Tief in der Nordsee - Hauke Burmann - E-Book

Tief in der Nordsee E-Book

Hauke Burmann

4,4

Beschreibung

Vor der Küste Dithmarschens finden Arbeiter einer Ölbohrinsel eine teilweise skelettierte weibliche Leiche. Eine erste Spur führt Hauptkommissar Christian Ehlers von der Kripo Heide zu den Mitgliedern einer Umweltschutzgruppe. Dass ihn seine Ermittlungen mehrmals in Lebensgefahr bringen - und er am Ende gleich vier Morde aufklären wird -, kann er da noch nicht ahnen …

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Hauke Burmann, geboren 1976, studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Hamburg. Schon in der Jugend entdeckte er seine Vorliebe fürs Schreiben und für den Journalismus. Heute arbeitet er als Chefredakteur in einer Agentur und verantwortet verschiedene Kunden- und Mitarbeitermedien.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heinz Wohner/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Birgit Förster eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-774-1 Küsten Krimi Originalausgabe

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Für meine Frau Jessica

Prolog

Die Frau lag wie versteinert in den Dünen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, doch die Neumondnacht war stockfinster, sodass sie kaum etwas erkennen konnte. Nicht weit von ihr entfernt hörte sie die Brandung der Nordseewellen. Irgendwo am Himmel über ihr kreischte eine einsame Möwe. Nur allzu gern wäre sie jetzt mit ihr davongeflogen. Denn da war noch ein anderes Geräusch, das der Wind zu ihr herübertrug. Jemand rief ihren Namen. Sie wusste, wer auf der Suche nach ihr war, und das verhieß nichts Gutes. Dass die Stimme des Mannes immer lauter wurde, konnte nur eins bedeuten: Er war auf dem direkten Weg zu ihr.

Sie wollte aufspringen und fliehen, doch es war unmöglich. Wahrscheinlich war es ein Bänderriss im rechten Fuß. Eben, während sie durch die Dunkelheit geirrt war, hatte sie eine Mulde im Boden übersehen. Als sie in das Loch hineintrat, knickte sie seitlich um und schrie vor Schmerz laut auf. Das musste er gehört haben. Damit hatte sie sich verraten. Alles in ihr rief: Du musst weg von hier, so schnell du kannst! Doch selbst wenn sie hätte auftreten können– wohin hätte sie laufen sollen? Die Insel, an deren Südspitze sie Zuflucht gesucht hatte, war hier zu Ende. Gleich hinter den Dünen erstreckten sich der Strand und das offene Meer. Ihr war klar, dass es von hier kein Entkommen gab.

Schon hörte sie wieder ihren Namen– diesmal bereits bedrohlich laut. Sekunden später sah sie ganz in der Nähe etwas Helles aufblitzen. Schützend hielt sie die Hände vor die Augen, als der Schein der Taschenlampe sie traf. Reflexartig wollte sie sich erheben, doch sofort schoss der Schmerz wieder in ihren Fuß. Da war die kräftige Gestalt auch schon bei ihr und drückte sie wieder zu Boden.

»Wo hast du es versteckt?«, zischte er.

»Das wirst du nie erfahren«, antwortete sie.

Das Nächste, was sie spürte, waren zwei mächtige Pranken, die sich um ihren Hals legten und ihn wie in einem Schraubstock zusammenpressten.

Verzweifelt rang sie nach Atem. Ihre Hände suchten im weichen Sand um sie herum nach einem Stein oder irgendetwas anderem, womit sie sich hätte wehren können. Doch da war nichts.

»Ich frage dich noch einmal: Wo hast du die Sachen versteckt?« Im nächsten Augenblick wurde der Würgegriff um ihre Kehle etwas gelockert. Offenbar wollte er ihr die Gelegenheit zu einer Antwort geben.

1

»Na, wie kommen die Jungs unten voran?« Claas Brodersen setzte sich zu seinem Kollegen auf den Boden der Plattform und klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter.

»Da bist du ja. Ich dachte schon, ich würde heute meine Pause allein hier oben verbringen. Ich glaube, die Wattwürmer haben so weit alles im Griff. Heute Nacht sind zwei weitere Pontons mit Baggern aus Cuxhaven angekommen. Die durchwühlen bereits fleißig den Boden«, antwortete Kai Rohloffs.

Die Sonne schickte die ersten warmen Frühlingsstrahlen herab. Brodersen sah durch sein Fernglas und ließ den Blick über den weiten Horizont schweifen. Nicht eine einzige Wolke war auszumachen.

Rohloffs atmete tief ein und füllte seine Lungen mit frischer, salziger Nordseeluft. Er und Brodersen hatten für ihre Frühstückspause wie an jedem Tag den Hubschrauberlandeplatz der Bohrinsel gewählt, wo sie anders als auf den anderen Decks ein Gefühl von Freiheit und Weite empfanden.

»Heute ist wieder beste Sicht– ›klaar Kimming‹, würden die Leute hier an der Küste sagen. Wenn man die Augen schließt, könnte man meinen, wir wären hier auf Amrum. Wann warst du eigentlich das letzte Mal im Urlaub?«

»Tina und ich waren doch letztes Jahr mit dem Wohnmobil in Norwegen. Das war der Hammer. Einsame Buchten, wo man hinschaut. Fjorde mit steil abfallenden Felsen, an denen Wasserfälle zum Meer runterfließen… so was Schönes hast du noch nie gesehen! Allerdings wird einem bei den hohen Lebenshaltungskosten echt schwindelig. Aber jetzt wäre ich da gern. Von Ruhe kann hier ja zurzeit nicht die Rede sein«, erwiderte Brodersen mürrisch.

Zu der brummenden und summenden Geräuschkulisse auf der Flackehörn hatte sich seit einigen Tagen der dröhnende Lärm schwerer Baumaschinen gesellt. Vier Bagger durchwühlten unter ihnen den Wattboden. Presslufthämmer bearbeiteten den Wall aus Steinen und Beton, der die künstliche Insel gegen die bei Flut unablässig heranrollenden Nordseewellen schützte.

»Diesmal scheinen sie dem Blanken Hans wirklich beweisen zu wollen, dass sie es mit ihm aufnehmen können«, sagte Brodersen.

»Ja, aber das wurde auch wirklich Zeit. Die letzte Sturmflut hat uns ganz schön zugesetzt. Wenn wir jetzt nichts tun, saufen wir bald ab wie all die armen Leute damals bei der ›Groten Mandränke‹ 1362, als Rungholt für immer im Meer verschwunden ist«, antwortete Rohloffs.

»Das wär mir im Moment fast lieber, als dieses nervige Getöse ertragen zu müssen. Herrgott, was machen die denn da bloß für einen Krach?« Brodersen lehnte sich vorsichtig über die Kante der Plattform und spähte durch seinen Feldstecher zur Wattseite der künstlichen Insel.

»Mensch, sei bloß vorsichtig, du weißt, wie hoch das hier ist! Gibt’s denn da unten außer Bauarbeiterdekolletés was Interessantes zu sehen?«, fragte Rohloffs, der nach einem anstrengenden Vormittag zu träge zum Aufstehen war.

»Die haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Von der alten Steinbefestigung ist kaum noch was zu sehen. Außerdem haben die Leute mit ihren Baggern ziemlich viel Erdboden abgetragen. Da sollen vermutlich später die ganzen Vliesmatten, die Eisensilikatsteine und tonnenweise Mörtel rein, damit in Zukunft…« Brodersen hielt plötzlich inne.

»Was ist? Hast du etwa den Klabautermann gesehen?«

Brodersen stand regungslos an der Kante, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Etwas auf der Baustelle schien ihn völlig in seinen Bann gezogen zu haben.

»Hallo, Claas! Ich rede mit dir.«

»Ich glaube, wir sollten uns das mal von unten ansehen. Von hier oben sieht es aus, als ob da…« Wieder sprach er den Satz nicht zu Ende.

