Rache auf Helgoland - Hauke Burmann - E-Book
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Rache auf Helgoland E-Book

Hauke Burmann

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein Vermisstenfall auf Helgoland entwickelt sich zu einer internationalen Mordermittlung. Auf Helgoland wird der Meeresbiologe Nico Rodriguez vermisst, kurz darauf verschwindet ein grönländischer Pilot, mit dem Rodriguez zuvor auf einer Forschungsreise in der Arktis war. Ole Carstens von der Wasserschutzpolizei und Polizeiobermeister Ralf Feddersen übernehmen den Fall. Die Spuren führen über Dänemark bis ins ferne Grönland, doch was als Suche nach zwei Vermissten beginnt, wird schon bald zu einer mörderischen Jagd.

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Hauke Burmann, geboren 1976, studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Hamburg. Schon in der Jugend entdeckte er seine Vorliebe fürs Schreiben und für den Journalismus. Nach beruflichen Stationen in verschiedenen Redaktionen verantwortet er heute Präventionsmedien einer großen Berufsgenossenschaft. Im Jahr 2015 veröffentlichte er seinen ersten Kriminalroman.

www.hauke-burmann.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: stock.adobe.com/Saga_bear

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-015-0

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Prolog

Mit leerem Blick sah sie zum Fenster hinaus und schaute auf den dunklen, felsigen Strand, an dem sich die Wellen des Ozeans brachen. Ruhig und friedlich lag das Polarmeer heute vor der kleinen Küstensiedlung mit ihren versprengten Häusern. Kaum mehr als ein Dutzend Wohnhäuser sowie ein paar Lagerhäuser und eine Handvoll weiterer Gebäude waren ohne erkennbare Struktur oder Symmetrie in unmittelbarer Ufernähe auf den felsigen Grund gebaut worden. Von Weitem sahen sie aus wie Treibgut, das bei Hochwasser an den Strand gespült worden war.

An guten Tagen konnte sie den Anblick des Meeres, aus dem am Horizont die mächtigen Eisberge ragten, ertragen. Aber heute war kein guter Tag. Deshalb schob sie ihren bequemen Sessel einmal quer durch den Raum zur anderen Seite des Wohnzimmers. Von hier aus fiel ihr Blick nicht aufs Meer, sondern auf die steilen Hänge eines Bergmassivs, dessen düstere Gesteinsformationen sich hinter der kleinen Siedlung erhoben. An den unteren Ausläufern lag hier und dort etwas Schnee. Er erinnerte sie daran, dass der Sommer an diesem abgelegenen Ort viel zu kurz war.

Es war nie ihr Wunsch gewesen, hier zu leben – weit weg von allem, was ihr in ihrem früheren Leben lieb und teuer gewesen war. Aber sie hatte im Grunde keine Wahl gehabt, als ihr Mann sie damals, in jungen Jahren, aus der Zivilisation gerissen und zu sich geholt hatte. Er hatte hier draußen einen verantwortungsvollen Job übernommen. Und es war nicht die Zeit gewesen, in der man viele Fragen stellte.

Also war sie aus der großen Stadt in eines dieser kleinen rostroten Häuschen am Ende der Welt gezogen. Um sie zu errichten, hatten die Gründer der Siedlung das Baumaterial von weit her holen müssen. Denn hier draußen gab es nirgendwo einen Baum oder Strauch, der dieser kargen Felslandschaft etwas Leben eingehaucht hätte. Wäre da nicht das Meer, hätte man denken können, die Siedlung befände sich auf dem Mond. Die triste Einöde vor dem Fenster war ein Spiegelbild jener Trostlosigkeit, die sich im Laufe der Jahre auch in ihr breitgemacht hatte.

Es war zwar Sommer, aber trotzdem war es derzeit viel zu warm für diese Region. Erst kürzlich war an der Wetterstation im Ort eine neue Allzeit-Rekordtemperatur gemessen worden. Es würde wohl nicht das letzte Mal gewesen sein. Manche Dinge im Leben sind wie das Wetter, dachte sie. Zunächst verändern sie sich nur allmählich, fast unmerklich. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem die Veränderungen unübersehbar werden. Dann lässt sich kaum mehr leugnen, dass nichts mehr wie früher ist.

Die Tür ging auf, und eine frische Meeresbrise wehte durch den Raum. Der kühle Luftzug riss sie aus ihren Gedanken. Im Eingang stand ihr Mann, der sie mit prüfendem Blick ansah. Sie kannten einander seit fast einem halben Jahrhundert. Das war lange genug, um sofort zu bemerken, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Die Zeit der Wahrheit war gekommen. Schließlich hatten sie sich viel zu lange etwas vorgemacht. Und es war keine Kleinigkeit, immerhin ging es hier um ihren gemeinsamen Sohn. Das Gespräch, das sie vorhin mit Nico geführt hatte, war schmerzhaft gewesen. Diesen Kummer konnte nun auch Pablo in ihren verweinten Augen sehen. Ihr trauriger Blick verriet ihm, dass die Unterhaltung alles für immer verändert hatte. Die Lebenslüge von der heilen Familie, die sie hier so viele Jahre lang sorgsam aufrechterhalten hatten, war für immer zerstört.

1

Eine steife Brise blies seit dem frühen Nachmittag über die Insel. Der Wind hatte in den Abendstunden etwas abgeflaut, aber von Zeit zu Zeit fegten noch immer kräftige Böen um den roten Felsen in der Nordsee. Die Helgoländer waren schlechtes Wetter zwar gewohnt. Aber in diesem Frühling war es wirklich knüppeldick gekommen. Schon der April war für die Jahreszeit deutlich zu kalt gewesen. Nun war auch der Mai fast vorüber, und dieser hatte den Namen Wonnemonat derzeit wirklich nicht verdient. Über der Nordsee braute sich ein Tiefdruckgebiet nach dem anderen zusammen, sodass Wind, Kälte und Regen jedes kleine Zwischenhoch sofort wieder vertrieben.

