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Im Zentrum des Romans steht die Romanze von Christian zu Ellie, die von gegenseitiger Achtung getragen ist, aber auch von einer erotischen Spannung lebt. Christian gewinnt durch seine junge Freundin neue Lebensfreude. Die beiden necken sich gerne und sind oft ziemlich aufgekratzt. Ellie ist klug und nachdenklich, sehr ordentlich, klar strukturiert und diszipliniert – Eigenschaften, die ihm gefallen. Christian versucht, seine Lebensgefährtin Caro und den gemeinsamen Sohn Maxim für eine offene Beziehung zu gewinnen. Wird es ihm gelingen, den Konflikt zu lösen, ohne dass es zu einer Trennung von Caro kommt? Die Begegnung mit Ellie hat bei Christian ein Nachdenken über seine erotischen Erfahrungen und seine gescheiterten Beziehungen ausgelöst. In Rückblenden und Gesprächen zwischen Ellie und Christian wird das rätselhafte Verhalten seiner Freunde, die sich aus Christians Leben zurückgezogen haben, thematisiert. Der frühe Tod seiner Mutter und seines besten Freundes haben bei Christian zu Verlustängsten geführt. Im Verlauf der Handlung wird der Erfolgsweg von Amy Macdonald beschrieben. Eine längere Szene zeigt, wie sie als junges Mädchen auf ihrem Zimmer im elterlichen Haus den späteren Welthit "This Is The Life" komponiert. Eine wesentliche Rolle im Roman spielt die Musik, neben der Popmusik insbesondere die von Bruckner und Schostakowitsch. Auch Dirigenten und Komponisten wie Karajan, Furtwängler, Orff sowie die Musikszene im Dritten Reich insgesamt werden beleuchtet. Zudem werden in den Dialogen zwischen Elena und Christian religiöse und weltanschauliche Themen angerissen (Zufall, Fügung, Schicksal…), ebenso Gebiete der Esoterik und Parapsychologie (Aura, Tierkommunikation, Rutengehen…).
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Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Lutz Herrmann
This Is The Life
Amy Macdonald, Ellie und Ich
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1 Winter
2 Frühling
3 Sommer
4 Herbst
Impressum neobooks
Ich hatte abends zu viel gegessen, nachts unruhig geschlafen und war nicht gerade in bester Stimmung, als ich morgens um sieben vor das Haus trat. Mich traf scharfer Ostwind und Schneeflocken peitschten mir wie Nadelspitzen ins Gesicht. Ich schlug den Jackenkragen hoch und zog mir die Mütze ins Gesicht.
Es war glatt auf dem Bürgersteig. Dort, wo sonst der Radweg lag, türmte sich ein halbmeterhoher Schneewall, dahinter ein bizarrer Eisberg, irgendwo darunter mein Auto.
An der Bushaltestelle standen Wesen wie aus einer fremden Welt, die darauf hofften, in absehbarer Zeit Fahrgäste zu werden. Jemand, der aussah wie ein Yeti, wischte die Flocken auf dem Fahrplan beiseite. Ein anderer, der aussah wie Reinhold Messner, machte sich darüber lustig.
Auf der Straße fuhren nur wenige Autos, das Abblendlicht im Flockenwirbel zerstreut, gelblicher Laternenschimmer, schneebehangene Tannen – ich dachte an ein Postkartenmotiv von Mund- und Fußmalern.
Vor mir, im trüben Dämmerlicht, lag das Bahnhofsgebäude, dahinter die Masten der Oberleitung, behängt mit Eiszapfen.
In der Unterführung zu den Gleisen kam mir Gloria entgegen, rauchend und hustend, stark geschminkt, die langen Haare unter einer Mütze versteckt.
„Hallo, Christian!“, rief sie. Wir grüßten uns mit Handschlag. Vor der letzten Chemieklausur hatten mein Sohn und ich erhebliche Anstrengungen unternommen, um seiner Mitschülerin Gloria die makromolekulare Chemie verständlich zu machen, für die sie nur geringe Begeisterung aufbringen konnte.
Auf dem Bahnsteig harrten eingefrorene, dicht verpackte Menschen aus, die im Eiswind mit verkniffenem Gesicht auf eine Bahn hofften; einige hielten den Pappbecher mit „Coffee to go“ in der Hand.
Über mir lief die Anzeige „Zugverkehr unregelmäßig“, die sich seit Tagen nicht geändert hatte; ich beobachtete die Signale, die nicht grün werden wollten und wartete auf Ansagen, die nicht kamen.
Nach zwanzig Minuten tauchte aus dem Schneegestöber ein fremdartiges Fahrzeug auf, das eleganter aussah als unsere Berliner S-Bahnen. Ruckartig kam Bewegung in die eingefrorene Menschenmenge. Der Zug, von einer Märkischen Privatbahn ausgeliehen, hielt, die Türen sprangen auf und alle stürmten im Eilschritt auf die Sitzplätze zu.
Die Szene erinnerte mich an die Ereignisse unmittelbar vor meiner ersten Tanzstunde, als der Tanzlehrer, ein Geck in allerschönster Ausprägung, in die Hände geklatscht und gerufen hatte: „Bitte wählen Sie Ihre Tanzpartnerin!“
Zehn junge Männer stürzten auf die drei hübschesten Mädchen zu und es kam zu Rangeleien unter den Bewerbern; die Abgewiesenen wandten sich schließlich den Mädchen zweiter Wahl zu.
Ich beobachtete damals die Szene kopfschüttelnd und blieb so lange sitzen, bis alle Mädchen vergeben waren. Für mich gab es nichts mehr zu wählen. Ich verließ die Tanzschule mit einem beleidigten Blick auf das rutschige Parkett, wo die frisch gebildeten Pärchen sich aneinanderklammerten.