»Als ob da was?«

»Frag nicht, sondern komm einfach mit. Wir müssen aufs Unterdeck!«

Brodersen hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und lief auf die Außentreppe zu. Rohloffs war nun doch aufgestanden und sah seinem Kollegen hinterher. »Was soll denn das? Kannst du mir nicht erst mal sagen, was los ist?«

Aber Brodersen antwortete nicht. Er war bereits auf dem Weg nach unten in Richtung der Mannschaftsunterkünfte. Rohloffs hastete hinterher. Schnell erreichte er das Dach des großen Wohncontainers, der direkt unter dem Landeplatz lag. Von seinem Kollegen war nichts mehr zu sehen. Er musste bereits das nächste Deck erreicht haben. Also spurtete auch Rohloffs weiter. So schnell hatte er Brodersen lange nicht mehr laufen sehen. Auf seinem Weg nach unten übersprang er gleich mehrere Stufen, wobei er mehr und mehr Schwung aufnahm. Als er am Fuß der stählernen Treppe um eine Kurve bog, prallte er unversehens zurück, geriet ins Straucheln und fiel auf den Hintern. Seine Schulter durchfuhr ein stechender Schmerz, und er schrie auf. Er war gegen einen Mauervorsprung gelaufen. Nein, das konnte nicht sein. An dieser Stelle hätte sich gar keine Mauer befinden dürfen.

Im nächsten Moment begann die Mauer, ihn zu beschimpfen. »Ey, du dämlicher Vollidiot! Hast du keine Augen im Kopf?«

Der Mann im dunkelblauen Overall, dessen Augen ihn feindselig anfunkelten, war mindestens einen Meter neunzig groß, zwei Zentner schwer und schien nur aus Muskelmasse zu bestehen. Jetzt erkannte er, wen er da aus vollem Lauf angerempelt hatte, und ihm war klar, dass das nicht sonderlich klug gewesen war.

»Sag mal, bist du lebensmüde? Du hast soeben ein Erste-Klasse-Ticket ins Reich der Schmerzen gewonnen!«

Rohloffs hätte sich jetzt in aller Form entschuldigen können, aber er wusste, dass es sinnlos war. Wer mit Arno Vossberg aneinandergeriet, hatte schon verloren. Also raffte er sich auf und hechtete mit einem schnellen Satz an dem Hünen vorbei zur Treppe. Auf dem Weg nach unten hörte er Vossbergs dröhnende Stimme hinter sich: »Wir sprechen uns noch. Ab heute stehst du auf meiner Liste!«

Rohloffs tat so, als seien ihm die Drohungen egal, und rannte weiter. Nach wenigen Augenblicken hatte er das Hauptdeck erreicht und hielt auf die Kaimauer zu, an der bei Flut die Versorgungsschiffe festmachten. Von der Stirnseite aus gelangte er auf die stählerne Galerie, die außen an den Spundwänden entlangführte. Unter dem Gitterrost konnte er fünf Meter unter sich den Wattboden sehen. Dieser war von den Baggern großflächig aufgerissen worden. Der Aushub wurde auf Kähne verladen, die nun bei Ebbe auf dem Meeresgrund lagen und darauf warteten, ihre Fracht auf hoher See wieder abladen zu können. Ein Stück weiter hinten stand Brodersen und schaute wie versteinert auf die Stelle, die er zuvor aus zwanzig Metern Höhe betrachtet hatte.

»Sag mal, was ist eigentlich in dich gefahren? Ist dir klar, dass ich deinetwegen jetzt Vossberg zum Feind habe? Wenn ich dem das nächste Mal über den Weg laufe, kann ich mich auf was gefasst machen. Das kostet dich mindestens zwei Flaschen Malt-Whiskey.«

Brodersen reagierte nicht. Angestrengt schaute er hinunter in die Baugrube. »Dieser Neandertaler ist im Moment unser geringstes Problem. Schau dir das dort mal an. Siehst du das, was ich sehe?«

»Was denn? Ich sehe nur Geröll und Sandhaufen, und deswegen hast du mich einmal über die ganze Plattform gescheucht? Mann, das kann doch nicht dein… Hey, warte mal, was ist das denn?«

2

Es war kurz nach drei Uhr nachmittags, als Hauptkommissar Christian Ehlers in der Dienststelle der Kriminalpolizei Heide das Büro von Andreas Nolde betrat. Wie immer zu dieser Jahreszeit hatte sein Kollege gerötete Augen, und auch seine Nase sah vom vielen Ausschnauben schon ziemlich mitgenommen aus. »Moin, Andreas. Fliegen die Pollen heute wieder?«

»Dat kannste aber laut sagen. Na ja, wat willste machen?«, antwortete Nolde resigniert. Trotz seiner nasalen Stimme war sein rheinischer Dialekt unüberhörbar und verriet, dass er aus Köln stammte.

»Wenn dein Heuschnupfen dich wieder plagt, dann habe ich genau das Richtige für dich. Einen Ort, an dem garantiert kein einziger Baum oder Strauch wächst. Drüben auf der Flackehörn haben Arbeiter heute eine Leiche gefunden. Die Spurensicherung ist bereits unterwegs.«

»Und wo genau befindet sich dieses Schiff?«

»Die Flackehörn liegt sieben Kilometer vor der Küste. Aber es ist kein Schiff, sondern eine Ölbohrinsel. Ist nicht so schlimm, dass du sie nicht kennst. Du bist ja noch nicht so lange hier im Norden. Komm am besten einfach mit. Ich erzähl dir alles Wichtige unterwegs.«

Kurz darauf verließen Ehlers und Nolde das Polizeirevier im Zentrum der Stadt und stiegen in den grauen Dienstwagen. Am Ortsausgang bog Ehlers auf die B203 in westlicher Richtung ein. Sobald sie Heide hinter sich gelassen und die A23 überquert hatten, befanden sie sich inmitten einer typisch Dithmarscher Landschaft. Die Bäume am Wegesrand trugen junge Blätter in zartem Grün. Links und rechts von der Straße lagen ausgedehnte Rapsfelder, die sich kilometerweit in sattem Gelb erstreckten.

»Irgendwann bringt mich das ganze Grünzeug noch mal um«, knurrte Nolde beim Anblick der Blütenpracht.

»Was dich eher vorzeitig unter die Erde bringt, sind deine verdammten Zigaretten. Bevor du über unsere schöne Natur meckerst, solltest du lieber mal deinen Tabakkonsum einschränken. Das würde dir sicher auch unser künftiger Innenminister bestätigen.« Ehlers deutete auf ein großes Wahlplakat am Straßenrand.

Nolde lachte höhnisch auf. »Oh Mann, ist das peinlich. Mit dieser Verkleidung könnte sich der Typ am Rosenmontag auf der Domplatte blicken lassen.«

Im Gegensatz zu anderen Politikern hatte sich der Mann auf dem Bild für den Landtagswahlkampf nicht im dezenten grauen Anzug ablichten lassen. Stattdessen posierte er selbstbewusst auf einem stattlichen Holsteiner Pferd. Er trug braune Cowboystiefel, einen Westernhut und ein kariertes Hemd mit einer schwarzen Weste darüber, an seiner Brust funkelte ein goldener Sheriffstern. Darüber stand in großen Lettern: »Ulf Reichert– Ein starker Mann, auf den dieses Land bauen kann«, darunter etwas kleiner der Zusatz: »Damit aus dem hohen Norden nicht der Wilde Westen wird.«

Als Nolde den Slogan las, schüttelte er missbilligend den Kopf. »Jetzt schau dir bloß diesen Wichtigtuer an. Welche Werbeagentur hat den eigentlich beraten? Wenn jemand sich schon im Wahlkampf hoch zu Ross ablichten lässt, steht der doch im wahrsten Sinne des Wortes nicht mit beiden Beinen auf dem Boden. Ich bin mal gespannt, ob das gemeine Fußvolk der Wähler sich von so einer Kampagne angesprochen fühlt.«