Die Wetterfrösche im Fernsehen hatten den frustrierten Zuschauern erklärt, dass sie es mit einer sogenannten »Omega-Lage« zu tun hätten. Über Russland hatte sich bereits vor Wochen ein riesiges Hochdruckgebiet festgesetzt, das an seiner Westseite alle Tiefdruckgebiete auf Abstand hielt. Eins nach dem anderen wurde im großen Bogen um das konstante Russland-Hoch herumgeführt. Dadurch gaben sich über Mitteleuropa nun die Schlechtwetterlagen die Klinke in die Hand. Und entsprechend dick angezogen war die dunkle Gestalt, die kurz vor Mitternacht die rund zweihundert Treppenstufen zum Oberland erklomm. Dort angekommen, orientierte sich die einsame Person am Kirchturm von Sankt Michael und ging zielstrebig zu einem kleinen Haus mit blauer Holzfassade, das sich ganz in der Nähe der Kirche befand. Es dauerte einen Moment, bis nach dem Klopfen an die Eingangstür im Hausflur ein Licht anging und im Inneren des Hauses ein Schatten hinter der Milchglasscheibe erschien. Vorsichtig wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet.

Der Hausherr erkannte den groß gewachsenen Grönländer in der Pilotenjacke auf Anhieb. »Salik? Um Himmels willen, was machst du denn hier – noch dazu um diese Uhrzeit?«

»Du musst mir helfen!«, sagte der nächtliche Besucher.

Nico Rodriguez, der seit drei Jahren am Institut für Meeresforschung auf der Hochseeinsel arbeitete, wusste sofort, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Die beiden Männer kannten einander von verschiedenen Forschungsreisen in der Arktis, sie hatten schon einiges zusammen erlebt. Und noch nie hatte Nico diesen fremdartigen Ausdruck im Blick seines alten Bekannten gesehen.

Salik Johannsen war ein erfahrener Pilot, dem es auch bei widrigsten Bedingungen immer wieder gelang, Polarforscher in die entlegensten Gebiete zu fliegen. Scheinbar furchtlos nahm der stämmige Inuk es mit sämtlichen Widrigkeiten der arktischen Natur auf. Jetzt jedoch wirkte er aufs Äußerste angespannt und besorgt. Im Schein der fahlen Lampe über dem Hauseingang war deutlich das nervöse Zucken seines linken Auges zu erkennen.

»Bitte, Nico. Ich brauche deine Hilfe«, wiederholte er in eindringlichem Ton.

»Was ist denn los? Komm doch erst mal rein.«

»Kann nicht lange bleiben. Muss die Insel noch heute Nacht wieder verlassen.«

»Wie bist du überhaupt hergekommen?«, fragte Nico Rodriguez.

»Mit dem ›Arctic Flyer‹. Ich soll die Maschine nach Bremen überführen, zur Wartung in der Flugzeugwerft. Das wird allerdings noch ein wenig warten müssen, denn mir ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Damit die Sache nicht auffällt, muss ich aber direkt weiterfliegen.«

»Warum denn diese Geheimnistuerei? Und wie bist du überhaupt so spät noch von der Düne rübergekommen?«

»Ich habe mir am Anleger ein kleines Motorboot ›ausgeliehen‹. Keine Sorge, ich bringe es heil zurück. Eigentlich wollte ich dich da gar nicht mit reinziehen. Aber ohne deine Unterstützung komme ich nicht weiter. Diese Sache ist sehr wichtig. Es geht dabei um Menschenleben.«

»Wovon sprichst du?« Nico sah seinen Freund sorgenvoll an.

»Ich werde dir später alles berichten. Erst einmal musst du etwas für mich untersuchen.«

Ohne weitere Erklärungen reichte Salik seinem verblüfften Gegenüber einen knallroten Rucksack, der das Logo der grönländischen Fluggesellschaft trug.

»Was ist das?«

»Wasserproben«, sagte der Pilot. »Schau sie dir bitte im Labor an.«

»Ist das Meerwasser? Und wonach genau soll ich suchen?«

»Nein, es ist Süßwasser. Und es ist besser, wenn du erst mal nichts darüber weißt. Nur so viel: Analysiere es bitte auf Schadstoffe.«

»Geht’s vielleicht ein bisschen konkreter?«

»Mach eine toxikologische Untersuchung für mich. Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun. Ich brauche Aufschluss darüber, wie viele giftige Rückstände dadrin sind.«

»Wozu willst du das wissen?«

»Ich muss klären, ob dieses Zeug als Trinkwasser geeignet ist.«

»Verstehe. Aber du hast doch sicher schon eine Ahnung, was für Substanzen drin sind, oder?«

Salik Johannsen sah sich um, als befürchtete er, jemand könnte das nächtliche Gespräch belauschen. Doch um sie herum war alles ruhig. In der schmalen Gasse auf dem Oberland herrschte Dunkelheit, sämtliche Lichter in den Häusern waren erloschen.

»Okay«, sagte er im Flüsterton. »Ich hätte mir denken können, dass du es möglichst genau wissen willst. Ich meine alle möglichen Giftstoffe, die beim Bergbau anfallen können. Und schau bitte auch nach Spuren von Radioaktivität.«

***

Die Analyse, um die ihn Salik gebeten hatte, war bereits am nächsten Abend erledigt. Nico stand in seinem privaten Arbeitszimmer und blickte durchs Fenster aufs dunkle Meer hinaus, sein Mobiltelefon fest ans Ohr gepresst. Die Handyverbindung war nicht besonders gut, weshalb er und Salik Mühe hatten, einander zu verstehen.

»Ich sagte, ich habe deine Proben untersucht«, wiederholte Rodriguez, wobei er sich bemühte, laut und deutlich zu sprechen.

