Timeless - Retter der verlorenen Zeit - Armand Baltazar - E-Book

Timeless - Retter der verlorenen Zeit E-Book

Armand Baltazar

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Beschreibung

Dein Eintritt in eine neue Welt – Sei dabei, bevor die Zeit abläuft

Die Zeitkollision war eine Katastrophe kosmischen Ausmaßes, die Zeit und Raum aufspaltete und die Erde auseinanderriss. Die Überlebenden kommen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen. In dieser neuen Welt lebt Diego Ribera.

Doch nicht alle sind an einem friedlichen Zusammenleben in diesem neuen Zeitalter interessiert, und so wird Diegos brillanter Erfinder-Vater entführt. Er soll den Zeitbruch – und somit die letzten 15 Jahre – ungeschehen machen. Diego muss sich auf eine gefährliche Reise begeben, um seinen Vater, seine eigene Existenz und die Zukunft der Welt zu retten …

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© 2017 cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenText und Illustrationen © 2017 by Armand BaltazarDie englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel:»Timeless: Diego and the Rangers of the Vastlantic«bei Katherine Tegen Books, einem Imprint von HarperCollins Publishers, New YorkÜbersetzung: Tanja OhlsenLektorat: Julia KniepUmschlaggestaltung: Init|Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen unter Verwendung des Originalcovers von © 2017 Armand Baltazar; Logo: Jason Cook; Coverdesign: Amy Ryanjk · Herstellung: UKSatz und Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a. A.ISBN 978-3-641-20465-5V003

www.cbj-verlag.de

Für Dylan & Sharon Baltazarund meinen Freund Kevyn Lee Wallace

Prolog

Der Weltuntergang war nicht so, wie man es vielleicht erwartet hätte. Er wurde nicht von einem der vielen Dinge verursacht, von denen man heute so viel hört: Kriege, Unruhen, Klimawandel. Es war weder unsere Arroganz noch unser Stolz oder unser Egoismus. Nein, letztendlich waren es unsere Kreativität und Intelligenz.

Wir hatten geglaubt, Geschichte zu schreiben, indem wir die Zukunft veränderten.

Wie sich herausstellte, taten wir beides.

Es kam von jenseits der Sterne, ein kosmischer Vorfall, den wir nicht hatten voraussehen können, ein Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum, der unsere Existenz auseinanderriss. Nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, alles, was der Mensch je war oder sein würde. Weg. Was blieb, war eine Leere, in der nur das leise Flüstern einer Welt widerhallte, die es nicht mehr gab.

Doch das war nicht das Ende.

Die Menschheit bekam eine zweite Chance.

Aus der großen Stille wurde die Erde wiedergeboren, aber anders, als wir es uns je vorgestellt hatten. Auf den weiten Ebenen tummelten sich Dinosaurier neben Wollmammuts und Millionen von Büffeln. Große Dampfschiffe und alte Segler fuhren in den Häfen zwischen den Beinen gigantischer Roboter hin und her. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren zusammengeworfen worden. Die Kontinente waren neu zusammengefügt, Meere neu gestaltet und Berge neu geformt worden. Dies war die Welt nach der Zeitkollision.

Die etwa hundert Millionen Menschen, die die Katastrophe überlebten, kamen aus allen möglichen Zeitaltern und waren über den ganzen Planeten verstreut. Die Menschen aus der zivilisierten Vergangenheit nannte man die Dampfzeitler, die aus der Zukunft waren die Ältesten und die aus der Zeit dazwischen die Mittelzeitler. Bei dem Versuch der Gestrandeten aus den unterschiedlichsten Epochen, in einer gefährlichen Welt ohne Regeln zu überleben, waren Konflikte unausweichlich. Es dauerte nicht lange, bis die wilde, aber schöne Landschaft zum Kriegsschauplatz wurde.

Nach jahrelangen Kämpfen sahen die verzweifelten Menschen schließlich ein, wie nutzlos es war, sich gegenseitig zu verletzen, und erkannten, dass sie zusammenarbeiten mussten. Sie erklärten die später als Chronos-Krieg bezeichneten Kampfhandlungen für beendet und schlossen sich widerwillig zusammen, um Regierungen, Gesetze und Gemeinschaften zu bilden.

Der labile Frieden bot die Gelegenheit, Städte wiederaufzubauen und Ländergrenzen neu zu ziehen. Kinder wurden geboren und man begann, die Wunder dieser neuen Welt zu erforschen.

Doch die Dunkelheit war nicht besiegt worden. Trotz aller Bemühungen gab es immer noch jene, die sich in der unerforschten Wildnis verbargen und sich Frieden und Ordnung nicht unterwerfen wollten. Und die jeden vernichten würden, der sich zwischen sie und die Macht stellte …

… die Welt zu beherrschen.

TEIL EINS

Eine neue Welt

Die zwei wichtigsten Tage in deinem Leben sind der, an dem du geboren wirst, und der, an dem du erkennst, warum.

Kapitel 1

Der Traum vom Fliegen

Am Morgen seines dreizehnten Geburtstags erhaschte Diego Ribera in einem Traum einen Blick auf seine Zukunft. Diesen Traum hatte er schon früher gehabt und er fürchtete ihn. Er begann immer damit, dass sein Vater ihm im Dunkeln etwas zurief.

»Diego! Wir brauchen mehr Licht!«, hallte Santiagos Stimme durch die riesige Werkstatt. Er stand hoch oben auf einem verblichenen blauen Gerüst zwischen den gigantischen Robotern, die an allen Wänden standen. Er schwang einen Schraubschlüssel, der so lang war wie sein Arm, und beugte sich gefährlich weit in das schmierige Getriebe eines riesigen Schultergelenks. Kopf, Arme und Beine des Roboters lagen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung auf dem Boden herum.

Diego saß auf einem Stuhl und sah in das große Auge eines Roboters auf dem zentralen Arbeitsplatz. Er betrachtete die geometrischen Muster der Iris, die funktionierte wie eine Kameralinse der Mittelzeit. Diego stellte sich vor, wie sich die Stahlplättchen wie Blütenblätter nacheinander öffneten, wie die winzigen Kolben einer nach dem anderen in Gang kamen und wie sie mit den Dampfprozessoren verbunden waren. Er schien irgendwie zu wissen, wie diese Mechanik funktionierte, und ihren Sinn zu spüren. Er fragte sich, ob sein Vater das Gleiche fühlte.

In New Chicago hielt jeder Santiago für ein Genie: der hellste Kopf des neuen Zeitalters. Er war ein Baumeister, ein Erfinder, ein Visionär. Manche hatten ihn sogar einen Scharlatan genannt und behauptet, seine Kreationen wären so genial, dass irgendein Trick oder Betrug daran sein müsste, doch diese Leute hatten noch nie gesehen, wie sich Santiago in seine Arbeit vertiefte.

»Hast du mich gehört, Diego?«

»Ja, Dad, tut mir leid!«

Diego glitt von seinem Stuhl.

Plötzlich stand er an einem der großen Werkstattfenster.

Ohne sich bewegt zu haben.

Ich träume, sagte sich Diego, doch diese Erkenntnis war flüchtig. Der Rand seines Blickfelds verschwamm in wässriger Dunkelheit.

Er zog die schweren Vorhänge zurück, sodass die helle Morgensonne in den Raum schien.

»Besser?«, fragte er über die Schulter hinweg.

Keine Antwort.

»Dad?«

Diego drehte sich um und fand sich mitten im Raum wieder …

Doch sein Vater war fort. Ebenso wie der Roboter, an dem er gerade gearbeitet hatte. Und alle anderen. Kein Gerüst war mehr zu sehen und die Werkstatt war in alle Richtungen leer.

Bis auf den Tisch, an dem Diego gesessen hatte. Auch das große Auge war fort, doch stattdessen war etwas weit Spannenderes aufgetaucht und glänzte im goldenen Sonnenschein.

Ein Hoverboard.

Es war fast zwei Meter lang und aus Erlenholz, Kevlar und Chrom, mit roten und weißen Streifen verziert. Daneben lagen der Dampfrucksack und die Navigationshandschuhe. Die Hoverboards waren für Diego die beste Erfindung seines Vaters. Er und sein Freund Petey waren damit oft durch die Werkstatt geflogen.

