verfolgt das Geschehen in selbstgewisser Haltung an die Rückwand gelehnt, auf Augenhöhe mit dem hohen Besuch, der die Blicke, geleitet von einem Zeigestab, nach dem Krokodil richtet.
Abb. 2: Das Museum des Ferrante Imperato
Dass Krokodilpräparate zu den erstrangigen Sammlungsstücken der Kabinette zählten, belegt auch Willem Swanenburghs 1610 entstandene Darstellung des Hortus Botanicus in Leiden, der ein Vierteljahrhundert zuvor der Universität angegliedert worden war. Die in Vogelperspektive gezeigte Vedute des Gartens schließt am vorderen Bildrand mit einem separaten Streifen ab, auf dem markante Objekte der universitären Sammlung aufgereiht sind. Zu ihnen zählen drei ausgestopfte Krokodilhäute; zumindest die Schwänze der beiden kleineren Exemplare sind schlängelnd nach oben gewunden.
Die frühneuzeitlichen Naturaliensammlungen entsprachen dem Leitgedanken der Naturgeschichte, die göttliche Schöpfung gerade in ihren außergewöhnlichen Formen zu entschlüsseln. Die zentrale Hängung von Krokodilpräparaten mag dabei einerseits deren Größe geschuldet gewesen sein; in der meist symmetrischen Raumorganisation kommt Krokodilen und anderen Überformaten wie Haien und Würgeschlangen gleichwohl ein herausragender Status zu, den sie als quintessenzielle Exoten erfüllen.
Neben dieser wissenschaftlichen Präsentation konnten Krokodilpräparate jedoch auch in der Frühen Neuzeit als Drachen herhalten. Zum lokalen Wahrzeichen geriet etwa ein Krokodil, das Matthias II. 1608 der Stadt Brünn geschenkt hatte und das dort mit einer Legende in Verbindung gebracht wurde, der zufolge ein Drache einst die Stadt in Angst und Schrecken versetzt habe, dann aber durch den Witz und Mut eines Ritters überwältigt worden sei. Als ‚Brünner Drache‘ hängt bis heute ein Nilkrokodil im Durchgang des Alten Rathauses.2 Die Geschichte zeigt einerseits, dass Krokodilpräparate um 1600 zur herrschaftlichen Repräsentation gehören konnten, da sie als exotische Seltenheiten auf Finanzkraft und weitreichende Verbindungen schließen ließen; Matthias selbst soll das Krokodil von einer türkischen Delegation erhalten haben. Andererseits bietet sie eine Variante des Drachenkampfs als verbreiteter Gründungslegende, die in diesem Fall aber nicht auf die historische Christianisierung, sondern auf das städtische Selbstbewusstsein hinzuweisen scheint. Diese Affirmation des eigenen Rangs war in den Reichsstädten um 1600 verbreitet und äußerte sich maßgeblich in öffentlichen Kunstwerken, deren Ikonographie sich auf die Stadtgründungen bezieht. Auf eine annähernd gleiche Gründungssage wie Brno beruft sich etwa auch Klagenfurt, und die Kärntner Stände ließen ihrem Selbstverständnis 1590 in einer monumentalen Brunnenskulptur Ausdruck verleihen, die einen Lindwurm darstellt.3 Der Vergleich mit dem Brünner Drachen ist darin aufschlussreich, dass der Klagenfurter Lindwurm als Mischwesen aus Schlangenleib mit Pranken, Fledermausflügeln und einer Art Hundekopf kaum Merkmale eines Krokodils aufweist, sein typisch gewundener Schwanz aber eindrucksvoll auf die Bemühungen zeitgenössischer Darstellungen schließen lässt, Krokodile einer geläufigen Drachenikonographie anzugleichen.
