These Girls, too -  - E-Book

These Girls, too E-Book

0,0

Beschreibung

Über prägende Role Models von den 1920ern bis heute Bessie Smith wurde vor 100 Jahren ein Weltstar, obwohl eine solche Karriere für eine weibliche, aus armen Verhältnissen stammende Afroamerikanerin höchst unwahrscheinlich war. Viele unwahrscheinliche Karrieren unglaublicher Musikerinnen später kann man sagen: Die Musikbranche ist immer noch männerdominiert. Dabei gibt es in jedem Genre und jeder Gegend Frauen, die mit ihrer Musik die Welt veränderten. Ihre Geschichten erzählt dieses Buch: Von Billie Holiday bis Billie Eilish, von Dollywood bis K-Pop, von Moe Tuckers eigensinnigem Schlagzeug zu Amy Winehouse' eigensinniger Stimme. Geschichten über Empowerment und Empathie, über Durchsetzungsvermögen und Durchdrehen, über Leidenschaft und Liebeslieder. Wie bereits im ersten Vorgängerbuch »These Girls. Streifzüge durch die feministische Musikgeschichte« schreiben Journalist:innen und Musiker:innen, Fans und Freunde über Bands, die sie geprägt haben, über Künstlerinnen, die den Feminismus eine neue Facette gaben, über Lieblingsplatten, Lebenswerke und Lieder, die sie mitgrölen – vom Klassiker bis zum Außenseitertipp. Über Frauen, die Musikgeschichte geschrieben haben oder einfach gute Songs. Nicht jede ist eine Weltstar geworden, aber jede eine Inspiration. Mit Texten von Paula Irmschler, Franz Dobler, Sibel Schick, Jacinta Nandi, Ted Gaier, Nina Kummer, Linus Volkmann, Kersty und Sandra Grether, Ebba Durstewitz, Kuku Schrapnell und vielen anderen über Gudrun Gut, Britney Spears, Mercedes Sosa, Gianna Nannini, Sibylle Baier, Joan Jett, Little Simz, Vashti Bunyan, Billie Eilish, Stevie Nicks und zahlreiche weitere Musiker:innen. »Kurzweilig zu lesende feministische Texte über weibliche Role-Models in der Musik. Lesen!« – Die Zeit über »These Girls. Streifzüge durch die feministische Musikgeschichte«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 568

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Juliane Streich (Hg.)

THESE GIRLS, TOO

Feministische Musikgeschichten

Dieses Buch wurde mit einem Stipendium der VG WORT im Rahmen von Neustart Kultur gefördert.

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz, 2022

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN print 978-3-95575-169-2

eISBN 978-3-95575-623-9

Lektorat: Jonas Engelmann

Covergestaltung und Illustrationen: Tine Fetz

Ventil Verlag, Boppstr. 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

Inhalt

Intro

Juliane Streich

1920er–1950er

Bessie Smith

Julia Neupert

Billie Holiday

Franziska Buhre

Sister Rosetta Tharpe

Lisa Rölle

Juliette Gréco

Jennifer Ressel

Eartha Kitt

Pola Dobler

Violeta Parra

Gaston Kirsche

Jutta Hipp

Sigrid Fahrer

Shirley Collins

Holger Adam

Anne Sylvestre

Frédéric Valin

Dolly Parton

Cornelia Friederike Müller aka CFM

1960er

Carol Kaye

Franziska Reif

Astrud Gilberto

Laura Schwinger

Wendy Rene

Kristof McIlwain

Tuca

Ebba Durstewitz

Vashti Bunyan

Steffen Greiner

Moe Tucker

Didi Neidhart

Suzi Quatro

Didi Neidhart

Meredith Monk

Katharina Schmidt

Phyllis Dillon

Diviam Hoffmann

Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad

Elke Wittich

June Tyson

Jonas Engelmann

Helen Reddy

Laura Schwinger

Stevie Nicks

Anna Seidel

1970er

Sibylle Baier

Jonas Engelmann

Uschi Brüning

Petra Mewes

Éliane Radigue

Dirk Dullmaier

Loleatta Holloway

Vina Yun

Jutta Weinhold

Stefan Gnad

Gianna Nannini

Jana Marie Sand

Jayne Cortez

Julian Weber

Grace Jones

Christina Mohr

Sunny

Frank Apunkt Schneider

Hazell Dean

Jacinta Nandi

Joan Jett

Andreas Rauscher

Bettina Wegner

Lucia Baumann

Lucinda Williams

Stefan Glander

Delta 5

Caroline Scheer

1980er

Carambolage

Sandra Grether

Toody Cole

Du Pham

Östro 430

Christina Mohr

Vivien Goldman

Katharina Grabowski

Xmal Deutschland

Ulrike Nimz

Diamanda Galás

Lea Matika

Pauline Anna Strom

Steffen Greiner

Doro Pesch

Julie Miess

Sade

Jeannine Baillieu

Jun Togawa

Dirk Dullmaier

Salt-N-Pepa

Christina Mohr

Whitney Houston

Claudia Euen

Sabina Classen

Stefan Gnad

Tožibabe

Janna Nehls

Cesária Évora

Yannik Gölz

Dybbuk

Alexander Pehlemann

MC Lyte

Vina Yun

Alanis Morissette

Christoph Herms

Les Reines Prochaines

Hans Plesch

Lisa Marie Simpson

Benjamin Heine

1990er

Holly Golightly

Du Pham

Rockbitch

Tobias Prüwer

Heike Rädeker

Peer Göbel

Shampoo

Jacinta Nandi

Elastica

Kerstin Petermann

Aaliyah

Sarah Ulrich

Tanya Stephens

Philipp Weichenrieder

Feist

Wencke Wollny

Kemistry & Storm

Philipp Weichenrieder

Ebba Durstewitz

Myriam Brüger

Özlem Tekin

Sibel Schick

Heather Leigh

Holger Adam

Barbara Morgenstern

Katja Röckel

Miss Kittin

Sarah Ulrich

Britney Spears

Linus Volkmann

Cobra Killer

Elke Wittich

2000er

Regina Spektor

Jan-Niklas Jäger

Amy Winehouse

Kersty Grether

Kat Frankie

Benjamin Heine

Dota Kehr

Stella und Irmtraud Hnilica

CocoRosie

Birte Fritsch

Strawberry KaeyK

Jasper Nicolaisen

Lena Stoehrfaktor

Kersty Grether

LaFee

Nina Kummer

Cooly G

Anja Thümmler

Candelilla

Christina Gehrlein

2010er

Angel Olsen

Olivia Braun

Kae Tempest

Birte Fritsch

Courtney Barnett

Benjamin Moldenhauer

Damenkapelle (aus München)

Franz Dobler

Brittany Howard

Karin Rabhansl

Pussy Riot

Kuku Schrapnell

Little Simz

Katharina Grabowski

Big Joanie

Gary Flanell

Sevdaliza

Safi

070 Shake

Sebastian Ingenhoff

Sampa the Great

Felix Riedel

Hayiti

Pablo Dominguez Andersen

Moor Mother

Benjamin Moldenhauer

Billie Eilish

Paula Irmschler

Princess Vitarah

Felix Riedel

Laura Les

Kuku Schrapnell

Blond

Juliane Streich

Angel Bat Dawid

Ted Gaier

Dives

Anna-Leena Lutz

Girl in Red

Martha Röckel

Eunique

Lena Cara Wernhöfer

Loona

Yannik Gölz

Koffee

Jonas Kiß

Malonda

Linus Volkmann

Alyona Alyona

Juliane Streich

Autor:innen

Bildnachweise

Intro

Letztens in der Kneipe. Wir trinken Bier, rauchen und gründen mal wieder eine Band. Da keine von uns ein Instrument spielen kann oder sonst irgendwie musikalisch begabt ist und vor allem ohne großen Ehrgeiz, ist der Moment der Bandgründung immer ein sehr bedeutender, weil wahrscheinlich nicht nur der erste, sondern vermutlich auch der letzte Moment der Bandgeschichte überhaupt. Besonderer Fokus liegt also auf dem Bandnamen. Und diesmal haben wir einen wirklich guten, einen, den wir mit Freude auf Tausende Band-T-Shirts drucken würden in blutroter Schrift: Menopause. Ein Name, bei dem man sich wundert, dass es ihn noch nicht gibt, beinhaltet er doch alles, was einen guten Bandnamen ausmacht und was wir gerne vermitteln wollen: Tabu, Schweiß und Tränen, das Gefühl nicht mehr zu funktionieren, das Ende des Fortpflanzungsdrucks und des Jugendzwangs, also Freiheit und zudem Weiblichkeit – denn welcher Mann ist schließlich in der Menopause? Nur wenige.

Über Musikerinnen und Bands, die es zu mehr als nur einem Namen gebracht haben, erzählt dieses Buch wieder mehr als hundert Geschichten. Denn dafür, dass Mädchen und Frauen Musik machen, sind Vorbilder, Role Models, erzählte oder erlebte Biografien sehr ausschlaggebend, das hat der erste Band von These Girls schon gezeigt und erläutert.

Als der Ende 2019 herauskam, hat natürlich niemand geahnt, wie es weiter gehen wird. Schon gar nicht, dass jahrelang eine Pandemie das beherrschende Thema sein wird. Was wir allerdings damals schon geahnt oder vielmehr gewusst haben, war, dass es so viele tolle, bemerkenswerte Musikerinnen da draußen gab und gibt, dass man ganze Bücherregale mit ihnen füllen sollte. Plattenregale sowieso. Ein zweiter Teil war also mehr als naheliegend.

Mitunter bekommt man das Gefühl, dass der Teil in der Gesellschaft, der sich bewusst ist, dass Frauen in der Musik immer noch unterrepräsentiert sind, also seltener gebucht, interviewt, präsentiert, bejubelt werden, immer größer wird und damit auch die Zahl derjenigen, die versuchen, etwas dagegen zu tun und Musikerinnen zu supporten. Initiativen wie MusicWomen gründen sich in ganz Deutschland, Clubs kümmern sich um Awareness-Teams und setzen sich kritisch mit Sexismus in ihren Räumen und am DJ-Pult auseinander, Festivals mit fast nur Männern im Line-up kriegen zumindest ein paar kleine Shitstorms ab und Bands, in denen Frauen mitspielen, gelten irgendwie als cooler.