Doch der Anblick dieses Boards bereitete ihm Sorgen: Er hatte diesen Traum schon öfter gehabt.

Das Board tauchte immer auf, gleich nachdem sein Vater verschwunden war.

Es lauerte eine Gefahr, die er nicht ganz greifen konnte.

»Diego.«

»Dad?« Diego sah ins Dunkel. Doch das klang nicht wie sein Vater. »Wer ist da?«

Seine Unruhe wuchs. Vielleicht war es ein Traum, aber es fühlte sich allzu real an.

In dem dunkeln Raum zwischen zwei Fenstern sah er eine Silhouette, die plötzlich in den Sonnenstrahl trat. Es war nicht sein Vater. Kleiner. Ein Mädchen? Schwer zu sagen. Sie trug eine dicke Schutzbrille und eine Fliegermütze und schien etwa in seinem Alter zu sein.

»Wer bist du?«, fragte Diego.

Das Mädchen rührte sich nicht. Als sie sprach, bewegten sich ihre Lippen nicht, ihre Stimme erklang stattdessen in Diegos Kopf.

Flieg.

Und dann verschwand sie.

Ein Windstoß.

Erschrocken sah er, wie das Mädchen aus dem Fenster sprang.

»Nicht!«, schrie er und rannte hinüber. Er sah auf die belebte Straße zehn Stockwerke tiefer, doch sie lag nicht zerschmettert auf den Gleisen oder trieb mit dem Gesicht nach oben im Kanal, sondern schoss auf ihrem eigenen Hoverboard durch die Luft.

Flieg!

Die Stimme brannte zwischen seinen Schläfen. Er musste sich bewegen. Musste handeln.

Diego schnappte sich das Board vom Tisch und setzte den Dampfrucksack auf. Das Gewicht des kleinen Messingkochers und des Druckkonverters brachten ihn kurz aus dem Gleichgewicht, doch er fing sich schnell wieder und lief zum Fenster. Rasch streifte er die dicken Lederhandschuhe über – sie waren mit Anzeigen übersät und durch dünne Schläuche mit dem Rucksack verbunden –, schaltete sie ein und vernahm das vertraute Zischen, als der Boiler in Gang kam.

Dann sprang er in die Luft.

Um ihn herum toste der Wind. Fenster rasten an ihm vorbei. Diego stürzte der Straße entgegen, doch er hielt das Board mit beiden Händen fest und klemmte es sich unter die Füße. Dann betätigte er einen Schalter an seinen Handschuhen, der die Magnetschlösser aktivierte und seine Schuhe am Brett befestigte. Der belebte Gehweg schoss auf ihn zu. Fest stemmte er die Füße auf und balancierte sich aus, während der Boden immer näher kam …

Die Dampfturbine heulte auf höchster Stufe, das Board bekam Auftrieb und Diego schoss im Gleitflug knapp über die Vordächer der Läden und die hohen Hüte der Dampfzeitdamen hinweg.

Endlich holte er wieder Luft und hielt sein Gesicht in den Fahrtwind. Ja! Eine unsagbare Begeisterung durchströmte ihn. Nach diesem Gefühl hatte er sich sein Leben lang gesehnt. Er wusste, dass ihm das Fliegen im Blut lag.

Wieder drückte er das Board gegen den Wind und schwang hin und her. Die Bewegung kam ihm so natürlich vor, wie auf dem Boden zu laufen, nur viel besser.

Diego raste über New Chicago hinweg, dessen Kanäle und Gleise durch morgendlichen Verkehr von Dampfschiffen und Wagen verstopft waren und wo es auf den Gehwegen von Mänteln, Lederjacken und feinen Capes nur so wimmelte. Es war eine bunte, laute Welt, in der sich der Geruch von Pferdeäpfeln mit dem von Maschinenöl, gerösteten Maiskolben und dem Meer mischte.

Am Horizont färbten die Abgaswolken der großen Dampfschiffe und Hafenroboter den Sonnenaufgang golden.

Vor sich sah er das Mädchen, das durch die Luft schnitt. Er musste sie einholen, bevor es zu spät war. Er wusste nicht, warum, er wusste nur, dass es so war.

Es hat mit der Zeit zu tun, dachte er. Es ging immer um Zeit, die in dieser Welt vor und zurück lief, doch in diesem Traum …

… da lief sie ab.

Diego war der Wind. Er war der Himmel. Er war leicht wie Luft und wusste, dass das alles war, was er je gewollt hatte, genau wie seine Mutter. Frei zu fliegen.

Wieder sah er das Mädchen, das elegant um die nächste Ecke bog. Diego nahm die Kurve so eng, dass er mit der Schulter die Ziegelmauer streifte, doch er kam ihr auch näher.

Wenn er sie erreichte, konnte er den Hauptschlauch von ihrem Dampfrucksack lösen und das Board ausschalten. Dann konnte er sie zum Kanal hinuntergeleiten, wo sie sicher sein würde.

Sicher wovor? Diego wusste es nicht.

Sie wendeten scharf und erreichten einen breiten Platz vor dem Rathaus. Es war ein großer Turm, errichtet in einem Stilmix aus Mittelzeit- und Ältesten-Architektur, während der Platz aus einer Reihe von schwimmenden Gehwegen bestand, zwischen denen Wasserspiele komplizierte Muster spien. Überrascht stellte Diego fest, dass der Platz mit Leuten dicht gepackt war, eine riesige Menschenmenge. Und von allen Seiten kamen noch mehr dazu, die alle nach oben sahen und auf etwas deuteten. Doch plötzlich änderte sich die Stimmung der Menge und ihre aufgeregten Rufe klangen besorgt. Wer nicht in den Himmel zeigte, begann die anderen zu drängen und versuchte, zu verschwinden.

Diego sah sich nach seiner Flugpartnerin um, doch das Mädchen war nicht zu sehen. Sie war verschwunden.

Die Rufe unter ihm verwandelten sich in Angstschreie. Panik entstand. Die Leute schubsten einander, um wegzukommen. Diego folgte den deutenden Fingern zur großen Uhr oben am Rathaus, die in der Morgensonne glänzte.

Zuerst glaubte er, die Uhr sei kaputt, weil die Zeiger zu fehlen schienen. Gelegentlich gab es immer noch Erdbeben, wegen der neuen Bruchlinien, an denen sich die Erdoberfläche wieder zusammengefügt hatte, doch das war es nicht. Die Zeiger waren noch da, sie drehten sich nur so schnell, dass sie zu einem verwischten Schatten wurden.

Und sie liefen rückwärts.

Bei dem Anblick verschwamm die Welt vor Diegos Augen. Er musste sich bücken und sein Board mit beiden Händen packen, um das Gleichgewicht zu halten.

Als er es wiedergefunden hatte, sah er, dass der Platz leer war. Alle Menschen waren fort.

Auch in den Nebenstraßen war niemand zu sehen, die Schienen und die Kanäle waren verlassen, am Himmel waren keine Luftschiffe und im Hafen stieg kein Rauch von Dampfern auf.

Es war so still. In Diegos Ohren dröhnte sein Atem. Das einzige andere Geräusch war das Surren der Zeiger.

Diegos Board begann zu vibrieren. Die Gebäude erzitterten. Plötzlich stoppten die Uhrzeiger und die Welt schien stillzustehen. Selbst Diego schien mit angehaltenem Atem in der Luft zu erstarren …

Und dann begann es zu tosen.

So schnell wie möglich raste Diego davon. Hinter ihm wirbelten Wasser und Asche auf und kamen immer näher. Schiffe und Wagen wurden von der Wucht der Explosion in die Luft geschleudert. Der Himmel verdunkelte sich, überall waren Wolken aus Staub, die Diego verschluckten. Er verlor den Blick auf den Himmel, die Gebäude und …

Eine Stimme trieb über den endlosen Wind und sprach ein einziges Wort wie aus hundert Meilen Entfernung.

»Vorwärts!«

Kapitel 2

Die Riberas von New Chicago

Diego riss die Augen auf, vor denen noch das Bild der zerfallenden Stadt stand.

