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Kleine kurze (wahre?) Geschichten aus dem Leben von irgendwem
Das E-Book Thesen am Tresen wird angeboten von tredition und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Unterhaltung, Pseudo-Philosophie, Bargespräche, Wortwitz, Kurzweile
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2022
Thesen am Tresen
von alex Wittner
© 2022 alex Wittner
Coverdesign von: Karsten Weil
Verlagslabel: alex Wittner
ISBN Softcover: 978-3-347-62781-9
ISBN Hardcover: 978-3-347-62782-6
ISBN E-Book: 978-3-347-62783-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Für alle, die schon immer mein Gelabber ertragen mussten oder Teil der Geschichten waren.
Mitten in Berlin, aber nicht in Mitte?
Von außen wirkt das Haus wie eines von vielen auf der Straße. Es ist ja auch eines von vielen auf der Straße. Es entsprang wohl irgendeinem sehr alten Baustil. Ein sehr einfacher Baustil, der sich schon vor langer Zeit von moderner Architektur verabschiedet hat. Zeitlose Klasse, könnte man sagen. Und damit liegt man vermutlich richtig. Außen Wände und oben ein Dach. Ein Haus eben.
Das Gebäude steht am Ende einer Reihe anderer Gebäude, die sich aber erst viele Jahre später, vielleicht Anfang des 20. Jahrhunderts, dazugesellt haben. Das Haus hat nur drei Stockwerke und hier und da ist ein Fenster in die Wand gezimmert. In den oberen Stockwerken wohnen vermutlich irgendwelche Menschen und unten befindet sich nicht nur vermutlich eine Bar. Und vor dem Gebäude? Ein Bürgersteig mit ein paar traurigen kleinen Bäumchen, die hoffentlich ihre beste Zeit noch vor sich haben.
Hier und da eine Parkbank, auf der wohl kaum jemand gerne Platz nimmt. Vielleicht, um sich einmal die Schuhe zu binden oder ein Eis zu essen. Aber sicherlich nicht, um sich nach einer Wanderung hier auszuruhen und eine Pause zu machen. Um am besten noch die mitgebrachte Teekanne mit Pfefferminztee aus dem Rucksack mit Wanderabzeichen leerzutrinken. Kein Mensch macht mitten in Berlin eine längere Wanderung mit Spazierstock und Thermoskanne im Rucksack. Außerdem bietet das zwei Meter entfernte Haus wirklich keine schöne Aussicht. Aber irgendetwas hat sich der Stadtplaner bestimmt dabei gedacht, hier eine Bank hinzusetzen.
Neben der Bank steht ein überfüllter orangefarbener Mülleimer. Darunter zwei leere Bierflaschen für die Berliner Flaschensammler. Also alles in allem eine sehr typische Straße mitten in Berlin. Was mitten in Berlin bedeutet, liegt sicherlich immer im Auge des Betrachters. Da die meisten Berliner sich für den Mittelpunkt der Welt halten, gibt es offensichtlich viel „Mitten in Berlin“.
Kommen wir zurück: Das Gebäude liegt an einer kleinen Kreuzung und hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Vor allem aber ist es kein Yuppie-Neubau. Vielleicht war es vor ein paar Jahrhunderten mal ein Yuppie-Neubau, wenn es damals schon Yuppies gab. Aber in ein aktuelles Yuppie-Gebäude würde die Bar auch nicht reinpassen. Es ist keine schnieke Cocktailbar. Eher das Gegenteil. Urig, sagt man wohl. Manch einer würde auch von einer Taverne sprechen. Ja, es ist eine alte Taverne mitten (das hatten wir schon) in Berlin. Nennen wir sie „Zum grünen Baum“ oder „Zum Anker“ oder „Der lachende Dreibein“. Oder wir lassen das mit dem Namen.