Wie gesagt: Man bekommt das Gefühl, dass das so ist. Aber was weiß man schon? Auf wie vielen Konzerten, Festivals, Clubnächten war man denn? Und damit sind wir mittendrin in der Misere, oder schlimmer gesagt in den Miseren der letzten Jahre. Die Corona-Pandemie hat den Kulturbereich und die Musikszene hart getroffen, zwischenzeitlich nahezu zum Erliegen gebracht und viele Entwicklungen einfach ausgebremst. Wenige Wochen nach der vollen und feuchtfröhlichen Release-Party von These Girls im Conne Island, war Schluss mit vollen und feuchtfröhlichen Partys und Konzerten im Conne Island und allen anderen Clubs. Viele Musiker:innen und DJs, die bis dahin von ihrer Musik irgendwie leben konnten, standen schnell vor der Frage, welchen anderen Job sie denn jetzt machen könnten – genau wie Booker:innen, Clubbesitzer:innen, Veranstalter:innen und eigentlich alle, die mit der Konzert- und Ausgeh-Branche zu tun hatten.

Die Pandemie beförderte zudem einen Rückschritt bei der Geschlechtergerechtigkeit. Sie traf Frauen härter als Männer, überwunden geglaubte Rollen-Klischees kehrten zurück. Als Schulen und Kitas schlossen, übernahmen die nun zusätzlich anfallende Sorgearbeit vor allem die Frauen – auch in Familien mit einer vormals gleichberechtigten Verteilung unbezahlter Arbeit, wie die Hans-Böckler-Stiftung herausfand. Viele andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Frauen traf die Pandemie härter. Der Glücksatlas eruierte zum Beispiel, dass zwar alle Deutschen an Lebenszufriedenheit verloren, aber Frauen deutlich mehr als Männer. Und das betraf nicht nur Mütter. Besonders überraschend seien die großen Glückseinbußen von jungen Frauen bis 25 Jahre gewesen, hieß es im Bericht.

Zusammengefasst kann oder muss man also sagen: Musikerinnen traf es doppelt hart. Ungünstiger Job, ungünstiges Geschlecht. Dass die Stimmung allgemein schlecht war und die Lage irgendwie allen zu schaffen machte (und ich schreibe hier in der Vergangenheit weniger mit dem Wissen, dass wir die Pandemie nun tatsächlich hinter uns haben, sondern vielmehr mit der Hoffnung auf eine bessere Zeit), bemerkte ich auch an der Arbeit an diesem Buch, an dem fast 100 Menschen mitwirkten. Auffällig mehr Autor:innen als beim ersten Band hatten Trouble mit den Texten, immer wieder kamen E-Mails, in denen stand: »Ich krieg gerade nichts auf die Reihe«, »hier ist zu viel zu tun«, »ich bin krank«, »ich kann mich nicht konzentrieren« oder »tut mir leid, ich hab‘s einfach nicht geschafft«. Die Gründe für die allgemeine Überforderung und schlechte Laune waren vielfältig: Tatsächliche Virus-Infektion und Long Covid, Geldprobleme oder zu viel Arbeit und vor allem zu wenig Ausgleich. Spazieren gehen ist zwar schön, aber reicht nicht fürs Glück. Es fehlten Begegnungen mit Menschen, die nicht am Bildschirm stattfanden. Umarmungen, Berührungen und spontane Gespräche, in denen mal nur Quatsch erzählt wurde. Abendbeschäftigungen, die nicht darin bestanden, aufs Handy oder in den Fernseher zu starren, um mitgeteilt zu bekommen, dass der Zustand der Welt immer katastrophaler wurde – Klimakrise, Krieg, Kapitalismus mit reicher werdenden Reichen und ärmer werdenden Armen. Da war die Pandemie nur ein i-Tüpfelchen.

Und all das macht ja was mit den Menschen: Die Kollegin, die sagt, sie kann nicht mehr, weil immer nur Job-Kind-Job-Kind und nichts anderes mehr dazwischen kommt. Die Bekannte, die man seit zwei Jahren nicht gesehen hat, weil man sich nicht so gut kennt, dass man sich anruft, aber sonst regelmäßig auf Konzerten und Partys traf und jedes Mal Spaß zusammen hatte. Die Freundin, die inzwischen unter Burnout und Depression leidet. In der einen Woche, in der wir abends auf mehrere Konzerte gehen, weil es gerade wieder möglich ist, blüht sie richtig auf.

Musik ist wichtig, Kultur, Ausgehen, Tanzen – all das. Keine Ahnung, ob es wirklich systemrelevant ist, das kommt am Ende aufs System an. The only good system is a sound system, heißt es ja so schön auf Club-Klo-Schmierereien. Aber ohne tanzende Menschen bringt einem auch das geilste Soundsystem nichts. »Wer nicht ausgeht, geht ein«, hab ich auch mal irgendwo gelesen. Stimmt wohl. »Last Night The DJ Saved My Life«, auch oft wahr gewesen. Wenn es keine DJs gibt, wer rettet unseren Broken Hearts dann das Leben?

Musik war aber zum Glück immer noch da. Virus hin oder her. Und wie sehr Musik das Leben beeinflussen und bereichern kann, davon erzählen die Geschichten in diesem Buch. Geschichten von Frauen, die sich mit Hilfe ihrer Songs und Sounds ausdrücken konnten. Die damit Politik gemacht haben. Die mit Musik Menschen zum Weinen gebracht haben. Oder zum Widerstand. Ihre Wut rausließen. Frauen, die sich durchsetzen mussten. Frauen, die gefeiert wurden. Oder gefeuert. Die Geschichten all dieser unterschiedlichen Frauen unterschiedlicher Genres geben Inspiration und Ideen. Ideen, wie man sich ausdrücken kann. Ideen, wie man mit Kummer und Schmerz, Freude und Euphorie, Melancholie und Missgunst umgehen kann. Manchmal helfen sie einem auch, wenn man wieder rumjammert, wie schlimm alles ist. Denn es sind nicht nur Erfolgsstorys dabei, sondern auch welche, die vom harten Leben erzählen. Und schon ist das eigene Problem im Vergleich zu vielen anderen doch nur ein Witz. Manchmal gibt es kein Happy End, ist leider so.

Apropos Happy End. Eine bislang als gescheitert geltende Band hat es doch noch zu Erfolg gebracht. Also wenn man 179 Klicks auf YouTube als Erfolg feiern will. Meine Ex-Band Toff, die es tatsächlich mal kurz gab und deren kurze Geschichte, die längst als beendet galt, im ersten These Girls-Buch kurz skizziert wurde, hat es mit der wiedergefundenen Kassetten-Aufnahme des »Klolied« geschafft, dass Menschen mitschnipsen, wenn ich es auf Lesungen vorspielte. Vielleicht wird also doch noch alles gut.

In diesem Sinne und mit dieser Hoffnung will dieses Buch nicht nur von prägenden Musikerinnen erzählen, sondern natürlich auch empowern, also greift zu den Instrumenten, liebe Frauen, und wenn ihr keine habt, nehmt die Demo-Taste eures Keyboards, beatboxt oder ladet euch ein Programm herunter, das das für euch macht. Oder denkt euch zumindest schon mal einen Bandnamen aus.

Und mit Frauen meine ich alle, die sich angesprochen fühlen. Denn bewusst werden in diesem Buch auch Musikerinnen porträtiert, die mal männlich gelesen wurden oder die sich keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Denn Feminismus bedeutet Gleichberechtigung, Diversität und Teilhabe für jede:n!

Viel Spaß beim Lesen! Und auch beim Hören – die passende Musik zum Buch findet ihr wieder auf Spotify unter »these girls too. der soundtrack zum buch«.

Bessie Smith| Julia Neupert

Erste Aufnahmen 1923

Ihre Stimme übertönt noch heute alle Nebengeräusche: Das Knistern und Knacken der alten Aufnahmen genauso wie die sensationslüsternen Geschichten zu ihrem Leben, das uns gerne als Trash-Drama präsentiert wird, und an dessen Ende sie 43-jährig an den Folgen eines Autounfalls stirbt.

»Sing ’em, sing ’em, sing them blues / let me convert your soul«. Knapp drei Minuten lang ist die Aufnahme des »Preachin’ Blues« von 1928 – sie wirkt wie ein Energy Shot. Bessie Smith singt mit einer kraftvollen Entschlossenheit, die auch knapp ein Jahrhundert später noch eine schockierende Wirkung hat. Dabei ist es eher ein Sprechgesang als vermeintlich hohe Vokalkunst. Bessie Smith performt schlicht und eher geradeaus, mit voller Konzentration auf den Text, dem sie Wort für Wort mit ihrer Stimme eine intensive Bedeutung gibt. Gerade im Vergleich zu anderen Aufnahmen aus dieser Zeit – von der Chanteuse Marion Harris etwa – klingt Bessie Smith wie von einem anderen Stern.

Nicht umsonst trug sie schon zu Lebzeiten den Titel »Empress of the Blues«. Der Kaiserin liegt in den 1920er Jahren ein Millionenpublikum zu Füßen, Singles mit ihren Songs verkaufen sich zu Hunderttausenden, wenn sie mit einer Show in die Gegend kommt, ist der Andrang auf die Tickets riesig. Bessie Smith war nicht nur die erste Schwarze Frau, die als Künstlerin enorm erfolgreich war, sondern überhaupt der erste große Musikstar Nordamerikas – eine Popikone.