Ehlers brummte zustimmend. »Ja, da will wohl einer um jeden Preis auffallen. Dabei hat er das eigentlich gar nicht nötig. Ich habe kürzlich irgendwo gelesen, dass er gegenüber seinem Mitbewerber derzeit einen relativ komfortablen Vorsprung hat. Also müsste er sich gar nicht als Clint Eastwood inszenieren.«

»Meinst du, der Typ hat tatsächlich das Zeug zum Innenminister?«

»Er mag vielleicht ein bisschen eingebildet sein, aber das stört einen Großteil der Leute im Land offenbar nicht sonderlich. Reichert scheint vor allem bei den weiblichen Wählern ziemlich gut anzukommen.«

Nolde seufzte resigniert. »Manchmal verstehe ich die Frauen einfach nicht. Ich hab keine Ahnung, was die an dem Mann finden.«

Ehlers konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ist da vielleicht jemand ein kleines bisschen eifersüchtig? Du musst zugeben, dass er ein ziemlich attraktiver Typ ist. Außerdem besitzt er Charisma und hat sich in der Vergangenheit mit Leib und Seele dem Kampf gegen die Drogenkriminalität verschrieben. Und wenn es weniger Dealer auf den Straßen gibt, können viele Mütter und Väter nachts ruhiger schlafen. Mit so etwas gewinnt man die Sympathien der Wähler.«

»Ja, der Mann weiß, wie man Karriere macht. Und jetzt ist er offenbar kurz davor, den Sprung vom Staatssekretär zum Innenminister zu schaffen. Deshalb kann man ihm derzeit nicht entgehen. Er taucht überall auf, wo Reporter mit Kameras und Blitzlichtern sind, um sich in Szene zu setzen.«

»Demnächst ist er offenbar hier bei uns in seinem Wahlkreis. Der läuft sich schon mal warm für die künftigen Aufgaben als unser oberster Dienstherr. Wenn er es nicht auf den letzten Metern noch durch irgendeinen Fauxpas total vermasselt, wird er am Ende seinen Traumjob wohl tatsächlich bekommen.«

»Apropos Traumjob– verrat mir doch bitte endlich mal, wo wir eigentlich genau hinfahren.«

»Wir sind jetzt erst mal auf dem Weg nach Büsum. Von dort aus kann man die Flackehörn schon mit bloßem Auge sehen. Die Plattform wurde Mitte der achtziger Jahre auf einer Sandbank am Südrand der Meldorfer Bucht gebaut. Bei Ebbe liegt sie deshalb vollständig auf dem Trockenen.«

»Aber momentan haben wir genug Wasser unter dem Kiel, um mit dem Schiff rüberzukommen?«

»Ja, im Moment ist Hochwasser, da dürfte es keine Probleme geben. Wir treffen uns in Büsum gleich mit den Jungs von der Wasserschutzpolizei. Ich hab vorhin schon mit dem Kollegen Carstens gesprochen. Er und seine Leute fahren uns mit ihrem Boot zur Flackehörn. Was genau uns dort erwartet, weiß ich allerdings auch nicht.«

Kurze Zeit später erreichten sie den Ortseingang des kleinen Badeorts Büsum. Am liebsten wäre Ehlers nun direkt zum Südstrand gefahren, um den Rest des Tages mit Blick aufs Meer zu entspannen. Stattdessen folgte er der B203 und schwenkte links auf den Hafentörn ein. An der Sturmflutwelt »Blanker Hans« bog er rechts ab und steuerte den Wagen dann auf die Alte Hafeninsel, wo sie den Fischereihafen erreichten. An der Kaimauer lagen etwa zwei Dutzend Fischerboote dicht beieinander vertäut.

Die beiden Kommissare fuhren die Mole entlang und stellten den Wagen auf dem Kapitän-Christiansen-Platz ab. Ganz am Ende des Hafenbeckens lag abfahrbereit das Polizeiboot »Tertius«, das sie zur Bohrinsel bringen sollte. Auf dem dunkelblauen, rund fünfunddreißig Meter langen Stahlrumpf war die Aufschrift »Küstenwache« zu lesen. Die grauen Aufbauten zierten die Landesfarben Schleswig-Holsteins, Blau, Weiß und Rot. Auf dem Heck befand sich ein graues Schlauchboot, das den Beamten Einsätze auch in flachen Gewässern erlaubte.

Als Ehlers und Nolde sich dem Schiff näherten, erkannten sie bereits einige Kollegen der Spurensicherung, die an Bord auf sie warteten.

Ein Beamter der Wasserschutzpolizei kam lächelnd auf sie zu und nahm sie an der Gangway in Empfang. »Moin, ihr beiden. Schön, dass ihr da seid.«

Ehlers und Nolde begrüßten den Kollegen, mit dem sie in einem früheren Fall bereits zusammengearbeitet hatten. Ole Carstens war Mitte vierzig und hochgewachsen. Er überragte die beiden Kriminalpolizisten um mindestens fünfzehn Zentimeter, war noch blonder als Ehlers und sah um einiges vitaler aus als Nolde. Als Ehlers die beiden Männer direkt nebeneinanderstehen sah, kam ihm Nolde mit seinem schütteren Haar, den nikotingelben Fingern und dem blassen Teint noch kränklicher als sonst vor. Im Vergleich zu dem durchtrainierten Wasserschutzpolizisten wirkte er wie jemand, der früher beim Schulsport immer als Letztes in die Mannschaft gewählt worden war.

Carstens lächelte und klopfte Ehlers beherzt auf die Schulter. »Kommt an Bord, wir legen gleich ab.«

Kurz nachdem die beiden Ermittler die »Tertius« betreten hatten, löste die Mannschaft auch schon die Taue. Die zwei Dieselmotoren ließen ein kräftiges Brummen vernehmen. Ehlers und Nolde spürten die typischen Vibrationen unter ihren Füßen, die ein Schiff durchdringen, wenn die Propeller das Wasser aufwirbeln und es langsam von der Kaimauer ablegt.

»Als wir den Anruf von der Flackehörn bekamen, haben wir uns entschlossen, lieber gleich das große Aufgebot zu bestellen«, sagte Carstens, während der Kapitän das Boot auf die Hafenausfahrt zusteuerte.

»Ihr haltet es also für möglich, dass der oder die Tote nicht auf natürliche Weise gestorben ist?«, fragte Nolde.

»Das kann man jetzt noch nicht sagen. Aber so weit raus aufs Meer trauen sich die Wattwanderer normalerweise nicht. Und wenn doch, ertrinken sie nicht unbemerkt direkt neben der Flackehörn. Dort sind in der Regel genug Leute, die einen Urlauber in Seenot bemerken würden«, antwortete Carstens.

»Die Leiche könnte doch von der Strömung dorthin getrieben worden sein«, gab Ehlers zu bedenken.

»Ja, aber dann wäre sie sicher nicht unter all den Steinen der alten Flutbefestigung gefunden worden.«

»Aha, diese Information hatten wir noch nicht. Wie kam es denn überhaupt dazu, dass die Leiche dort entdeckt wurde?«, wollte Nolde wissen.

»Unter normalen Umständen läge sie sicher jetzt noch unter dem Geröll. Aber auf der Flackehörn sind ziemlich umfangreiche Bauarbeiten im Gange. Sie sind gerade mit riesigem Aufwand dabei, die komplette Flutbefestigung der Anlage zu erneuern. Mit mehreren Baggern pflügen sie den gesamten Wattboden um die Plattform herum um. Die Anlage soll auf eine Fläche von rund fünfundachtzigtausend Quadratmetern erweitert werden. Das entspricht rund zehn Fußballfeldern. Damit soll verhindert werden, dass–«

»Wie bitte?«, unterbrach Ehlers ihn. »Die haben da mitten in der Zone1 des Nationalparks so eine Art Tagebau errichtet? Wer im Ministerium hat das denn genehmigt?«

»Das ging doch alles lang und breit durch die Presse. Ich glaube, so richtig glücklich war in Kiel niemand über die Baumaßnahmen an der Anlage. Aber hier an der Küste hängen etwa tausend Arbeitsplätze mit der Ölförderung zusammen. Und wie ihr wisst, haben wir bald Wahlen. Da wollte man es sich offenbar nicht mit der Ölindustrie verscherzen«, mutmaßte Carstens.