Heute Morgen war ich schneller und klüger; ich lief hinter einer jungen Frau her und wir besetzten eine Zweier-Sitzreihe.
Normalerweise hörte ich in der Bahn Musik vom mp3-Player, je nach Stimmungs- und Wetterlage Tschaikovskys Winterträume, Swiridows Schneesturm, Schumanns Frühlingssymphonie oder Stravinskys Frühlingsopfer.
An diesem Morgen aber, es war ein Dienstag im Januar, hatte ich den mp3-Player zuhause vergessen. Mein Blick war auf die graue Marmorplatte am Himmel gerichtet, aus der die Schneeflocken fielen. Ich versuchte an nichts zu denken, aber das gelang mir nicht.
Aus den Augenwinkeln betrachtete ich die junge Frau, die neben mir am Fenster saß; ich schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn, sie trug braune gefütterte Stiefel, schwarze Leggins und unter dem geöffneten Mantel einen mutig kurzen Rock. Sie hatte Stöpsel im Ohr und ihren iPod, den sie in der Hand hielt, so laut aufgedreht, dass ich mithören konnte.
Der Song gefiel mir. Ich kannte ihn aus dem Hitradio, das in meiner Küche oft leise im Hintergrund lief. Da die Titel selten angesagt werden, hatte ich nie mitbekommen, wie die Sängerin mit der kräftigen dunklen Stimme hieß. Der energiegeladene, gitarrenlastige Song war mir in den letzten Wochen nicht mehr aus dem Ohr gegangen.
Meine Sitznachbarin war von der Sorte junge Frau, die man besser nicht anspricht, weil sie einfach zu gut aussah. Aber das interessierte mich jetzt nicht. Ich wollte wissen, wie die Sängerin hieß.
Ich lehnte mich dezent zu meiner Nachbarin hinüber und sah sie an. „Sagen Sie bitte, was hören Sie da gerade?“
Sie nahm einen Stöpsel aus dem Ohr. „Was wollen Sie?“
Ich wiederholte meine Frage.
„Kennen Sie das nicht?“, sagte sie.
„Doch, ich kenne es aus dem Radio. Aber ich weiß nicht, wie der Song heißt und wer ihn singt.“
„Na, „This Is The Life“ natürlich. Von Amy Macdonald.“
„Ah ja, jetzt weiß ich’s endlich… Amy Macdonald also… Ist das eine Schottin?“
„Sicher, das hört man doch am Namen.“
„Ich finde, sie singt mit merkwürdigem Akzent.“
„Eben weil sie eine Schottin ist.“
Ich lächelte. „Na klar. Der Song ist jedenfalls ziemlich stark.“
Die junge Frau nickte heftig: „Amy hat den Echo gewonnen als beste Newcomerin des Jahres.“
„Sorry, solche Sendungen sehe ich eigentlich nicht.“
„Hätte sich aber gelohnt. Dann wären Sie jetzt besser im Bilde.“
Das Mädchen ist nicht auf den Mund gefallen, dachte ich.
Sie kramte in ihrer Manteltasche, zog ein Etui heraus, klappte es auf und hielt es mir vors Gesicht. Auf der einen Seite steckte ihr Schülerausweis, auf der anderen ein Foto. „Das ist Amy Macdonald!“, sagte sie.
Ich zog den Kopf zurück, weil ich etwas weitsichtig bin.
Dann sah ich eine eindrucksvolle junge Frau mit großen graublauen Augen und einer hohen, gewölbten Stirn, mit langem dunkelbraunem Haar und einer Akustikgitarre vor sich.
Ich löste meinen Schal und öffnete den Reißverschluss meiner Winterjacke.
„Sie sieht verdammt gut aus, Elena“, sagte ich, obwohl ich natürlich wusste, dass Frauen nicht darauf stehen, wenn man eine andere Frau gut findet.
Sie bekam leicht gerötete Wangen. „Und woher kennen Sie meinen Namen?“
„Er steht auf Ihrem Schülerausweis.“
Sie lächelte. „Sie sind ja schon ganz schön ausgeschlafen.“
„Das liegt jetzt wohl an Amy Macdonald“, sagte ich. „Nachher kauf ich mir die Single.“
„Kaufen Sie sich gleich das ganze Album, es lohnt sich.“
Elena erzählte mir etwas über Amy, über ihr Album und von einem Konzert mit Amy, das sie besucht hatte. Ich hörte interessiert zu und wunderte mich, wie redselig meine Nachbarin plötzlich geworden war.
Wir fuhren in einen Bahnhof ein. „Ich muss jetzt raus, die Schule wartet“, sagte sie und stand auf.
Ja, dachte ich, meine Schule wartet auch und sah auf die Uhr. Die erste Stunde hatte bereits begonnen.
„Hat mich gefreut“, sagte ich. „Tschüs!“
„Mich auch, dann also tschau!“
Ich schaute ihr durch die Eisblumen am Fenster hinterher, wie sie sich eine Zigarette ansteckte und im Strom der Menschen zum Ausgang strebte.
Nettes Mädchen, dachte ich, diese Elena. Mein Sohn war etwa im gleichen Alter. Früher, dachte ich weiter, da hättest du sie nicht so ziehen lassen, da wärst du mit ihr ausgestiegen und hättest sie begleitet; du hättest sie gefragt, was ihr Ziel sei und in jedem Fall gesagt, dass es auch auf deinem Weg läge.
Aber diese Zeiten waren vorbei. Ich hatte die fünfzig überschritten, das Haar wurde langsam dünner, die Stirnfalten hatten sich vertieft und ich wurde schneller müde… Meine Abenteuer lagen hinter mir.
