Titusland - Tabea Laurin - E-Book

Titusland E-Book

Tabea Laurin

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Beschreibung

Die Sommerferien beginnen für Ben und Finn alles andere als entspannt. Ein Megakrach mit ihrem Vater löst eine unglaubliche Reise in die Parallelwelt der Imags aus. Sie stolpern in das Königreich Orwyn hinein, in dem ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt ist. An der Seite des Thronfolgers kämpfen die Brüder schließlich gegen böse Mächte und schwarze Magie. Können sie das Königreich vor der Zerstörung bewahren?

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Für Glenn und Daniel

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 1

Ben langweilte sich. Er lag auf seinem Bett und spielte Playstation, als er jemanden die Treppe heraufpoltern hörte. Plötzlich wurde die Türklinke nach unten geschmettert und sein Bruder Finn stolperte ins Zimmer.

„Was ist denn jetzt schon wieder los?“, murrte Ben und zog gereizt seine rechte Augenbraue hoch. Finns Gesichtsausdruck versprach keine guten Nachrichten.

„Papa ist schon zuhause!“, flüsterte er.

„Ja, na und?“, fragte Ben gleichgültig.

Wann würde sein kleiner Bruder endlich begreifen, dass er nicht gestört werden wollte, wenn seine Zimmertür geschlossen war?

„Na und?“, wiederholte Finn. „Wir sollten doch heute den Rasen mähen!“, sagte er und sein Blick verfinsterte sich. „Jetzt ist es schon fast Abend und wir haben noch nicht einmal damit angefangen.“

Gleich würde ihr Vater heraufkommen und dann würde es richtig Ärger geben, darauf hatte Finn absolut keine Lust. Schließlich hatte er Ben den ganzen Tag immer und immer wieder an das Rasenmähen erinnert. Der hatte ihn jedoch jedes Mal mit einem dummen Spruch stehen lassen. Sollte sich doch sein Bruder das Donnerwetter abholen!

Abwartend schaute Finn seinen Bruder an. Die Gelassenheit, mit der Ben dort in seinem Bett lag und so tat, als wäre alles in bester Ordnung, machte ihn ärgerlich. Sie hatten ihrem Vater doch versprochen, sich heute um den Rasen zu kümmern! Finn fühlte, wie ihm immer unwohler wurde.

Gleichzeitig jedoch bewunderte er seinen Bruder. Der war so cool!

Warum hatte er, Finn, Angst vor dem, was ganz bestimmt gleich passieren würde, und Ben nicht? Dem schien es überhaupt nichts auszumachen, in wenigen Augenblicken Ärger zu bekommen. Vielleicht liegt es daran, dass Ben schon 15 Jahre alt und so gut wie erwachsen ist, dachte er.

Finn wollte auch endlich älter sein. Dann könnte er selbst bestimmen, was er tat und was nicht. Das hatten Mama und Papa schließlich auch gesagt, als er mal wieder eine Standpauke von ihnen zu hören bekam.

Und davon gab es in der letzten Zeit viel zu viele, fand Finn. Immer hatten seine Eltern etwas auszusetzen.

Wie zum Beispiel an der Ordnung in seinem Zimmer oder weil er die Geschirrspülmaschine nicht nachmittags, sondern erst abends, bevor er ins Bett ging, ausräumen wollte oder an seiner Abneigung zur Gartenarbeit am Samstagmorgen.

Was diese Standpauken betraf, war er sich mit seinem Bruder einig. Dieses Diskutieren war eindeutig die lästigste Eigenschaft ihrer Eltern. Immer übertrieben sie maßlos und legten ständig fest, was, wie und warum etwas zu tun war.

Und überhaupt, das Haus mit dem Rasen hatten Mama und Papa ausgesucht. Sollten die doch auch den Rasen mähen.

Gedankenverloren stand Finn noch immer vor Bens Bett.

„Was denkst du gerade?“, wollte Ben wissen.

Bevor Finn antworten konnte, hörten die beiden ihren Vater rufen:

„Jungs, kommt mal runter! Sofort!“

„Mann, eh“, stöhnte Ben und seine rechte Augenbraue wanderte erneut nach oben. Betont langsam kroch er aus seinem Bett. Auch Finn verdrehte, so gut er konnte, die Augen.

Lustlos stapften sie die Treppe hinunter.

Ihr Vater erwartete sie mit einem strengen Blick am Ende der Treppe.