Geboren wurde Elisabeth Smith 1894 in Chattanooga, Tennessee. Die Eltern sterben beide, bevor sie zehn Jahre alt ist. Schon früh verwaist, wächst sie mit ihren Geschwistern in einer Umgebung auf, in der klar war: Echte berufliche Perspektiven für sie gibt es kaum, Schwarze Südstaatenmädchen aus armen Familien wurden Haushaltshilfe oder Köchin oder Kindermädchen. Das dürften auch die Optionen für Bessie Smith gewesen sein – ohne Schulabschluss oder sogar Ausbildung. »Oh the washwoman’s life / it ain’t a bit of good.« Im »Washwoman’s Blues« besingt sie später die harten Arbeitsbedingungen und unwürdigen Arbeitsverhältnisse, in die sich Schwarze Frauen damals fast zwangsläufig begeben mussten. Denn offiziell war die Sklaverei zwar abgeschafft, dafür sorgten aber die perfiden Unterdrückungsmechanismen des strukturellen Rassismus in den USA dafür, dass Bildung, sozialer Aufstieg, Wohlstand für einen Großteil der Black Community außer Reichweite blieb. Wie viel Kraft dazugehörte, aus diesem System auszubrechen, kann man nur erahnen – Bessie Smith hatte sie. 1,75 m groß, eine durchtrainierte Tänzerin mit starker Stimme und wahnsinniger Ausstrahlung: Schon als Teenager muss sie gestrotzt haben vor Talent und Optimismus. Als Straßenmusikerin verdient sie ihr erstes Geld. Als sie 17 Jahre alt ist, bekommt sie ein Engagement bei einer der beliebtesten Showtruppen des Landes – und trifft dort Gertrude »Ma« Rainey. Nur ein paar Jahre älter als sie selbst, aber schon eine echte Größe im Bluesgeschäft. Sie wird ein Role Model für Bessie Smith – als selbstbewusste Künstlerin und als selbstbestimmte Frau, deren luxuriöse und extravagante Bühnenoutfits wie eine Vorwegnahme der späteren Bling-Bling-Statements im HipHop scheinen. Bessie Smith wird schnell selbst ein Star. Gleich ihre erste Aufnahme für das Label Columbia 1923 landet auf Platz 1 der Billboard Charts, in den kommenden zehn Jahren nimmt sie über 150 weitere Songs auf, viele von ihnen werden Hits. Einigermaßen überraschend dürfte das sogar für ihre Plattenfirma gewesen sein, denn weder der Gesang noch das Auftreten von Bessie Smith passen zu den damals üblichen Marketingstrategien. Als »rau« wird ihre Künstlerinnenpersönlichkeit oft beschrieben, mit ihrer dunklen Stimme präsentiert sie eine komplexe Form von Weiblichkeit mit vielen Facetten. Die Liebe ist zwar auch in ihren Bluesinterpretationen ein zentrales Thema, aber sie besingt sie nie mit verklärter Romantik, sondern oft als einen abgründigen Ort, an dem es neben Glück auch Gewalt, Verzweiflung und Einsamkeit gibt. Außerdem – und das verstörte etliche Zeitgenoss:innen noch viel mehr – thematisiert sie weibliche Lust und weibliche Sexualität abseits heteronormativer Grenzen, teilweise so explizit, dass einige der Lyrics heute immer noch plump als pornografisch abgetan werden. Bessie Smith würde darüber wahrscheinlich herzlich lachen und uns zurufen: »Women must learn how to take their time«. Es ist dieser unbändige Stolz, der jede ihrer Aufnahmen zu einem Hörerlebnis macht. Auch heute noch bricht sich durch das feine Knistern und Knacken der inzwischen digitalisierten Schellackplatten die Strahlkraft einer Künstlerin, die es geschafft hat, nicht nur den Nerv ihrer Zeit zu treffen. Sie trifft ihn immer noch.

Bessie Smith, 1936

Billie Holiday| Franziska Buhre

Erste Aufnahmen 1933

Billie Holiday, 1947

Das vereiste Herz wird wieder auftauen, ganz gewiss, in irgendeinem anderen Frühling. Es wird wieder erwachen und bereit sein, ein neues Liebeslied anzustimmen. In »Some Other Spring« verströmt Billie Holidays Gesang die Wärme der Frühlingssonne und die Zuversicht, dass tiefe Wunden der Seele heilen, und Liebe wieder möglich sein wird. Ihre Stimme erblüht zart und gemächlich, sie beflügelt das Versprechen auf die Vergänglichkeit von sprachlosem Schmerz.

So einsam man sich auch fühlen mag, Billie Holiday spendet immer Trost. Sie hat es gerne gesungen, dieses Lied ihrer Jahreszeit, in die sie am 7. April 1915 in Philadelphia geboren wird.

Doch die Zeit, in der sie aufwächst und sich für den Gesang entscheidet, ist geprägt von Erbarmungslosigkeit gegenüber afroamerikanischen Mädchen und Frauen. Von der Mutter alleingelassen, wird die Elfjährige, die damals noch Eleonora Fagan heißt, in Baltimore von einem Nachbarn vergewaltigt, zwei Jahre später zwingen sie die Lebensumstände, sich zu prostituieren. Sie hat mehrere Aufenthalte in Erziehungsheimen hinter sich, als sie 1929 nach New York kommt und dort gemeinsam mit ihrer Mutter bis zu deren Tod 1945 in wechselnden Absteigen lebt.

Anfangs singt sie in Kaschemmen, wird 1933 von weißen Produzenten entdeckt, nimmt mit einem weißen Bandleader auf, wird als Schwarze vor den Plattenkäufern aber verleugnet. Ohne die toxische Mischung aus Rassismus und Misogynie, ohne all die Widerlinge in ihrem Umfeld, die sie verprügelnden und ihr Geld verschleudernden Männer, karriere- und öffentlichkeitsgeilen Drogenfahnder, Schmierenautoren und »Manager«, wäre ihre Karriere wahrscheinlich anders verlaufen. Wegen Herz- und Leberleiden kommt Holiday im Mai 1959 ins Krankenhaus, dort wird sie wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet und polizeilich überwacht. Sie stirbt einsam im Krankenbett an Leberzirrhose am 17. Juli im Alter von nur 44 Jahren. Ihre Musik lebt fort.

Die wundersamsten musikalischen Zwiegespräche führte Billie Holiday mit dem Tenorsaxofonisten Lester Young. Wie beide Stimmen einander abtasten, umschmeicheln und zuhören, sich gegenseitig Reverenz erweisen und den Weg ebnen, klingt bis heute nach vertrautem Flüstern, unbeschwerter Verspieltheit und innigem Beistand. Es sind vor allem die Blasinstrumente, an den unzähligen Nuancen der menschlichen Stimme erprobt, die Holidays untrüglichem Gespür für die Zeitlichkeit gesungener Worte und deren Gestimmtheit ein beredtes akustisches Umfeld bereiten. Aber auch die Pianisten sind ihre engsten Partner, denn am Klavier des Café Society, in dem die Rassentrennung nicht gilt, wird 1939 Holidays Signaturstück geboren: »Strange Fruit«. Der junge jüdische Lehrer Abel Meeropol hatte Holiday seinen gleichnamigen Song zugetragen, eine fundamentale Anklage gegen die Lynchmorde an Afroamerikanern. Weder der Pianist der ersten Einspielung, Sonny White, noch Teddy Wilson, Wynton Kelly oder Mal Waldron haben ihr diese intime und todtraurige Erzählung himmelschreienden Unrechts je vergessen.

In einer Reihe von Songs thematisiert Holiday die weibliche Selbstgeißelung: das zermürbende Gefühl und die Scham, sich trotz der erfahrenen Brutalität und Entwürdigung nicht vom Partner trennen zu können, schließlich ist Liebe nicht anders gelernt als Schmerz. Ein einziger Funke Aufmerksamkeit wiegt jede neuerliche Selbsttäuschung auf und hilft, den Betrug des Partners weiter auszuhalten, ihn zu entschuldigen und wegzuschauen. Zu diesen Songs zählt »Fine and Mellow«, den Holiday selbst schrieb. Lester Young und Mal Waldron sind nur zwei von den »All Stars«, die sie 1957 durch die bewegende Filmaufzeichnung des Liedes tragen.

Seit Generationen vereint Billie Holiday Hörende wie von selbst auf sich, unabhängig von Hautfarbe, Alter, Geschlecht und sexueller Orientierung. Denn für wirklich jeden menschlichen Zustand von Liebe gibt es einen Song, dem sie ihre Stimme verliehen hat. Zum Beispiel ihr schelmischer Wink, das Gegenüber möge sich nun bitte mal verlieben, oder auch nicht, »Now baby or never«. Von jeglicher Hoffnung enttäuscht, singt sie »Who wants love« als Hymne an das verstörte Herz, denn Liebe sei ein Kind, das an Luftschlösser glaube, wer wolle sie dann noch. Wenn die Einsamkeit das Dasein vollkommen auszehrt, hilft nur noch das Gebet zu Gott, den geliebten Menschen bitte wieder zurückzubringen, wie in »In my solitude«. Sie war gläubig und abergläubisch, ihr »God bless the Child« ist zugleich eine liebevolle Umarmung und eine Fürbitte um Schutz eines jungen Lebensweges. Das Solo von Eric Dolphy auf der Bassklarinette nach diesem Lied, aufgenommen 1963 in Chicago, ist eine der berührendsten Huldigungen Holidays.

Die Rolle, die Bille Holiday für den Jazz und für die Welt spielte, erklärte Nina Simone einmal, indem sie den Bogen von Holiday zum zweiten prägenden Genie des Jazz schlug: »Charlie Parker and Billie Holiday are our father and mother.«

Sister Rosetta Tharpe| Lisa Rölle

Erste Single 1938

Von der Rezeption übergangen und verdrängt und für ihre kreativen Leistung nicht gewürdigt zu werden, gehört für viele FLINTA* Personen und BIPOC noch immer zum Alltag – obwohl, oder gerade, weil ihre Beiträge oft und gerne von anderen aufgegriffen und als kommerzielle Kulturgüter erfolgreich wiederverwertet werden. Viele Phänomene, die in der Popkultur gefeiert werden und mit denen eine Menge Geld verdient wird, haben ihren Ursprung in queeren BIPOC-Kontexten und -Communities, allen voran bestimmte Tanzstile, Musik oder Modetrends. Selten kommt der finanzielle Erfolg dieser Kulturgüter bei denen an, die ihn verdient hätten, oft erfahren die entsprechenden Menschen nicht einmal die öffentliche ideelle Würdigung und Anerkennung, die ihnen gebührt. So gerieten auch die Verdienste von Sister Rosetta Tharpe lange in Vergessenheit und wurden von der männlich-weißen Musikgeschichtsschreibung ausradiert. Rosetta war eine queere Schwarze Frau, die Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts gelebt und gewirkt hat und ohne die der Rock’n’Roll wohl nicht zu dem geworden wäre, was wir kennen, lieben, feiern und stetig weiterentwickeln.