Die »Tertius« hatte inzwischen die Hafenschleuse passiert und nahm nun spürbar Fahrt auf. Ein frischer Wind wehte über das Deck, und am Bug spritzte die Gischt auf, als das Schiff die Meldorfer Bucht hinter sich ließ.

»Wieso betreiben die von der Ölfirma denn plötzlich so einen Aufwand auf der Bohrinsel?«, fragte Nolde.

»Die Anlage als solche bleibt im Prinzip so, wie sie ist. Aber um die Bohrinsel herum wurde schon beim Bau ein sogenannter Kolkschutz errichtet. So was gibt es bei vielen künstlichen Anlagen im Meer. Die Flackehörn ist für die Fluten ein Hindernis, das durch die Gezeiten ständigen Strömungen ausgesetzt ist. Wäre das Fundament nicht durch eine steinerne Befestigung gegen die Wellen geschützt, würde das Meer sie irgendwann unterspülen und wegschwemmen«, erklärte Carstens.

»Und jetzt, nach einem Vierteljahrhundert, reicht die ursprüngliche Befestigung nicht mehr?«, fragte Ehlers.

»Das Problem ist ein Wanderpriel, den beim Bau offenbar niemand als mögliche Gefahr auf dem Schirm hatte. Die Strömung ist etwa acht bis zehn Meter tief und befindet sich südlich von der Flackehörn. Allerdings ist sie im Laufe der Zeit stetig nach Norden gewandert und hat sich dabei immer mehr der Bohrinsel genähert. Inzwischen hat der Priel die Anlage erreicht und würde sie mit Sicherheit bald fortspülen, wenn man die Flutbefestigung nicht grundlegend ausbauen und vertiefen würde«, antwortete Carstens.

Ehlers sah zum Heck des Schiffs und stellte fest, dass die Silhouette des Büsumer Hafens schon deutlich kleiner geworden war. Vor dem Bug war die Flackehörn bereits klar auszumachen. Die Aufbauten und den stählernen Bohrturm, der rund siebzig Meter in den Himmel aufragte, konnte Ehlers schon erkennen.

Etwa zwanzig Minuten später drosselte der Kapitän die Geschwindigkeit und lenkte das Schiff in eine lang gezogene Rechtskurve. Weniger als dreihundert Meter vor ihnen lag die Flackehörn wie eine stählerne Burgfestung mitten im Wattenmeer. Das Bauwerk war etwa so groß wie ein Fußballfeld. An der Vorderseite, auf die sie direkt zufuhren, ragte links ein weißer quaderförmiger Gebäudekomplex empor. Allem Anschein nach waren hier die Mannschaftsquartiere untergebracht.

»Das hätten Erich Honeckers Architekten nicht schöner planen können«, sagte Ehlers.

»Na, wir wollen mal nicht unfair werden. Die Werktätigen in der DDR hatten mehr Platz in ihren Plattenbauten als die Bohrarbeiter hier. Schau dir doch mal an, wie klein der gesamte Wohnkomplex ist. Mit Komfort hat das da drinnen sicher nicht viel zu tun.« Nolde nahm die Flackehörn nun ebenfalls interessiert aus nächster Nähe in Augenschein.

»Was ist das dort auf der anderen Seite für ein Silo?«, fragte Ehlers.

»Das ist ein Öllagertank«, antwortete Carstens. »Da passen rund zweitausend Kubikmeter Rohöl rein. Und rechts daneben, an der Wattseite der Plattform, könnt ihr die großen Raupenseilbagger für den Kolkschutz sehen. Die befinden sich die ganze Zeit über auf Arbeitspontons. Auf diesen Bargen schwimmen die Kettenfahrzeuge, bis sich das Hochwasser vollständig zurückgezogen hat. Dann liegen sie für eine Weile auf dem Trockenen. Bei Ebbe ist der Wattboden hier frei von Wasser, sodass wir die Leiche endlich näher untersuchen können.«

»Soll das heißen, die Knochen liegen jetzt unter Wasser?«, fragte Nolde.

»Ja, ich habe dem Nautiker der Anlage gesagt, sie sollen alles so lassen, wie sie es vorgefunden haben. Leider ließ sich nicht verhindern, dass die Baugrube voll Wasser gelaufen ist. Die sind offenbar gerade dabei, ihre alte Flutbefestigung teilweise abzutragen. Deshalb ist der Fundort jetzt noch nicht zugänglich. Das Wasser läuft aber bereits wieder ab, sodass die Stelle in Kürze trocken liegen müsste. Glücklicherweise befindet sich die Bohrinsel auf einer Sandbank. Dort ist der Meeresboden recht schnell wieder frei.«

»Das wollen wir hoffen, damit wir das Baggerloch möglichst bald unter die Lupe nehmen können«, sagte Ehlers.

Beinahe ehrfürchtig schauten die Beamten zu den riesigen Arbeitspontons hinüber. Die beiden Schwimmplattformen, auf denen die Bagger mit ihren rund fünfundzwanzig Meter langen Armen standen, waren zusammen fast genauso groß wie die gesamte Ölbohrinsel. Auf den Decks der Bargen waren ringsherum vier Meter hohe sturmflutsichere Seitenwände aus Stahl montiert, da die Kähne auch als Zwischenlager für den Bodenaushub aus den Baugruben dienten.

Während die Einsatzkräfte an Bord der »Tertius« über die Materialschlacht auf offener See staunten, glitt das Boot in langsamem Tempo weiter auf die Förderplattform zu. Allmählich wurden immer mehr Details des Bauwerks erkennbar. Mittig zwischen den Mannschaftsquartieren und der Öllagerstätte klaffte eine große Öffnung, die von einem Hubtor überspannt wurde. Die Polizisten erkannten, dass die Bohrinsel über ein integriertes Hafenbecken verfügte. Die gesamte Anlage war hufeisenförmig angelegt worden, sodass Schiffe bis zu einer bestimmten Länge direkt in den Bauch der Flackehörn hineinfahren konnten. Auch das Polizeiboot hätte dort bequem hineingepasst. Als der Kapitän der »Tertius« allerdings der Fahrrinne in einem Bogen folgte und sie die Hafeneinfahrt genauer erkennen konnten, sahen sie, dass an den Kaimauern innerhalb der Bohrinsel bereits ein Schlepper und ein Versorgungsschiff festgemacht hatten.

Das Boot der Ermittler hatte nun seinen Antrieb fast vollständig gestoppt. Sanft glitten sie auf einen Anleger zu, der sich noch vor dem Hafentor außerhalb der Anlage befand. Auf dem Steg sahen sie eine kleine Personengruppe. Die Leute trugen Schutzhelme und Arbeitskleidung. Beim Näherkommen erkannten sie das Firmenlogo der German Petrol auf den blauen Overalls.

»Da ist ja auch schon unser Empfangskomitee«, stellte Nolde zufrieden fest. Er mochte das Schlingern an Bord nicht und hatte lieber festen Boden unter den Füßen. Hinzu kam, dass er nie schwimmen gelernt hatte. Das Chlor in der Badeanstalt hatte bei ihm schwere allergische Reaktionen ausgelöst, weshalb er vom Schwimmunterricht befreit worden war. Damals war es toll gewesen, nicht an den Schwimmstunden teilnehmen zu müssen. Doch heute ärgerte er sich über sich selbst, dass er nicht in einem Badesee gelernt hatte, wie man sich sicher an der Oberfläche hält. Wäre er dafür nicht zu faul gewesen, hätte er heute sicherlich ein entspannteres Verhältnis zu Wasser im Allgemeinen und zum Meer im Besonderen.