„Sagt mal, hatten wir nicht etwas für heute vereinbart?“ Auffordernd zeigte er in den Garten.

Finn brummte vorsichtig: „Hm.“

Ben blickte mürrisch vor sich hin und schwieg trotzig.

„Hallo?! Hatten wir nicht vereinbart, dass ihr heute den Rasen mäht?“, wiederholte ihr Vater die Frage eindringlicher.

„Jaha“, antworteten beide Jungs fast gleichzeitig. „Das machen wir schon noch.“ Ben schaute seinen Vater herausfordernd an. Dieser musterte seinen Sohn und schien zu überlegen, wie er am besten darauf antworten konnte.

Ha, genau!, dachte Finn zufrieden. Es ist noch lange nicht dunkel! Er war direkt ein bisschen schadenfroh. Das ist doch kein Problem für uns, war sich Finn sicher, wir kriegen das schon noch fertig.

Als er aber seinen Vater: „Finn, verrätst du mir, was du daran so lustig findest?“, sagen hörte, setzte er schnell sein bestes ernstes Gesicht auf und schaute aus dem Fenster.

Für einige Sekunden war es mucksmäuschenstill.

„Gut, dann lasst euch nicht aufhalten. Es ist jetzt kurz vor sechs. Bis zum Abendessen in einer Stunde seid ihr fertig“, unterbrach ihr Vater das Schweigen.

„Aber mein Spiel ist noch nicht zu Ende!“, entgegnete Ben entsetzt. „Ich kann jetzt nicht weg!“

„Können wir das nicht morgen machen? Dann stehen wir früh auf und gehen sofort raus“, schlug Finn vor. Er genoss den dankbaren Blick seines Bruders und nickte seinem Vater zu, als wolle er ihn damit von seiner Idee überzeugen.

„Nein, keine Chance. Wir hatten das für heute vereinbart und dabei bleibt es auch. Ihr geht erst wieder in eure Zimmer, wenn der Rasen gemäht und der Abfall in Müllsäcken verpackt in der Garage steht!“

„Na klar“, platzte es wütend aus Ben heraus, „wir müssen jetzt arbeiten! Du bestimmst einfach wieder und lässt uns keine Wahl.“

Bockig und mit verschränkten Armen baute er sich vor seinem Vater auf. Dieser blickte überrascht seine Söhne an.

„Nein, Ben, ihr hattet den ganzen Tag Zeit, jetzt gibt es keine Verhandlungen mehr.“

Mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Widerspruch duldete, drehte sich ihr Vater um und ließ die beiden stehen.

Ben ließ sich auf eine Treppenstufe fallen und schien angestrengt nachzudenken. Finn stand an das Treppengeländer gelehnt da und schüttelte genervt den Kopf. Was für ein Mist!

Jeden Moment rechnete er damit, dass sein Bruder wieder in sein Zimmer stapfen und seinen Lieblingsplatz auf dem Bett einnehmen würde.

Zu seinem Erstaunen passierte das aber nicht. Ben saß mit einem verkniffenen Gesicht da und bockte vor sich hin.

Plötzlich sprang er auf.

Finn schreckte zusammen. „Was machst du denn jetzt?“ Irrte er sich oder hatte sein Bruder einen puterroten Kopf?

Kein Zweifel, sein Bruder kochte vor Wut.

„Ich gehe in diesen blöden Garten und bringe es hinter mich, was sonst?“, presste Ben zornig hervor. „Mein Spiel kann ich sowieso längst vergessen!“

Mit großen Schritten hastete Ben durch das Wohnzimmer, riss die Tür zur Terrasse auf und stürmte hinaus. Finn versuchte, ihm zu folgen, aber erst am Gartenhaus holte er ihn ein.

Sein Bruder war derart aufgebracht, dass es ihm nur mit Mühe gelang, das Häuschen aufzuschließen.

„Los, Finn, hol das Verlängerungskabel“, fauchte Ben ihn an. Als Finn nicht schnell genug reagierte, polterte er weiter: „Nun mach schon, du Weichei! Sieh zu, dass du fertig wirst!“

Entrüstet sah Finn seinen Bruder an. Hatte er ihn eben wirklich ein Weichei genannt? Was sollte das denn? Er hatte ihm doch nichts getan.