Eine der wenigen historischen Filmaufnahmen ihrer Live-Auftritte spricht Bände: Auf der Bühne steht eine Frau mittleren Alters, ihr Dekolleté ziert eine funkelnde Halskette, die elegante, enganliegende Abendrobe reicht ihr bis zu den Waden. Das hält sie keineswegs davon ab, sich eine E-Gitarre umzuschnallen und diese mit ausladenden Gesten zu bespielen. Ein kurzer Blick ins Publikum, ein süffisantes Lachen, dann beginnt Rosetta mit erhobenem Zeigefinger zu singen: »I wanna tell you the natural facts, that the man don’t understand the good book write, and that’s all!« Anschließend widmet sie sich wieder ihrem Gitarrenspiel, das den Ton angibt, fasziniert und die Menge herauszufordern scheint: Na, wer von euch kann es mit mir aufnehmen?

Hinsichtlich ihrer Gitarrentechnik war Rosetta Tharpe eine absolute Pionierin. Als eine der ersten populären Künstlerinnen spielte sie eine stark verzerrte elektrische Gitarre und beeinflusste damit nachhaltig die Entstehung des Electric Blues und weiterer Genres, die aus diesem hervorgingen. Ob Fingerpicking oder Powerchords – ihre großartigen Gitarrenskills stellte sie sogar auf damals beliebten »Guitar Battles« in New York City unter Beweis und erhielt dabei das zweifelhafte »Kompliment«, sie spiele »wie ein Mann«. Der Mann und seine Gitarre – eine vermeintliche Dyade, die Rosetta Tharpe mit ihrer Musik und ihrer Persönlichkeit erfolgreich anfechten konnte.

1915 auf einer Farm in Arkansas geboren, kam »Little Rosetta Nubin« durch ihre musikalischen Eltern von Anfang an mit verschiedenen Instrumenten und Gesang in Berührung. Mit gerade einmal vier Jahren sang sie und spielte Gitarre, wodurch sie zum Wunderkind ihrer Kirchengemeinde aufstieg. Bereits zwei Jahre später trat sie zusammen mit ihrer Mutter auf Gospelkonzerten überall im US-amerikanischen Süden auf. Zu einer Zeit, in der weiblich gelesene, geschweige denn Schwarze Gitarristinnen kaum sichtbar waren, machte sich Rosetta schnell einen Namen und erspielte sich ihre eigene kleine Fangemeinde. 1938 folgten die ersten professionellen Aufnahmen für Decca Records – damit wurde sie über Nacht zu einer der ersten Gospelkünstler:innen, die den Sprung hinein in die kommerzielle Musiklandschaft schafften.

Sister Rosetta Tharpe, Gospel Train (Mercury, 1956)

In ihren Liedern entwickelte die Sängerin, Songwriterin und Gitarristin eine einzigartige Mischung aus spirituellen Lyrics und rhythmischer Begleitmusik. Diese Begleitmusik gilt heute als erste Manifestation dessen, was später unter dem Namen Rock’n’Roll für unglaubliche Furore sorgen und die Popkultur des 20. Jahrhunderts prägen sollte wie kaum ein anderes musikalisches Genre. Auch die Körperlichkeit, mit der Sister Rosetta Tharpe auf der Bühne performte und ihre Gitarre bespielte, nahm das später zum Kult gewordene Gebaren männlicher Rock’n’Roll-Stars vorweg. Nicht zuletzt verlieh Rosettas Attitüde ihren Gospelzeilen bereits den herausfordernden, unverblümten Rock’n’Roll-Spirit, der das Genre später vor allem für junge Menschen so attraktiv und populär machen sollte. Die Hochzeit mit ihrem dritten Ehemann feierte Rosetta in einem riesigen Stadion. Vor tausenden Fans spielte sie dort ein Konzert mit ihrer Gitarre – im Hochzeitskleid.

Vermutlich wäre nicht einmal die heutige Musikindustrie wirklich bereit für eine Schwarze Sänger-Gitarristin, deren Affäre mit einer ihrer Kolleginnen ein offenes Geheimnis ist. Spätestens unter diesem Aspekt wird klar, dass Rosettas Level an Popularität und Einfluss Mitte des 20. Jahrhunderts absolut bemerkenswert war. Tharpe schaffte es nicht nur, den Gospel in den medialen Mainstream zu bringen und verschiedene musikalische Genres miteinander zu verbinden, sie überbrückte auch gesellschaftliche Grenzen und widersetzte sich dem eklatanten Rassismus, Sexismus und der Feindlichkeit gegenüber homo- bzw. bisexuellen Menschen in der Musikindustrie und der US-amerikanischen Gesellschaft.

Etliche bekannte Künstler:innen hat Rosetta Tharpe grundlegend beeinflusst, seien es Rock’n’Roll-Superstars wie Little Richard und Chuck Berry, Elvis Presley und Jerry Lee Lewis, oder Gitarristen wie Eric Clapton, Johnny Cash, Bob Dylan und Keith Richards. Auch für Etta James, Aretha Franklin und Tina Turner waren ihr unvergleichlicher Gesang und ihre selbstbewusste Art, Gitarre zu spielen ein zentraler musikalischer Einfluss. Trotzdem ist sie heute vielen immer noch völlig unbekannt. Erst im Jahr 2017, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod, wurde Sister Rosetta Tharpe als eine der einflussreichsten Künstlerinnen des letzten Jahrhunderts und »Early Influence« endlich in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Kate Streader vom Beat Magazine bringt es auf den Punkt: »Never forget: Rock’n’Roll was invented by a queer Black woman.«

Juliette Gréco| Jennifer Ressel

Erste Single 1950

Juliette Gréco, 1962

Kann man anders in diesen Text einsteigen, als davon zu erzählen, wie Juliette Gréco einmal einen Nazi geohrfeigt hat? Kann man. Über die »grande dame de la chanson« gibt es viel zu erzählen. Wir beginnen trotzdem hier: Im Jahr 1943 wird die Sechzehnjährige in Paris von der Gestapo verhört. Ihre ältere Schwester und die Mutter sind in der Résistance aktiv; sie werden verraten und müssen einige Monate ins KZ Ravensbrück und anschließend bis Kriegsende Zwangsarbeit leisten. Juliette wird von den Nazis verhört, einer wendet rohe Gewalt an. Sie ist empört und wehrt sich intuitiv. Das bringt sie für einige Zeit ins Gefängnis. Als sie entlassen wird, ist sie allein, weit weg von ihrem Zuhause im Süden Frankreichs (wo eh keiner auf sie wartet) und mittellos. Zum Glück lebt ihre ehemalige Französischlehrerin, die auch eine Freundin der Familie ist, mittlerweile in der Stadt und nimmt sich ihrer an.

In Paris ist die angehende Chansonnière am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Eins wird zum anderen führen. Aber noch nicht jetzt. Das Singen kommt erst später. Denn zuerst ist da die jugendliche Gréco, die trotz der Beschissenheit der Dinge ihre Unabhängigkeit feiert, auf das Kriegsende hofft, davon träumt Schauspielerin zu werden und sich mit den Intellektuellen im Pariser Viertel Saint-Germain-des-Prés anfreundet.

Weil sie nichts anderes hat, trägt sie Männerkleidung. Mit dem schwarzen Rollkragenpulli und der überlangen Hose ist sie für eine Frau dieser Zeit ungewöhnlich gekleidet. »Schwarz ist doch eine Trauerfarbe. Das kann man doch einem jungen Mädchen nicht anziehen!«, hört man den Spießbourgeois unken. Sie fällt auf und wird zum Stilvorbild einer Generation.

Aber natürlich ist Gréco nicht nur äußerlich eine ungewöhnliche Frau. Da ist zum Beispiel ihr Hang zur körperlichen Selbstverteidigung: Der Nazi sollte nicht der letzte Mann bleiben, der ihre Wut zu spüren bekommt. Ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn verbindet sich mit einer immergrünen Impulsivität und dem trotzigen Willen, sich nichts gefallen zu lassen. Sie findet sich hässlich (die Nase!), tut aber so, als sei ihr ihr Äußeres egal. Natürlich ist sie nicht hässlich, im Gegenteil, was sie auch weiß. Sie läuft nicht zufällig unzähligen Fotografen vor die Linse und die Presse hievt Gréco schließlich – noch bevor sie eine Note gesungen hat – auf einen Sockel und macht sie zur »Muse der Existenzialisten« oder synonym zur »Muse von Saint-Germain-des-Prés«.

Dort am linken Seine-Ufer lebt die intellektuelle Jugend nach Kriegsende besonders auf. Man trifft sich in Cafés oder in kleinen Kellerclubs, raucht, philosophiert, lauscht der Jazz-Trompete von Boris Vian oder Miles Davis. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten dieses Zirkels ist natürlich keine andere als Simone de Beauvoir. Sie schreibt zu dieser Zeit gerade ihr Standardwerk Das andere Geschlecht. Die junge Gréco liest alles von ihr, hält aber gleichzeitig Distanz zu der großen feministischen Autorin, um sich nicht »unter ihre Fittiche« zu begeben, wie sie es rückblickend in einem Gespräch mit dem Spiegel formuliert. Wo Simone de Beauvoir ist, ist Jean-Paul Sartre nicht weit. Kein geringerer als ebendieser schlägt Juliette Gréco vor zu singen. Sie hat nichts dagegen. Ihre Darbietung kommt nicht sofort überall gut an, aber ihr gefallen die Texte und die Zusammenarbeit mit Musikern. Sie bleibt dran.