»Danke … hoffe, du … meinetwegen keine Überstunden machen.«

»Doch, ist aber okay. Trotzdem schuldest du mir jetzt ein paar Antworten. Wo kommen diese Proben her?«

»Aus Grönland.«

»Woher genau?«

»… mir erst, was du herausgefunden …«, kam es abgehackt aus dem Handy.

»Also gut. Ich habe in der Probe zahlreiche gefährliche Stoffe und auch Spuren von Radioaktivität gefunden.«

»… ist also wahr … passiert, was ich vermutet hatte.«

»Kannst du mir jetzt bitte sagen, worum es geht?«

»Ja … werde ich.«

2

»Bitte tu’s nicht!«, flehte Ole Carstens und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die bunte runde Scheibe. Was seine Freundin Inken da so unsanft zwischen ihren Händen quetschte und verbog, war nicht irgendeine Platte, sondern eine limitierte Sonderpressung. Es war die erste Single seiner Lieblingsband, der Rockabilly-Formation Spice Guys.

Mit Schrecken wurde ihm klar, dass er das Unheil nicht mehr abwenden konnte. Da gab das Material auch schon nach, und er hörte ein hässliches Knacken. Hilflos und mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er, wie das farbige Vinyl vor seinen Augen barst und in mehrere Teile zersprang.

»Bist du verrückt geworden?«, herrschte er Inken an. Sie hatte soeben einen Tonträger zerstört, von dem es insgesamt nur hundert Exemplare gab. Dies war die Nummer 26 gewesen, die Scheibe hatte einen Ehrenplatz in seinem Regal gehabt.

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie in ruhigem Ton. »Es ist die Strafe, die du verdient hast.«

Inken hatte ihn auf brutale Weise genau da getroffen, wo es für ihn am schlimmsten war. Das war keine Handlung im Affekt gewesen, sondern ein kaltblütig ausgeführter Racheakt. Carstens war auch durchaus klar, was er zu bedeuten hatte. Dennoch spielte er den Ahnungslosen: »Strafe? Wofür denn?«

»Ach, tu doch nicht so scheinheilig. Das weißt du ganz genau!«, zischte sie.

Als ihn ihr frostiger Blick traf, schwanden auch die allerletzten Zweifel. Er war aufgeflogen. Und die Bestätigung dafür ließ nicht lange auf sich warten: »Ich habe dich gestern Abend gesehen. Hattest du nicht gesagt, du müsstest länger arbeiten? Nun, ich weiß, wo du Überstunden gemacht hast.« Sie machte eine kleine Pause, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Jede Silbe war wie ein Giftpfeil. »Du warst unten am Hafen auf einem Boot. Aber natürlich nicht auf dem Polizeiboot, wo du eigentlich hättest sein sollen.«

Carstens schwieg. Nun gab es nichts mehr zu leugnen. Und ihm war auch klar, dass hier und heute weitaus mehr zerbrochen war als sein kostbares Sammlerstück, dessen Überreste nun auf dem Fußboden lagen. Die Beziehung zwischen ihm und Inken hatte sich schon längere Zeit in einer Art Schwebezustand befunden. Sie waren dabei mehrmals an einem kritischen Punkt angekommen, doch dieses Mal schien er den Bogen überspannt zu haben.

»Ich habe dich gesehen«, wiederholte sie. »Wie alt ist sie? Höchstens dreißig, schätze ich. Oder doch eher fünfundzwanzig?« Inken schaute ihn ausdruckslos an, so wie sie es in letzter Zeit häufiger getan hatte. Die einst verliebten Blicke zwischen ihnen waren nach und nach immer seltener geworden. Und schließlich völlig ausgeblieben. »Willst du mir nicht was sagen?«, fragte sie kühl.

Er ahnte, welch unangenehmen Verlauf dieses Gespräch nehmen würde. Betreten betrachtete er die geborstene Schallplatte zu seinen Füßen. »Du weißt doch sowieso schon alles«, antwortete er tonlos.

»Ja, das stimmt. Aber ich will es von dir hören. Mit deinen eigenen Worten.«

Mit seinen eigenen Worten? Was gab es da jetzt noch zu sagen? Wie sollte er das Geschehene beschreiben, ohne dass die Situation dadurch noch unangenehmer wurde? Die Frau am Strand hatte mit ihm geflirtet. Sie waren ins Gespräch gekommen. Viel hatten sie allerdings nicht gesprochen. Stattdessen hatte sie ihn gefragt, ob sie ihm ihr Boot zeigen solle, das im Hafen der Hauptinsel lag. Carstens hatte nicht lange gezögert. Er war mitgegangen.

Nicht eine Sekunde lang hatte er gedacht, dass Inken etwas mitkriegen könnte. Es war nicht unüblich, dass er in seiner Funktion als Wasserschutzpolizist Sportboote im Hafen von Helgoland inspizierte. Nur trug er dann für gewöhnlich seine Polizeiuniform. Außerdem wurde er bei solchen Einsätzen nicht von wildfremden Frauen hinter sich hergezogen, die es gar nicht abwarten konnten, gemeinsam mit ihm unter Deck zu verschwinden. Sie hatten sich wenig Mühe gegeben, diese romantische Begegnung diskret einzufädeln. Und nun bekam er die Quittung dafür.

Er spürte, dass Inken im Grunde gar kein Interesse mehr an Erklärungen hatte. Also schwieg er, packte ein paar Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Haus seiner Eltern. Unterwegs wappnete er sich gegen den enttäuschten Blick seiner Mutter. Schon oft war er in ähnlichen Situationen zu seinen Eltern gekommen. Beziehungstechnisch war er in ihren Augen seit vielen Jahren ein Problemfall. Doch dieses Mal würde es seiner Mutter vermutlich die letzte Illusion rauben.

»Das hast du ja super hingekriegt«, murmelte er frustriert vor sich hin. »Brichst an einem einzigen Tag gleich zwei Frauen das Herz. Tolle Leistung, du alter Idiot.«

»Dwarslöper! Wo geiht?«, schallte es ihm plötzlich von der anderen Straßenseite entgegen.