Ein kurzer Ruck durchfuhr das Schiff, als es die Kaimauer berührte. Zwei Männer von der Bohrinsel warfen dicke Taue über die Reling, und die Mannschaft begann das Boot mit geübten Handgriffen fest zu vertäuen. Anschließend schoben die Wasserschutzpolizisten eine hölzerne Gangway auf den Anleger, von dem aus eine etwa fünfzehn Meter hohe Treppe hinauf zu den Decks führte. Auf dem Steg löste sich ein kräftiger bärtiger Mann, der etwa Mitte vierzig sein musste, aus der wartenden Crew und kam auf sie zu. Ihm war anzusehen, dass er sich etwas Schöneres vorstellen konnte, als eine Gruppe Polizisten über die Anlage zu führen.

»Guten Tag, die Herrschaften. Mein Name ist Stefan Dormann, ich bin Fördermeister hier auf der Insel. Meine Kollegen und ich stehen Ihnen während der Ermittlung für Fragen zur Verfügung. Mit Herrn Reuter haben Sie ja bereits telefoniert.« Dormann warf dem Nautiker einen kurzen Blick zu. Dieser nickte zur Begrüßung, ohne ein Wort zu sagen.

»Moin zusammen. Ich bin Kriminalhauptkommissar Christian Ehlers. Das ist mein Kollege Andreas Nolde. Wir sind von der Kripo Heide und leiten gemeinsam mit Herrn Carstens die Ermittlungen. Es wäre nett, wenn Sie uns–«

»Zunächst wüsste ich gern, wie lange Ihre Arbeit hier bei uns dauern wird«, wurde Ehlers von Dormann unterbrochen. »Seit diese Knochen im Schlick entdeckt wurden, herrscht eine ziemliche Unruhe an Bord. Außerdem wollen meine Vorgesetzten von mir wissen, wann wir mit den Bauarbeiten weitermachen können. Die Herren auf dem Festland sind nicht sonderlich erfreut darüber, dass wir alle Arbeiten im Watt einstellen mussten.« Dem Fördermeister war anzumerken, dass er ziemlich großem Druck ausgesetzt war. Nur mit Mühe gelang es ihm, seiner Stimme einen einigermaßen ruhigen Klang zu verleihen. Unter Dormanns buschigen Brauen erkannte Ehlers ein nervöses Zucken am rechten Augenrand.

»Die Dauer unseres Besuchs hängt ganz entscheidend von Ihrer Mithilfe ab. Je besser wir hier unsere Arbeit erledigen können, desto schneller werden Sie wieder zum normalen Betrieb übergehen können. Sie können aber davon ausgehen, dass wir bei unserem Job ebenso tiefgründig vorgehen wie Sie bei Ihrem«, sagte Ehlers betont gelassen. Seine Botschaft war unmissverständlich: Er und die restlichen Beamten würden sich bei der Arbeit von niemandem unter Druck setzen lassen.

Für einen kurzen Moment machte es den Anschein, als wollte der Fördermeister protestieren. Dann schien er die Aussichtslosigkeit einzusehen und gab stattdessen einen tiefen Seufzer von sich. Die kräftigen Arme, die er bis dahin demonstrativ vor der Brust verschränkt hatte, fielen schlaff an seinem Körper herab. »Also gut. Wie können wir Ihnen helfen?«

»Solange der Wasserstand es noch nicht zulässt, dass wir die Leiche bergen, würden Herr Ehlers und ich zunächst gern mit demjenigen sprechen, der die Leiche zuerst gesehen hat«, sagte Nolde.

3

Ehlers ließ seinen Blick schweifen und fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt. Die Szenerie hatte etwas Surreales. Ringsherum war nichts als Wasser, und mittendrin lag diese sonderbare, von Menschen geschaffene Konstruktion. Noch nie zuvor war er an einem Ort gewesen, der auch nur annähernd mit der Flackehörn vergleichbar gewesen wäre. Überall verliefen wuchtige Stahlstreben, Schläuche und Röhren, die wie die Venen und Arterien eines riesigen Tieres wirkten. Manche verschwanden im Boden, andere liefen quer über die Anlage, wieder andere ragten hoch in den Himmel empor.

Ehlers blickte nach oben und sah direkt über sich einen gewaltigen Portalkran, der gerade dabei war, einen großen runden Tank auf dem Versorgungsschiff abzuladen.

Als Eggert bemerkte, dass sich Ehlers und die anderen Ermittler neugierig umsahen, blieb er an der Mole des Hafenbeckens stehen. »Sämtliche Flüssigkeiten, die auf der Insel anfallen, müssen aufgefangen, sicher verschifft und an Land entsorgt werden«, erklärte er. »Da wir uns mitten im Nationalpark befinden, darf von der Flackehörn aus nicht einmal Regenwasser ins Wattenmeer gelangen. Wir sind hier ein vollkommen abgeschlossener Mikrokosmos. Diese Bohrinsel ist einzigartig auf der Welt.«

»Das klingt beruhigend. Allerdings ist das Wattenmeer, in dem Sie Öl fördern, ja ebenfalls einzigartig. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn es hier in diesem sensiblen Gebiet zu einer Ölverschmutzung käme«, sagte Carstens.

»Wir wissen um unsere Verantwortung und haben uns deshalb wie gesagt vollkommen vom Meer abgeschottet. Wir fördern hier schon seit Ende der achtziger Jahre Öl, ohne dass es jemals zu einem Zwischenfall gekommen ist.«

»Und wie gefährlich ist für Sie diese Meeresströmung, die da nun auf die Plattform zugewandert ist?«, fragte Nolde.

»Der Priel stellt uns in der Tat vor einige Herausforderungen. Wenn wir jetzt nichts unternähmen, würde er irgendwann unser Fundament unterspülen und die Sicherheit der Insel ernsthaft gefährden. Deshalb verstärken wir ja gerade massiv unseren Schutzwall ringsherum, wie Sie wissen.«

»Warum betreiben Sie eigentlich immer noch solch einen gewaltigen Aufwand um diese Förderstätte? Gibt es dort unten nach all den Jahren überhaupt noch Öl?«, wollte Ehlers wissen.

»Der Aufwand lohnt sich auf jeden Fall. Unter dem Meeresgrund warten nach unseren Schätzungen noch etwa dreißig Millionen Tonnen Öl darauf, ans Tageslicht geholt zu werden. Wir haben kürzlich ein neues Verfahren entwickelt, bei dem wir in alte Bohrlöcher neue Abzweigungen hineinfräsen. Auf diese Weise können wir von der Flackehörn aus durch ein Bohrloch verschiedene Ziele unter der Erde ansteuern und von dort aus Öl zur Anlage heraufbefördern. Dabei liegen die Bohrstätten mehrere Kilometer von der Anlage entfernt. Dank der Kreativität unserer Ingenieure können wir von hier aus mit Sicherheit noch eine Weile erfolgreich und vor allem wirtschaftlich Öl fördern«, erklärte Eggert.

Er führte die kleine Gruppe weiter über das Hauptdeck, bis sie den hinteren Teil der Anlage erreichten. Mit Blick hinüber zur Bohranlage sagte er: »Dort oben auf dem Rig Floor – dem Herzstück unserer Insel– sind die beiden Herren, die Sie sprechen möchten. Einen Moment bitte.«

Die Kommissare sahen ihm nach, während er die Treppe zum Bohrturm hinaufstieg. Oben sprach er mit zwei Männern und deutete dann zu ihnen. Die beiden Arbeiter, die ölverschmierte Overalls trugen, sahen zu ihnen herüber und stellten ihre Arbeiten ein. Anschließend stiegen die drei nacheinander die Treppe zum Hauptdeck hinab. Dort angekommen, stellten sich die beiden Mitarbeiter als Kai Rohloffs und Claas Brodersen vor.

Ehlers wollte gerade zu sprechen beginnen, als sich über ihnen die Bohranlage lautstark in Bewegung setzte. »Gibt es hier vielleicht irgendwo einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können?«, fragte er über den Lärm hinweg.