Ich hatte ja auch Caro, seit zwanzig Jahren waren wir schon zusammen, seit achtzehn Jahren hatten wir einen Sohn. Wir hatten nie geheiratet, weil wir keine staatliche Legitimation für unsere Beziehung wollten, schon gar keine kirchliche.
Einige Leute, Nachbarn zum Beispiel, Bekannte, aber auch Caros Vater, fanden unsere Beziehung etwas schräg; wir hatten zwar getrennte Wohnungen, waren aber doch unzertrennlich, auch wenn die Alltagsroutine unsere Beziehung in den letzten Jahren ein wenig abgeschliffen hatte.
Aber diese Amy Macdonald, dachte ich weiter, um die solltest du dich mal kümmern. Es musste ja nicht immer nur Klassik sein!
Mit zwanzigminütiger Verspätung kam ich in der Schule an und stand vor meiner dünn besetzten zehnten Klasse; die restlichen Schüler, ebenfalls Opfer der winterbedingten Zugausfälle, platzten im Minutentakt herein und normaler Unterricht war wegen der vielen Störungen nicht möglich.
Auf dem Stundenplan stand Chemie und ich hätte eigentlich die Isomerie der Alkane unterrichten müssen, doch dazu fehlte mir jeglicher Antrieb. Ich redete allerlei unzusammenhängendes Zeug, weil ich wegen der vorausgegangenen Ereignisse immer noch unkonzentriert war. So brachte ich unser loses Unterrichtsgespräch über den Umweg des Musikunterrichts auf die aktuellen Charts. Betont beiläufig schloss ich die Frage an: „Wie findet ihr eigentlich Amy Macdonald?“
„Cool, geil, she is hot…“, kamen die Kommentare. Augenblicklich lagen die iPods und mp3-Player auf den Tischen und in einem wilden Durcheinander tönten mehrere Amy-Songs gleichzeitig durch den Klassenraum. Jill und Julia zeigten mir Bilder und Videos von Amy, die sie auf ihren iPhones gespeichert hatten. Das Pausenklingeln ging in Amys Rhythmen unter.
„So eine Musikstunde könnten wir ruhig öfter mal einlegen“, sagte Volker beim Rausgehen, ein Schüler, der sonst nie seinen Mund aufmachte.
Nach der Schule überlegte ich, wo ein Musikgeschäft sein könnte, aber nirgendwo auf meinem Weg lag ein CD-Laden. Es war viel zu kalt, um einen zu suchen. Ich verschob die Aktion und machte mich auf den Heimweg.
Was wusste ich eigentlich von Schottland? Dudelsack und Schottenrock? Nessie und Sean Connery? Das wilde Hochland, Dauerregen und die ewig erfolglosen Kicker. Dann gab es noch die Schottische Sinfonie, aber die war von Mendelssohn-Bartholdy.
Als ich die Wohnungstür aufschloss, überfiel mich eine andere Art von Musik. Mein Sohn hörte gerade ziemlich laut die „Drei Orchesterstücke opus 6“ von Alban Berg, über die er ein Referat im Musikunterricht halten sollte.
Ich nickte ihm aufmunternd zu.
„Herbe Kost“, rief Maxim.
„Man muss es mögen“, rief ich. „Die Zwölftonmusik hat sich auch nicht durchgesetzt. Bartok, Stravinsky und Schostakowitsch sind andere Wege gegangen.“
„Die waren schlau“, rief Maxim.
Das Werk kulminierte gerade in einem gewaltigen Orchesterausbruch. Kater Felix hielt den Kopf schräg und sah mich vorwurfsvoll an.
Ich nahm einen Imbiss, währenddessen im Hintergrund die Berg’schen Dissonanzen explodierten.
Etwas später tat ich das, was Lehrer nachmittags machen: Klausuren und Tests korrigieren; wenn es sein musste, auch mal eine Unterrichtsvorbereitung.
Es war eben nicht so, wie der Spruch glauben machen sollte, der an der Tür zum Lehrerpissoir klebte: Lehrer haben vormittags Recht und nachmittags frei!
„Ich habe bei YouTube Videos von Celi und Wand mit deinem Bruckner rausgesucht“, sagte Maxim später zu mir in der Küche, als ich für uns etwas zusammenkochte.
„Das ist nicht mein Bruckner“, sagte ich. „Bruckner ist für uns alle da, aber trotzdem danke.“
Für den Abend hatte ich mir tatsächlich vorgenommen, mich mit einigen Bruckner-Einspielungen von Sergiu Celibidache und Günter Wand zu beschäftigen.
Caro war für eine Woche bei ihrer Freundin Petra. Zusammen mit ihr und anderen Frauen mittleren Alters besuchte sie ein Seminar für Fortgeschrittene, wo mit Katzen und Hunden gesprochen wurde, aber auch mit Engeln, die sich in einer höheren Dimension aufhalten. Mein Abend versprach also angenehm und ohne Störungen zu verlaufen.
Kurz nachdem wir die Wohnung gemietet hatten, ganz in der Nähe von Maxims Gymnasium, stellten wir fest, dass sie eigentlich zu klein für uns drei war.
„Das nehme ich“, entschied Caro und zeigte auf das kleine Zimmer mit Blick über den Waldfriedhof.
„Und das ist meins“, bestimmte Maxim. Er meinte das etwas größere Zimmer mit Blick über den Tennisplatz.
Wir standen ein wenig ratlos auf dem Korridor. Da war nur noch das so genannte Wohnzimmer mit der Küchenzeile.
„Hier muss die Ottomane mit dem Couchtisch hin und da der Esstisch!“ Caro zeigte in die freien Ecken des Wohnzimmers.
„Und wo soll ich hin?“, fragte ich kleinlaut.
Wir sahen uns an. Allgemeines Schulterzucken!
Maxim kratzte sich am Kopf. „Bleibt noch der Keller und die Garage.“
„Sehr witzig“, sagte ich.