In den folgenden sieben Jahrzehnten ihrer Karriere schreiben unzählige Autorinnen und Autoren für sie. Darunter Jacques Brel (»Ça va (Le diable)«), Georges Brassens (»Le temps passé«), Serge Gainsbourg (»La Javanaise«, »Accordéon«) und Françoise Sagan (»Sans vous aimer«). Heute fällt es schwer sich vorzustellen, wie man vor wenigen Jahrzehnten noch mit einem Liedtext wie »Je hais les dimanches« (»Ich hasse Sonntage«, Charles Aznavour/Florence Véran) anecken konnte. Oder dass ein schamhaft-ironisch (in Sie-Form!) vorgetragenes »Déshabillez-moi« (»Ziehen Sie mich aus«, Robert Nyel/Gaby Velor) einen Skandal auslöste. Ein bisschen diebische Freude an der Aufregung, die sie verursachte, kann man Gréco wohlwollend unterstellen.

Auch wenn sie heute manchmal in einem Atemzug genannt (oder sogar verwechselt) werden, ist Juliette Grécos Ruhm ein anderer als der von Édith Piaf. Bei Gréco gibt es weniger Pathos, es geht stiller, akzentuierter und manchmal politisch zu. Ihr Publikum ist von vornherein ein kleineres. Die Sprache spielt eine größere Rolle. Auf der Bühne zeichnet sie mit feingliedrigen Fingern Ellipsen in die Luft, streicht über ihren Körper, als spielte sie mit ihm ein zusätzliches Instrument.

Mit Sicherheit war Juliette Gréco eine unabhängige Frau und ein Vorbild für viele. In ihrer Autobiografie So bin ich eben widmet sie ein ganzes Kapitel dem Recht auf Abtreibung. Darin äußert sie das Bedauern, selbst nicht am »Manifest der 343« teilgenommen zu haben, dem französischen Vorbild für den Stern-Titel von 1971, in dem prominente Frauen öffentlich bekannten, abgetrieben zu haben und gleichzeitig die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs forderten. Gréco dankt der Politikerin Simone Veil, die das Gesetz in Frankreich durchgebracht hat und schildert ihre Erfahrungen aus einer Zeit, in der Frauen sich noch ohne medizinische Hilfe selbst helfen mussten. Man möchte diese traurigen Zeilen heute den Aktivist:innen der sogenannten Lebensrechtsbewegung in die Hand geben.

Als Juliette Gréco im September 2020 im Alter von 93 Jahren stirbt, erscheinen auch in der deutschen Presse Nachrufe in allen großen Zeitungen. Trotzdem ist sie nur noch wenigen Leuten ein Begriff. Höchste Zeit also, wieder mehr von ihr zu erzählen oder noch besser ein paar ihrer Lieder aufzulegen.

Eartha Kitt| Pola Dobler

Erste Single 1952

Eine Lieblingsbeschäftigung in meiner Kindheit bestand darin, Schallplatten meiner Eltern vorsichtig aus dem Regal zu ziehen und die Cover genauestens zu studieren. Das Plattenregal war wie ein überdimensionales Memory-Spiel. Ich setzte immer vier Platten sorgfältig auf dem Boden zu einem großen Quadrat zusammen.

Da war diese eine Platte, die mich bis heute begleitet. Keine andere habe ich so oft gehört wie That Bad Eartha von Eartha Kitt. Oft lege ich sie in durchzechten Nächten zu später Stunde auf. Wenn die Lieder, Gespräche und Körper am Küchentisch schwerer werden.

Schon als Kind war ich fasziniert von Kitts rauchiger, tiefer und doch zerbrechlichen Stimme. Auch wenn ich nichts von dem verstand, was sie sang, hörte ich ihren Geschichten trotzdem gerne zu. »Uskadara is a little town in Turkey. And in the old days, many women had male secretaries. Oh, well, that’s Turkeyyyy!«

Als Kitt so alt war wie ich, als ich diese Platte entdeckte, kannte sie weder Schallplatten, Radio, Fernsehen noch Elektrizität. Irgendwann 1927 geboren, irgendwo in South Carolina, wahrscheinlich St. Matthews, wuchs sie in absoluter Armut auf. Ihre Mutter: Baumwollpflückerin, Cherokee und afrikanischer Abstammung. Ihr Vater: weiß, Gerüchten zu Folge Sohn eines Baumwoll-Plantagenbesitzers, den sie jedoch nie kennenlernte. Als ihre Mutter 1933 mit einem Schwarzen Mann zusammenkam, der Eartha ablehnte, schob sie Eartha zu einer Schwarzen Familie als Arbeitskraft ab.

»She gave me away to a family that eventually wound up using me as a work mule and my mother gave me to this family because the man that she wanted to marry said ›I don’t want that yella girl in my house‹ which meant that being an illegitimate child and also the wrong color you are not wanted by the blacks and the whites couldn’t care less.« (Interview mit Terry Wogan, 1989)

Eartha Kitt, 1957

Sie musste nicht nur schuften, sondern wurde zudem geschlagen und von den beiden Teenagerkindern der Familie gefoltert und gequält: Die Geschwister fesselten sie, steckten sie in einen Kartoffelsack, hängten sie an einen Baum und schlugen sie mit einer Pfirsichrute blutig. In einem Interview erzählte Kitt, dass sie dem Gefühl und der Vorstellung, an einen Baum gefesselt zu sein, nie wieder entkommen konnte.

Bevor sie dort vermutlich gestorben wäre, holte ihre Mutter sie doch noch und schickte sie weiter nach Harlem, New York. Zu ihrer Tante, die später behauptet, ihre leibliche Mutter zu sein. Beim ersten Anblick der einen Meter achtzig großen, grazilen, schönen Frau hatte Eartha »Todesangst«. »Auntie Rosa« war unverheiratet, hatte keine Kinder und nahm Eartha wohl aus christlichem Pflichtbewusstsein bei sich auf. Das neue Zuhause war jedoch erneut kein Zufluchtsort. Im Gegenteil: Ihre Tante war sehr streng und misshandelte und demütigte Eartha ebenfalls.

»I was running away from rejection, I was running away from not being accepted«. (Interview mit Terry Wogan, 1989)

In einer Nähfabrik konnte sie sich in Teenagerjahren etwas Geld verdienen, das sie in Klavier- und Gesangsunterricht steckte. Sie wollte eigentlich nie auf die Bühne, aber sie war beeindruckt von der Kraft des Publikums. Das wollte sie: begeistern und vom Applaus (über)leben. »Ich muss das Glück bei mir selbst finden und mit dem wunderbaren Gefühl, das du bekommst, wenn du auf dieser Bühne stehst und das Publikum dir diesen Applaus gibt und sagt: ›Eartha, es ist ok. Du bist immer noch hier und wir sind froh, dass du immer noch hier bist.‹« (Interview 1956)

Ihre Karriere beginnt mit 16, als sie nach einem Vortanzen bei der Katherine Dunham Company aufgenommen wird. Das war der Auftakt einer langen, von zahlreichen Höhepunkten geprägten Karriere. Broadway-Hauptrollen, Kabarett, Film- und Serienauftritte, etliche Plattenveröffentlichungen.

Eartha Kitt liebte die Aufmerksamkeit. Keine Erwartung war ihr zu viel oder zuwider, solange sie sich respektiert fühlte. Während viele andere Stars es irgendwann leid waren, ihr Publikum mit ihren ewig gleichen Hits, Sätzen oder Witzen zu befriedigen, rollte Eartha Kitt bis zu ihrem letzten Fernsehauftritt im Herbst 2008 ihr markantes, nicht enden wollendes, tiefes, fauchiges »Rrrrr« bei Auftritten und Interviews, als hätte sie es selbst eben erst entdeckt. Sie sang bis zuletzt ihre größten Hits »Uska Dara«, »C’est si bon«, »I Want to Be Evil« oder »Santa Baby«. Nicht, weil sie es nötig hatte oder weil es sonst nichts mehr von ihr gab, sondern weil sie große Freude daran empfand.

Teilweise wirkte sie bei ihren Auftritten wie weggetreten, dann blitzte ein verschmitztes Lächeln zwischen ihrem angestrengten, seriösen Gesichtsausdruck durch. Wir sehen es auch auf That Bad Eartha. Ihre Blicke schweiften während ihrer Performance stets durch den ganzen Raum. Als wolle sie niemanden vergessen, niemanden auslassen und jeden an ihrer Kunst teilhaben lassen. Auf das Image der »Bad Woman« hatte aber ihr Plattenlabel RCA hingearbeitet. Aus heutiger Lesart sicherlich auch einer Exotisierung und dem rassistische Blick einer Plattenfirma geschuldet.

»You’re always perceived as a wicked female, aren’t you? You’ve always encouraged that image, I mean do you like that image?« – »No, I’m not. But who’s going to believe me.« (Interview mit Terry Wogan, 1989)

Eartha Kitt war als Kitt verführerisch, neckend, ironisch, empört, glamourös und extrovertiert. Als Eartha Mae lebte sie zurückgezogen. Nachdem sie sich nach Auftritten in ihre Umkleidekabine zurückgezogen, abgeschminkt und ihre prachtvollen Kleider ausgezogen hatte, sagte sie: »Jetzt bin ich wieder Eartha Mae.«

Als Kind wurde sie von ihrer Mutter als kleines hässliches Entlein, das niemand wolle, beschimpft. Und alles, was sie suchte, war jemanden zu finden, der sie suchte. Sie hatte wenige ernsthafte Liebesbeziehungen. Auf die Aussage, dass sie ja nur einmal verheiratet war, antwortete sie bestimmt und trocken: »Once was enough. I love people but I am very choosy«.

Wirklich verliebt war sie wohl nur zweimal. Aber wieder musste sie mit Zurückweisung und Rassismus kämpfen. Beide Male verhinderten die Mütter der wohlhabenden Söhne eine Beziehung, da sie keine schwarze Schwiegertochter wollten. Der vermutlich einzige Mann, der Eartha wirkliche, ehrliche Liebe und Zuneigung schenkte, war der Mann, zu dem sie nie eine Liebesbeziehung hatte, der sie, wie Kitt sagt, nie berührte: Orson Welles, der Eartha Kitt als nichts weniger als »die aufregendste Frau der Welt« bezeichnete. Er unterstützte und begleitete Eartha Kitt, seit er sie 1950 als Gretchen/Helena in seinem Faust-Film besetzt hatte. Die beiden verband eine tiefe Freundschaft.