Den Status des paradigmatischen Exoten, den Krokodile im Sammlungsgefüge von Kunstkammern und Naturalienkabinetten einnahmen, bestätigt auch ihr Einsatz in der Ikonographie der Erdteile. Die Darstellung der vier Kontinente Europa, Asien, Afrika und Amerika als Personifikationen mit charakteristischen Attributen aus Kultur und Natur gehört zu den verbreitetsten Themen frühneuzeitlicher Bildprogramme. Ihre definitive Anweisung formulierte Cesare Ripa in der zweiten Ausgabe seiner Iconologia von 1603, in der er zugleich die eigentliche Bedeutung des Zyklus als Bekräftigung der europäischen Vorrangstellung in der Welt umriss. Demnach solle Europa als Trägerin der einzig wahren Religion mit imperialen Zügen hervorgehoben werden. Ihr und der annähernd gleichwertigen Erscheinung Asiens stehen als unzivilisierte Erdteile Afrika und Amerika gegenüber, die Ripa vornehmlich anhand wilder und gefährlicher Tiere bestimmt. Ripa orientierte sich für seine Entwürfe an antiken Text- und Bildquellen, auf die auch die Personifikation von Ländern bzw. Erdteilen als weibliche Figuren zurückgeht; für die Charakterisierung Amerikas berief er sich auf die Reiseliteratur seit Kolumbus und Vespucci.
Ihr entnahm er auch das für die amerikanischen Indigenen lange Zeit bemühte Stereotyp der Anthropophagie, das auf die vermeintliche Beobachtung von Menschenfleisch in den Vorräten brasilianischer Tupi durch Vespucci zurückging und in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts auf grausame Weise bestätigt schien. Ripa schildert die Personifikation Amerikas dementsprechend als menschenfressende Amazone, deren Streitbarkeit durch ihre Bewaffnung mit Pfeil und Bogen und deren Anthropophagie durch einen pfeildurchbohrten Menschenkopf zu ihren Füßen zu verbildlichen sei. Als Begleittier weist er ihr ein Krokodil zu, das nicht nur für die gefahrvolle Fauna Amerikas stehe, sondern als Menschenfresser der Anthropophagie der Personifikation entspreche: „La lucerta, overo liguro sono animali fra gli altri molto notabili in quei paesi, peri òche sono grandi, &fieri, che devorano non solo li altri animali: ma gl’huomini ancora.“1
Abb. 3: Ein Nilkrokodil als Attributtier der Personifikation Afrikas
Noch schärfer als Ripa hatte der niederländische Kupferstecher Adriaen Collaert bereits 1589 ein Krokodil als Alteritätszeichen eingesetzt. In einer Serie von Erdteil-Allegorien nach Entwürfen von Maerten de Vos ordnete er es allerdings nicht Amerika, sondern Afrika als Begleittier zu (Abb. 3). Der muskulöse Akt der Personifikation reitet auf dem von rechts nach links durchs Bild stolzierenden Reptil, das die umgebende Natur geradezu subsumiert. Diese besteht aus einer schroffen Weltlandschaft voll wilder Fauna, im Hintergrund einerseits durch Palmen als exotisch markiert, andererseits durch einen Obelisken und ein Aquädukt auf die Bedeutung Nordafrikas in der Antike verweisend. Die paradigmatische Erscheinung des Krokodils wird links durch die Gegenüberstellung seines Mauls mit dem eines (phantastisch gestalteten) Nilpferds betont, rechts durch die Parallelisierung seines schleifenförmig gewundenen Schwanzes mit einem verschlungenen Schlangenpaar; diese Form wird im linken Mittelgrund überdies in der Figur eines Basilisken aufgenommen, der auf die in der antiken Literatur beschriebenen Wundertiere des afrikanischen Hinterlands verweist und als vermeintlich todbringendes Geschöpf ein besonderes Faszinosum der frühneuzeitlichen Naturkunde bildete.
Das Motiv einer Krokodilreiterin mag bizarr erscheinen, doch dürfte es von einer Plinius-Passage motiviert gewesen sein, der zufolge ein legendäres Volk in Afrika einst Krokodile soweit zu zähmen verstanden hätte, dass es sie als Reittiere nutzen konnte. Collaert gelang durch diese Darstellung jedenfalls die Suggestion beinahe magisch mit der Natur verbundener Ethnien, die einen umso größeren Gegensatz zu den europäischen Kulturgesellschaften bilden, als die von ihnen harmonisierte Fauna als heimtückisch und giftig dargestellt wird.