Eggert nickte und deutete auf den großen weißen Gebäudekomplex, den sie schon bei ihrer Anfahrt gesehen hatten. Sobald sie den schmucklosen Container erreicht hatten und sich hinter ihnen die Tür schloss, verstummte die laute Geräuschkulisse. Während sie im unteren Stockwerk am Empfangstresen vorbei in einen Bürotrakt gingen, hörten sie ihre quietschenden Schuhsohlen auf dem beigefarbenen Linoleumfußboden. Ehlers kam sich vor wie auf einem Schiff, nur ohne das typische Schlingern des Rumpfes in den Wellen. Eggert führte sie in einen kleinen Besprechungsraum, in dem Kekse und verschiedene Getränke auf dem Tisch standen.

Rohloffs und Brodersen machten einen recht aufgewühlten Eindruck. Einen Toten bekamen sie höchstwahrscheinlich nicht jeden Tag zu sehen.

»Ich wüsste zunächst gern, wer von Ihnen die Leiche entdeckt hat und wie es dazu kam«, begann Ehlers.

»Mir sind die Knochen aufgefallen«, antwortete Brodersen. Geistesabwesend zerrupfte er eine bunte Serviette, die vor ihm auf dem Tisch lag. Als er den Haufen Papierfetzen bemerkte, knüllte er ihn schnell zusammen und ließ ihn in der Tasche seiner Arbeitsjacke verschwinden. »Kai… äh, ich meine, Herr Rohloffs und ich haben oben auf dem Hubschrauberlandeplatz unsere Frühstückspause gemacht. Ich habe mit dem Fernglas aufs Meer hinausgesehen. Am Horizont konnte man in der Elbmündung ein paar große Containerschiffe erkennen.«

»Heute Morgen haben Sie aber nicht nur in die Ferne geschaut, sondern auch etwas auf der Sandbank entdeckt, richtig?«, hakte Ehlers nach.

»Ja, das ist richtig. Wie Sie gesehen haben, laufen derzeit ziemlich aufwendige Bauarbeiten hier an der Anlage. Ich stand also dort oben und habe von der Heliplattform aus nach unten gesehen, um zu schauen, wie die Bagger mit ihrer Arbeit vorankommen.«

»Und da ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?«, wollte Nolde wissen.

»Ja, allerdings. Ich sah eine große Baugrube, auf deren Grund sich noch etwas von dem Geröll befand. Am Rand der Aushebung lag etwas, das sich deutlich von den Steinen unterschied.«

»Was genau konnten Sie denn erkennen?«, erkundigte sich Nolde.

»Na ja, es sah irgendwie heller aus. Außerdem erinnerte mich die Form an etwas…« Brodersen stockte. Mit leicht zittrigen Händen nahm er einen Schluck Kaffee und atmete tief durch.

»Woran haben Sie erkannt, dass dies kein gewöhnlicher Gegenstand war?«, fragte Ehlers.

»Ich bin über den Steg an der Spundwand nach unten zur Sandbank gelaufen. Ich stand direkt oberhalb der Stelle, die ich zuvor von oben aus gesehen hatte. Kurze Zeit später ist dann auch Kai unten angekommen. Ich zeigte ihm, was ich entdeckt hatte.«

»Es war wirklich viel heller als die Steine des Kolkschutzes. In der Sonne fing es beinahe an zu leuchten«, schaltete sich Rohloffs ein.

Brodersen fuhr mit seiner Schilderung fort. »Wir sind also runter in die Vertiefung gestiegen, um uns die Sache aus der Nähe anzuschauen. Dann habe ich in diese grässlich leeren Augenhöhlen geschaut, und mir ist ein Schauer über den Rücken gelaufen.«

»Das ist verständlich. Einen Totenkopf sieht man schließlich nicht alle Tage«, sagte Nolde.

»Vorn rechts im Stirnbereich klaffte ein großes Loch im Schädel. Das war vielleicht ein grausiger Anblick…«

»Haben Sie dort unten außer dem Schädel noch etwas anderes entdeckt?«, fragte Ehlers.

»Allerdings«, antwortete Brodersen. »Da war noch ein Teil vom Oberkörper des Toten zu erkennen. Und es sah so aus, als ob der Tote eine unserer alten Arbeitsjacken anhätte.«

»Sie meinen, das war Kleidung von German Petrol? Sind Sie sich da ganz sicher?«, hakte Ehlers nach.

»Nein, nicht von German Petrol. Aber es könnte sein, dass es eine Jacke der Westküsten-Energie ist. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht. Dafür hätten wir den Toten vollständig ausgraben müssen, und das wollten wir dann doch lieber der Polizei überlassen.«

»War die Westküsten-Energie die Vorgängergesellschaft vonGP?«, fragte Nolde.

»Genau«, antwortete Eggert. »Die Betreibergesellschaft der Bohrinsel firmierte bis 1993 unter diesem Namen. Dann kam die Fusion mit der Raffineriegesellschaft Dithmarschen, und seither heißen wir German Petrol.«

»Wie kommen Sie denn darauf, dass es eine Ihrer alten Arbeitsjacken ist?«, fragte Nolde.

»Wenn Sie eine bestimmte Art von Kleidung jahrelang täglich tragen, dann erkennen Sie die auch viel später noch wieder. Die Jacke des Toten war natürlich ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, weil sie offenbar lange unter all dem Schlick gelegen hat. Aber der leicht glänzende hellgraue Stoff mit dem schwarzen Kragen war noch recht gut zu erkennen Das Firmenlogo ist wie bei unseren heutigen Jacken vorn auf Brusthöhe angebracht. Um es zu erkennen, hätten wir den Körper noch weiter freilegen müssen«, sagte Rohloffs.

»Das bedeutet«, sagte Ehlers, »dass die Leiche höchstwahrscheinlich schon seit den frühen neunziger Jahren oder länger dort unten liegt. Und zum anderen ist es möglich, dass es sich dabei um einen der Mitarbeiter handelt. Gab es denn in der Belegschaft so etwas wie einen Vermisstenfall?«

Brodersen und Rohloffs sahen sich an, dann schüttelten beide den Kopf. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete Rohloffs.

»Wieso hat uns Herr Dormann vorhin eigentlich nichts davon gesagt, dass dort womöglich einer Ihrer Kollegen tot im Schlick liegt? Sicher haben Sie ihm doch bereits davon erzählt, oder?«, fragte Nolde.

»Ja, natürlich weiß der Chef Bescheid«, antwortete Eggert. »Aber er wollte das vorhin nicht vor den Mitarbeitern ansprechen, solange die Leiche nicht vollständig geborgen wurde und wir absolut sicher sind. Gegenüber der Besatzung hat er deshalb bislang nur von einer toten Person gesprochen. Brodersen und Rohloffs hat er ebenfalls untersagt, sich gegenüber den Kollegen zu irgendwelchen voreiligen Spekulationen hinreißen zu lassen. Sie wissen ja, wir befinden uns bei unserer aktuellen Bohrung gerade in einer entscheidenden Phase. Da kommt es auf die volle Konzentration aller Beteiligten an. Sobald die Leiche vollständig geborgen ist, werden wir eine Mitarbeiterversammlung einberufen und den Kollegen mitteilen, was wir wissen.«

»Wir wären bei dieser Veranstaltung gern dabei«, sagte Ehlers. »Wenn wir die Leiche geborgen haben, werden wir ohnehin mit den Mitarbeitern sprechen müssen. Am besten wäre es, wenn Sie uns für die Zeit der Ermittlungen eine Unterkunft hier an Bord zur Verfügung stellen könnten.«

Nolde schien nicht besonders begeistert von Ehlers’ Vorschlag zu sein. Er warf seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zu, schwieg jedoch.