Die Taverne ist eine Bar. Keine Yuppie-Bar. Aber wir wiederholen uns. Von außen sieht sie also ganz nett aus. Backsteine und getönte Fenster, die aus vielen kleinen einzelnen Scheiben bestehen. Ob die Scheiben getönt sind oder einfach nur dreckig und verraucht? Keine Ahnung. Aber treten wir ein.
Es ist eine gemütliche Taverne. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch, der glücklicherweise größtenteils von dem angenehmen Geruch des Kaminfeuers überdeckt wird. Zu dem Kamin kommen wir sicher später noch. Das schummrige Licht beschert der Bar eine angenehme Atmosphäre, auch wenn das Fehlen der Gäste und des entsprechenden Geräuschpegels an dieser schönen Atmosphäre etwas zerrt.
Gegenüber der Tür befindet sich ein großer Tresen. Mit allem, was man zum Ausschenken der Getränke so braucht. Es gibt links und rechts je zwei große lange Holztische mit Holzbänken und Holzhockern. Hier sitzt man zusammen. Hier trinkt man zusammen und hier lacht man zusammen. Hier rutscht man sicherlich auch zur Seite, wenn ein einzelner Gast kommt. Aber wer kommt denn überhaupt auf die Idee, so eine gastfreundliche Schenke – nein, wir wollten Bar sagen – in Berlin aufzumachen? Vielleicht war es ja auch umgekehrt. Zuerst war die Bar da und dann kam der Berliner Style drum herum dazu.
Die Bar passt leider nicht mehr so ganz hierher. Das Interieur – oder, wie man hier besser sagen würde: die Einrichtung – ist überhaupt nicht typisch für die Gegend. Außerdem ist auch kein Mensch hier. Keine Menschenseele, wenn man vom Wirt absieht. Aber zu dem kommen wir später.
Was gibt es sonst noch über die Bar zu erzählen? Ein Hirschgeweih an der Wand? Nein, so etwas gab es früher vielleicht einmal, aber heute will das keiner mehr. Aber dafür gibt es überall diese kleinen Deko-Gegenstände. Gegenstände, die man sonst nirgendwo mehr finden würde. Ein alter Messingbecher mit einem Stößel, ein an der Wand herunterhängender Lavendelstrauch und Bilderrahmen, die so verrußt und vergilbt auf dem Kaminsims stehen, dass man die Bilder längst nicht mehr erkennen kann.
Ja, rechts vom Tresen ist ein Kamin. Ein offener Kamin mit ein paar leicht lodernden Holzscheiten darin. Auf der einen Seite ist weiteres Holz gestapelt und auf der anderen Seite ist das übliche Kamingeschirr mit Besen und Schürhaken und so Zeug. Man könnte sich vorsichtig die Frage stellen, ob das Ordnungsamt von diesem Kamin weiß. Darf man in einer Gaststätte so ein offenes Feuer brennen lassen? Da gibt es doch sicher jede Menge Vorgaben.
„Das geht dich überhaupt nichts an“, unterbricht der Wirt den erstaunten neutralen Erzähler. „Das ist meine Bar und meine Geschichte und wenn ich da einen Kamin drin haben will, dann habe ich da einen Kamin. Und wenn da gleich ein Zebra zur Tür reinkommen soll, dann ist das so. Leb damit.“
Ach ja, der Wirt. Hinter dem Tresen steht ein großer, kräftiger Mann mit dunklen Haaren, dunklen Augen und einem dunklen Vollbart. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und hat ein kariertes Handtuch über der Schulter. Das ist kein Zufall. Der Mann weiß immer, wo sein Handtuch ist. Der Wirt ist wohl Ende vierzig und hat ein freundliches Gesicht. Mit einigen Lachfalten, die er aktuell aber nicht besonders strapaziert. Mit einem anderen, ebenfalls karierten Handtuch trocknet er gerade ein Bierglas ab. Er bereitet die Bar auf den großen Ansturm vor. Jeden Moment könnte ein Gast hereinkommen. Immerhin bricht der Abend gerade an und es wird für viele Menschen in Berlin Zeit für ein Bier.