»Dwarslöper«, das war seit vielen Jahren sein Spitzname. Schon als kleiner Junge hatte Carstens unten am Hafen gemeinsam mit seinem Vater Taschenkrebse verkauft, aus deren Scheren die Helgoländer Spezialität »Knieper« zubereitet wurde. Carstens sah zu der massigen Gestalt in der knapp sitzenden Uniform. Es war Polizeiobermeister Ralf Feddersen, der schnaufend und mit hochrotem Kopf den beschwerlichen Weg vom Unterland hochgekommen war. Normalerweise nahm sein übergewichtiger Kollege, der im Laufe seiner achtundvierzig Lebensjahre schon so manche Diät erfolglos abgebrochen hatte, anstelle der Treppe den Fahrstuhl. Allerdings wurde die Anlage gerade gewartet und war daher außer Betrieb.

»Was ist los, willst du etwa zu mir?«, fragte Carstens verwundert.

»Ja, will ich«, stieß Feddersen kurzatmig hervor. »Wieso gehst du eigentlich nicht an dein verdammtes Handy? Hat das was mit Inken zu tun?«

»Warum? Hast du etwa mit ihr gesprochen?«

»Ja, und sie klang am Telefon gar nicht glücklich. Habt ihr euch gestritten?«

»Frag nicht«, entgegnete Carstens mürrisch. »Ich will nicht drüber reden.«

»Is al goot. Dat geiht mi jo ok nix an«, erwiderte Feddersen in breitem Plattdeutsch und winkte ab. »Jedenfalls hat sie gesagt, du pennst heute wohl bei deinen Eltern.«

»Stimmt. Und um ein Haar wäre ich auch dort angekommen. Was gibt’s denn so Dringendes?«

»Du musst mitkommen. Wir haben einen Vermisstenfall.«

3

Carstens und Feddersen stiegen die Treppen zum Unterland hinab. Hier befand sich direkt am Nordosthafen die Biologische Anstalt des Alfred-Wegener-Instituts. Die Gebäude der Forschungsstation wurden gerade umfangreich saniert und glichen daher einer Großbaustelle. Man hatte sämtliche Büros und Labore in Container ausgelagert.

Vor dem gesperrten Haupteingang wurden sie von einer zierlichen Frau mit runder Brille und kurzen hellbraunen Haaren in Empfang genommen. Dr. Dingenskirchen entschuldigte sich für die chaotischen Zustände vor Ort. Wie die junge Wissenschaftlerin wirklich hieß, hatte Carstens sofort wieder vergessen, da er sich partout keine Namen merken konnte. Das passierte ihm andauernd. Irgendjemand stellte sich ihm vor, er nickte, und schon im nächsten Moment war ihm der Name wieder entfallen. Carstens nahm sich fest vor, sich gleich besser zu konzentrieren und die Namen aller Personen, mit denen er hier zu tun haben würde, in sein Notizbuch zu schreiben.

Mit einer einladenden Handbewegung gab die junge Wissenschaftlerin ihnen zu verstehen, ihr über das Gelände zu folgen. Sie führte sie zu einem der schmucklosen weißen Container. Im Inneren waren mehrere Büroarbeitsplätze eingerichtet, die wegen der späten Stunde jedoch fast alle verwaist waren. Nur an einem der Schreibtische brannte noch Licht. Als sie eintraten, erhob sich eine hochgewachsene Frau mit rotblonder Lockenmähne, die Carstens sofort erkannte. Sie würde er nicht nach ihrem Namen fragen müssen, denn Dr. Friederike Buchwaldt, die Leiterin der Biologischen Anstalt auf Helgoland, zählte zu den bekannten Persönlichkeiten auf der Insel.

Ole Carstens und Ralf Feddersen stellten sich der Institutschefin kurz vor. Anschließend kamen sie ohne Umschweife zur Sache.

»Es gibt einen Vermisstenfall bei Ihnen?«, begann Carstens das Gespräch.

»Ja, leider«, antwortete Buchwaldt mit leicht heiserer Stimme. Sie klang besorgt. »Seit gestern Vormittag haben wir den Kontakt zu einem unserer Mitarbeiter verloren.«

»Um wen geht es denn?«

»Um Dr. Nico Rodriguez. Er ist Molekularbiologe und Arbeitsgruppenleiter für den Bereich Phykologie.«

»Algenkunde«, ergänzte Dr. Dingenskirchen, die eigentlich Saskia Nußbaum hieß, wie Carstens auf einmal wieder einfiel. Anscheinend waren ihr die fragenden Gesichter der beiden Polizisten aufgefallen. »Algen werden im Allgemeinen ziemlich unterschätzt«, fuhr sie fort. »Wussten Sie beispielsweise, dass Meeresalgen beinahe genauso viel Sauerstoff produzieren wie überirdisch wachsende Pflanzen? Außerdem nehmen sie Kohlenstoff auf und tragen auf diese Weise dazu bei, den Treibhauseffekt zu reduzieren, was –«

»Vielen Dank«, unterbrach Friederike Buchwaldt ihre Kollegin und wandte sich wieder ihren beiden Besuchern zu. »Frau Dr. Nußbaum ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team von Dr. Rodriguez. Deshalb kennt sie sich gut mit der Materie aus. Unser Kollege hätte heute eigentlich bei einem wichtigen Meeting auf dem Festland sein sollen. Dort ist er aber nicht eingetroffen. Da wir ihn am Telefon auch nicht zu fassen bekommen, machen wir uns natürlich Sorgen.«

»Wo war dieses Treffen?«, fragte Carstens.