Die Vermutung, es habe manipulierte Krokodilpräparate gegeben, deren Schwanz nach dem Vorbild von Drachendarstellungen gerollt war, wird auch von den Krokodilen genährt, die Peter Paul Rubens gemalt hat. Rubens hat in mindestens drei Monumentalgemälden Krokodile dargestellt. Das früheste zeigte Neptun und Amphitrite und verbrannte 1945 in Berlin; auf ihm war das Götterpaar von mythologischen Figuren und wilden Tieren umringt, zu denen auch ein von rechts ins Bild schwimmendes Krokodil gehörte, auf das sich spielerisch eine Nereide lehnte. Die auch auf der fotographischen Reproduktion erkennbare Nahtstelle auf der Nackenspalte lässt darauf schließen, dass Rubens sich an einem ausgestopften Präparat orientiert haben dürfte. Er wiederholte das Motiv auf den Vier Flüssen des Paradieses von 1615, auf denen das Krokodil als Attributtier des Nils von links ins Bild schwimmt und von Putten umspielt wird. Bei beiden Gemälden fällt auf, dass die Krokodile vom Bildrand abgeschnitten werden; nur der allerdings deutlich nach oben gerollte Ansatz ihrer Schwänze ist zu erkennen.
Rubens’ berühmtestes Krokodil ist allerdings das auf der Jagd auf Nilpferd und Krokodil von 1616.1 Das Gemälde zeigt den Höhepunkt des Jagdgeschehens, bei dem die beiden Tiere von drei berittenen Jägern und deren Treibern in die Zange genommen und nun mit Lanzen niedergestochen werden sollen. Im Tumult trampeln sie über einander; grausame Details wie die Quetschungen, die die gefallenen Treiber erleiden, und die Bisse, mit denen sowohl die Hunde als auch ein Pferd ihren Opfern zusetzen, steigern die Dynamik der Darstellung. Sie verdichten auch den Eindruck einer Bewährungsprobe, der die Jagd ikonographisch in Parallele zum Krieg setzte und im kaltblütigen Jäger Ideale des Regierens spiegelte. Hierzu trägt auf Rubens’ Bild die äußerste Wildheit der Beute bei, zumal derartige Exoten in Europa kaum je, zumindest aber nicht lebend zu sehen waren.
Arnout Balis nahm an, dass Rubens das Nilpferd auf der Grundlage von Studien zweier ausgestopfter Exemplare gemalt haben dürfte, die 1601 in Rom ausgestellt worden waren.2 Angesichts der hohen Ähnlichkeit der drei Krokodile, die Rubens gemalt hat, ließe sich für dieses Tier eine ähnliche Vermutung anstellen. Mehr noch scheint es sich um ein manipuliertes Präparat mit nach oben schlängelndem Schwanz gehandelt zu haben, den Rubens zweimal durch den Bildrand abschnitt, in der Jagd auf Nilpferd und Krokodil hingegen überzeugend in die Komposition eintragen konnte, da dieses Krokodil zwischen den Jägern und dem Nilpferd eingeklemmt erscheint. Es sei im Übrigen erwähnt, dass Rubens mit dem Thema kaum am zeittypischen Exotismus gelegen haben dürfte; eher scheint der Bericht über ein römisches Relief, auf dem eine Krokodiljagd dargestellt war, den humanistisch gelehrten Künstler zur Nachbildung des Sujets motiviert zu haben.3
Abb. 4: Soutmans Kupferstich nach Rubens’ Jagd auf Nilpferd und Krokodil
Rubens’ Jagdgemälde wurde in der druckgraphischen Version seines Kupferstechers Pieter Claesz. Soutman vervielfältigt (Abb. 4). Von dieser Vorlage übernahm der flämische Maler Jan van Kessel Rubens’ Nilpferd und Krokodil für einen 1664–1666 entstandenen Erdteile-Zyklus, der auf vier von jeweils sechzehn kleinformatigen Landschaften umgebenen Allegorien das Thema ausreizt. In womöglich bewusster Analogie zur Kompilatorik der zeitgenössischen Naturgeschichte versammelte van Kessel dafür eine Unzahl von Bildvorlagen aus zoologischen Publikationen und Reiseberichten, die er gleichberechtigt mit Tierdarstellungen aus der flämischen Malereitradition verband, und versah die allegorischen Bilder so mit dem Anschein wissenschaftlicher Präzision.