Blinzelnd betrachtete er das gewölbte, mit Nieten gepunktete Metall über sich – die Innenseite seines Bettes.

Er atmete tief durch. Es war nur ein Traum gewesen … ein Albtraum. Er stützte sich auf den Ellbogen, wobei er aufpassen musste, sich nicht den Kopf in dem alten Propangastank anzuschlagen, den sein Vater so umgebaut hatte, dass er aussah wie ein altes U-Boot der Mittelzeit. Diego hatte es zum achten Geburtstag bekommen. Mittlerweile reichten seine Füße bis zum äußersten Ende, wenn er schlief.

Er sah sich in seinem Zimmer um und stellte fest, dass alles wie immer war.

Diego zitterte. Während des Traums hatte er die Bettdecke weggeschoben, doch als er danach griff, bemerkte er das durch das Fenster fallende Tageslicht. Er warf rasch einen Blick auf die Uhr – würden die Zeiger rückwärtslaufen? Nein, sie liefen vorwärts; natürlich taten sie das. Und es war Zeit aufzustehen.

Dennoch legte er sich noch einen Augenblick wieder hin und verschränkte die Arme. Immer noch hatte er die Bilder der Explosion vor Augen. Er wusste, dass es nur ein Traum war, aber trotzdem … Da war dieses Hoverboard gewesen. Etwas, das er sich mehr wünschte als alles andere.

Diego schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und streckte sich. Dann zog er eine Cargo-Hose und sein Lieblings-T-Shirt an, das orange mit der leuchtend weißen Aufschrift ATARI.

Sein Blick blieb an dem Poster über seinem Bett hängen. Es zeigte die Skyline von Chicago, wie sie früher gewesen war – eine Reihe von eleganten Gebäuden am Ufer eines Sees. Es war die Stadt, aus der sein Vater kam. Vor der Zeitkollision. Diego gehörte zur ersten Generation von Kindern, die in der neuen Welt geboren worden waren. Alle älteren Menschen waren aus einer anderen Zeit gekommen. Viele Leute identifizierten sich noch immer mit der Ära, aus der sie ursprünglich stammten, doch seine Eltern waren anders. Obwohl Santiago aus der Mittelzeit stammte und seine Mutter Siobhan aus der Dampfzeit, betrachteten sie sich lediglich als Bürger der neuen Welt.

»Du hast Glück«, hatte Santiago einmal gesagt. »Du bist ein Kind der Zukunft. Die Vergangenheit wird dich nie belasten.«

Über die Zeitkollision oder die darauffolgenden dunklen Jahre sprach Santiago nie. Manche Gruppen waren immer noch verbittert wegen des Krieges, doch er hatte sich immer darauf konzentriert, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber er hatte ein paar Zeitungsausschnitte aus der Zeit nach dem Ereignis aufbewahrt. Als in Diegos Schule die Zeitkollision durchgenommen wurde, hatte sein Vater ihm diese Ausschnitte gegeben. Jetzt klebten sie an der Wand über seinem Schreibtisch.

Der größte hatte die Überschrift: ZEITKOLLISION! Der Artikel war selbst jetzt interessant zu lesen. In der Zeit kurz danach, als der Chronos-Krieg begann, hatten die Menschen so wenig gewusst. Die Dampfzeitler hatten mit den Kulturen der anderen Zeiten um die Weltherrschaft gekämpft und eine Weile lang waren die Menschen gefährlicher gewesen als die Dinosaurier.

Ein anderer Artikel zeigte eine Gruppe von Jägern neben einem Spinosaurus, ein weiterer die großen Wollhaarmammutherden, die nördlich der Wildnis lebten.

Und darunter hing ein Bericht über die ersten Expeditionen des großen Forschers Bartholomew Roosevelt in die fantastisch veränderten Landesteile Amerikas. Diego ging auf den Balkon vor seinem Zimmer, wo ihm eine kühle, salzige Brise ins Gesicht wehte. Es roch nach Seegras und Dieseltreibstoff. Er fasste nach dem Geländer und betrachtete die Stadt, denn er wollte sich vergewissern, dass sie so wie immer aussah.

Eine letzte Versicherung, dass sein Traum eben wirklich nur ein Traum gewesen war.

Tatsächlich lag New Chicago leuchtend in der Morgensonne vor ihm und sah so stabil und beständig aus, wie eine Stadt, die aus drei verschiedenen Epochen bestand, es nur konnte.

Er hörte eine Schiffssirene. In der Ferne hinter den Gebäuden sah er die großen Köpfe und Schultern der riesigen Roboter, die im Morgennebel am Hafen arbeiteten. Wenn die Frachtschiffe versorgt waren, würden diese Roboter durch die Kanäle ziehen und ihre Techniker würden die Stadt nach Mängeln oder Schäden durch das Salzwasser absuchen. Früher waren die Kanäle einmal die Straßen der Stadt gewesen, aber die lagen alle unter der Oberfläche des Vastlantic, eines Ur-Meeres, das jetzt ein Drittel von Nordamerika bedeckte.

Vor Diegos Fenster zog ein leuchtend blauer Roboterkran vorbei und stelzte auf seinen acht dünnen Beinen wie eine Spinne durch den belebten Kanal. Ihm folgte kurz darauf ein weiterer, kleinerer Roboter. Er war gelb und kräftig, eher wie ein Bulldozer auf Beinen, aber mit zwei kolbengetriebenen Armen anstelle der großen Schaufel. Er zog einen Lastkahn voller Stahlbalken.

In den Straßen wimmelte es von Leuten und Fahrzeugen der unterschiedlichsten Baujahre. Das war das Einzigartige an New Chicago. In den meisten Teilen der Welt waren die Zeitalter über weite geografische Flächen gleich und reihten sich glatt aneinander wie Kuchenstücke. Doch hier waren sie eher wie die Splitter eines gesprungenen Spiegels, manche lang und schmal, andere kurz und trapezförmig, und sie lagen kreuz und quer durcheinander. Dadurch war das Leben hier bunter und chaotischer als an anderen Orten, und manchmal auch gefährlicher, aber Diego fand diese Version von Chicago viel interessanter als die auf dem Poster an seiner Wand.

Der Geruch nach Speck und Eiern riss ihn aus seinen Gedanken. Von drinnen erklangen Brutzelgeräusche. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum es heute ein größeres Frühstück gab als sonst.

Es war sein dreizehnter Geburtstag.

Schnell lief er wieder hinein und in die Küche. Am Herd stand Siobhan in ihrem Fliegeroverall. Die dichten roten Locken hatte sie zurückgestrichen und mit einem blauen Essstäbchen festgesteckt. Sie war gerade dabei, ein weiteres Stück Speck in der Pfanne zu braten, als die Druckanzeige neben dem Herd auf null fiel. Ein schrilles Pfeifen ertönte und der Herd erlosch.

»Verflixt«, murmelte Siobhan. »Das verdammte Teil müsste noch für mindestens dreißig Minuten Energie haben.«

»Versuch es hiermit, Mom«, sagte Diego und löste den Druckmesser von seinem Gürtel. »Der hat noch einen Powervorrat von etwa drei Stunden.«

»Danke, mein Lieblings-Geburtstagsjunge!« Sie umarmte ihn fest und küsste ihn auf die Stirn.

»Mom …«, begann Diego.

»Was ist?« Sie lächelte, während sie die Druckbatterie austauschte und der Herd wieder ansprang. »Soll ich jetzt lieber ›junger Mann‹ als ›Junge‹ sagen?«

»Vielleicht einfach nur nicht ›Liebling‹?«, schlug Diego vor.

Siobhan seufzte. Ihr Gesicht war schneeweiß und glatt und ihre Augen leuchteten graublau. »Du wirst älter, nicht wahr? Und ich glaube, du bist heute Nacht wieder zwei Zentimeter gewachsen.« Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Nase. »Setz dich. Du musst essen und dann in die Schule. Und vergiss nicht, dass du heute nach der Schule Dad an der Geothermalanlage Arlington treffen sollst«, erinnerte sie ihn, als er sich an den Tisch setzte.

»Ich weiß«, antwortete er.