Fassungslos stand Finn noch immer vor dem Gartenhaus, als Ben bereits sehr geräuschvoll damit beschäftigt war, den Rasenmäher startklar zu machen. Erst ein Schubs, verbunden mit einem bösen Blick, ließ Finn aufschrecken.

Langsam schlurfte er in den Keller und warf sich das lange, schwere Verlängerungskabel über die Schulter.

„Finn, wo bleibst du denn?“, hörte er prompt seinen Bruder nach ihm rufen.

„Wenn ich dir zu langsam bin, dann mach doch allein weiter“, murmelte er vor sich hin.

Wütend auf Ben, weil er sich von ihm ungerecht behandelt fühlte, fing er beinahe an zu weinen. Das machte ihn nur noch zorniger.

Er warf Ben das Verlängerungskabel vor die Füße, griff sich den Stecker und machte sich auf den Weg zur Steckdose auf der Terrasse.

Ohne sich umzuschauen, riss Finn das Kabel hinter sich her. Es war ihm egal, ob es sich verknotete oder irgendwo hängen blieb.

Gleichzeitig zerrte auch Ben an dem Kabel, indem er den Rasenmäher in die entgegengesetzte Richtung hievte.

So entstand, von beiden unbemerkt, ein gewaltiger Kabelsalat.

Und dann ging alles blitzschnell.

Finn rammte den Stecker in die Steckdose. Im gleichen Moment blieb der Rasenmäher ruckartig stehen, weil dem Kabel durch den Kabelsalat keine Möglichkeit mehr blieb, nachzugeben. So wurde Ben mit voller Wucht bei seinem energischen Vorwärtsstapfen zurückgerissen.

Stolpernd blieb er am Starthebel des Rasenmähers hängen.

Dadurch schaltete sich der Rasenmäher wie von Geisterhand ein und Ben taumelte rückwärts. Anstatt jedoch den Rasenmäher loszulassen, riss Ben ihn mit sich und durchschnitt dabei das inzwischen straff gespannte Kabel.

Augenblicklich wurde Finn von einem grellen Licht geblendet. Bäume, Sträucher, Blumen, Rasen, Gartenhaus – alles begann sich vor seinen Augen zu drehen und sich in ein Meer aus verschiedenen Grüntönen zu verwandeln.

Ihm wurde schwindelig.

Er versuchte, sich umzudrehen, um zu sehen, was sich hinter ihm abspielte. In diesem gigantischen grünen Farbklecks konnte er überhaupt nichts erkennen. Hier und da waberten einige größere dunkelgrüne Farbklumpen.

Die Bilder um ihn herum bewegten sich so komisch. Sie liefen mit jedem Moment langsamer ab, fast so, als würde die Zeit stehen bleiben. Finn fühlte, wie Angst in ihm emporkroch und ihm schlecht wurde. Was ist hier nur plötzlich los?, dachte er.

Gleichzeitig hörte er einen unangenehm schrillen Ton, der immer unerträglicher wurde. Finn wollte sich die Ohren zuhalten. Vergeblich, er konnte seine Arme nicht bewegen.

Er keuchte und schwitzte vor Angst. Dann wurde es schlagartig still und Finn wurde es schwarz vor Augen.

KAPITEL 2

Nur mit Mühe schlug Finn seine Augen auf. Er lag auf dem Bauch und fühlte etwas Krümeliges in seinem Mund. Bäh, widerlich!

Oh Mann, was hatte er für einen Brummschädel. In seinem Kopf schien sich jemand mit einem Vorschlaghammer auszutoben. Dumpfe, monotone Hammerschläge. Immer wieder.

Schwerfällig drehte er sich um.

Das war keine gute Idee. Die Hammerschläge waren seiner Bewegung gefolgt. Der stechende Schmerz kam nun von der anderen Seite seines Kopfes.

Außerdem blendete ihn die Sonne. Er stöhnte, kniff die Augen zu und drehte sich ächzend wieder zurück.

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke und er setzte sich ruckartig auf:

„Ben!“

Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Nur das Krümelige in seinem Mund war immer noch da. Angeekelt spuckte er aus. Es sah aus wie Gras und Erde.

Was, um alles in der Welt, hat das denn zu bedeuten?, fragte er sich und schaute sich um.

Wo war er bloß? Das war nicht ihr Garten! Und wo war ihr Haus?

Merkwürdig.

Finn sah sich um. Er befand sich in einem Wald.

Oder zumindest in so etwas Ähnlichem.