Das Regal hinter dem Wirt steht voll mit Flaschen mit hochprozentigem Inhalt. Whiskey aus Schottland, Rum aus Guyana, Gin aus Japan, Wodka aus Finnland und natürlich alles, was sich der Kenner des gepflegten oder ungepflegten Tropfens noch so vorstellen kann. Auch die Zapfhähne versprechen, dass keine Kehle trocken bleiben muss.
Um das Bild noch kurz zu vervollständigen: Rechts hinter der Bar ist eine kleine Durchgangstür, die in einen Raum hinter dem Regal führt. Diese ist geschlossen, weshalb nicht zu erkennen ist, ob sich da eine Küche oder eine Speisekammer oder gar eine Wohnstube befindet. Rechts vom Tresen befindet sich noch ein Fenster. Dieses ist nicht vergilbt oder verrußt. Man kann auf die Straße nach draußen schauen. Vielleicht ist es dem Wirt wichtiger, ab und zu zur Seite auf die Straße zu schauen, als vorne aus den kleinen Fensterchen zu blicken.
Links von der Bar ist der Weg zu den Toiletten. Auch hier lässt sich nicht wirklich erkennen, wie viele es sind und für wie viele Geschlechter die Toiletten ausgerichtet ist. Egal. Die Bar an sich scheint gerade noch klein genug, um sich nicht an jeden Standard halten zu müssen. Und das tut sie auch nicht.
Die Schrippen-Situation
Knarrend schwingt die Tür auf und knallt dann im Winkel von 164 Grad gegen einen Stopper. Zum Glück hab ich die nervige Glocke an der Tür wieder weggemacht, denkt sich der Wirt. Ein großgewachsener Gast mit einem langen schwarzen Mantel tritt ein und schaut sich in der leeren Bar um. Tja, welchen Platz soll er wohl nehmen? Er geht direkt auf die Bar zu.
„Kannste bitte die Tür wieder zumachen?“, fragt der Wirt.
Der Gast dreht sich um, schließt die Tür und läuft wieder auf den Tresen zu. Er legt seinen Mantel auf einen der vier Barhocker und setzt sich auf einen der anderen. „Hallo, kann ich bitte ein Bier haben?“, fragt er den Wirt in freundlichem Ton voller Vorfreude.
Gute Idee in einer Bar, denkt sich der Wirt. Er überlegt, ob es Sinn ergibt, den Gast zu fragen, was für ein Bier genau es denn sein darf. Nach kurzem Überlegen kommt er zu dem Schluss, dass er das als Meister vom Fach eh besser beurteilen kann, und greift sich ein Glas. Heute ist Donnerstag. Also nimmt er den vierten Zapfhahn von links und fängt an, zu zapfen. Nicht ganz ohne Stolz zaubert er eine wundervolle Schaumkrone auf das Glas und stellt es dem Gast hin.
„Prost“, sagt der Wirt.
„Danke“, sagt der Gast. Er nimmt einen tiefen Schluck, stößt ein genüssliches „Aaaaaah“ aus und schmiert sich die Schaumkrone von der Oberlippe. Er trägt einen Dreitagebart und eine Brille. Beides ist nicht auf einen besonderen Stil zurückzuführen. Der Bart sagt nur, dass er sich nicht rasiert hat, und die Brille ist einfach hilfreich, da er eine Brille braucht. Seine leicht ergrauten Haare liegen leicht unkontrolliert auf seinem Kopf. Ein Fachmann würde nicht von einer Frisur sprechen. Das gab es vielleicht früher einmal. Der Gast ist Ende dreißig und würde sich selbst wahrscheinlich als äußerst normal deklarieren. Er hatte früher vielleicht mal Erfolg bei Frauen und manchmal wundert er sich, wo dieser hin ist. Kommt bestimmt wieder, wenn die richtige Frau kommt. Bestimmt, denkt sich der Gast immer wieder.