»Du sollst dich gleich nach der Schule am Fähranleger melden. Also trödel nicht mit Petey herum. Dad sagt, dass es den ganzen Nachmittag dauern wird, den neuen Dampfkonverter einzubauen.«

»Ich weiß«, sagte Diego. »Mann, es wäre toll gewesen, wenn Dad das Kraftwerk näher hätte bauen können. Diese Fährfahrt dauert einfach zu lang.«

»Ich glaube, diesen einen Nachteil kannst du ihm verzeihen«, meinte Siobhan. »Dank deines Vaters hat die Stadt Strom, Sicherheit und Wohlstand.«

Er wusste, wie viel sein Vater für New Chicago getan hatte. In den Jahren nach der Zeitkollision hatte Santiago das Kraftwerk geplant und gebaut, die Schutzmauer, die die Territorien umgaben, und die meisten Roboter, die die Stadt warteten und schützten.

»Es ist nur so ein langer Nachmittag an meinem Geburtstag.«

»Ja«, gab Siobhan zu. »Wir hatten gehofft, dass wir dich heute Abend im Signature Room auf der 95. Straße zum Essen ausführen könnten, aber dieser Job ist sehr wichtig. Wenn dein Vater ihn auf einen anderen Tag hätte legen können, dann hätte er das sicher getan, glaub mir. Also keine weiteren Beschwerden aus den unteren Rängen, ist das klar, Kleiner?«

»Aye, aye, Captain«, antwortete Diego und salutierte vor seiner Mutter. Siobhan flog jetzt für den Rettungsdienst der Stadt, aber früher war sie eine hochdekorierte Kampfpilotin gewesen. Sie hatte gegen das Aeternum gekämpft, eine Organisation von Plünderern, die New Chicago und die anderen Küstenstädte nach dem Chronos-Krieg öfter überfallen hatte, und ihre Rolle bei der entscheidenden Schlacht von Dusable Harbor hatte sie zu einer Legende werden lassen.

Im Gang waren schwere Stiefel zu hören.

»Guten Morgen!«, sagte Santiago. Er trug seine Arbeitskleidung.

Obwohl der Titel »Leitender Mechaniker und Ingenieur« vermuten ließ, dass er einen Anzug tragen sollte, legte Santiago auf so etwas keinen Wert und machte sich kaum die Mühe, das Schmieröl unter seinen Fingernägeln wegzukratzen. Er fühlte sich am wohlsten, wenn er mit seiner Crew zusammenarbeitete und bis zu den Ellbogen in irgendeiner Maschine steckte.

Er hängte seine schwere, wettergegerbte Tasche an einen Stuhl und goss sich einen Becher Kaffee ein.

»Guten Morgen, Santi«, begrüßte ihn Siobhan und reichte ihm einen Teller, wofür er ihr einen Kuss gab.

»In deiner Uniform siehst du immer so schick und offiziell aus«, stellte er fest.

»Vielen Dank auch«, entgegnete Siobhan mit einem leichten irischen Akzent, der stets stärker zu werden schien, wenn sie entweder verlegen oder wütend war. »Wie es scheint, habe ich mich umsonst in Schale geworfen. Die ganze Flotte bleibt am Boden. Colonel McGregor hat verkündet, dass der Treibstoff, den sie gestern Abend für das Geschwader getankt haben, schlecht war.«

»Schlecht?«, fragte Santiago, als er sich setzte. »Wie kann das denn sein?«

»Total verunreinigt«, erklärte Siobhan. »Also werden wir, anstatt zu fliegen, den ganzen Tag damit verbringen, die Tanks zu leeren und die Benzinleitungen zu spülen. Das betrifft auch die meisten Schiffe der Marine. Fast alle Fahrzeuge der Basis sind lahmgelegt.«

»Das tut mir leid«, meinte Santiago. »Aber merkwürdig ist es schon. Normalerweise ist die Calumet-Raffinerie doch so zuverlässig. Haben sie gesagt, wie das passiert ist?«

»Nicht in dem Bericht, den ich bekommen habe«, erwiderte Siobhan.

Santiago runzelte die Stirn. »Ich werde sie nachher mal anrufen. Wenn es ein Problem mit einer der Pumpen gibt, dann sollte ich so bald wie möglich ein Team hinschicken.« Er nahm einen Bissen von seinem Ei und sah dann Diego an. »Ich habe gehört, wie du sie Captain genannt hast. Du wirst heute Nachmittag selbst Kapitän sein.«

Diego lächelte nervös.

»Und von was werde ich Kapitän sein?«, erkundigte er sich mit dem Hintergedanken: Sag Hoverboard, bitte sag Hoverboard!

»Ha«, schmunzelte Santiago und aß seinen Speck. »Ich meine natürlich den Frontlader. Du sollst den großen blauen Centauri-Bot fahren. Dieser Goliath-Dampfkonverter ist eine große Sache. Ich hoffe, du bist noch dabei.«

»Oh«, sagte Diego. »Stimmt ja. Dieser Bot ist echt knifflig.«

»Ich habe gesehen, dass du damit umgehst wie ein Profi«, behauptete Santiago.

»So gut bin ich nun auch wieder nicht«, wandte Diego ein. »Ich meine, wenn wir Druckventile einbauen oder so, aber … vielleicht sollte das lieber Stan Angelino machen. Er ist der beste Roboterfahrer in Arlington.«

»Komm schon, du bist mein Sohn«, meinte Santiago. »Wieso solltest du da nicht einer der Besten sein, vielleicht sogar eines Tages der Beste?« Er strich Diego über den Kopf und verwuschelte seine Haare. »Dieser Konverter ist direkt aus London gekommen. Der beste königliche Dampftriebingenieur und sein Sohn sind hier, um uns bei der Installation zu helfen. Stan ist sehr gut, aber für diesen Job brauche ich meinen besten Mann.«

Diego spürte, wie er rot wurde.

»Und außerdem«, fuhr Santiago fort, »musst du das Ding einfach sehen. Es ist gigantisch.«

Wenn sein Vater von seiner Arbeit sprach, hörte er sich immer an wie ein kleines Kind. Er behauptete, sein Job hielte ihn jung, doch in letzter Zeit hatte Diego an seinen Schläfen graue Haare bemerkt und gelegentlich ein paar weiße Haare in seinem dichten Schnurrbart.

Doch anstatt zurückzulächeln, sah Diego nur auf seinen Teller.

»Was ist los, Diego?«

»Na ja, ich verstehe einfach nicht, warum Magistrat Huston glaubt, dass wir so altmodische Dampftechnik brauchen. Erst war es dieser französische Ingenieur mit seinem revolutionären Gaslichtsystem, dann dieser grauenvolle Rohölexperte aus Texas. Und jetzt müssen wir uns mit so einem spießigen Briten auseinandersetzen?« Diego blitzte seinen Vater an. »Ich meine, du bist doch ein zehnmal besserer Techniker als der.«

Santiago nippte an seinem Kaffee.

»Es stärkt unsere Bündnisse, wenn wir unsere Technologien miteinander teilen. Es ist meine Pflicht, ihnen zu helfen, und mit diesem Konverter will uns die Königin ebenfalls helfen.« Er lächelte. »Leitender Ingenieur zu sein, bedeutet mehr, als sich mit Getrieben und Kolben auszukennen. Man muss auch mit den Menschen arbeiten können. Und die sind gelegentlich weit komplizierter. Das wirst du lernen müssen, wenn du je meinen Platz einnehmen willst.«

Diego wünschte, er hätte nichts gesagt.

»Ich weiß nicht, Dad …« Er glaubte nicht, dass er je Santiagos Stelle übernehmen würde. Er wusste nicht, ob er so genial war, und falls er es nicht war, wollte er die Enttäuschung im Blick seines Vaters nicht sehen.

»Hör zu«, meinte dieser, »ich weiß ja, dass das nicht so aufregend ist wie dein Pilotentest. Aber ich brauche dich.«

»Ich weiß«, sagte Diego.

»Und wenn du irgendwann dreizehn wirst und den Test machst, bist du immer noch der jüngste Pilot in New Chicago.«

»Dad …«, begann Diego und schob sich ein ganzes Stück Speck in den Mund.