»In Potsdam. Dr. Rodriguez wollte dort die Ergebnisse einer arktischen Forschungsreise präsentieren, die er kürzlich geleitet hat.«

»Worum ging’s dabei?«, wollte Feddersen wissen. »Können Sie das kurz umreißen?« Nach einem Moment des Innehaltens fügte er rasch hinzu: »Mit einfachen Worten, wenn’s geht.«

Auf ein Nicken ihrer Chefin hin ergriff nun wieder Saskia Nußbaum das Wort. Sie wirkte etwas eingeschüchtert, nachdem ihr Dr. Buchwaldt eben in die Parade gefahren war. Carstens konnte gut nachempfinden, wie klein und unerfahren sich die junge Wissenschaftlerin neben Friederike Buchwaldt fühlen musste, die noch dazu auch körperlich ziemlich respekteinflößend wirkte.

»Grob gesagt geht es um den Effekt, den große Eisberge auf den Nährstoffgehalt im Meerwasser haben. Wir haben in der Arktis solche Eisriesen untersucht, die beispielsweise in Grönland oder Spitzbergen von Küstengletschern abgebrochen und anschließend aufs offene Meer hinausgetrieben sind. Wenn sie dann mit den Meeresströmungen in wärmere Gefilde kommen, beginnen sie allmählich zu schmelzen. Dabei gelangt viel Eisen ins Meer, das in den nährstoffarmen Polarregionen normalerweise nicht vorhanden ist. Dadurch kommt es im Umfeld des Eisbergs zu einem starken Algenwachstum. Wir konnten teilweise noch Hunderte von Kilometern hinter einem Eisberg eine Algenspur nachweisen. In einigen Fällen waren die Chlorophyllwerte selbst in einer Entfernung von tausend Kilometern feststellbar.«

»Chlorophyll, das ist dieser grüne Pflanzenfarbstoff, oder?«, fragte Carstens, dessen letzte Biologiestunde in der Schule mehr als zwanzig Jahre zurücklag.

»Genau. In einer mittleren Entfernung vom Eisberg ist der Gehalt an Chlorophyll im nördlichen Polarmeer etwa zehnmal höher als üblicherweise.«

»Un is dat wat Goodet oder nich?«, fragte Feddersen, der von Meeresbiologie ebenfalls keinen blassen Schimmer hatte.

»Das ist was Gutes«, antwortete Saskia Nußbaum, und zum ersten Mal umspielte der Anflug eines Lächelns ihre schmalen Lippen.

»Warum?«, wollte Feddersen wissen. »Ich dachte immer, große Algenteppiche seien schlecht für die Gewässer.«

»In diesem Fall nicht. Denn dass die Eisberge die Polarmeere mit Eisen sozusagen ›düngen‹ und sich dadurch Algen ausbreiten, mindert den Treibhauseffekt in unserer Atmosphäre.«

»Wieso denn das?«, fragte Carstens.

»Ich sagte ja bereits, dass Algen Kohlenstoff aus der Luft aufnehmen. Wenn sie absterben, sinken sie auf den Grund des Meeres. Das in der Biomasse gebundene CO2 wird dabei ebenfalls am Boden des Ozeans abgelagert.«

»Und da ist es gut aufgehoben«, sagte Feddersen.

»Richtig. Denn jedes Gramm Kohlendioxid, das durch Algen im Meer gebunden und gespeichert wird, ist raus aus der Atmosphäre. Somit trägt es nicht mehr zur Erderwärmung bei. Aus diesem Grund forschen wir im Polarmeer auch zum Thema Algendüngung.«

»Was soll das denn sein?«, wollte Feddersen wissen.

»Wir haben bei unserer jüngsten Forschungsreise ganz gezielt Eisensulfat ins Meerwasser eingeleitet und das Algenwachstum dadurch massiv angeregt. Der Effekt ist dabei ähnlich wie bei den Eisbergen.«

»Und zu diesem Thema wollte Dr. Rodriguez in Potsdam einen Vortrag halten?«

»Ja«, antwortete Friederike Buchwaldt. »Die Forschung in diesem Bereich wird künftig an Bedeutung gewinnen. Denn durch den Klimawandel schmelzen die Gletscher in der Nord- und Südpolarregion immer schneller. In Küstennähe brechen vermehrt Eisberge ab und gelangen ins Meer. Dadurch, dass im Umfeld der Eisberge dank des hohen Eisengehalts im Schmelzwasser ein beträchtliches Algenwachstum entsteht, kann dann wiederum mehr CO2 im Ozean gespeichert werden. Wir sprechen hier von einer ›negativen Rückkopplung‹ auf den Kohlenstoffkreislauf.«

»Okay, danke«, sagte Carstens, dem langsam der Kopf zu schwirren begann. Er hatte das Prinzip verstanden, merkte aber, dass er nach dem Streit mit Inken viel zu erschöpft für ein Gespräch über Meeresbiologie war. Deshalb lenkte er die Unterhaltung wieder auf die näheren Umstände des Vermisstenfalls: »Wo genau sollte der Vortrag in Potsdam denn stattfinden?«

»Im Deutschen Arktisbüro. Es befindet sich im Wissenschaftspark ›Albert Einstein‹ auf dem Telegrafenberg in Potsdam. Dort gibt es regelmäßig Veranstaltungen mit Partnern aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu Themen rund um die Entwicklungen in der Arktis.«

»Und wann wollte Ihr Kollege dort sein?«

»Die Präsentation war für dreizehn Uhr vorgesehen. Alle haben auf ihn gewartet. Es waren auch ein paar hochrangige Gäste dort. Zunächst ging man davon aus, dass er sich vielleicht bloß verspätet, und hat eine andere Präsentation vorgezogen. Aber um fünfzehn Uhr war er noch immer nicht aufgetaucht.«

»Und dann?«

»Wir erhielten einen Anruf von einem unserer Kollegen aus dem Arktisbüro. Er sagte, dass Dr. Rodriguez nicht erschienen sei und dass man ihn derzeit auch nicht erreichen könne. Außerdem wollte er wissen, ob wir vielleicht etwas von ihm gehört hätten. Hatten wir aber leider nicht.«

»Haben Sie selbst auch noch mal versucht, ihn anzurufen?«

»Ja, natürlich. Mehrmals, den ganzen Nachmittag«, antwortete Saskia Nußbaum. »Aber es meldete sich immer bloß die Mailbox. Inzwischen machen wir uns wirklich große Sorgen.«

»Verständlich«, antwortete Feddersen.