„Du kannst doch den Esstisch als Schreibtisch mit benutzen“, sagte Caro. „Und die Ottomane lässt sich zum Bett ausziehen.“
„Du spinnst wohl!“ Ich zeigte ihr einen Vogel. „Ich baue doch nicht ständig Betten und wenn wir essen, nehme ich die hundert Hefte vom Tisch. Und wo sollen meine Sachen hin, meine Bücher, meine Ordner…?“
„Na ja, okay, das geht dann wohl nicht auf Dauer“, schwenkte Caro um.
Maxim kratzte sich ratsuchend am Kopf.
Ich schaltete schnell. „Zu große Enge führt zu Aggressionen und Übellaunigkeit. Räumliche Trennung hingegen würde etwas Luft schaffen und unserer Dreier-Beziehung nur guttun.“
Maxim nickte. „Ja ja, das stimmt“, sagte er und sah dabei Caro an.
„Und wie soll das gehen?“ Caro hob die Arme und hielt den Kopf schräg.
„Ganz einfach. Ich sehe mich nach einer kleinen Wohnung um. Da könnte dann jeder von uns mal allein wohnen…, im halbjährlichen oder jährlichen Wechsel, wie wir wollen…“
„Ein interessantes Modell“, sagte Caro. „Käme auf einen Versuch an.“
Im Ausprobieren neuer Dinge war Caro schon immer ganz groß und deshalb kein Widerstand von ihr zu erwarten.
Ein paar Tage später fand ich eine schöne Einzimmerwohnung, nur zwei Straßen weiter. Es gefiel mir, für mich zu sein, fernab vom aufgeregten Familienalltag, und in Ruhe meine Bruckner- und Schostakowitsch-Partituren studieren zu können, das Badezimmer war immer frei und wenn Caro morgens um sechs mit gewaltigem Tellergeklapper die Spülmaschine ausräumte oder mit ihrer Lieblingsmaschine, dem Staubsauger, durch die Wohnung fuhr, hörte ich es nicht mehr.
Auch Maxim war froh über die unerwartete Entwicklung. Die Möglichkeit, mal allein zu wohnen, schien ihm zu gefallen. Er verstand sich gut mit mir und er verstand sich gut mit seiner Mutter. Auch ich verstand mich, von gelegentlichen, aber eher unbedeutenden Auseinandersetzungen abgesehen, gut mit Caro. Jedoch war da das unerklärliche Phänomen, dass wir uns zu dritt oft gar nicht verstanden. Wir führten in ständig wechselnden Konstellationen das Theaterstück „Zwei gegen einen“ auf, was hin und wieder zu familiärem Unfrieden führte. Die Probleme ließen mit den zwei Wohnungen spürbar nach. Wir waren trotzdem oft zusammen, aber eben freiwillig; wir waren nicht mehr dazu gezwungen. Und genau darin lag der Vorteil!
Heute Abend gab es Currywurst mit Reis und Zwiebeln und gemischten Salat, und beiläufig fragte ich Maxim, ob er Amy Macdonald kennen würde.
„Na sicher“, sagte er mit leicht beleidigtem Unterton, „die ist doch schwer im Rennen. Niemand hat in der letzten Zeit mehr Alben verkauft.“
„Klar“, sagte ich, „die kennt natürlich jeder, aber ich meine etwas genauer.“
„Nicht so, ich steh’ ja im Moment eher auf Liszt und Mahler, aber wir können mal im Netz nachschauen.“
Nach dem Abräumen setzten wir uns an den PC. Maxim klickte ein Video von Amy an. Ich rückte näher an den Bildschirm. Sie sah noch besser aus als auf Elenas Bild, ihre Art Gitarre zu spielen war voller Energie und ihr Gesang mitreißend.
„Donnerwetter“, sagte ich. „Die ist ja wie ein Vulkanausbruch!“
Damit musste ich erstmal allein sein.
„Ich geh dann mal an Caros Rechner“, sagte ich, ging ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter mir.
Eher pflichtgemäß schaute ich mir zuerst ein paar Ausschnitte aus Bruckner-Symphonien an, die mir Maxim empfohlen hatte, merkte aber unterschwellig, dass ich nicht so recht bei der Sache war.
Den altersbuckligen Günter Wand sowie den sitzenden, weißhaarigen, mit strengem Gesicht zelebrierenden Celibidache fand ich im Augenblick weitaus weniger sexy als die tolle Schottin.
Der Uhrzeiger übersprang die Geisterstunde, ich stieg von Bier auf Wein um und verlor mich in ihren vielen Videos.
Je länger die Nacht dauerte, desto stärker geriet ich in den Bann der Macdonald. Wie einer ihrer Fans bei YouTube in den Kommentaren schrieb: „She is magnetic!“ Genau so war es! Ich war in ihr Kraftfeld geraten und spürte, dass es da kein Entkommen mehr geben kann. Auch wenn sich eine leise Stimme in mir meldete, ich sei doch wohl ein wenig zu alt für eine solche Begeisterung.
„Mein Gott, du hockst ja schon wieder am PC“, sagte Maxim morgens um halb sieben und warf einen Blick auf die leeren Flaschen und Erdnussbüchsen.
„Falsch“, sagte ich. „Ich sitze noch immer hier.“
Er tippte sich an die Stirn. „Ich glaub’s nicht! Die ganze Nacht mit Amy!“
Mein Sohn ist schrecklich, dachte ich. Immer weiß er alles und spricht es auch noch schonungslos aus. Aber er hatte ja Recht! Noch nie hatte ich wegen irgendetwas oder irgendjemandem eine Nacht durchgemacht. Was war mit mir geschehen?