Abb. 5: Jan van Kessels Ansicht von Havanna
Die Ansicht von Havanna zeigt Krokodil und Nilpferd in einem neuen Zusammenhang, in dem sie nicht von Jägern bedrängt werden, sondern als vermeintliche Vertreter der kubanischen Fauna erscheinen, die mit Imponiergehabe um ein erlegtes Krokodil streiten; ein weiteres Krokodil reckt von rechts den Kopf in die Szene, während verstreute Knochen, darunter der Kinnbacken eines Esels sowie ein Menschenschädel, auf vergangene Fressräusche schließen lassen. Van Kessel münzte Rubens’ Vorlage damit auf die Amerika-Ikonographie um und setzte die kannibalischen Krokodile in Analogie zur angeblichen Anthropophagie der amerikanischen Indigenen.4 Hatte Rubens versucht, die unwahrscheinliche Schanzenform des Krokodilschwanzes in der dicht gedrängten Komposition zu kaschieren, so scheint van Kessel sie als Zeichen für das durchtriebene Verhalten des Tiers extrapoliert zu haben. Dies erscheint umso naheliegender, als der Maler auch mehrere Krokodilmotive nach Camerarius in den Erdteile-Zyklus integriert hat; die Reptilien zucken und schlängeln und verheißen nichts Gutes in den fernen Gefilden.
Abb. 6: Maria Sibylla Merians Kampf zwischen einem Kayman und einer Korallenschlange
Die Zählebigkeit, mit der sich die Schlangenschwanz-Formel hielt, wird an zwei berühmten Krokodildarstellungen des 18. Jahrhunderts deutlich. 1719 erschien die zweite, erweiterte Ausgabe von Maria Sibylla Merians Metamorphosis insectorum Surinamensium, die die Darstellung eines Kampfs zwischen einem Kaiman und einer Korallenschlange beinhaltet (Abb. 6). Die beiden Reptilien winden sich in Seitenansicht um einander; der neutral gehaltene Hintergrund und der lediglich als Fläche markierte Vordergrund gewährleisten die Konzentration auf die beiden Tiere, die mit so hoher mimetischer Präzision gestochen sind, dass die Form und Lage jeder einzelnen Schuppe nachvollziehbar wird. In einem Detail zeigt das Bild den Anlass des Kampfs, denn die Schlange ist eine Nesträuberin und lässt in ihrer Gier nicht einmal vom Ei des Kaimans ab, als dieser sie bereits mit seinen nadelspitzen Zähnen fixiert hat. Das Fortbestehen der Art bleibt ohnehin gewährleistet, denn im Schutz der Hinterbeine des Muttertiers schlüpft soeben ein Jungtier aus einem weiteren Ei. Merian hat den Kampf in geradezu ornamentalen Windungen komponiert, wobei sich insbesondere die Schlange in zwei Schleifen in die Höhe zu recken scheint. Dort wird sie von dem spiralförmig gerollten Schwanz des Kaimans gehalten; die Formen lassen den Kraftakt, in der Luft zu ringen, geradezu physisch spürbar werden.