„Hast du noch was zu essen?“, fragt der Gast und erklärt: „Ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen.“ Der Wirt überlegt eine Weile. Dann schaut er auf die Uhr.
„Es ist siebzehn Uhr und du hast noch nichts gegessen? Nicht mal ne Kleinigkeit von einem der tausend Bäcker an jeder Ecke?“
„Na ja“, sagt der Gast, „das war mein Plan. Hat aber nicht geklappt. Ich wollte mir heute Morgen ein Brötchen kaufen. Komm ich in diesen Backshop rein und sehe die Bäckereifachverkäuferin. Sie war am Telefon. Ich so – klar, biste lieber mal geduldig. Also stellste dich hinten an. Na ja, also ich war der Einzige. Aber die Dame war am Telefon. Also war ich in der Aufmerksamkeitsreihenfolge wohl nur auf Platz zwei. Die Dame hat wohl mit ner Freundin telefoniert. Ich glaube sie hat ne Tochter. Die hat zurzeit wohl nicht so Bock auf Schule und das macht ihr natürlich Sorgen. Kann ich auch verstehen. Und dieser Freund. Ist wohl so ein Tunichtgut. Nur Party und Flausen im Kopf. Na, was willste machen? Ist halt Pubertät und die redet und redet. Halt nur so uninteressantes Zeug. Voll nervig.“
„So wie du gerade?“, unterbricht ihn der genervte Wirt. Doch der Gast lässt sich in seinem Redeschwall nicht unterbrechen. Bestimmt einer von der Sorte, die sonst niemanden zum Quatschen haben und deshalb in eine Bar gehen, denkt sich der Wirt.
„Ha, ha. Egal. Also wie gesagt: Ich habe gelernt, demütig zu sein. Ich wollte ja nur ne Schrippe haben. Da muss man wegen einem Gast jetzt nicht gleich alles stehen und liegen lassen. Das verstehe ich schon. Wobei sie das ja nicht wusste. So, und die Frau erzählt ihrer Freundin gerade, was Erika letzte Woche zu ihrem Mann gesagt hat, da meint sie plötzlich mitten im Satz: ‚Warte mal, da ist Kundschaft.‘ Richtig, denk ich mir. Schon seit fünf Minuten, aber egal. Die Frau legt die linke Hand auf die Sprechmuschel – heißt das so? Na, du weißt schon, bei den Festnetztelefonen der Teil unten. Da legt sie also ihre Hand drauf und – ich mach kein Witz – schreit mich an: ‚Alter, wenn de nur ne Schrippe willst, kannste gleich wieda gehen, wa?‘ Ey, ich hab so Angst gekriegt, da bin ich auch gleich wieder gegangen. Und jetzt hab ich halt echt Hunger.“
Der Wirt schaut den Gast an, als hätte ihn die Geschichte tatsächlich interessiert. „Das klingt ja schrecklich“, sagt er ironisch und wendet die Unterhaltung in eine für ihn sinnvollere Richtung. „Also, was willste denn essen?“
„Hm, was hast du denn da? Draußen habe ich einen Aufkleber gesehen. Stimmt das?“
„Welchen meinst du?“
„Na, der grüne Aufkleber, frei nach Barack Obama: Yes, Vegan.“
„Ach das, da waren ein paar Hipster richtig witzig. Saukomisch. Nee, nee, vegan ist mir zu kompliziert.“
„Sehr gut. Hast du mir eine Frikadelle?“
„Nein. So etwas gibt es bei mir nicht. Aber ich kann dir eine Boulette geben. Du bist hier immer noch in Berlin. Scheinst neu zu sein, oder?“
„Ja, sorry, du hast recht. Süddeutschland. Aber: Hättest du mir noch eine Schrippe dazu?“
„Ha, da hast du Glück. Ich war heute im Backshop und hab die letzten Schrippen gekauft.“
Ein paar Minuten später stellt der Wirt dem Gast einen Teller mit Boulette, Senf und Schrippe hin. Der Gast schaut gedankenverloren auf die Schrippe. „Vielleicht war die Bäckereifachverkäuferin gar nicht doof, sondern hat mir nur eine nette Auskunft gegeben. Klar, wenn alle Schrippen von dir gekauft wurden, dann kann ich echt wieder gehen“, sagt er und beißt in die Boulette.