„Bist du trotz dieses Exzesses noch in der Lage, Frühstück zu machen?“, fragte Maxim auf dem Weg zur Dusche vorsichtig an.
Ich nickte und kochte Kaffee, der stärker als sonst ausfiel.
„Du musst an infantiler Regression leiden“, sagte Maxim beim Frühstück und ein paar Brötchenkrümel flogen zu mir herüber.
„Du mit deinem Freud“, sagte ich. „Der kannte eben Amy Macdonald noch nicht.“
Seit Maxim aber Sigmund Freud kannte, wollte er Psychoanalytiker werden und übte dafür bei jeder Gelegenheit. So hatte er einen Mitschüler aus der Oberstufe und seine Freundin, mit denen er noch nie ein Wort gewechselt hatte, mit Hilfe von Facebook, Google und YouTube analysiert.
Als er dann später zu dem Mitschüler, der Schlagzeug in einer Band spielte, näheren Kontakt bekam und es mit seiner Freundin kriselte, konnte er sich als Beziehungsberater nützlich machen.
Als mein Sohn mit tastenden Schritten auf den Bürgersteig trat, stand ich am Fenster und winkte ihm zu. Es war wie immer um diese morgendliche Zeit - eisig, dunkel und windig. Maxim hatte zum Glück nur einen überschaubaren Weg vor sich, weil er ein Betriebspraktikum in einer nahe gelegenen Klinik absolvierte, in der mein Bruder Stationsarzt war.
Ich ging zum Telefon und rief meinen Schulleiter auf seinem Handy an. Nach nur einem Klingeln war er dran.
„Wie geht’s?“, fragte ich.
„Blendend“, sagte er. „Die Regio ist brechend voll, ich stehe an der Tür und der Zug fährt im Schneckentempo.“
„Harte Zeiten“, sagte ich. „Hör mal, Cornelius, ich habe eben mit meinem Doktor telefoniert. Ich soll heute im Bett bleiben. Tut mir leid. Verdacht auf Schweinegrippe.“
„Gibt’s die denn wirklich?“, sagte Cornelius.
„Keine Ahnung. Vielleicht bin ich ja der Erste, der sie hat.“
Dann hörte ich Cornelius noch ein paar Mal husten, bevor er in ein Funkloch kam und die Verbindung zusammenbrach.
Die Nacht mit Amy Macdonald beendete ich zugedeckt auf der Wohnzimmercouch. Mein Schädel brummte und ich war hundemüde. Ich spülte eine Aspirin plus Vitamin C mit viel Wasser runter und schloss die Augen.
Nach ein paar Stunden Schlaf war ich gegen Mittag wieder hergestellt. Ich nahm ein Bad und legte mich auf meine Massagematte.
Am frühen Nachmittag rief Caro an. „Wie war es in der Schule?“, fragte sie.
„Wie immer“, sagte ich, „niemand interessiert sich für Physik und Chemie!“
„Und wie hast du geschlafen?“
„Ich schlafe immer gut in deinem Bett“, sagte ich.
„Ich habe mit einem Hund in Danzig gesprochen“, erzählte Caro. „Der Hund ist seit drei Jahren tot.“
„Das tut mir leid“, sagte ich. „Maxim kommt gerade.“
Er nahm mir den Hörer aus der Hand. Die beiden sprachen über seinen Tag in der Klinik und Caros Seminar und plötzlich hörte ich aus der Küche meinen Namen und den Namen „Amy Macdonald“.
Ich schaltete schnell, nahm Maxim den Hörer aus der Hand und unterbrach die Verbindung.
„Bevor du dich verplapperst“, ranzte ich Maxim an. „Nix Amy Macdonald! Ich habe tief und fest geschlafen. Hast du das verstanden?“
Maxim sah mich leicht irritiert an, nickte dann aber. Ich gab ihm den Hörer zurück und er stellte die Verbindung zu Caro wieder her. „Du warst plötzlich weg“, sagte Maxim und lenkte das Gespräch auf andere Themen.
Ich nickte freundlich und hielt den Daumen hoch.
Beim Abendessen war Maxim gut gelaunt, was nicht oft vorkam. Ich hatte eine Gemüsesuppe gekocht, weil wir eigentlich Vegetarier waren, wenn es nicht gerade Bratwurst oder Rindersteak gab.
„Sicher, die Macdonald ist schon gut“, bemerkte er. „Die hören viele auf der Schule.“
„In meiner Klasse auch“, ergänzte ich. „Heute werd’ ich mal nach Amy googeln, ein paar Interviews und Kommentare lesen. Mal sehen, wer das alles komponiert und getextet hat. Das muss ja ein Genie sein.“
Mein Sohn sah mich schräg an. „Na, sie selbst.“
„Wie… sie selbst?“ fragte ich nach.
„Na, das ist alles von ihr. Sie ist eine Songwriterin, verstehst du?“
Es trat eine Gesprächspause ein. Ich stocherte mit dem Löffel in der Gemüsesuppe herum.
„Unmöglich“, sagte ich, „das kann nicht sein. Sie ist erst Anfang zwanzig.“
„Und wenn schon, ich hatte mal das Album in der Hand. Da stand: All songs written and performed by Amy Macdonald. Das ist doch wohl eindeutig, oder? „This Is The Life“ hat sie mit siebzehn oder so geschrieben.“
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Mit siebzehn…?“
Das konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine Siebzehnjährige den meistverkauften Song der letzten Dekade geschrieben haben soll.
Aber dennoch, dachte ich, Maxim weiß immer gut Bescheid und von daher könnte es ja doch stimmen. Nach dem Essen sah ich dann im Netz nach – und Maxim hatte tatsächlich Recht.