Das Bild sticht aus seinem Kontext heraus, denn die Metamorphosis insectorum Surinamensium, in erster Auflage 1705 erschienen, waren das Ergebnis eines Aufenthalts Merians in der niederländischen Kolonie Surinam von 1701 bis 1702, wo Merian Insekten und Pflanzen studierte, Proben sammelte und Zeichnungen anfertigte. Das Buch zeigt die Ergebnisse in kolorierten Kupferstichen, die von Texten kommentiert werden. Ihr typischer Aufbau verbindet von unten ins Bild rankende Pflanzenstängel mit Blättern und Blüten sowie Insekten in verschiedenen Entwicklungsstadien zum Überblick eines je spezifischen Biotops. Nur auf einigen Tafeln fügte Merian weitere Tierarten wie Schlangen und Eidechsen hinzu, verband diese Darstellungen allerdings mit der Aussicht auf eine eigenständige Publikation zur südamerikanischen Fauna, die jedoch nicht erscheinen ist.1 Womöglich war die Darstellung des Kaimans ursprünglich dafür vorgesehen.
Ihr ging eine Zeichnung voraus, auf der Kaiman und Korallenschlange zwar in der gleichen Position kämpfen, der Anlass dazu aber unterschlagen bleibt, da das Bild nicht die Eier des Kaimans zeigt.2 Nicht nur die etwas willkürliche narrative Einbindung des Sujets für die druckgraphische Publikation legt die Vermutung nahe, dass Merian die Kampfszene kaum auf der Grundlage eigener Beobachtungen gezeichnet haben dürfte.3
Auch der Text von Merians Publikation erwähnt den Kampf nicht, sondern beschreibt den Kaiman in allgemeinen Zügen und geht kaum über jene Erkenntnisse hinaus, die bereits auf den Flugblättern des 16. Jahrhunderts über Krokodile verbreitet wurden. Dies gilt besonders für die Beschreibung des Tiers als Marodeur: Es handle sich um Krokodile, die von den Indianern „Caymans“ genannt würden, sie seien große, sehr kräftige und gefährliche Raubtiere und lebten zu Wasser wie zu Lande. Unvorstellbar sei ihr Wachstum, da sie aus kleinen Eiern schlüpften und ihre ursprüngliche Größe in kurzer Zeit um ein Vielfaches überträfen. Zweimal geht Merian auf die Schuppenpanzerung der Tiere ein: „Vorne der Oberkörper und der Schwanz sind stark geschuppt und so hart, dass sie unverletzbar sind. […] wenn sie sich mit ihren Körpern wenden und kehren könnten, würde ihnen nichts entkommen.“4
Damit widerspricht der Text deutlich den übersteigerten Windungen, in denen Merian den Kaiman zeichnete. Sie entsprechen als Fortführung der Schlangenschwanz-Tradition allerdings den gestalterischen Prinzipien von Merians Darstellungen exotischer Flora und Fauna, die, wie Susan Owens darlegte, auf Spiralformen beruhen und zur Steigerung ihrer Wirkung auch den Bildrand sprengen können.5
Merians Bild sollte für die Vorstellung von Kaimanen in Europa umso prägender bleiben, als es noch 1797 als Vorlage für eine Illustration der dritten Auflage der Encyclopædia Britannica diente. Diese zeigt schautafelhaft acht Echsen, von denen dem Kaiman im unteren Bilddrittel der meiste Raum zukommt; er ist auch als einzige Art zweifach vertreten, da ihm das schlüpfende Jungtier aus Merians Stich hinzugefügt wurde. Eine Irritation geht davon aus, dass der zuständige Kupferstecher Andrew Bell Merians Kaiman zwar recht präzise kopierte, dessen gewundene Haltung aber durch den Verzicht auf die Korallenschlange um ihren Zusammenhang brachte.
Das Rokoko-Krokodil par excellence stach jedoch Jacobus Houbraken für Albert Sebas Thesaurus, dem visuellen Kompendium zu einer der größten Naturaliensammlungen der Zeit. Noch rigoroser als bei Merian sind die Seiten dieser vier zwischen 1734 und 1765 erschienenen Bände nach dem Prinzip symmetrischer Spiralen organisiert, die insbesondere die zahlreichen Schlangen wie schleichende Rocailles aussehen lassen. Selbst ein Alligator, den Seba wie die meisten seiner Stücke direkt von den Landungsplätzen der Ost- und Westindischen Handelskompanien in Amsterdam in Empfang genommen haben mag, muss sich diesen Stilvorgaben fügen.6