„Tja, und wahrscheinlich hat sie dich auch gar nicht angeschrien. Du warst bestimmt nur hangry und hast jede Formulierung auf die Goldwaage gelegt“, sagt der Wirt und stellt dem Gast ein neues Bier hin.
„Hm, kann auch sein. Danke dir.“
Während der Gast weiter isst und trinkt, befürchtet der Wirt, dass er diesen Gast jetzt wohl öfters sehen und vor allem hören wird.
Der Underdog am Vanilla-Sky-Dating-Himmel
Das Feuer im Kamin prasselt vor sich hin. Vor dem Kamin sitzt der Wirt und denkt nach. Er ist gerade sehr glücklich. Es ist ruhig und er kann nachdenken. Das macht er gerne. Es kommt nicht viel dabei rum, aber darum geht es auch nicht. Leider wird diese ungestörte Ruhe nun unterbrochen. Die Tür geht quietschend auf und der Gast betritt die Bar.
Ohne auf den Gast oder die offene Türe zu blicken, sagt der Wirt emotionslos: „Du weißt Bescheid.“
Der Gast dreht sich um und schließt die Tür. Er geht an die Bar, zieht seinen Mantel aus und setzt sich auf seinen Hocker an der Bar. Er dreht sich zu dem Wirt vor dem Feuer um und mustert ihn. „Kann ich etwas zu trinken haben?“
Der Wirt steht auf, geht hinter den Tresen, nimmt sich ein Glas und wählt einen der Zapfhähne aus.
„Boah, ist das kalt da draußen.“
„Hase, willst du ein warmes Bier?“
„Nein, danke. Aber es ist echt fast wie im Winter 2010. Erinnerst du dich? Es hat die ganze Zeit geschneit und alles blieb liegen. Als es mal für ein paar Tage wärmer wurde, konnte nichts richtig abtauen. Die Gullideckel hier sind teilweise so tief, dass das Eis die Abflüsse verstopft hat. Das Eis ist also nur oben getaut, konnte aber nicht abfließen. Dann wurde es wieder kalt und die ganze flüssige Soße ist wieder gefroren. Das ging immer wieder so. Kalt, warm, kalt und das Eis konnte nie ablaufen. Das ging bis in den März hinein.“
Der Wirt nimmt sich ein frisch gespültes Glas und trocknet es mit dem Handtuch auf seiner Schulter ab. Er sagt nichts.
„Hattest du mal einen Gast, der dich so sehr gelangweilt hat, dass du ihn rausschmeißen wolltest?“
Der Wirt schaut kurz in die Ferne und denkt nach. Dann antwortet er: „Ich denke, das ist eine Frage der Zeit.“
„Was meinst du? Wie lange würde es denn dauern, bis du gelangweilt bist?“
„Nein, ich meine die Zeitform der ‚Vergangenheit‘ Vergangenheitsform in deiner Frage. Im Präsens gestellt, könnte ich die Frage wohl mit einem Ja beantworten. Ja, ich habe jetzt gerade einen Gast, der mich so sehr langweilt, dass ich ihn rausschmeißen will.“
Der Gast überlegt kurz, ob er sich beleidigt fühlen sollte. Nein, sollte er nicht. Da steht er drüber. „Okay, dann erzähl du jetzt was Interessanteres.“
„Ich bin gestern in meiner Wohnung aufgewacht“, beginnt der Wirt. „Ich ging ins Bad, um das Übliche zu tun. Dann dachte ich plötzlich: weg. Keine Ahnung, warum. Ich habe mich geduscht. Weg. Kaffee gekocht. Weg. Kaffee getrunken. Weg. Immer der gleiche Gedanke. Aber ich hatte keine Ahnung, warum. Beim Zähneputzen bin ich durch die Wohnung gelaufen und habe mich umgeschaut. Weg. In meinem Badezimmer ist ein kleines Fenster zum Hinterhof. Da habe ich gedankenverloren rausgeschaut. Bisher stand da ein großer Baum, der den halben Hinterhof ausfüllte. Der wurde über Nacht oder besser gesagt am Tag davor einfach weggemacht. Krass, oder? Ich dachte die ganze Zeit an das Wort und wusste nicht, warum.“