»Wurde Dr. Rodriguez auf dieser Dienstreise eigentlich von jemandem begleitet?«, fragte Carstens.

»Nein, er war allein unterwegs.«

»Und wissen Sie zufällig, ob außer ihm noch weitere Personen bei der Veranstaltung fehlten?«

»Nein, sonst niemand. Insgesamt waren es fünfzehn Gäste. Zu den Teilnehmern gehörte unter anderem der grönländische Minister für Wirtschaft, Energie und Forschung mit seiner Delegation sowie der dänische Botschafter samt einigen Mitarbeitern. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Teilnehmerliste geben.«

»Ja, das wäre gut. Wann hatten Sie denn zuletzt Kontakt zu Herrn Rodriguez?«

»Ich war von uns beiden die Letzte, die ihn hier gesehen hat«, sagte Saskia Nußbaum. »Das war gestern Mittag. Er hatte mich gebeten, ihm ein paar Unterlagen für den Vortrag zusammenzustellen. Die habe ich ihm gegeben, und dann hat er sich auf den Weg Richtung Festland gemacht.«

»Und wirkte er dabei ganz normal auf Sie, oder ist Ihnen an seinem Verhalten etwas aufgefallen? Vielleicht etwas, das schon ein paar Tage zurückliegt?«

Die beiden Wissenschaftlerinnen sahen einander einen Moment lang an, schüttelten jedoch beide den Kopf.

»Dr. Rodriguez war vielleicht ein wenig gestresst und angespannt«, sagte Saskia Nußbaum. »Aber das ist meiner Meinung nach völlig normal vor so einem wichtigen Vortrag.«

»Gab es sonst noch jemanden, der vor seiner Abfahrt mit ihm gesprochen hat?«, hakte Carstens nach.

»Ja, er hat sich noch mit Dr. Thießen ausgetauscht. Der ist ebenfalls Phykologe. Als stellvertretender Arbeitsgruppenleiter für den Forschungsbereich Algenkunde ist er gewissermaßen die rechte Hand von Nico Rodriguez.«

»Ist Herr Thießen noch im Haus?«

Saskia Nußbaum sah auf die Uhr. »Ja, vermutlich. Zurzeit ist er immer recht lange da. Sie können gern mit ihm sprechen.«

»Sehr gut«, sagte Carstens. »Aber vorher wüsste ich gern noch, mit welchem Schiff Herr Rodriguez die Insel verlassen hat. Oder hat er einen Flieger genommen?«

»Tut mir leid, darüber haben wir gar nicht gesprochen. Das müsste aber aus seinen Reiseunterlagen hervorgehen. Wir können das in unserem System prüfen.«

»Machen Sie das bitte. Gibt es in seinem privaten Umfeld vielleicht noch jemanden, der etwas von ihm gehört haben könnte?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Friederike Buchwaldt. »Verwandte in Deutschland hat er nicht, da er aus Argentinien stammt. Und bei den Kollegen hier im Haus haben wir rumgefragt, es hat keiner mehr etwas von ihm gehört. Auch seine Lebensgefährtin nicht. Sie ist ebenfalls eine Kollegin, allerdings ist sie –«

»Verdammt!«, entfuhr es Carstens, der gerade dabei war, die Details in sein Notizbuch zu kritzeln.

»Was haben Sie?« Friederike Buchwaldt schaute ihn irritiert an.

»Zu fest aufgedrückt.« Er blickte mürrisch auf die abgebrochene Mine seines Bleistiftes.

»Hier, nehmen Sie den.« Sie reichte Carstens einen hellblauen Kugelschreiber, den das Logo der Biologischen Anstalt zierte. In der Mitte des Ovals war eine weiße Qualle mit langen Tentakeln abgebildet. Portugiesische Galeere, dachte er. Das Logo auf dem Kugelschreiber zeigte zwar eine andere Gattung, aber irgendwo hatte er mal gelesen, dass diese giftige Quallenart bis zu fünfzig Meter lange Fangarme hatte und damit das längste Tier der Erde war. Normalerweise hätte er dieses unnütze Wissen beiläufig ins Gespräch eingebaut, um im richtigen Moment ein bisschen Eindruck zu schinden. Das würde ihm bei diesen beiden Damen aber ganz sicher nicht so einfach gelingen. Also bedankte er sich für den Stift und fuhr mit seiner Befragung fort.

»Was sagten Sie eben? Die Lebensgefährtin von Dr. Rodriguez arbeitet ebenfalls hier?«

»Korrekt, die beiden sind seit etwa drei Jahren ein Paar. Allerdings ist sie nicht in seinem Forschungsteam.«

»Ist sie denn noch da? Können wir mit ihr sprechen?«, fragte Feddersen.

»Wir haben sie vorhin nach Hause geschickt. Sie ist natürlich in großer Sorge und war deshalb nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Ich habe ihr angeboten, dass wir den Kontakt zur Polizei aufnehmen, damit sie sich damit nicht befassen muss. Und immerhin ist Dr. Rodriguez ja auf einer Dienstreise verschwunden.«

»Die meisten Vermisstenfälle klären sich innerhalb weniger Tage auf«, entgegnete Carstens und bemühte sich, dabei möglichst zuversichtlich zu wirken. »Herr Feddersen wird jetzt noch die Daten der Konferenzteilnehmer aufnehmen. In der Zwischenzeit würde ich gern schon mal mit Herrn Dr. Thießen sprechen. Können Sie mir bitte sagen, wo ich ihn finden kann?«

»Kein Problem«, antwortete Friederike Buchwaldt. »Ich zeichne Ihnen auf, wie Sie zu ihm kommen. Sein Container steht ganz in der Nähe.«

4

Als Carstens den provisorischen Arbeitsplatz von Lars Thießen erreichte, war dieser tief in die Arbeit versunken. Er saß mit dem Rücken zur Eingangstür des Containers an einem Schreibtisch und studierte konzentriert eine Reihe von Messdaten, die auf verschiedenen Monitoren angezeigt wurden. Auf Carstens’ Klopfen hatte er nicht reagiert, und auch als Carstens eintrat, zeigte er keinerlei nennenswerte Regung.