Auch Eggert wirkte überrumpelt. »Unser Platzangebot ist ehrlich gesagt ziemlich begrenzt. Ich muss sehen, ob wir kurzfristig eine Kabine für Sie räumen können.«

Die Tür öffnete sich, und ein Mitglied der Bohrinselcrew betrat den Raum. Der Mann hob zur Begrüßung kurz die Hand, dann wandte er sich an Eggert.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir bräuchten draußen dringend die Unterstützung von Brodersen und Rohloffs. Es sieht so aus, als müssten wir schon wieder den Bohrkopf auswechseln.«

4

Kurze Zeit später war das Wasser am Kolkschutz so weit zurückgegangen, dass die Polizisten die Sandbank betreten konnten.

Die Kollegen der Wasserschutzpolizei hatten die Bauarbeiter und einige Feuerwehrleute, die auch zum Fundort gekommen waren, bereits eingewiesen, während die Ermittler mit den Zeugen gesprochen hatten. Gemeinsam hatten sie der einsetzenden Ebbe gehörig auf die Sprünge geholfen und mit kräftigen Wasserpumpen die Grube weitgehend trockengelegt.

Carstens, Ehlers und Nolde stiegen die letzten Stufen hinab und gelangten auf den steinigen Kolkschutz, der die Insel umgab. Der Fundort der Leiche befand sich etwa fünfzehn Meter neben der stählernen Außenwand der Flackehörn. Auf ihrem Weg über die Flutbefestigung mussten sie sich vorsichtig bewegen; die Steine waren überall von Algen bewachsen und deshalb extrem rutschig. Neben ihnen lagen die Arbeitspontons mit den Baufahrzeugen bereits wieder auf dem Trockenen. Die mächtigen Baggerschaufeln, die am Morgen noch den Wattboden durchpflügt hatten, hingen nun an langen eisernen Armen direkt über ihren Köpfen. Fast schien es, als wollten sie im nächsten Augenblick zu ihnen herunterschnellen und mit ihren riesigen Zähnen nach ihnen schnappen.

Schliddernd näherten sie sich der Baugrube. Hier hörte der Kolkschutz unvermittelt auf, und sie waren froh, auf der eigentlichen Sandbank zu stehen. Auch sie war von der letzten Flut zwar noch recht matschig, aber man konnte sich auf dem festen Untergrund deutlich besser bewegen als auf der unebenen Flutbefestigung. Die Bagger hatten an dieser Stelle eine rund dreihundert Quadratmeter große Mulde hinterlassen. Am Rand der Vertiefung waren Männer der Feuerwehr gemeinsam mit der Spurensicherung gerade dabei, die Leiche freizulegen; ein Kollege der Wasserschutzpolizei hielt alles mit einer Kamera fest. Eine junge, attraktive Frau, die Ehlers schon von früheren Einsätzen kannte, stand ebenfalls am Baggerloch. Es war Wienke Sönnichsen von der Kieler Rechtsmedizin. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung strahlte sie eine natürliche Autorität aus, und es gab keinen Zweifel, dass sie momentan am Fundort der Leiche das Sagen hatte. Hin und wieder gab sie den Einsatzkräften Anweisungen, um zu verhindern, dass der Leichnam beim Ausgraben verletzt wurde.

Als Ehlers und Nolde näher an die Grube herantraten, konnten sie erkennen, dass der Kopf und der Oberkörper der Leiche mittlerweile weitgehend freigelegt waren. Den Ermittlern bot sich ein gruseliger Anblick. Sie schauten in zwei leere Augenhöhlen und auf einen weit aufgerissenen Kiefer. An der rechten Stirnseite klaffte – wie Brodersen bereits gesagt hatte– eine große Öffnung im Schädel. Während an der gesamten Oberseite des Kopfes und im Mundbereich der blanke Knochen zu sehen war, schienen die Wangen, das Kinn und der sichtbare Teil des Oberkörpers von einer weißlich grauen bröckeligen Masse überzogen zu sein.

Nolde blickte Wienke Sönnichsen an. »Was ist denn mit dem passiert? Hat sich da irgendein Mörtel von der Flutbefestigung auf der Haut abgelagert?«

Die Rechtsmedizinerin schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben es hier mit einer ausgeprägten Fettwachsbildung am Leichnam zu tun. Das liegt daran, dass er in einem feuchten und sauerstoffarmen Milieu begraben war.«

»So etwas habe ich schon einmal gesehen«, sagte Carstens. »Wir haben in einem See mal eine Leiche gefunden, die längere Zeit unter der Wasseroberfläche war.«

»Ja, das ist in solchen Fällen normal«, sagte Sönnichsen. »Damit der übliche Verwesungsprozess einsetzen kann, ist ein gewisser Sauerstoffgehalt in der Umgebung notwendig. In sehr feuchten und luftdichten Bodenschichten wie hier können Eiweiße und Fette des Körpers hingegen nicht vollständig abgebaut werden. Stattdessen verwandelt sich das Fettgewebe zunächst in eine schmierige Masse, die im Laufe der Zeit eine zunehmend wachsähnliche Konsistenz annimmt. Dieses Leichenlipid wird nach und nach immer fester und kann von Bakterien kaum zersetzt werden. Auf diese Weise wird die Leiche konserviert. Ausnahmen bilden lediglich die Körperteile, die wenig Fett aufweisen. Deshalb ist der Schädel an der Oberseite und im Mundbereich vollständig skelettiert.«

»Wie lange liegt die Leiche wohl schon hier?«, fragte Ehlers.

»Das kann ich noch nicht genau sagen«, antwortete die Rechtsmedizinerin. »Aber wir gehen davon aus, dass es mindestens ein Jahr dauert, bis jemand vollständig zur Wachsleiche wird.«

»Und was ist mit dieser Verletzung im Stirnbereich? Könnte das die Todesursache gewesen sein?«, fragte Nolde.

»Nein, das halte ich für ausgeschlossen«, entgegnete Sönnichsen. »So, wie die Brüche am Knochen beschaffen sind, deutet alles darauf hin, dass der Schädel erst kürzlich bei den Bauarbeiten beschädigt wurde. Dafür ist wohl eine große Baggerschaufel verantwortlich.«

Ehlers ging noch näher an den Leichnam heran und wandte sich dann an die Kollegen von der Spurensicherung. »Könnt ihr bitte mal vorsichtig den Sand dort oben an der Jacke entfernen?«

Einer der Männer entfernte mit einem Pinsel die feinkörnige Erde von den Überresten der darunterliegenden Kleidung. Immer mehr wurde von dem verwitterten grauen Stoff der Jacke sichtbar, bis schließlich ein quadratisches Logo zum Vorschein kam. Auf dem dunkelroten Untergrund des Abzeichens waren eindeutig das verblasste Emblem einer Erdölpumpe und der Name »Westküsten-Energie« zu erkennen.

»Dann lagen Brodersen und Rohloffs also richtig mit ihrer Vermutung«, stellte Nolde fest.

»Ja, so wie es aussieht, ist der Verstorbene ein Mitarbeiter der Bohrinsel gewesen«, entgegnete Carstens.

»Die Verstorbene, wie man unschwer erkennen kann«, warf Wienke Sönnichsen ein. Sie hatte vorsichtig die Jacke der Leiche geöffnet und deutete auf den Brustbereich.

»Aber dann kann sie nicht zur Crew der Bohrinsel gehören. Hier arbeiten doch nur Männer, oder?«, fragte Ehlers.

»Das stimmt nicht ganz«, antwortete Carstens. »Eine Handvoll Frauen ist schon hier beschäftigt. Es gibt sogar eine weibliche Schichtführerin.«

»Die wird es aber wohl nicht sein. Das hätten Brodersen und Rohloffs ansonsten eben sicherlich erwähnt.«

»Ich glaube, wir haben hier noch etwas«, sagte Sönnichsen und deutete auf den Hals der Toten. Die Polizisten traten näher heran und erkannten, dass die Frau eine Halskette trug, an der sich ein kleiner silberner Anhänger befand. Das Schmuckstück hatte die Form einer Mondsichel. Wienke Sönnichsen nahm die Kette vorsichtig ab und reichte sie Ehlers.