Ich öffnete das Fenster, ließ die kalte Luft ins Zimmer und dachte an die Zeit, als ich siebzehn war. Meine Mutter war damals gerade gestorben und die Welt lag für mich hinter einem Grauschleier. Ich hörte keine Popmusik, ich hörte Mutters Lieblingsstück: das vierte Klavierkonzert von Beethoven. Und ich hörte Tschaikovskys Sechste oder die Unvollendete. Ich überlegte von morgens bis abends, wie es weitergehen sollte und hatte alle Mühe, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren.
Ich schloss jetzt das Fenster, las noch ein paar Interviews mit Amy Macdonald und ging dann schlafen. Die Müdigkeit vom Vormittag hatte sich wieder eingestellt.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich erfrischt. Felix lag neben mir auf dem Kopfkissen. Als erstes fiel mir Amy Macdonald ein, kurz danach sah ich Elena vor mir. Ob ich sie wieder in der S-Bahn treffen würde?
Ich instruierte meinen Schutzengel und sprang aus dem Bett. Die Schweinegrippe hatte nur einen Tag gedauert.
Als ich mit Maxim aus dem Haus trat, war es wie immer: eiskalt, windig, stockdunkel. Und es bestand keine Aussicht auf Besserung!
Mit maliziösem Grinsen hatte er es uns verkündet, der Meteorologe aus dem Fernsehen, den wir Fröschlein nannten, wegen seiner schmalen Lippen und weil er eben ein Wetterfrosch war: „Der Fünfzehn-Tage-Trend: Sie sehen es selbst. Die Temperaturkurve geht eher noch weiter nach unten.“
Ich stand also wieder auf dem Bahnhof, mit „Coffee to go“ in der Hand, und hoffte wie all die anderen auf die Ankunft einer S-Bahn. Und ich hoffte noch auf etwas anderes.
Ich ging auf dem Bahnsteig hin und her und sah mich um. Hinter einer Plakatwand, ein wenig windgeschützt, stand Elena, virtuos mit dem Kaffeebecher und der Zigarette in der linken, dem Handy in der rechten Hand, die Stecker vom iPod in den Ohren.
Ein Mädchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, dachte ich, verkabelt und unansprechbar. Elena trug blaue Thermohosen, schwarze Stiefel und eine rote Winterjacke mit Kapuze. Ihre langen, leicht gewellten, aschblonden Haare schauten darunter hervor. Du sprichst sie jetzt trotzdem an, sagte ich mir und trat auf sie zu.
„Hi Elena! Wie geht’s?“
Sie schaute überrascht vom Handy hoch.
„Amy Macdonald“, sagte ich. „Vorgestern in der Bahn.“
„Klar“, sagte sie und nahm die Stecker aus den Ohren. „Hab’s nicht vergessen.“
„Ich hab alles von Amy gehört“, kam ich sofort zur Sache.
„Und wie fanden Sie es?“
„Überirdisch. Voller Energie! Ich bin begeistert.“
Sie lächelte mich an und nickte.
„Was gefällt Ihnen eigentlich so an Amy, wenn ich fragen darf?“
„Dass sie authentisch ist“, antwortete Elena. „Sie macht einfach ihre Musik. Amy ist eine Sängerin ohne Spezialeffekte und Starallüren. Sie braucht keine Perücken und keine Kostümierung.“
„Und sie kommt ohne Negativ-Schlagzeilen aus, richtig?“
Elena lachte. „Stimmt genau. Sie fällt nicht nachts um vier nackt und besoffen aus einer Szenebar.“
Ich schaute Elena ins Gesicht und in diesem Moment sprang der Funke über. Trotz der Kälte fing ich an zu brennen und ich wusste, dass ich dieses Mädchen nicht noch einmal ziehen lassen werde.
„Fahren Sie immer von hier?“
Elena nickte. „Und Sie?“
„Ich fahre eigentlich mit dem Auto, aber das ist wohl für immer unter einem Eisberg verschwunden.“
Sie lachte. „Deshalb hab ich Sie hier noch nicht gesehen.“
Sie pustete mir den Rauch ins Gesicht.
„Geben Sie mir auch eine. Ich bin eigentlich Nichtraucher.“
Sie grinste. „Hoffentlich kommt bald so etwas wie eine Bahn, meine Schule fängt gleich an.“
Sie schüttelte mir eine aus der Packung und gab mir Feuer.
„Meine Schule fängt auch gleich an“, sagte ich.
Sie hielt den Kopf schräg. „Sie sind doch nicht etwa Pauker?“
„Ich bin Chemiker und unterrichte Physik und Chemie auf einer Privatschule.“
„Na, das ist ja ein Zufall“, sagte sie.
„Es gibt keine Zufälle“, sagte ich lächelnd.
„Sagt die Quantenphysik nicht etwas anderes? Das hatten wir doch gerade. Alles nur Wahrscheinlichkeiten, oder…“
„Einstein war nie zufrieden mit der Quantenphysik“, sagte ich. „Gott würfelt nicht! Das war sein Standpunkt.“
„Also was denn nun?“, sagte sie.
„Reden wir später drüber“, sagte ich und zeigte in Richtung der Gleise.
Im Schritttempo näherte sich eine Bahn, die mit ihren Eisgirlanden aussah wie ein Polarexpress. Ich zählte die Wagen. Normal sind acht Wagen. Schlecht sind sechs Wagen. Ganz schlecht vier. Es waren vier.
Wir traten unsere Kippen aus und drängelten uns hinein. Heute reichte es nur für einen Stehplatz.
„Das Schicksal hat Sie mir geschickt“, sagte sie unvermittelt und lächelte mir ins Gesicht.
Nein, dachte ich, es ist umgekehrt. Aber wenn sie es so sah, sollte es mir natürlich recht sein.