Ihre Haltung zu Männern war klar und eindeutig. Sie wollte jemanden, der sie aufrichtig liebte und als ebenbürtig ansah. Nach ihrer kurzen Ehe mit dem Geschäftsmann Bill McDonald, mit dem sie auch eine Tochter hatte, ist keine ernsthafte Beziehung mehr bekannt.

»That’s not for me to decide. That for someone who decides to live with me to decide. Not for me«, erzählt sie in dem Dokumentarfilm All by myself: The Eartha Kitt Story von 1982. In dem berühmtesten Videoausschnitt aus dem Film bricht Kitt in schallendes Gelächter aus, nachdem sie gefragt wird, ob sie bereit wäre, Kompromisse in einer Beziehung einzugehen. »What is compromising? Compromising for what? Compromising for what reason?« Verächtlich schnaubt sie nur »stupid«.

»A man comes into my life and I have to compromise? A relationship is a relationship that has to be earned, not to compromise for!«

Zu Gast bei Alfred Biolek antwortete sie einst ironisch auf die Frage, woher Frauen in ihrem Alter so viel Kraft nehmen: »Von den Männern natürlich! Frauen werden oft als Sexsymbol benutzt, wenn sie jünger sind und erst wenn sie älter werden, bekommen sie dieses Selbstbewusstsein. Besonders wenn die Männer entscheiden, abzuhauen, wenn die Frauen 40 werden.«

Doch Eartha Kitt war nicht nur eine Feministin, sondern auch Aktivistin. Sie engagierte sich früh für Kinder und Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen und gründete die Kittsville Youth Foundation, mit der sie Jugendarbeit in New York und L.A. ermöglichte.

Auf Grund ihres sozialen Engagements für Jugendliche und ihres gesellschaftlichen Ansehens erhielt sie 1968 während Lyndon B. Johnsons Regierungszeit eine Einladung von »Lady Bird« Johnson zu einem Damen-Lunch mit insgesamt etwa 50 Frauen. Als der Vietnamkrieg zur Sprache kam und »Lady Bird« sich über die rebellischen, kriminellen Jugendlichen auf den Straßen echauffierte, stand Kitt auf und erwidert empört: »You are a mother. So what are we gonna do about sending these kids overseas to get shot.« Da war sie wieder. That Bad Eartha, die sich nicht von einer First Lady, nicht vom Zeremoniell eines White-House-Dinners und nicht von der Mehrheitsmeinung einschüchtern ließ.

Der Preis war hoch. Eine Schmutzkampagne begann und die CIA beschimpfte sie unter anderem als sadistische Nymphomanin. Daraufhin kehrte Eartha Kitt ihrer Heimat für mehrere Jahre den Rücken und hielt sich überwiegend in Europa und Asien auf.

Zum Schweigen hat man sie trotzdem nicht gebracht. Eine Schaffenspause machte sie nie. Durch ihre Discoplatten in den 1980ern wurde sie von einer neuen Generation entdeckt, die auch ihre alten Platten kaufte. Vor allem für die Schwarze Community blieb sie eine wichtige Stimme. Zudem wurde sie auch noch ein Sprachrohr für die LGBTQ-Community und setzte sich u. a. für die gleichgeschlechtliche Ehe ein.

Bis zum Schluss hatte sie Auftritte, bevor der Darmkrebs ihrem aufregenden und aufreibenden Leben ein Ende setzte. »I’m dying. I’m not losing my hearing«, war einer ihrer letzten Sätze, die sie zu ihrer Tochter am Sterbebett sagte.

Von wegen »I want to be evil«. Wenn ich heute That Bad Eartha aus meinem Plattenregal ziehe, höre ich nicht mehr nur die Sängerin Eartha Kitt. Ich höre auch ihre feministische und antirassistische Stimme, die noch über ihren Tod hinaus lange nachhallen wird.

Violeta Parra| Gaston Kirsche

Las Hermanas Parra

Erste Single 1952

Violeta Parra, El folklore de chile (Odeón, 1957)

Die 1917 geborene Violeta Parra hat die überlieferten Lieder der armen Landbevölkerung gesammelt und die chilenische Volksmusik revolutioniert. Schon als Jugendliche trat sie mit ihren Geschwistern in Restaurants auf und sang Volkslieder. Ab 1947 bildete sie mit ihrer Schwester Hilda das Duo Las Hermanas Parra, erste Plattenaufnahmen bekannter chilenischer Lieder folgten. In den 1950er Jahren reiste sie durchs Land und sammelte die nur mündlich überlieferten Lieder der armen Kleinbäuer:innen. Sie wurde bekannter und ab 1954 trat sie mit der eigenen Sendung Canta Violeta Parra im Radio auf, erhielt einen Preis als beste Folkloresängerin Chiles. Elf Platten wurden von ihr veröffentlicht, die radikale Gesellschaftskritik mit traditioneller Folklore verbinden.

An den Plakatständen in Santiago de Chile gibt es von ihr fast so viele Motive wie vom Che, mehr oder weniger gelungene Porträtzeichnungen mit Liedtexten. In Unterführungen spielen Straßenmusiker:innen ihre Lieder auf dem Akkordeon und auf der Gitarre. Violeta Parra ist über 100 Jahre nach ihrer Geburt und trotz aller Versuche der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, sie vergessen zu machen, präsent in Chile. Im ihr gewidmeten Museum in Santiago de Chile werden seit 2015 auch Skulpturen, Wandteppiche und Ölbilder von ihr ausgestellt. Denn Violeta Parra war zwar vor allem Sängerin und Komponistin, hat aber ab 1958 als Autodidaktin mit vielen Materialien gearbeitet.

Von chilenischen Linken und Liedermacher:innen in Lateinamerika wird sie bis heute verehrt, ihre Tochter Isabel leitet die nach dem Ende der Diktatur 1991 gegründete Stiftung Violeta Parra, ihr Sohn Ángel Parra hat eines von mehreren Büchern über sie geschrieben: Violeta se fue a los cielos – Violeta ist in den Himmel gegangen.

Aufgewachsen ist sie mit sieben Geschwistern in Südchile als Tochter eines Dorfschullehrers und einer Näherin. Das Geld war knapp, oft gab es noch nicht einmal genug Brot, damit alle satt werden konnten, wie eine alte Nachbarin von damals in dem Dokumentarfilm Viola chilensis erzählt, den Luis Vera 2008 für die Stiftung Violeta Parra gedreht hat. Die südchilenische Kleinstadt San Carlos wirbt auf ihrem Ortschild damit, dass sie »die Wiege von Violeta Parra« sei. Eines der typischen spartanischen, einstöckigen Häuser in der dortigen Calle El Roble wurde zum Nationalheiligtum erklärt, weil Parra hier angeblich geboren wurde. Ihre Familie gibt einen anderen Geburtsort an – sicher ist, dass sie in einer dieser Siedlungen mit barackenähnlichen Häusern aufgewachsen ist, wo die Straßen staubig sind und die Armut groß.

Der Vater spielte gerne und viel Gitarre, brachte Violeta mit neun Jahren das Spielen bei. Sie spielte zusammen mit ihren Geschwistern auf der Straße, in Bars und in Bussen, um etwas Geld zu verdienen. Als sie 13 war, starb der schwerkranke Vater. Die Mutter konnte als Näherin nicht viel verdienen, als Geschwister Parra traten Violeta und ihre Schwester Hilda mit konventionellen Folkloreliedern auf.

Violeta Parra heiratete mit 21 den Eisenbahnarbeiter Luis Cereceda. Beide traten zusammen auf, wurden gemeinsam in der Kommunistischen Partei Chiles aktiv und unterstützten diese mit Wahlkampfauftritten.

Gleichzeitig herrschten damals noch sehr patriarchale Geschlechterrollen vor. Violeta war zweifache Mutter, wollte aber nicht alleine den Haushalt führen, sondern auch singen und komponieren. Die Ehe zerbrach, mit 32 heiratete sie erneut, bekam zwei weitere Kinder. Sie begann, mündlich überlieferte Lieder der Landbevölkerung zu sammeln und aufzunehmen. Unter Volksmusik wurde bis dahin die seichte Unterhaltungsmusik verstanden, mit der Parra wie viele andere auch durch Bars zog und auf Straßen und kleinen Bühnen unterwegs war. Es handelte sich zumeist um mexikanische Corridos sowie Lieder und Boleros aus Spanien. Nichts, was den harten Überlebenskampf der Armen widerspiegelte. Dabei gab es Lieder, die genau dies taten. Violeta ging mit Aufnahmegerät und Notizheften durch die Dörfer und ließ sich die Texte über den Alltag von den Alten vorsingen, die sonst im kleinen Kreis bei Nachbarschafts- oder Familienfeiern auftraten. Im Laufe der Jahre sammelte sie über 3.000 Lieder, auf deren Basis sie ihre ersten Schallplatten veröffentlichte.

Parra konnte im Radio auftreten und wurde bekannter. Als sie zu einem Liederfestival nach Warschau eingeladen wurde, nahm sie an. Sie fuhr alleine, nutzte die Gelegenheit, ein erstes Mal durch die Sowjetunion zu reisen, und blieb anschließend lange in Paris. Dort erfuhr sie vom Tod ihrer jüngsten, zweijährigen Tochter Rosita Clara. Für Isabel und Ángel Parra muss es eine traumatische Erfahrung gewesen sein – der Vater bürdete ihnen in Abwesenheit ihrer Mutter die ganze Verantwortung für die kleine Schwester auf, musste selbst viel arbeiten. In dem Lied »Verso por una niña muerta« wirft Violeta sich voller Schmerz und ohne Gnade sich selbst gegenüber den Tod ihrer jüngsten Tochter vor. Und arbeitet weiter.