»Hallo, Herr Thießen. Darf ich Sie kurz stören?«

Noch immer rührte der Mann sich nicht. Erst als Carstens dichter an ihn herantrat und sein Körper unter der Neondeckenlampe einen dunklen Schatten auf den Schreibtisch warf, fuhr Thießen ruckartig herum. Carstens bemerkte, dass er kleine Stöpsel in den Ohren hatte, mit denen er offenbar laut Musik hörte. Als er sie rausnahm und sich abrupt aus seinem Bürostuhl erhob, drangen verzerrte Gitarren, ein hämmerndes Schlagzeug und ein kreischender Gesang aus den Kopfhörern.

»Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?«, fragte Thießen mit einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig Erschrecken und Verärgerung erkennen ließ. Es war offensichtlich, dass Carstens ihn bei einer Arbeit gestört hatte, die hohe Konzentration erforderte.

Der Meeresbiologe war beinahe genauso groß wie Carstens, allerdings deutlich schmaler gebaut und von schlaksiger Statur. Von seinen dunkelblonden Haaren war dem etwa Vierzigjährigen nur noch ein schütterer Kranz geblieben. Mit kleinen müden Augen hinter einer runden Nickelbrille blickte er Carstens an.

Interessanterweise trug Thießen ein schwarzes T-Shirt, auf dem neben einer Reihe von Blitzen der Bandname »AC/DC« aufgedruckt war. Quer darunter stand in silbernen Großbuchstaben das Wort »Thunderstruck«. Carstens war zwar kein Fan der australischen Band, aber natürlich kannte er den Song – einer ihrer großen Hits aus den frühen neunziger Jahren.

»’tschuldigung wegen der Störung«, sagte er und streckte dem Mann seinen Polizeiausweis entgegen. »Frau Dr. Buchwaldt sagte, dass ich Sie hier finde. Wir ermitteln im Fall Ihres vermissten Kollegen, Herrn Dr. Rodriguez.«

»Verstehe«, brummelte Thießen. Noch immer wirkte er ganz und gar nicht erfreut über den ungebetenen Besuch in seinem provisorischen Büro.

»Wie ich hörte, haben Sie Herrn Rodriguez noch kurz vor seiner Abfahrt nach Potsdam getroffen?«

»Stimmt.«

»Hat er sich da irgendwie auffällig verhalten? Oder vielleicht etwas gesagt, das sein Verschwinden erklären könnte?«

»Nö. Schien nur in Eile zu sein. Sagte, er müsse schnell zur Düne rüber.«

»Aha, er wollte also mit dem Flugzeug aufs Festland?«

»Sah jedenfalls nich so aus, als ob er dort campen wollte.«

Carstens reagierte nicht auf diese spitzfindige Bemerkung. Stattdessen fragte er: »Hatte er nur Handgepäck dabei oder einen größeren Koffer?«

»’n Rollkoffer war’s. Hat von mir noch ein paar Unterlagen erhalten, die er dort reingestopft hat. Und ist dann eilig losgegangen.«

»Stammten die Daten von der letzten Forschungsreise in der Arktis?«

»Ja. Ham hier derzeit ’ne Menge auszuwerten.« Auch mit dieser Aussage gab Thießen ihm zu verstehen, dass er sich von seinem Besuch gestört fühlte und jetzt eigentlich Wichtigeres zu tun hatte.

»Waren Sie bei dieser Mission dabei?«

»Ja, war ich.«

»Welche Ergebnisse wollte Ihr Kollege denn in Potsdam präsentieren?«

»Woll’n Sie’s wirklich genau wissen?« Thießens skeptischer Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er Carstens nicht zutraute, die Materie zu durchdringen.

»Nein, ist schon gut. Ich hab bereits gehört, dass es bei Ihrer Arbeit um Algendüngung geht.«

»Stimmt.«

»Und ist Ihnen während dieser Reise oder danach etwas an Ihrem Kollegen aufgefallen? Hat er sich vor seinem Verschwinden zu irgendeinem Zeitpunkt auffällig verhalten?«

»Nee. Wirkte ganz normal.«

Carstens’ Gegenüber bediente das gängige Klischee eines mundfaulen Norddeutschen, der von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang höchstens fünfzig Wörter von sich gab, par excellence. Normalerweise schätzte er Leute, die nicht so viel um den heißen Brei herumredeten. Aber jetzt sagte ihm sein Instinkt, dass diese Unterhaltung mit Thießen aus einem bestimmten Grund so einsilbig verlief. Der Mann hatte bereits das Gesicht verzogen, als Carstens den verschwundenen Kollegen zum ersten Mal erwähnte. Eine Art dunkler Schatten war beim Namen Rodriguez über sein Gesicht gehuscht. Das konnte Carstens nicht ignorieren. Deshalb fragte er ihn geradeheraus: »Wie ist Ihre Beziehung zu Dr. Rodriguez?«

Thießen blickte ihn argwöhnisch an. »Wieso wollen Sie das wissen?«

»Routinefrage«, entgegnete Carstens.

»Verstehe. Wir sind Kollegen. Stehen uns privat jetzt nich besonders nah. Aber wir arbeiten zusammen.«

Wow, zusammenhängende Sätze, dachte Carstens. Für seine Verhältnisse wurde der Mann geradezu redselig.