„Und? Hattest du eine Beziehung zu dem Baum oder wolltest du eine mit ihm eingehen?“
„Nein, aber ich vermisse ihn schon ein bisschen. Weißt du, wie etwas, was man als gegeben ansieht, und dann ist es weg. Also auf einer philosophischen Ebene. Verstehst du das?“
„Ich war mal in einer Bar“, sinniert der Gast vor sich hin, „da war der Wirt so langweilig, dass ich mich am liebsten selbst rausschmeißen wollte.“
Der Wirt stellt dem Gast ein neues Bier hin, macht „Pff“ und schaut aus dem Fenster neben dem Bartresen. Der Gast folgt seinem Blick. Dort steht eine junge Frau und scheint auf den Bus zu warten.
Normalerweise gibt es hier keine Bushaltestelle, aber es ist mal wieder Schienenersatzverkehr im Einsatz. Also steht die Frau da, schlingt die Arme um ihren Körper, um sich so gut wie möglich warm zu halten. Immer mal wieder dreht sich die Frau um die eigene Achse, um in Bewegung zu bleiben. Das ist gut für den Gast, so kann er die Frau besser betrachten. Da die Unterhaltung mit dem Wirt eingeschlafen ist, ist das eine gute Abwechslung. Die Frau trägt einen dicken Mantel mit Kapuze und eine Handtasche in einer sicherlich sehr modischen Farbe. Aubergine oder so was in der Art. Der Gast weiß, wie wichtig so eine Tasche für eine Frau sein kann. Aber er versteht es trotzdem nicht. Mit der Tasche könnte er zwei Wochen in den Urlaub fahren. Die Frau hat wahrscheinlich nur das Wichtigste für heute dabei.
Sie hat braune halblange Haare und trotz des durch die Kälte verzogenen Gesichtsausdrucks ist der Gast überwältigt. Sie ist wunderschön. Diese Frau will er kennenlernen. Sie ist bestimmt unglaublich nett und die beiden würden die schönsten und klügsten Kinder bekommen. Hoffentlich hat sie stärkeres Erbgut als er. Während er von seiner Zukunft mit dieser tollen Frau und ihren gemeinsamen Kindern träumt, stützt er sein Kinn sehnsüchtig auf seine Handfläche. Natürlich muss er jetzt sehr cool sein. Er weiß ja, wie so etwas läuft. Wenn man zu früh zeigt, worauf man aus ist, wirkt das nicht sonderlich cool. Auch wenn er mit dem Wirt allein ist.
Während die beiden gedankenverloren aus dem Fenster schauen, fragt der Gast den Wirt, ob er die Dame kenne. Der Wirt nimmt sich einen Lappen und hält ihn unter den Wasserhahn. Ein bisschen Spülmittel dazu, dann den Lappen auswringen. Geistesabwesend wischt er über den Tresen.
„Ja, die kenne ich. Sie heißt Tini und kommt ab und zu hier rein. Ich glaube, sie wohnt irgendwo um die Ecke.“
Der Gast schaut in sein Glas. Er denkt an Tini, während diese gerade in den Bus einsteigt. Sie sieht toll aus. Sie passt zu ihm. Ja, vielleicht ein paar Tage jünger als er. Aber so viel auch wieder nicht. Wobei er das natürlich nicht weiß. Zum einen sieht man einer Frau das Alter nicht an, zum anderen sollte man sie darauf auch nie ansprechen.