Wenn sie singt, klingt das, wie wenn jemand seine Kinder hereinruft: Mit Druck in der Stimme. Nicht schön, aber klar und durchdringend. Violeta singt immer noch so, wie es wohl in ihrer frühen Jugend nötig war: als ob sie etwas übertönen müsste. Dabei hält sie Rhythmen und Melodien auch ohne instrumentale Begleitung. Oder nur assistiert von Trommel, Gitarre oder einem einzelnen Charango. Die Lieder bekommen dadurch eine Eindringlichkeit, welche die ernsten, sozialkritischen Texte unterstreicht. Sozialromantik liegt Parra fern, die Nüchternheit ihrer Metaphern ist manchmal nur schwer auszuhalten.

Das bekannteste Lied von Violeta Parra ist »Gracias a la vida«, Dank an das Leben. Viele haben es nachgesungen, die Argentinierin Mercedes Sosa sang es bei jedem ihrer Konzerte. Auch in deutschen Kirchenkreisen ist es beliebt und wird dort gerne zum sinnentleerten Sich-engagiert-Fühlen missbraucht. Denn Parras Religionskritik wird dabei gerne ignoriert. Geschrieben hat sie »Gracias a la vida« ein Jahr bevor sie sich am 4. Februar 1967 erschossen hat, erschienen ist es auf der LP Las últimas composiciones. Ihre Familie sagt, ihr habe die öffentliche Unterstützung für ihr Projekt eines großen Musikveranstaltungszeltes im Stadtteil La Reina gefehlt. Andere meinen, die Melodie und der Text des Liedes würden zeigen, dass sie depressiv war. Vielleicht trifft beides zu. Vielleicht war sie auch einfach – gerade als Frau, die neben ihrem politischen und kulturellen Kampf auch immer noch für Haushalt und Kinder die Hauptverantwortung trug – des ewigen Kämpfens müde. Depressiv sind ihre Texte nicht. Aber sie hat an den gesellschaftlichen Verhältnissen gelitten. Abstrakt, konkret, persönlich. Wie auch nicht.

Jutta Hipp| Sigrid Fahrer

Hans Koller Quartet, Hans Koller Quintett, Jutta Hipp Quintett

Erstes Album 1956

Der Jutta-Hipp-Weg im Leipziger Stadtteil Meusdorf hat eine Ortsrandlage. Auf der einen Straßenseite stehen eingeheckte Einfamilienhäuser, auf der anderen liegen Wiesen mit Baumbestand – so jedenfalls bietet sich der Blick in Streetview. Seit 2011 würdigt Leipzig die »Europe’s First Lady of Jazz« und Tochter der Stadt mit der Straßenbenennung.

Jutta Hipp wurde am 4. Februar 1925 in Leipzig geboren, ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Dort wurde auch der Grundstein gelegt für ihre kometenhafte Jazzkarriere, die genauso schnell wieder verlosch, wie sie steil nach oben ging. In Leipzig hörte sie im illegalen Hot Club über die verbotenen Alliierten-Sender Jazz und gründete ihre erste Band. Jazz, das war Freiheit und Rebellion gegen den Hitlerismus, wie es sie auch in andern Städten gab, z. B. in der Swing-Jugend in Hamburg und Frankfurt. Heute sind das Befreiende des Jazz und seine jugendkulturelle Konnotation wenig präsent. Jazz, das ist Hintergrundmusik beim FDP-Frühschoppen, goutiert von Oberstudienräten mit Lederweste, die Jazz mit einem Jott aussprechen. Für den Teenager Jutta Hipp aber ist »Jazz eine Art Religion. Wir mussten wirklich dafür kämpfen. Ich erinnere mich an Nächte, wo wir nicht in den Luftschutzkeller gingen, weil wir Platten hörten. Und obwohl die Bomben um uns herum einschlugen, fühlten wir uns sicher oder zumindest, wenn wir getötet worden wären, wären wir mit schöner Musik gestorben.«

Jutta Hipp

Jazz war hip, genauso wie die mehrfach künstlerisch begabte Jutta – und nicht nur qua Namen. Nachdem sie eine klassische Klavierausbildung abgeschlossen hatte, widmete sie sich dem Studium der Malerei und Grafik an der Staatlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig. Als es immer schwieriger wurde, in der sogenannten SBZ Jazz zu spielen, setzt sich Hipp 1946 nach Bayern ab. Dort spielte sie in verschiedenen G.I.-Clubs und brachte einen Sohn zu Welt. In den Nachwehen von Fraternisierungsverbot und Rassentrennungsgesetzen wurde das Kind wie viele Babys, die eine deutsche Mutter und einen afro-amerikanischen Vater hatten, zur Adoption freigegeben. Jutta Hipps Stück »Mon Petit« soll diesem verlorenen Kind gewidmet sein.

Hans Koller wurde auf die rothaarige Schönheit am Klavier aufmerksam und engagierte sie für sein gerade gegründetes Ensemble, das als Speerspitze des modernen Jazz in Deutschland galt. Seine Homebase war Frankfurt am Main, das Jazz-Mekka Deutschlands, wohin ihm Jutta Hipp folgte. 1954 gründete sie ihr eigenes Quintett: Emil Mangelsdorff (Altsaxophon), Joki Freund (Tenorsaxophon), Hans Kresse (Bass) und Jutta Hipp (Piano). Die Aufnahmen, die auf Cool Dogs & Two Oranges gesammelt sind, wurden in dieser Besetzung eingespielt. Sie entstanden im Frankfurter Franz-Althoff-Bau, dem legendären Unterhaltungssaal auf dem Gelände des Frankfurter Zoos, in dem Jazzgrößen wie Ella Fitzgerald, Josephine Baker und Caterina Valente auftraten. Erschienen sind diese Stücke allerdings zunächst nicht auf einem einzigen Tonträger, sondern verstreut auf diversen Veröffentlichungen. Erst 1980 kam das Album mit dem anspielungsreichen Cover heraus. Es ist, mit den zwei Orangen unter die Frankfurter Würstchen drapiert, lesbar als Illustration des Titels, wobei die Würstchen für die »dogs«, eine Abkürzung für Hotdogs, stehen. Es kann aber auch als Versinnbildlichung von Jutta Hipp als Frau in der Männerdomäne Jazz gesehen werden: zwei Brüste inmitten einer Würstchenparty.

Cool Dogs & Two Oranges ist zweifelsfrei cool. Insbesondere die Einflüsse Lennie Tristanos werden mit linearen Melodielinien und zwei Saxophonen immer wieder hervorgehoben. In Abgrenzung zum traditionellen Jazz gehört das Album auch mit seiner kleinen Besetzung zum vielgerühmten Frankfurt-Sound. Hörbar ist natürlich auch Jutta Hipps eigener Sound. Sie ist in jedem Stück präsent, selbstsicher begleitet sie die Saxophone oder tritt als Solistin hervor. In den Solos hört man ihre klassische Ausbildung. Die Melodieführung ist linear, fast schon etüdenhaft wie in »Two Oranges«. Das Lyrische kommt besonders im schon erwähnten »Mon Petit« zum Tragen. »Variations«, das dritte Stück von Hipp auf dem Album, bringt ihre akzentuierte Begleitung der Melodie zur Geltung.

Auf einer Europatournee wird sie vom Jazzkomponisten und -produzenten Leonard Feather entdeckt. Er nimmt Jutta Hipp mit in die USA. In New York erhält sie ein Engagement im berühmten Hickory House. Drei Alben auf Blue Note folgen, die sie zu einer »Ersten« machen: Erste weiße Frau, die bei Blue Note veröffentlicht. Der Beginn einer großen Jazzkarriere, sollte man meinen. Aber der Druck steigt, den Jutta Hipp mit Alkohol kompensiert. Eigentlich ist daran nichts verwunderlich, denn alle Jazzmusiker in New York von Rang und Namen pflegen zu dieser Zeit irgendeine Art von Sucht. Der Vermarktungsstrategie von der hübschen Frau am Klavier ist es allerdings nicht so zuträglich, wenn diese betrunken vom Stuhl kippt. Auch nicht so zuträglich ist, wenn die hübsche Frau eigentlich nur Musikerin sein möchte, die sich wie alle Musikerinnen weiterentwickeln will. Jutta Hipp entdeckt den Hard Bop und arbeitet an ihrem eigenen Klavierstil weiter, weg vom Femininen und Lyrischen, mit dem sie vermarktet werden soll. Feather lässt sie fallen, wohl auch weil sie weder seine Stücke spielen noch seinen Avancen nachgeben möchte. Jutta Hipp schlägt sich mit Engagements durch, aber ohne einflussreichen Mentor ist es schwer, sich gegen die harte Konkurrenz in New York durchzusetzen, vor allem als Frau. Sie nimmt einen Job als Näherin an, den sie 35 Jahre lang ausüben wird. 1960 gibt die das Klavierspiel auf und widmet sich dem Malen und Zeichnen. Die Jazz-Szene begleitet sie weiterhin, jedoch als Karikaturistin. 2003 stirbt sie in Queens. Nach Deutschland kehrt sie nie zurück. Wenn man es sich recht überlegt, ist die Lage des Jutta-Hipp-Wegs sehr passend gewählt: Auf der einen Seite die ordentliche Einheckung, die zwar Erfolg verspricht, aber auf Kosten der Musik, auf der anderen das freie Feld, in das sich Jutta Hipp mutig gewagt hat.

Shirley Collins| Holger Adam

Shirley & Dolly Collins, The Etchingham Steam Band

Erstes Album 1959

Shirley Collins, False True Lovers (Folkways Records, 1959)

»I often felt that past generations of English singers are standing behind me when I sing, that I’m a conduit for them and their songs, a link in a mysterious chain, and that I’m responsible for maintaining their integrity.« Dieses Zitat findet sich auf dem Einband von Shirley Collins’ 2018 erschienenen Lebenserinnerungen All in the Downs. Sie umschreibt, ohne es ausdrücklich zu beabsichtigen, einen Unterschied in der Rezeptions- und Aufführungspraxis von Liedern, der im popkulturellen Kontext von grundlegender Bedeutung ist: Der Singer-Songwriter (als Vertreter der Popkultur) spricht in erster Linie für sich selbst, und im Erfolgsfall findet sich das Publikum in seiner Interpretation der eigenen Befindlichkeiten oder auch der Welt, wie sie ihm zu sein scheint, wieder – it’s the singer, not the song. Im Falle der Folk-Sängerin ist es umgekehrt: Sie stellt ihre eigene Persönlichkeit in den Dienst eines Liedes, das sie einer über sie hinausgehenden ursprünglich ausschließlich mündlich überlieferten Tradition entnimmt – in der Absicht, es zu erhalten und weiterzugeben.