»Die allerbesten Freunde sind Sie also nicht.«

»Sind Sie denn mit all Ihren Kollegen eng befreundet?«, fragte Thießen mit einem leicht gereizten Unterton.

»So viele Polizisten gibt’s ja hier auf der Insel nicht. Und ja, mit denen treffe ich mich auch mal abends in einer Kneipe. Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit Dr. Rodriguez beschreiben?«

Thießen machte eine kurze Pause, so als suchte er nach den richtigen Worten. »Ich unterstütze ihn bestmöglich.«

So spartanisch die meisten Antworten des Mannes auch ausfielen, in den wenigen Worten schwangen doch eine Menge Emotionen mit. Und Carstens, der für so etwas feine Antennen besaß, hatte das Gefühl, sie allmählich zuordnen zu können. Wenn ihn seine Sensoren nicht täuschten, strahlte der Forscher eine gehörige Spur Verbitterung aus. Mit ein paar gezielten Fragen ließ sich möglicherweise herausfinden, ob er auf der richtigen Fährte war.

»Ich frage mich, warum Dr. Rodriguez eigentlich ganz allein nach Potsdam gefahren ist. Wären Sie nicht auch gern dabei gewesen, um die Forschungsergebnisse zu präsentieren? Schließlich haben Sie ja anscheinend maßgeblich daran mitgewirkt.«

Nun war auch ohne viel Feingespür erkennbar, dass die Miene des Mannes sich weiter verfinsterte. Carstens hatte einen wunden Punkt getroffen.

»Er hat von mir und den Kollegen vor seiner Abreise alles erhalten, was er für den Vortrag brauchte.«

»Aber er hielt es nicht für nötig, Sie mit zum Meeting im Arktisbüro zu nehmen?«

»Ist eben nicht jeder ein geborener Teamplayer.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na ja, manche Führungskräfte sehen sich als Teil ihres Teams. Andere sind totale Egomanen und Kontrollfreaks.«

»Das heißt, Dr. Rodriguez hat die Lorbeeren für das Forschungsprojekt für sich allein beansprucht?«

Thießen nickte. »Der Vortrag in Potsdam war ihm extrem wichtig.«

»Woran haben Sie das gemerkt?«

»Er hat ’ne Menge Überstunden geschoben in den vergangenen Wochen. Neulich ist er sogar bis tief in die Nacht hier gewesen.«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Ja, denn eigentlich dürfen die Gebäude so spät gar nicht mehr betreten werden. Ich kenne den Kollegen vom Wachdienst ganz gut. Der ist ihm um ein Uhr nachts hier im Labor begegnet. Hat ihn natürlich zur Rede gestellt.«

»Und was hat Rodriguez gesagt?«

»Hat sich irgendwie rausgeredet. Sagte, dass er noch ’ne dringende Analyse durchzuführen habe, die am nächsten Tag fertig sein müsse.«

»Aha. Und war er der Einzige, der an dem Tag noch so lange hier war?«

»Denke schon. Wir anderen waren mit unseren Arbeiten längst fertig. Die Daten für den Vortrag im Arktisbüro lagen alle vor. Deshalb hätte Iceman hier echt keine Nachtschichten mehr einlegen müssen.«

»Wieso nennen Sie ihn so? Sieht er aus wie Val Kilmer?«

»Nee, mit ›Top Gun‹ hat das nichts zu tun. Er ist eben der ›Mann aus dem Eis‹.«

»Das ist doch ›Ötzi‹.«

»Nein, nicht die Gletschermumie aus Südtirol. Rodriguez wurde 1978 als weltweit erster Mensch in der Antarktis geboren. Ist dadurch in Argentinien so was wie ’ne Berühmtheit.«

»Wusste ich gar nicht«, sagte Carstens. »Wo genau ist er denn zur Welt gekommen?«

»In der Esperanza-Station. Steht sogar im ›Guinness-Buch der Rekorde‹. Unser Iceman hat dort einen eigenen Eintrag. Allerdings scheint er darauf nicht mehr besonders stolz zu sein.«

»Wieso?«

»Er reagiert seit einiger Zeit ziemlich genervt, wenn ihn jemand mit seinem Spitznamen anspricht.«

»Können Sie sich vorstellen, warum?«

»Keine Ahnung. Vielleicht war er auch einfach nur überarbeitet.«

***

Da von Thießen keine weiteren Hinweise zum Verbleib von Nico Rodriguez kamen, beendete Carstens kurze Zeit später das Gespräch. Er gab dem Mann seine Karte und bat ihn, sich für weitere Fragen zur Verfügung zu halten. Als er sich zum Gehen wandte, stellte er überrascht fest, dass in der leicht geöffneten Tür des Containers der Schatten einer Person zu erkennen war. Er ging zum Eingang, öffnete die Tür ganz und blickte in das Gesicht von Friederike Buchwaldt. Er konnte nicht sagen, ob die Institutsleiterin eben erst gekommen war oder ob sie einen Teil der Unterhaltung mitangehört hatte. Sie wirkte keinesfalls verlegen, sondern lächelte freundlich.

»Wie ich sehe, sind Sie hier bereits fertig. Ich hoffe, Herr Dr. Thießen konnte Ihnen weiterhelfen«, sagte sie, während sie Carstens zurück über das Gelände der Biologischen Anstalt begleitete.

»Besonders aufgeschlossen ist Ihr Kollege nicht.«

»Stimmt. Wir haben hier aber auch nur äußerst selten Kontakt zur Polizei.«

»Schon klar. Einen konkreten Hinweis zum Verbleib von Nico Rodriguez konnte er mir zwar nicht geben. Das Gespräch war aber trotzdem recht aufschlussreich.«

»Aha, inwiefern?« Friederike Buchwaldt hob neugierig eine Augenbraue.

»Thießen und Rodriguez verstehen sich nicht besonders gut, oder?«

»Ach, das meinen Sie. Na ja, wenn zwei Alphamännchen aufeinandertreffen …«