„Das Schicksal?“, fragte ich. „Oder doch der Zufall?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Aber könnte es vielleicht sein, dass Sie die Chemie verstehen und auch noch ein paar andere Sachen darüber hinaus?“
„Denke schon“, sagte ich. „Sie kennen Lichtenberg, das Universalgenie aus Göttingen?“
Sie nickte. „Der Kleine mit dem Buckel.“
„Genau der. Er hat mal gesagt: ‚Wer nur die Chemie versteht, der versteht auch die nicht recht’.“
„Verstehe“, sagte sie. „Wissen Sie, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten… vielleicht sind Sie ja eine seltene Ausnahme, aber die größten Flachschwimmer gibt es nun mal unter den Chemielehrern!“
Ich lachte laut auf und einige Fahrgäste um uns herum konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Das ist bekannt“, sagte ich. „Dicht gefolgt von den Mathelehrern.“
„Haargenau!“ ereiferte sie sich. „Die verstehen ihr Zeug vielleicht für sich selbst, können aber nichts erklären. Aber auch gar nichts.“ Ihre Augen funkelten und die Wangen glühten.
Ich sah sie an und dachte, so eine haben wir bei uns auf der Schule nicht.
Ich schaltete blitzschnell. „Machen wir es doch so: Ich erkläre Ihnen die Chemie und Sie erzählen mir was über Amy.“
„Abgemacht! Ich hänge ganz schön durch in Chemie und brauche eine gute Note für den Abiturschnitt.“
„Kein Problem“, sagte ich.
„Ich bin immer um die gleiche Zeit auf dem Bahnhof, sieben Uhr dreißig“, sagte sie und gab mir die Hand.
„Dann also bis morgen“, sagte ich.
Sie drängelte sich hinaus und lächelte mir von der Tür nochmal zu.
Das muss jetzt ein Traum sein, dachte ich. Nachhilfe mit diesem Mädchen…
Ich war auf regelmäßige Nachhilfe angewiesen, weil ich nur achtzehn Unterrichtsstunden in der Woche hatte. Das war zwar anstrengend genug, viel länger konnte man Schule kaum ertragen, aber ich verdiente deshalb auch nicht gerade üppig.
In manchen Situationen hatte ich es schon bereut, gleich nach meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, ganz ohne Lehrerausbildung, an die Privatschule gegangen zu sein, nur weil mich gute Beziehungen dahin geführt hatten. Als Chemiker in der Industrie hätte ich deutlich mehr verdient.
Zwei Stationen später stieg ich auch aus und lief im Schneegestöber zur Schule. Die Menschen sahen heute freundlicher aus als sonst und selbst die Häuser waren nicht mehr die gleichen, jedenfalls waren sie nicht mehr grau. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Fassaden und Balkone vom vielen Schnee weiß überzuckert waren.
Ich freute mich auf meine Schüler und hatte sogar Verständnis für meine Kollegen, die mit der täglichen Lustlosigkeit im Lehrerzimmer hockten und in Gedanken schon wieder auf dem Heimweg waren. Ich spürte, dass frischer Wind in mein Leben wehte.
Die Chemiestunden verliefen schwungvoll, die Schüler waren aufmerksam, gingen vorbildlich mit und waren irritiert, weil sie nicht verstanden, warum heute alles irgendwie anders war.
In der vierten Stunde hatte ich in meiner zehnten Klasse Physik. Wir sprachen über Akustik. Ich erklärte ihnen, warum die Musik in der Philharmonie so gut und in der Arena so schlecht klingt.
„Und, was ist jetzt mit Amy Macdonald?“, sagte Jill unvermittelt, eine Viertelstunde vorm Klingeln.
„Alles von ihr gehört“, antwortete ich und legte die Kreide weg.
„Sie sind in Sachen Rock/Pop wohl nicht so ganz upgedatet?“, sagte Jill. „Eher Bach und Mozart, stimmt’s?“
„Eher Bruckner und Schostakowitsch“, sagte ich. „Aber du hast schon recht, ich bin eigentlich aus dem Alter raus, wo man die Charts rauf und runter hört.“
Einige Schüler nickten, andere grinsten und der Rest guckte auf die Tischplatte.
„Als ich in eurem Alter war, haben wir Deep Purple gehört, Led Zeppelin oder Uriah Heep.“
„Tja“, sagte Benjamin, der E-Gitarre in einer Band spielte und die Haare schulterlang trug, „das war noch Musik!“
Es kam Gemurmel auf, manche rümpften die Nase, andere schüttelten den Kopf, einige stimmten zu und es begann ein Gespräch über die Musik von heute und von früher.
„Ich finde, es gibt heute viel kommerziellen Einheitsbrei. Und deshalb ist mir Amy Macdonald auch aufgefallen. Sie ist etwas ganz anderes.“
„Was gefällt Ihnen denn genau an ihr?“, wollte Julia wissen.
Ich lief neben der Tafel auf und ab und dachte nach. Was sollte ich ihnen sagen? Sollte ich überhaupt mit meinen Schülern darüber sprechen?
Wiederum - die Klasse war in Ordnung, wir waren schon zweimal zusammen auf Klassenfahrt und hatten uns dabei gut verstanden.
„Vielleicht wünsche ich mir eine Tochter, die so wäre wie sie.“
Es wurde plötzlich ganz still in der Klasse. Einige Mädchen schauten mich überrascht an. Ich ging zum Fenster und öffnete es.
„Sie haben doch einen Sohn, richtig?“, sagte Jenny.
„Eben deshalb. Da fragt man sich manchmal, wie es wohl mit einer Tochter wäre? Ist sie morgens freundlicher und weniger arrogant als der Sohn? Kann man sich mit ihr normal unterhalten, ohne dass sie immer Recht haben will oder man ständig belehrt wird? Hätte Sie vielleicht Lust, mir beim Kochen zu helfen?“
Gelächter kam auf. Auch die Jungs lachten.