»Was ist?«

»Ich habe heute Geburtstag.«

»Was? Heute? Aber …« Santiago zählte an den Fingern ab. »Kann nicht sein. Heute ist Dienstag, gestern war Montag. Davor war Sonntag, also muss heute …«

Plötzlich begann Santiago zu lachen.

»Dad!«, empörte sich Diego.

»Du bist grässlich«, warf Siobhan ein und boxte Santiago leicht in die Schulter.

»Sorry«, grinste der. »Aber ich hatte dich.« Er zog ein kleines Päckchen aus seiner Tasche und gab es Diego. »Keine Angst, ich habe es nicht vergessen. Hier.«

Das Paket hatte nicht die Größe eines Hoverboards. Als Diego das braune Papier entfernte, kam eine kleine, in weißes Papier gewickelte Schachtel mit einer blauen Schleife zum Vorschein. Daran hing eine Karte.

Unserem jungen Abenteurer und Sohn, Diego.Mögest du hierdurch eine Welt voller Wunder entdecken, die den meisten verborgen bleibt.In Liebe,Mom & Dad

Diego wickelte die Schachtel aus.

»Was ist das?«, wollte er wissen und hielt das Rohr ans Auge.

Durch die Linse sah er winzige Bruchstücke, die ein fantastisches buntes Muster aus verschiedenen Formen bildeten.

»Und jetzt dreh mal daran«, verlangte sein Vater.

Diego drehte an dem Zylinder am vorderen Ende, woraufhin sich das Bild bewegte, die farbigen Bruchstücke sich wieder neu ordneten und neue, immer schönere Muster bildeten.

»Wow«, entwich es Diego.

Santiago lächelte. »Das ist ein Kaleidoskop. Darin sind Spiegel und bunte Glasstückchen, die diese Muster erzeugen, wenn du daran drehst.«

»Das ist wunderschön«, befand Diego und drehte das Gerät in der Hand.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte Siobhan.

»Doch … ich meine, es ist toll.« Diego versuchte, dankbar zu klingen, es war nur … war das alles? »Vielen Dank!«

»Man darf nie das Potenzial von Dingen unterschätzen, wie bescheiden sie auch aussehen mögen«, sagte Santiago.

»Okay«, erwiderte Diego und zwang sich zu einem Lächeln.

Doch seine Eltern grinsten immer noch.

»Santi«, meinte Siobhan, die kurz vor einem Lachkrampf stand. »War da nicht noch etwas?«

»Schon möglich«, grinste Santiago spitzbübisch.

Diego sprang auf. »Ist es …?«

»Immer schön langsam«, mahnte sein Vater. »Es ist noch in der Werkstatt. Ich muss noch ein paar Dinge daran richten, aber bis heute Abend wird es fertig sein.« Er sah, wie Diego das Gesicht verzog. »Ich glaube, das wirst du überleben. Außerdem gibt es jede Menge, was uns bis dahin ablenken kann. Ich …«

Er hielt inne und sah Diego aufmerksam an.

»Was ist?«, fragte der. Es schien, als würde Santiago ihn mustern. »Dad!«

»Sorry.« Santiago schüttelte den Kopf, als kehre er aus einem Tagtraum zurück. »Weißt du was? Wenn ich es mir recht überlege, warum gehen wir nicht noch vor der Schule in die Werkstatt?« Er sah auf die Uhr. »Wenn du schnell isst, reicht die Zeit und dann kannst du dein Geschenk doch jetzt schon bekommen.«

»Okay, cool!«, fand Diego und schlang sein Frühstück herunter.

»Wir sehen uns an der Tür«, sagte Santiago, nahm seinen Werkzeuggürtel und füllte seinen Kaffeebecher nach.

Diego stopfte sich die letzten Bissen in den Mund und sprang immer noch kauend auf.

»Auf Wiedersehen, mein Liebling«, sagte Siobhan und küsste Diego aufs Haar. »Und wenn ihr zwei heute Abend nach Hause kommt, gibt es Kuchen!«

Kapitel 3

Die Wunderwerkstatt

Mit dem knirschenden Fahrstuhl fuhren Diego und Santiago in die Werkstatt hinunter. Wie viele andere Dinge war er früher einmal elektrisch betrieben worden, doch durch die Zeitkollision war das Magnetfeld der Erde unglaublich unstabil geworden. Das führte dazu, dass kaum ein Elektrogerät funktionierte. Ein paar einfache Apparate liefen zwar mithilfe von Sicherungen der Ältesten, aber auch die nur eingeschränkt und für kurze Zeit. Die einzige, stark begrenzte Möglichkeit zur Telekommunikation boten altmodische Telegrafen. Alles, was Schaltkreise benötigte, musste mit Dampfmaschinen, Hydraulik, limitierten Mengen an Diesel und Handarbeit wieder zum Leben erweckt werden. Santiago war dabei ein Pionier gewesen. Er hatte die Technologie der Dampf- und Mittelzeit kombiniert und somit den Schlüssel dafür geliefert, die Welt auf sichere Weise wieder aufzubauen. Die glatten Plastikknöpfe des Aufzugs hatte er durch solche aus Messing ersetzt, die kleine Kolben in Gang setzten, die wiederum mit dem Getriebe verbunden waren. Mit dem rhythmischen Stampfen der Dampfkolben senkte sich der Aufzug in die Tiefe. Wie die meisten Dinge in der Stadt roch er leicht nach Maschinenöl.

Mit einem Ruck kam der Lift scheppernd zum Stehen und die Türen öffneten sich knirschend.

Bevor sie ausstiegen, hatte Diego auf einmal ein merkwürdiges Gefühl. Er sah leicht verschwommen und er vernahm ein schwaches Klingeln in den Ohren. Er stützte sich an der Wand ab.

Santiago betrat den Gang und sah sich nach Diego um.

»Alles in Ordnung, Diego?«

»Ja, es ist nur … schon gut«, antwortete Diego und folgte ihm. Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, fühlte er sich wieder ganz normal, doch als er aufsah, merkte er, dass Santiago ihn immer noch merkwürdig ansah.

»Was ist?«

Santiago schüttelte den Kopf. »Du hast eben ganz grün ausgesehen. Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Heute liegt eine große Aufgabe vor uns. Du musst dein Bestes geben.«

»Ich muss nur einen Frontlader fahren«, gab Diego zurück und lief neben seinem Vater her. »Und ich bin davon überzeugt, dass ihr Dampfkonverter nicht halb so hochentwickelt ist wie deiner.«

»Nein«, stimmte Santiago zu. »Aber der Erfinder, George Emerson, ist ein knallharter Bursche. Du darfst seine Einstellung nicht persönlich nehmen. Er arbeitet hier schon seit sechs Monaten an dem Umbau und die Begegnungen mit ihm waren bislang … eher unangenehm. Aber sein Sohn Georgie hat auch mitgeholfen und der ist viel netter. Vielleicht habt ihr beide ja etwas gemeinsam.«

»Vielleicht«, meinte Diego.

In dem hohen Gang mit den langen, knorrigen Bodendielen hallten ihre Schritte von Wänden wider.

»He, hast du schon darüber nachgedacht, was du diesen Sommer machen willst?«, fragte Santiago.

»Nee«, antwortete Diego. »Ich weiß noch nicht recht.«

»Langsam wird die Zeit knapp«, mahnte ihn sein Vater. »Wenn du mit deiner Mutter zum Stützpunkt fliegen und die Flugzeuge warten willst, muss ich mich nach einem Lehrling für die Werkstatt umsehen. Und das wird schwierig, wenn man in Betracht zieht, dass ich eigentlich schon den besten jungen Ingenieur von New Chicago beschäftige.«

Diego wusste, dass er, wenn er aufsah, das stolze Lächeln im Gesicht seines Vaters sehen würde, daher sah er lieber nach unten.