Er saß zwischen riesigen grünen Gebilden. Sie sahen aus wie schmale, grüne, mega hohe ...? Finn fiel nichts Vergleichbares dazu ein.

In der Mitte waren diese Gebilde der Länge nach leicht gefaltet und weiter oben liefen sie spitz zusammen. Es gab keine Äste und keine Blätter.

Dann waren das keine Bäume! Finn war verwirrt. Er strich vorsichtig mit der Hand über eines dieser dicht um ihn herumstehenden Gebilde. Die Oberfläche fühlte sich seltsam rau an. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Den Kopf in den Nacken gelegt, sah Finn staunend nach oben. Unglaublich, wie hoch sie wuchsen.

Dann war mit einem Mal der Gedanke an Ben wieder da.

„Ben?“, rief er zaghaft.

Nichts regte sich. Hatte Ben sich versteckt und wollte ihn erschrecken?

„Ben?“, rief er nun lauter. „Lass den Quatsch! Wo bist du?“

Finn spähte in den eigenartigen Wald hinein und suchte ihn nach seinem Bruder ab. Dieses grüne Gestrüpp stand so dicht, dass er kaum ein paar Meter weit sehen konnte.

„Gut“, murmelte er vor sich hin, „gehe ich ihn eben suchen.“

Anfangs noch etwas zögerlich bahnte er sich geschickt einen Weg. Der Boden war überall mit Moos und getrockneten Holzstückchen bedeckt.

An vielen Stellen wuchsen hohe Sträucher mit dickfleischigen, riesigen Blättern.

Farne konnte er auch erkennen. Eigentlich sahen diese Farne eher aus wie haushoher Löwenzahn.

Finn blieb stehen und sah genauer hin.

In der Mitte einer dieser Farne entdeckte er einen Stiel, der kerzengerade in den Himmel wuchs. Er war so dick wie die Dachrinne an ihrem Haus. Finn bog mit aller Kraft eines von diesen gigantischen Blättern zur Seite, um das Ende des Stiels sehen zu können. Moment mal, dachte er überrascht, das gibt es doch nicht.

Weit über ihm war eine leuchtend gelbe Blüte mit unzähligen schmalen Blütenblättern zu erkennen. Was er dort einige Meter über sich auf diesem Stiel sah, war eindeutig eine Löwenzahnblüte.

Kopfschüttelnd blickte er sich erneut um und bemerkte nicht weit entfernt weitere Blüten. Die eine dort hinten rechts ist eine Gänseblümchenblüte! Gleich daneben konnte er eine Pflanze sehen, die einem Kleeblatt glich. Staunend versuchte er zu verstehen, wo er war.

Dummerweise hatte der Hammer in seinem Kopf die Arbeit wieder aufgenommen. Begleitet wurde das rhythmische Pochen nun auch noch von einem brummenden Geräusch, das immer lauter wurde.

Kam ein Hubschrauber näher, der in diesem Wald landen wollte? Finn suchte so gut es ging den Himmel ab, konnte jedoch nichts entdecken. Der Hubschrauber würde es niemals schaffen, durch das dichte Gestrüpp hindurch den Boden zu erreichen.

Als ob die Hubschrauberbesatzung zu derselben Erkenntnis gelangt war, entfernte sich das Geräusch wieder. Sogleich konnte Finn nun ein Rascheln hören, das sehr schnell lauter wurde. Nicht mehr weit von ihm entfernt bemerkte er einen großen, schwarzen Schatten, der sich auf ihn zubewegte. Gleichzeitig spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen zu beben begann.

Das ist ja wie auf der Huckelpiste unserer Skaterbahn, dachte er.

Finn konnte das Bersten von Holz hören. Es kam von den Gebilden, die einer sich heranwälzenden schwarzen Masse nachgaben. Ganz kurz konnte er einen Blick auf die Vorderseite des Schattens werfen.

Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

Finn blickte auf einen riesigen runden, schwarzen Kopf mit zwei Augen, die so groß wie die Scheinwerfer eines Lkw waren, und einem Maul mit furchterregenden Zähnen und Greifarmen.

Auf dem Kopf konnte er Fühler erkennen, die ihn an Antennen erinnerten. Hinter dem Kopf reihten sich einzelne Glieder in der Form und Größe von Traktorenreifen aneinander. Jeder Reifen wurde von zwei Paar kurzen, stämmigen Beinchen bewegt. Im Gleichschritt hievten diese kleinen Beine den wuchtigen Körper scheinbar unaufhaltsam und vor allem schnurgerade auf ihn zu.