„Das kann man bestimmt nicht so allgemein sagen“, meinte Tim. „Es gibt nicht die Tochter oder den Sohn.“
„Nein, sicher nicht. Und trotzdem denkt man drüber nach.“
Ich atmete die kalte Luft ein.
„Ich finde Amy auf geradezu unheimliche Weise perfekt“, sagte Julia.
„Ja, vielleicht ist es das! Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Ihre Stimme, die Art und Weise, wie sie Gitarre spielt, ihr Aussehen, ihr Blick und diese unglaublichen Songs... Man starrt sie an und ist fasziniert.“
Es gab keinen Widerspruch.
„Und da wäre noch etwas…“, fuhr ich fort. „Ich will das nicht weiter erklären. Ich kann das auch gar nicht erklären. Es ist einfach meine Wahrnehmung. Ich finde, sie hat so eine innere Schönheit… Versteht ihr, was ich meine?“
Julia nickte. „Ich verstehe genau, was Sie meinen!“
Sie sah mich mit leuchtenden Augen an und ein schönes Gefühl überkam mich. Da war noch jemand, der in diesem Augenblick meine Empfindungen teilte.
„Und hören Sie nun die aktuellen Sachen?“, kam Jill zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück.
„Doch, ich hör das schon, im Küchenradio, weiß aber nie, wer da singt.“
„Da gibt’s übrigens noch andere außer Amy“, mischte sich Jenny ein.
„Tatsächlich? Noch andere?“ Ich sah sie erstaunt an.
„Aura Dione, Gabriella Cilmi, zum Beispiel, Katie Melua und Ellie Goulding“, klärte sie mich auf.
„Sagen Sie nicht, dass Sie die nicht kennen!“ Jenny sah mich streng an.
Ich wiegte den Kopf. „Sicher, schon mal gehört… ja…“
Ich hatte keine Ahnung.
„Aura Dione hat schon als Vierzehnjährige Songs geschrieben“, betonte Jill.
„Als Vierzehnjährige…“, wiederholte ich. „Aha.“
„Mädchen können mit vierzehn schon eine ganze Menge“, stellte Jill fest und sah mich herausfordernd an.
Ich musste fast lachen; Jill war nicht gerade eine Leuchte.
„Na ja, Physik und Chemie eher nicht“, sagte ich mit freundlichem Unterton.
Sie verzog das Gesicht. „Sie wissen schon, was ich meine.“
„Natürlich, ich weiß schon, was du meinst.“
Ich schloss das Fenster und ging wieder an mein Pult. In diesem Moment beendete die Klingel unser entspanntes Gespräch, um das mich mancher Kollege beneidet hätte und ich war wieder mal zufrieden mit meinem Job.
Als alle draußen waren, schrieb ich mir die Namen der Sängerinnen auf, sofern ich sie behalten hatte.
Nach der Schule ging ich zum Biofleischer und zu Yusuf, dem Händler in der Bahnhofsvorhalle, und kaufte eine Flasche guten Bordeaux.
Als Maxim nachmittags aus der Klinik kam, warf ich zwei Filetsteaks und braune Zuchtchampignons in die Pfanne und stellte den Wein auf den Tisch.
„Mach mal auf“, rief ich.
Mein Sohn, der sich für einen Weinkenner hielt, nahm den Rotwein in die Hand und las das Etikett. „Gibt es was zu feiern?“, fragte er mit skeptischem Unterton.
„Nee, einfach so. Ich hab heute gute Laune.“
Er goss ein und probierte einen Schluck. „So etwas Gutes hatten wir lange nicht mehr im Haus. Das haben wir dann wohl Amy Macdonald zu verdanken.“
Ich lachte. „Nicht nur.“
„Ach so, jetzt verstehe ich. Du hast mit einer Schülerin angebändelt, sie hat dir schöne Augen und einen auf Mitleid gemacht, weil sie keine Fünf haben will“, sagte er in seiner schonungslosen Art.
Ich grinste ihn an und goss nach. „Trink lieber noch einen Schluck!“
Die Steaks waren ihr Geld wert, ebenso der Bordeaux, wenn auch zu wenig in der Flasche war.
„Du brauchst doch einen neuen Monitor“, sagte ich zu Maxim.
„Unbedingt, der alte lässt sich kaum noch einschalten.“
„Dann bestell ihn doch.“
„Du meinst, von deinem Konto?“
„Von welchem denn sonst? Du hast ja keins. Und wenn du eins hättest, dann wäre da sowieso nur mein Geld drauf.“
Er verzog das Gesicht, verschlang schnell die letzten Happen, stand auf und ging mit dem Weinglas in sein Zimmer.
„Ich glaub’s einfach nicht, was Frauen bewirken können“, rief er mir zu, während er die Online-Bestellung am PC aufgab.
„Versuch’s doch mal mit Naomi“, empfahl ich. „Vielleicht wirst du es dann verstehen.“
Naomi, deren Eltern als Psychotherapeuten arbeiteten, war in seinem Deutsch-Leistungskurs und hatte ein Auge auf ihn geworfen, ohne dabei aber auf viel Gegenliebe zu stoßen. Er fand sie zu aufgedreht und hyperaktiv. Weil sie das übliche Programm für höhere Töchter zu absolvieren hatte – Tanz, Tennis, Klavier – und dazu die nicht geringen schulischen Anforderungen, war sie abends oft so erschöpft, dass sie weinen musste. Das hatte sie Maxim einmal beim Pausengang auf dem Schulhof verraten.
Abends sahen wir noch den Stauffenberg-Film „Operation Walküre“, den mein Bruder über das WLAN seines Nachbarn für uns runtergeladen hatte, und hinterher, zur Entspannung, „Mr. Bean macht Ferien“.