»Ich sehe keinerlei Eingravierungen. Schade, es wäre hilfreich gewesen, wenn wir etwa ein Monogramm als Anhaltspunkt gehabt hätten«, sagte Ehlers.

Nolde nahm ihm die Kette ab und betrachtete sie eingehend. »Aber die Form ist interessant. Vielleicht erkennt den Anhänger ja jemand wieder. Zuerst sollten wir uns aber bei den Leuten auf der Bohrinsel umhören, ob einer der Mitarbeiter etwas über die Identität der Toten sagen kann.«

Drei Stunden später wurde die Leiche mit dem Boot der Wasserschutzpolizei nach Büsum gebracht; von dort aus sollte sie zum Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik in Kiel überführt werden. Wienke Sönnichsen wollte noch am selben Tag mit der Untersuchung beginnen.

Auch die Einsatzkräfte hatten sich auf den Weg zurück nach Büsum gemacht. Lediglich Ehlers und Nolde waren auf der Bohrinsel geblieben, um vor Ort mit ihren Ermittlungen fortzufahren. Nun standen sie in der Abendsonne neben Stefan Dormann an einem Tisch und blickten in die erwartungsvollen Augen von rund achtzig Mitarbeitern. Wie angekündigt, hatte der Chef der Bohrinsel eine Vollversammlung einberufen. Aufgrund des Platzmangels hatte der Fördermeister improvisieren müssen und die Mannschaft kurzerhand auf das Hubschrauberdeck gebeten. Es war der einzige Ort auf der Flackehörn, an dem sich alle Kolleginnen und Kollegen bequem gemeinsam aufhalten konnten.

Zum ersten Mal, seit die Polizisten an Bord gekommen waren, hörten sie auf der Anlage nichts außer ein paar Möwen und dem gleichmäßigen Plätschern der Wellen, die gegen die Stahlwände der Bohrinsel schlugen. Ehlers fragte sich, ob es auf der Flackehörn wohl jemals zuvor so still gewesen war. Normalerweise standen hier Tag und Nacht die Bohrmeißel, Generatoren und Kräne nicht still. Egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit– eine Hälfte der aktuellen Besatzung befand sich immer gerade in einem Zwölf-Stunden-Einsatz bei der Arbeit. Doch nun war das gesamte Treiben auf der Bohrinsel komplett zum Erliegen gekommen.

Nachdem der Fördermeister den Leichenfund bestätigt und auch von der markanten Halskette berichtet hatte, ergriff Ehlers das Wort.

»Wir sind bei der Aufklärung des Falls auf Ihre Unterstützung angewiesen. Alles, was Ihnen zu der toten Frau einfällt, kann für uns von Bedeutung sein. Zum Beispiel, wenn eine Ihrer Kolleginnen plötzlich nicht mehr zur Arbeit erschienen ist.«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, antwortete Dormann. »Jeder, der hier an Bord kommt, muss sich registrieren. Das gilt auch für Besucher. Wir wissen also immer ganz genau, wer auf der Anlage ist und wann er wieder ans Festland zurückkehrt. Zudem arbeiten bei uns nur sehr wenige Frauen im Bohr- oder Förderteam. Und von denen ist nie eine spurlos verschwunden. Das wäre doch innerhalb kürzester Zeit aufgefallen. Die ganze Sache ist uns ein echtes Rätsel.«

Unter den übrigen Anwesenden war auch niemand, der zu diesem Punkt etwas Erhellendes beitragen konnte– oder wollte. In keinem der Gesichter konnten Ehlers und Nolde einen verdächtigen Ausdruck erkennen. Die meisten Arbeiter sahen nachdenklich aus. Einige schauten ihnen direkt in die Augen, andere sahen zu Boden oder ließen ihren Blick in die Ferne schweifen. Vielleicht versuchten manche von ihnen, sich an eine verdächtige Situation zu erinnern. Doch niemand auf dem Hubschrauberlandeplatz sprach ein Wort. Die Stille bekam langsam etwas Unangenehmes, sodass Nolde kurz darüber nachdachte, noch einige der spärlichen Informationen, die sie bislang hatten, als Erklärung nachzuschieben.

Schließlich erhob sich ein Mann, den sie bereits bei ihrer Ankunft kurz kennengelernt hatten. Es war der Nautiker Matthias Reuter, der auf der Bohrinsel auch für die Sicherheit der gesamten Anlage verantwortlich war. »Ich bin zwar kein Polizist und habe von professioneller Ermittlungsarbeit nicht viel Ahnung«, begann er. »Aber eine Sache weiß ich: Nach der Fusion 1993 mit der Raffineriegesellschaft Dithmarschen gab es neue Arbeitskleidung für uns. Die erste Frau kam aber erst zwei Jahre später in die Fördermannschaft. Zu dieser Zeit hatten längst alle Kollegen ihre neuen Overalls. Die Tote kann also gar keine Kollegin von uns sein. Vielleicht trug sie unsere Arbeitskleidung, um sich ungehindert Zutritt zur Anlage zu verschaffen. Das müsste dann aber schon länger zurückliegen.«

Nolde war nicht entgangen, dass sich einige der Mitarbeiter kurze Blicke zuwarfen, während Reuter sprach. Da er die Reaktion der Crew nicht einordnen konnte, wandte er sich an Dormann. »Kommt es denn häufig vor, dass Unbefugte versuchen, auf die Bohrinsel zu gelangen?«

»Solange ich hier arbeite, ist mir kein derartiger Fall untergekommen«, antwortete der Fördermeister.

»Hin und wieder passiert es, dass Freizeitboote den festgelegten Sicherheitsabstand zu unserer Anlage nicht einhalten. Aber während meiner Schicht hat bislang noch keiner der Hobbykapitäne versucht, die Bohrinsel zu entern– und erst recht nicht getarnt als einer unserer Kollegen«, ergänzte Reuter.

»Dann müssen wir also die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie eine Fremde war. Wie könnte sie denn Ihrer Meinung nach unbemerkt an die Arbeitskleidung gelangt sein?«, fragte Ehlers.

»Na ja, die neue Arbeitskleidung wurde damals nicht gleichzeitig an alle Mitarbeiter geliefert, weil es kurzfristig Probleme beim Hersteller gab«, antwortete Reuter. »In der Übergangsphase trugen also manche Kollegen schon die neuen Anzüge, während andere noch in der alten Kluft herumliefen. Die wurden dann von den anderen scherzhaft die ›grauen Mäuse‹ genannt. Also war jeder froh, wenn er seinen alten Anzug endlich abgeben konnte. Die meisten grauen Overalls wurden eingesammelt und auf dem Festland entsorgt.«

»Die Kollegen konnten ihre alten Sachen aber auch behalten, falls sie diese zum Beispiel zu Hause bei der Gartenarbeit anziehen wollten. Wenn sich also jemand unsere alte Arbeitskleidung beschaffen wollte, so hätte er sie entweder aus einem Altkleidersack oder bei einem der Kollegen von der Wäscheleine klauen können«, sagte Dormann.

Ein Blick in die Runde verriet, dass sich keiner der Mitarbeiter an einen Diebstahl seiner Arbeitskleidung erinnern konnte. Aus dem Augenwinkel sah Ehlers, dass der Fördermeister neben ihm unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Der völlige Stillstand des Bohrturms setzte die gesamte Belegschaft mit jeder Minute, die verstrich, weiter unter Druck. »Falls Ihnen zu dem Todesfall noch etwas Wichtiges einfallen sollte, stehen wir Ihnen hier an Bord weiterhin zur Verfügung«, schloss er die Versammlung. »Herr Dormann hat uns für die Zeit unserer Ermittlungen die Kabine Nummer14 im zweiten Stock zugewiesen. Selbstverständlich werden wir alle Hinweise absolut vertraulich behandeln.«

5

Ehlers und Nolde sahen sich in dem winzigen Raum um, der für die kommende Nacht ihr Zuhause sein sollte. Ein kleiner Tisch, zwei Stühle, eine Sitzbank, ein Fernseher und ein Etagenbett