Diese zugespitzte Entgegensetzung ist nicht unzutreffend, aber sie lässt ein paar Details unter den Tisch fallen, wie zum Beispiel den Hinweis darauf, dass die Themen eines Singer-Songwriters auch wiederkehrend und insofern universeller Natur sein können und die Aufführung der Folk-Sängerin auch eine Interpretation und nicht frei von individuellen ästhetischen Entscheidungen ist. Bleibt man trotzdem für einen weiteren Moment bei dieser Entgegensetzung, so lässt sich daran anschließend sagen: der Singer-Songwriter muss sich vor Publikum bewähren, die Folk-Sängerin vor der Tradition, dem was hinter ihr steht. Zwei entgegengesetzte Richtungen. Ein populäres Vorurteil gegenüber Folk Music besteht ja darin, diese als rückwärtsgewandt einzuordnen, und die Erwartung an Popmusik ist nicht selten, dass sie Utopien formulieren, die Zukunft in die Gegenwart hereinholen und als progressive kulturelle Kraft wirken soll. Auch hier der Hinweis: diese Zuspitzungen vereinfachen die historische Komplexität der aufgeworfenen Fragen, öffnen aber auch den Zugang zu dem Moment, als die (musikalische) Vergangenheit drohte, verloren zu gehen, und die (popkulturelle) Zukunft (auch) von ihr ausging.

Und hier kommt Shirley Collins wieder ins Spiel bzw. das Folk Revival der frühen 1960er Jahre, das nicht nur von Harry Smith’s Anthology of American Folk Music maßgeblich ausging, sondern auch von den musikethnologischen Forschungen und Archivierungsarbeiten von Alan Lomax, der Collins während seines Aufenthalts in London kennen und lieben gelernt hatte, und mit ihr anschließend den amerikanischen Süden bereiste, um gemeinsam Field Recordings von regionalen Folk-Musikstylen aufzunehmen. Diese Rettungsarbeiten inspirierten u. a. die Gründung des Newport Folk Festival und die Karriereanfänge von Bob Dylan, usw. usf. – kurz gesagt: Folk Music, das Finden, Aufnehmen und Zugänglichmachen von oralen und regionalen Musiktraditionen war ein entscheidender Motor für das, was sich dann erst als Popkultur entwickelten sollte und bis heute ausdifferenziert.

Aber was war jetzt mit Shirley Collins? Die war mittendrin statt nur dabei und veröffentlichte eigene Aufnahmen von Folk-Liedern, die sie in den USA und bereits zuvor auch in England kennengelernt hatte. Ihr Debüt gab sie 1959 mit Sweet England, gefolgt von False True Lovers im selben Jahr. Nach ihrer Rückkehr aus den USA folgte (zusammen mit dem Gitarristen Davey Graham) 1964 das einflussreiche Album Folk Roots, New Routes, das schon im Titel eine Veränderung ankündigt, die es musikalisch dann auch einlöst: die Verschmelzung englischer und amerikanischer Folk-Music-Traditionen. Damit steht das Album als Wegbereiter für den Folk Rock und Gruppen wie Pentangle, Fairport Convention oder Steeleye Span, die diesen Weg in der Popkultur kommerziell erfolgreich beschritten – und auch Collins selbst entwickelte ihre eigene Version von Folk Rock auf dem Album No Roses mit der Albion Country Band. Im Gegensatz zu den genannten und vielen weiteren Zeitgenossen blieb sie allerdings stets ihrer Arbeitsweise treu und arrangierte traditionelle Lieder neu. Eigenkompositionen sind die absolute Ausnahme. Ein bescheidener Ansatz, ganz im Sinne ihrer eingangs zitierten Orientierung und ein wenig lukrativer noch dazu. Shirley Collins war nie ein Star.

Und als ihre zweite Ehe mit Ashley Hutchings (Gründungsmitglied von Fairport Convention, später kurzfristig Mitglied von Steeleye Span und anschließend der Albion Band), den sie zum Ende ihrer ersten Ehe um 1970 herum kennengelernt hatte, 1980 geschieden war, da verstummte sie, verlor über dem Kummer der letzten schwierigen Ehejahre ihre Fähigkeit zu singen – und wurde dann zum Star bzw. genauer: zur mythischen Figur, die selbst vor dem Vergessen errettet wurde, wie die Lieder, die sie Jahrzehnte zuvor archivieren und in ein kollektives Gedächtnis überführen half. David Tibet (Current 93) nahm Kontakt zu ihr auf, veröffentlichte in den 1990er Jahren ihre Musik wieder und bekam es schließlich hin, sie zu einem Gastauftritt zu überreden: Auf dem Album Black Ships Ate The Sky seiner (hin und wieder als Apocalyptic Folk apostrophierten) Band Current 93, das 2006 erschien, konnte man sie zum ersten Mal wieder singen hören; sie sang das letzte Lied auf dem Album ein, das Finale! Dies alles ereignete sich mehr oder weniger unter Ausschluss einer größeren, sehr wohl aber zur großen Begeisterung einer eingeweihten Szene-Öffentlichkeit, in deren Milieu schließlich ihr Comeback mitvorbereitet wurde: Neben David Tibet waren Stephen Thrower und Ossian Brown – beide ehemals Mitglieder der englischen Post-Industrial-Band Coil – für die Aufnahme ihres ersten Studioalbums nach Amaranth (1976), also seit über 30 Jahren, verantwortlich. Lodestar wurde 2018 auf Domino Records veröffentlicht und verschaffte Shirley Collins eine – wie sie selbst sagt – unwahrscheinliche und von ihr nicht mehr für möglich gehaltene Wiederkehr als Sängerin. Ihre Stimme ist jetzt dunkler und reifer und voller (auch bitterer) Erfahrungen, aber von ihrer Anziehungskraft und Ausdrucksstärke hat sie nichts verloren, und 2020 erschien noch ein weiteres – und hoffentlich nicht ihr letztes – Album (Heart’s Ease). Mag sein, dass Shirley Collins sich nur im Dienst ihrer Lieder sieht, aber der proklamierten und auch gut begründbaren Bescheidenheit zum Trotz ist es auch the singer und nicht nur the songs, sind die Lieder, die sie singt, längst auch ihre und ohne ihre Stimme nichts.

Anne Sylvestre| Frédéric Valin

Erste Single 1959

Anne Sylvestre, 1965

Auf ihrem Jubiläumskonzert erzählte Anne Sylvestre zwischendrin ein paar Witze. Oder was heißt Witze, sie mokierte sich darüber, welche Fragen ihr immer wieder gestellt werden. Ob sie denn immer noch Feministin sei, zum Beispiel. Sie zuckt mit den Achseln. »Nein, die Männer mögen das nicht.« Dann lacht sie.

Viele französische Chanson-Sängerinnen haben internationale Berühmtheit erlangt, viele davon gelten als feministische Ikonen. Ein Name, der wichtigste, wird dabei sehr oft vergessen: ihrer, Anne Sylvestre. Während die anderen Sängerinnen in aller Regel die Lieder von Männern interpretierten, machte Anne Sylvestre alles selbst: Text, Komposition, Gesang, Gitarre. »Damals sangen viele von Männern geschriebene Lieder, das heißt sie sangen, was Männer von ihnen hören wollten.« Das tat sie nicht, und vielleicht ist sie deswegen immer ein Geheimtipp geblieben. Selbst Menschen, die sich sehr gut mit französischer Musik auskennen, haben oft nur drei, vier Titel von ihr parat: »Les Gens qui doutent« zum Beispiel (Menschen, die zweifeln), »Une sorcière comme les autres« (Eine Hexe wie alle anderen auch) und »Gay marions-nous!«, ein Lied pro Ehe für alle. Es sind jene Art von Chansons, die sich in einer literarischen Tradition sehen: der Inhalt und die Worte stehen an erster Stelle, zu ihnen kommt dann die Musik. Das lässt den Stil heute bisweilen etwas aus der Zeit gefallen erscheinen, aber das macht nichts – Anne Sylvestre hat sich um das Publikum ohnehin eher weniger Gedanken gemacht. Als bei einem Konzert aus dem Publikum die Bitte kam, ein bestimmtes Lied zu spielen, antwortete sie: »Ich bin Sängerin, keine Jukebox.«

Stolz, ja, das hatte sie. Stolz und Selbstbewusstsein. Man hat sie oft mit anderen verglichen, insbesondere mit Männern, das hat sie aber immer zurückgewiesen: Diese Männer würde man ja auch nicht mit anderen vergleichen, die stünden für sich. Sie wollte sich nicht als Kontrastmittel für einen maskulinen Genie-Kult zur Verfügung stellen.

Sie selbst sagt, sie sei Feministin geworden, bevor sie wusste, dass es so etwas wie Feminismus überhaupt gibt. In ihren Anfängen in den späten 1950ern, sagt sie, hätte es schlicht ein Vakuum gegeben, weil alle Liedermacher Männer gewesen seien. »Und es hat mich wütend gemacht, diese alten Säcke zum Beispiel über den Bauch der Frauen sprechen zu hören.« Sie wollte etwas, worüber sie viel besser, schlauer und schöner sprechen konnte, nicht denen überlassen, die sich möglichst breitbeinig Platz verschafft hatten. Auch nicht hinter der Bühne oder in den Studios: Als ihr nicht gefällt, was ihre Produzenten mit ihren Liedern und ihren Platten machen, fängt sie diverse Gerichtsprozesse an; ab 1973 produziert sie sich selbst.

Trotz einiger sehr erfolgreicher Lieder waren es vor allem ihre fabulettes