»Ich arbeite gerne in der Werkstatt, Dad. Es ist nur …«

Santiago seufzte. »Ich weiß. Du liebst das Fliegen. Außerdem sollte deine Mutter auch mal einen Sommer mit dir verbringen dürfen.« Er klopfte Diego auf die Schulter. »Sie ist schon eifersüchtig, weil wir so häufig zusammenstecken.«

»Ich könnte immer noch abends vorbeikommen«, schlug Diego vor. »Ich meine, damit ich mich um die Roboter kümmern kann und so.«

»Das ist bestimmt kein Problem. Würde mich jedenfalls freuen. Wen auch immer ich finde, braucht bestimmt eine Menge Hilfe.«

»Ja, schon, aber dann hast du auf jeden Fall jemanden, der dir auch langfristig wirklich helfen kann.«

Santiago zuckte mit den Schultern.

»Jemanden, dem man im Gegensatz zu dir alles dreimal erklären muss.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Diego. »Letzten Monat habe ich diese Plasmafackel kaputtgekriegt, obwohl du mir gezeigt hast, wie man damit umgeht.«

»Mit dieser Plasmafackel haben selbst meine besten Männer Schwierigkeiten.«

»Ja, aber …«

Santiago blieb stehen und legte Diego die Hand auf die Schulter.

»Schon gut. Ich verstehe schon. Fliegen ist einfach spannender.«

Diego war sich nicht sicher, ob das überhaupt das war, was er meinte. Und er hasste das Gefühl, seinen Vater zu enttäuschen. Aber genauso wenig mochte er es, wenn Santiago davon ausging, dass Diego ein ebenso genialer Konstrukteur war wie er selbst. Andererseits bestand auch wenig Hoffnung, dass er je ein so guter Pilot werden würde wie seine Mutter. Seine Eltern hinterließen beide ziemlich große Fußspuren.

»Du weißt schon, dass zur Arbeit beim Einsatzteam mehr Bodenschrubben und Scheibenwaschen gehören wird, als auf Patrouillen zu fliegen und Rettungseinsätze durchzuführen«, mahnte ihn sein Vater.

»Ich weiß.« Diego war sich darüber im Klaren, dass sein Lieblingstraum – mit Feuer spuckenden Bordkanonen den Aufklärungsfliegern des Aeternum kreuz und quer über den Himmel nachzujagen – sich diesen Sommer wohl nicht realisieren würde.

Im Gang erklang plötzlich schrilles Bellen.

»Hi, Daphne!« Diego bückte sich und der kleine orange-weiße Shiba sprang ihm förmlich ins Gesicht. »He, mein Mädchen!« Diego wehrte die Hündin ab und kraulte sie kurz und kräftig. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

Vor einer großen Metallschiebetür blieb er stehen und stellte die Zahlen an dem großen Schloss ein. Mit einem Zischen ging die Tür auf.

»Hier drüben«, sagte Santiago. Er blieb an einem großen Metallarbeitstisch stehen, dessen rote Farbe verblichen und abgeplatzt war. Die Sonne schien auf ein schwarzes Tuch, das über einen Gegenstand auf dem Tisch gebreitet war.

»Also«, begann Santiago und grinste breit, »was deinen Geburtstag angeht …«

Damit zog er das Tuch weg.

Da lag es: ein Hoverboard, zusammen mit den Magnetsohlenstiefeln, dem Dampf-Aggregat und den Handschuhen.

»Toll!«, stieß Diego hervor und betrachtete die glänzende Oberfläche, die Kühlung und die Maschine. Das Design war einmalig. Am liebsten hätte er es sich sofort geschnappt und wäre damit aus dem Fenster gesprungen.

»Oh«, meinte er dann jedoch plötzlich, »das war kein Witz: es ist noch nicht fertig.«

»Was soll das heißen? Es ist fast fertig, oder?«, fragte Santiago und sah ihn prüfend an.

Diego deutete auf das Board. »Na ja, der Rückstoßantrieb und der Quecksilberbeschleuniger sind noch nicht eingebaut.« Es schien ihm offensichtlich, was eigentlich merkwürdig war, weil er sich noch nie damit beschäftigt hatte, wie die Dinger eigentlich funktionierten, sondern sich darauf konzentriert hatte, wie man sie flog.

»Ich wollte es über Tag fertig machen und es dir heute Abend geben«, erklärte Santiago, ging zu einer Ablage an der Wand und kam mit einem Arm voller Teile zurück. »Aber vielleicht versuchst du dich selbst daran«, schlug er vor und legte die Teile auf den Tisch.

»Ich?«, fragte Diego. »Aber an so etwas habe ich noch nie gearbeitet.«

»Das wird sich wohl heute ändern.«

»Dad …«

»Diego, versuch es doch einfach.« Santiago legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will, dass du deine Hände auf die Maschinenteile legst und die Augen schließt.«

Diego sah seinen Vater an.

Santiago nickte zu den Einzelteilen.

»Ich meine es ernst. Los!«

Achselzuckend meinte Diego: »Na gut … aber wahrscheinlich würde es viel schneller gehen, wenn du das machst.«

Er legte die Hände auf die kühlen Metallteile und schloss die Augen.

»Und jetzt versuche, dir vorzustellen, wie die Maschine zusammengesetzt werden sollte.«

»Aber ich habe keine Ahnung …«

»Versuch es einfach.«

Am liebsten hätte Diego ihn darauf hingewiesen, dass Geburtstagsgeschenke viel schöner waren, wenn sie nicht als Test daherkamen. Und was war, wenn er es nicht schaffte? Er wollte mit dem Ding heute noch fliegen!

Doch noch während er darüber nachdachte, ging etwas Seltsames in seinem Kopf vor. Er sah etwas aufleuchten … Bilder von den Einzelteilen. Und in einem Aufblitzen von weißem Licht in der Dunkelheit verstand er, wie sie zusammengehörten. Er konzentrierte sich erst auf zwei Teile und dann noch zwei und dann drei weitere. Dabei spürte er ganz genau ihren Zusammenhang, wie sie funktionierten und den Sinn und Zweck jedes Teils und jedes Materials.

Im Unterbewusstsein nahm er wahr, wie seine Muskeln arbeiteten, wie sich seine Hände und Arme bewegten und den Bildern in seinem Kopf folgten. Er legte die Teile nebeneinander, nahm einen Schraubendreher vom anderen Ende des Tisches und verband sie miteinander.

Es war, als sähe er einen Film darüber, wie man die Einzelteile zusammensetzte, nur dass dieser Film in seinem Kopf ablief, als ob ein Teil von ihm das alles schon wüsste.

Aber woher weiß ich das?, fragte er sich.

Der Gedanke störte ihn in seiner Konzentration und die Bilder verschwanden wieder in der Dunkelheit.

»Autsch!« Diego verspürte einen Stich und riss die Augen auf. Er hatte sich mit dem Schraubendreher in den Daumen gestochen. Es blutete zwar nicht, aber er konnte einen roten Punkt sehen.

»Was ist gerade passiert?«, fragte er seinen Vater. »Ich habe etwas gesehen, aber dann ist es wieder verschwunden.«

»Entspann dich«, riet ihm Santiago ganz leise. »Konzentriere dich auf die Teile und versuch es noch einmal. Mach deinen Kopf frei und denk nur an diese Aufgabe und sonst nichts.«

Erneut schloss Diego die Augen und konzentrierte sich noch mehr. Gleich darauf kehrten die Blitze wieder und zeigten ihm weitere Bilder. Seine Hände bewegten sich immer schneller und auf seiner Stirn bildete sich ein Schweißfilm. Bald hatte er den Gashebel angebracht und widmete sich dem Motor, kalibrierte ihn und setzte ihn fertig zusammen.

Ich kann es nicht fassen, dachte er. Wie ist das nur möglich?

Der einfache Gedanke reichte aus, um die Bilder wieder verschwimmen zu lassen. Diego holte tief Luft und konzentrierte sich erneut, aber sie tauchten nicht wieder auf. Komm schon. Er versuchte, an nichts anderes zu denken, den Kopf frei zu bekommen und all seine Gedanken darauf zu richten, aber in der Dunkelheit schwebten nur undeutliche Formen wie Nebelgestalten.

Seufzend öffnete Diego die Augen.

»Ich habe es verloren«, erklärte er. Das Board war fast fertig. Schwer atmend trat er vom Tisch zurück. Sein Gehirn fühlte sich überdehnt an, sein Kopf kribbelte. Misstrauisch betrachtete er das Board. »Was war das, Dad?«

»Ich zeige es dir.«

Santiago schloss die Augen und griff nach den Teilen. Seine Finger strichen über die letzten kleinen Teile und setzten sie dann zu einem Druckventil zusammen, das er in den Motor einsetzte. Dann legte er einen Schalter um und der Quecksilbermotor sprang schnurrend an. Das Board hob sich vor ihnen in die Höhe und schwebte eine Handbreit über dem Tisch.

»Wie hast du das gemacht?«

»Wir haben das gemacht«, berichtigte ihn Santiago, »indem wir das und nur das gesehen haben. Es darf keine anderen Gedanken oder Gefühle daneben geben. Du musst dich voll und ganz auf das konzentrieren, was du erschaffst.«

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, fand Diego, obwohl es, als er es getan hatte, überhaupt nicht sinnlos gewesen war. »Wie ist das möglich?«

»Alles der Reihe nach. Sag mir erst einmal: Ist dir irgendetwas an der Maschine aufgefallen, als du daran gearbeitet hast?«

Überrascht stellte Diego fest, dass es tatsächlich so war.

»Du hast die Titanhalterungen durch solche mit einer destabilisierten Aluminiummischung ersetzt.«

»Und warum habe ich das getan?«

»Hm … Weil sie leichter und leistungsstärker ist«, antwortete Diego. »So bleibt sie auch unter starkem Druck flexibel, ohne brüchig zu werden.«

Es erschien ihm logisch, denn er hatte seinen Vater über Dinge wie die Eigenschaften von Legierungen reden hören, aber er selbst hatte noch nichts darüber gelernt.

»Und das heißt …«, hakte Santiago nach.

»Das heißt, dass ich eine fast rechtwinklige Kurve mit Vollgas nehmen kann und die heftigen Vibrationen, die dabei normalerweise den Motor platzen lassen, werden abgefangen.« Diego schüttelte den Kopf. »Woher … weiß ich das alles? Ich habe doch noch nie an einem Hoverboard gearbeitet. Ich verstehe nicht …«

»Doch, tust du«, antwortete Santiago. Er legte Diego den Arm um die Schultern. »Du siehst es, Diego, genau wie ich gesagt habe. Weil du mein Sohn bist.«

»Dad, das ist überhaupt nicht logisch.«

»Ist es eben doch. Es gibt einen Grund dafür, dass ich solche Dinge bauen kann, warum ich die Technologien der verschiedenen Zeiten so gut wie nur einige wenige miteinander verbinden kann. Ich habe eine Gabe.«

»Du bist echt clever.«

»Nein, es ist mehr als das. Ich habe … eine Macht.«

»Wie jetzt – eine Superkraft?«

»Nicht wirklich. Aber sie ist – oder war – etwas Einzigartiges.«

»Wurdest du damit geboren?«

»Nein, sie hat sich erst gezeigt, nachdem ich in diese Welt kam. Als ich sie das erste Mal erfolgreich einsetzte, war ich ein junger Mann. Ich hatte mich als freiwilliger Helfer gemeldet, um einen Brunnen für die Ureinwohner in den westlichen Territorien zu bauen. Den Entwurf, den ich ihnen zeigte, hielten alle für unmöglich. Die Dampfzeitler behaupteten, es sei ein Wunder oder Hexerei, aber eine alte Schamanin der Algonquin nannte es anders … Das Auge des Schöpfers.«

»Eine Schamanin«, wiederholte Diego, der versuchte, dieses Detail zu dem von Schrauben und Bolzen beherrschten Bild seines Vaters hinzuzufügen. »Das Auge des Schöpfers? Und du bist der Einzige, der das hat?«

»Vielleicht nicht der Einzige. Die Schamanin sagte, sie hätte so etwas schon früher gesehen, aber sie wollte nicht weiter darüber sprechen, außer mir zu raten, es geheim zu halten. Und das habe ich auch, bis heute.«

»Du wusstest, dass ich es auch habe«, stellte Diego fest. »Stimmt’s?«

»Ja, aber erst heute. Deine Mutter und ich haben immer vermutet, dass du das Auge vielleicht geerbt hast, aber wir waren uns nie ganz sicher.«

Diego sah seinen Vater an und fragte: »Warum heute?«

»Weiß ich auch nicht so genau. Aber heute Morgen beim Frühstück, da zuckten diese Blitze in meinem Kopf auf, die so kribbeln und brennen. Sie erinnerten mich daran, wie ich das Auge erlebt habe, aber es war nicht ganz dasselbe. Und dazwischen sah ich immer das Hoverboard. Ich habe vermutet, dass die Gabe in dir erwacht ist, aber erst, als wir hier herunterkamen, war ich mir sicher. Als du das unfertige Board angesehen hast, habe ich das Auge des Schöpfers bei dir gespürt … in dir und um dich herum, die Kraft ging wie in Wellen von dir aus.«

»Soll das heißen, das ist in unserer Familie erblich?«

»Ja, aber es fängt erst mit mir an. Oder genauer gesagt mit der Zeitkollision. Davor war ich auch nur ein ganz normaler Junge. Das Auge ist nur auch etwas, das zu dieser neuen Welt gehört.«

»Und es lässt dich Dinge bauen.«

»Es zeigt mir eine Reihe von Bildern, die es mir erlauben, alles Mögliche zu bauen oder zu reparieren. Genau so, wie du es erlebt hast. Aber um es so einzusetzen, wie ich es tue, braucht es äußerste Konzentration und es dauert Jahre, bis man das richtig lernt. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Macht so gebraucht werden soll oder ob es der einzige Verwendungszweck ist, aber ich habe jedenfalls beschlossen, sie so einzusetzen. In der Welt nach der Kollision kam es mir vor, als sei Bauen und Reparieren die beste Möglichkeit, überall zu helfen.«

»Und was soll ich damit machen?«, fragte Diego.

»Da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht das Gleiche, vielleicht dient sie aber bei dir einem ganz eigenen Zweck. Du wirst es bestimmt herausfinden, wenn sie stärker wird.«

Diego sah wieder zu dem Board. Wenn er die Teile für das Hoverboard zusammensetzen konnte, was konnte er dann noch machen?

»Was ist das Beste, wofür du das Auge eingesetzt hast?«, fragte er.

»Ich bin mir nicht sicher. So habe ich darüber nie nachgedacht.«

»Komm schon«, verlangte Diego. »Hast du die Kampfflugzeuge verbessert und ihnen stärkere Motoren oder Waffen gegeben? Oder wie wäre es mit Robotern, die das Aeternum aufspüren und ein für alle Mal vernichten können?« Diego erinnerte sich an das Bild seines Onkels Arden und seiner Eltern. »Dann wäre Onkel Arden in der Schlacht von Dusable Harbor vielleicht nicht gestorben …«

»Nein«, widersprach Santiago. Er erstarrte und sein Blick ging ins Leere. »In den dunklen Jahren hatte ich tatsächlich den Wunsch, Maschinen zu erfinden, die es mit der Gewalt um uns herum aufnehmen konnten, und Leben zu retten. Während des Chronos-Kriegs habe ich so viel Schreckliches gesehen: Mittelzeitstädte, die von den Kanonen der Dampfzeitler in Stücke geschossen wurden, während ihre Armeen von Mittelzeitraketen vernichtet wurden. So viel Gewalt, die aus dem Hass der Menschen gegenüber der Zeitkultur der anderen entstand. Aber es waren nur noch so wenige Menschen übrig, dass eine übermächtige Waffe den Krieg zwar hätte beenden können, aber sie hätte auch unverzeihlichen Schaden angerichtet, und ich glaubte nicht, dass die Menschheit das überleben könnte.

Mir war klar, dass wir alle einander brauchen würden, wenn wir in dieser Welt überleben wollten. Mittelzeitler und Älteste brauchten die Dampfzeitler. Und so ungern sie es auch zugaben, die Dampfzeitler brauchten uns auch. Die Dampfzeitler verfügten über noch funktionierende Technik, die Ältesten hatten ihre modernen wissenschaftlichen und medizinischen Kenntnisse, während die Mittelzeitler die Lücke dazwischen schließen konnten.

Und jetzt, Jahre später, muss sich diese Welt einem Feind stellen, der schlimmer ist als jeder, dem wir im Chronos-Krieg gegenüberstanden. Das Aeternum können wir nicht durch die Erschaffung überlegener Waffen vernichten, sondern nur durch unseren Erfolg und dadurch, dass wir die Welt besser machen. Klingt das vernünftig?«

»Irgendwie schon«, meinte Diego. »Aber es wird das Aeternum doch nicht aufhalten, wenn es der Welt besser geht, oder? Nicht so wie ein besseres Flugzeug. Warum sollte man ihnen nicht zeigen, wie mächtig man ist? Dann hätten sie Angst.«

»Meiner Erfahrung nach war Angst noch nie ein Weg zur Freiheit«, seufzte Santiago. »Das hat sich in der Welt vor der Zeitkollision nur allzu oft gezeigt. Wenn wir den Leuten zu mehr Wohlstand verhelfen, werden sie sich gegen jene auflehnen, die ihnen ihre Zukunft nehmen wollen.«

»Könnte man denn Verteidigungsmaßnahmen bauen? Anstatt Waffen? So was wie Schilde oder …«

»Diego, darum geht es nicht. Ich verstehe, was du meinst, mein Sohn, aber diese Macht muss sorgfältig eingesetzt werden”, erklärte Santiago. »Es gibt Menschen, die sie für eigennützige Zwecke einsetzen würden, und andere, die Angst hätten vor dem, was wir tun könnten, und uns deswegen vernichten wollten.«

»Uns vernichten?«, wiederholte Diego. »Wer will denn so was? Meinst du Leute wie die Strenggläubigen?« Die Strenggläubigen waren Dampfzeitler, die zu Zeitextremisten geworden waren und eine Gesellschaft frei vom Einfluss der Mittelzeitler und der Ältesten anstrebten.

»Vielleicht«, antwortete Santiago. »Wenn ich die Technologie der Dampfzeitler mit der der Mittelzeitler und der Ältesten verbinde, tue ich genau das, was sie unbedingt verhindern wollen. Und wir wissen ja, wie kompromisslos sie sein können.«

»Es gibt jetzt immer mehr von ihnen in der Stadt«, sagte Diego. »Sogar an der Schule gibt es mittlerweile Glaubensgangs.«

»Ja«, bestätigte Santiago. »Und deshalb musst du diese Kraft vorerst geheim halten, genau wie ich. Das ist sicherer für uns alle.«

»Wie lange denn?«

»Bis sich die Welt weiterentwickelt hat. Unsere Zivilisation erholt sich gerade erst von einer traumatischen Verwundung. Viel von dem Hass, den es gibt, entsteht aus den Ängsten der Menschen. Sie möchten lieber an dem wenigen festhalten, das ihnen vertraut ist, als etwas Neues zu lernen.«

»War deine alte Zeit besser als diese?«, wollte Diego wissen.

»Nein«, erklärte Santiago. »Sie war anders: in mancher Beziehung besser, in vieler Hinsicht aber auch viel schlechter, egal, was die Strenggläubigen sagen.«

Sie verstummten beide. Von draußen hörte man den Straßenlärm. Diego sah das Hoverboard an und versuchte zu verstehen, was er gerade eben erfahren hatte.

Plötzlich vernahm er ein rollendes Geräusch und Daphne begann zu bellen.

»Achtung!«

Diego drehte sich um und sah Petey Kowalski auf einem alten Skateboard durch die Tür gleiten. Geschickt wich er Daphne aus, die aufgeregt auf zwei Beinen herumtänzelte.

»Gutes Mädchen«, lobte Petey und bückte sich, um dem Hund im Vorbeifahren den Kopf zu tätscheln, verlor dabei aber das Gleichgewicht und fiel von seinem Board. Er taumelte gegen den Tisch und hielt sich am Rand fest, während das Board durch den Raum schoss und gegen die Wand krachte.

»Wow!«, rief Petey keuchend. »Das war knapp.«

»Knapp?«, hakte Diego nach.

»Na ja, ich meine, ich habe nur … oooh, Mann!«, entfuhr es Petey, als er das Hoverboard sah.

»Geburtstagsgeschenk«, erklärte Diego.

»Und wir fliegen damit zur Schule, ja? Sag mir sofort, dass wir damit zur Schule fliegen!«, verlangte Petey.

»Das Board ist nur für einen Passagier gemacht«, mahnte Santiago.

»Dad«, fragte Diego, »können wir Moms Board mit in die Schule nehmen, damit wir in der Mittagspause beide fliegen können?«

»Hmm.« Santiago kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Du hast ein wenig Spaß an deinem Geburtstag verdient. Also gut. Aber nur, wenn du versprichst, vorsichtig damit umzugehen, und wenn du das Werkzeug hier wegräumst, bevor du gehst.«

»Klar doch!«, rief Diego.

»Ist ja nicht so, als hättest du die Boards nicht schon früher mal ausprobiert«, meinte Santiago mit einem leisen Lächeln.

»Äh …«, begann Diego.

»Schon gut, mein Sohn«, lachte Santiago. »Du bist jetzt sowieso alt genug, um ein eigenes Board zu fliegen.«

»Oh, übrigens«, warf Petey ein, »ich bin auf dem Weg hierher deiner Mutter begegnet. Sie sucht nach Ihnen, Mr Ribera.«

»Dann will ich sie lieber nicht warten lassen.« Santiago warf Diego einen bedeutungsvollen Blick zu, schlug ihm auf den Rücken und ging zur Tür. »Viel Spaß in der Schule! Und denk daran: das Kraftwerk. Komm nicht zu spät!«

»In Ordnung«, erwiderte Diego. Er wusste, dass der Blick dem Auge gegolten hatte. Niemandem davon zu erzählen, schloss auch Petey ein und das würde schwer werden. »Und vielen Dank noch mal!«

»Mann, D, sieh dir das an! Dieses Board ist total irre.«

Petey ließ die Finger über die glatte Oberfläche gleiten.

»Es ist ziemlich cool«, gab Diego zu, sammelte das Werkzeug auf dem Arbeitstisch ein und ließ es in eine Schublade gleiten. »Und es fliegt total weich.«

»Ich dachte, du hättest es gerade erst bekommen?«

»Ja, stimmt«, fiel es Diego ein. Er hatte an seinen Traum denken müssen. »Ich meine, ich bin sicher, dass es total weich fliegt.« Er ging durch die Werkstatt und hängte ein paar andere Geräte an ihren Platz an der Wand.

»Was macht eigentlich dieser Bot hier hinten?«, erkundigte sich Petey von einer anderen Stelle in der Werkstatt. Als Diego sich umdrehte, sah er, dass Petey ins Cockpit eines drei Meter großen Roboters namens Marty geklettert war. »Den habe ich nicht mehr gesehen, seit du ihn letzten Sommer gebaut hast.«

»Ja, mithilfe von Dad. Aber sei bloß vorsichtig: der ist hier zur Reparatur.«

»Okay, Mann, krieg dich wieder ein.« Petey legte die Füße auf das Armaturenbrett und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Der ist gut, aber nicht halb so cool wie Redford.«

»Stimmt«, bestätigte Diego. »Redford ist echt klasse geworden.«

»Ich kann es immer noch nicht ganz fassen«, gab Petey zu, während Diego einen Schlauch aufrollte. »Du hast diesen alten roten Traktor gesehen und ihn zu einem Riesenroboter umgebaut. Eines Tages wirst du noch besser werden als dein alter Herr.«

»Hmmmm«, sagte Diego. »Ehrlich gesagt könnte Marty um Redford herumtanzen, aber es stimmt schon, Redford hat auf jeden Fall die bessere Entstehungsgeschichte.«

Sie hatten den Traktor hinter der Mauer gefunden, als sie in der nördlichen Wildnis nach Teilen gesucht hatten.

»Ja!«, stimmte Petey zu. »Als wir Algonquin-Krieger gesucht haben und stattdessen auf diesen Dimetrodon gestoßen sind. Ich muss mich immer noch zwicken, um glauben zu können, dass wir das überlebt haben. Das war, als wäre man Bartholomew Roosevelt oder irgendein Expeditionsforscher.«