Kaum hatte er das begriffen, spürte er, wie sich all seine Muskeln anspannten und alles in ihm blitzschnell von Staunen auf Wegrennen umschaltete.

Mit schnellen, gezielten Absprüngen hechtete er aus der Bahn dieses Was-auch-immer-es-sein-Mochte und versteckte sich in einer weich gepolsterten Mulde, in deren Mitte ein Felsbrocken lag.

Finns Herz raste, aber Angst spürte er nicht. Im Gegenteil, er war unglaublich aufgeregt und stolz auf sein Ausweichmanöver.

Was wälzte sich dort bloß durch den Wald? Nur mit Mühe konnte er seine Neugier bezwingen. Vorsichtig streckte er sich, um über den Rand des Felsens zu sehen.

Es dauerte einen Moment, bevor Finn das, was er sah, zu glauben wagte: Etwas, das aussah wie ein Tausendfüßler, marschierte durch den Wald.

„Blödsinn, kein Tausendfüßler. Finn, du spinnst!“, versuchte er, sich den Gedanken auszureden.

Er kniff seine Augen zu, bis sie schmerzten, und öffnete sie ganz langsam wieder. Es blieb dabei. Es kroch tatsächlich ein Tausendfüßler in der Größe eines Dinosauriers an ihm vorbei. Das war ja total verrückt!

Er war kleiner als ein Tausendfüßler!

Nur so konnte es sein. Das würde alles erklären. Die komischen grünen Bäume waren dann wohl Grashalme, die Farne tatsächlich Löwenzahnblätter und er kauerte nicht hinter einem Felsen, sondern hinter einem Steinchen im Rasen.

Unglaublich!

Darüber gab es Geschichten und Filme für kleine Kinder. Er war doch aber schon 10 Jahre alt! Unmöglich, dass ihm so etwas passierte!

Die Jungs in seiner Klasse würden einen Lachflash bekommen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Finn war so aufgeregt, dass er wieder anfing zu keuchen.

Er wusste plötzlich nicht mehr, was er denken sollte, und kauerte sich ganz tief in die Mulde hinter dem Stein. Verrückt, völlig verrückt!, dachte er immer wieder.

Mit ihm musste etwas Furchtbares passiert sein. Er bekam Angst und mit ihr das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu stecken.

Und wo war Ben überhaupt?

Sein Atem ging immer schneller. Er fühlte sich mit einem Mal unendlich einsam und winzig.

Was sollte er denn nur tun?

Gleich würde ihn der Tausendfüßler entdecken und ihn bestimmt angreifen, wenn nicht sogar auffressen.

Er spürte ein Kribbeln in seiner Nase. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Verzweifelt umklammerte er seine Knie. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht.

Was würde er darum geben, wenn jetzt Mama, Papa und Ben bei ihm wären!

Natürlich fühlte er sich längst alt genug, um Gefahren zu meistern. Aber gleichzeitig fand er den Gedanken verlockend, wie schön es wäre, nicht allein zu sein.

Ben stänkerte ihn oft an und tat so, als ob Finn ihn nervte, aber wenn es brenzlig wurde, hatte er ihm immer geholfen.

„Wenn doch wenigstens Ben wieder da wäre“, flüsterte er und seufzte leise.

Finn bemerkte, dass das Beben aufgehört hatte. Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck hervor. Der Tausendfüßler hatte direkt vor Finn eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Nicht weit von ihm entfernt war der Riese stehen geblieben.

Finn wollte sich bereits wieder zusammenkauern, als das Tier mit einem mächtigen Donnerschlag auf dem Boden aufschlug.

Überrascht wischte sich Finn die Tränen aus den Augen, um besser sehen zu können.

Er sah, dass sich die kleinen Beinchen kaum noch bewegten. Auch die Greifzangen des Tieres bewegten sich nur noch sehr, sehr langsam.

Mit einem Mal kippte der Koloss zur Seite und rührte sich nicht mehr.

Finn wartete einige Minuten ab und beobachtete, ob alles ruhig blieb. Als sich der Tausendfüßler nach einer halben Ewigkeit immer noch nicht regte, näherte sich Finn ihm vorsichtig.

Der mächtige Körper war übersät mit schwarzen Borsten, die schwach zitterten. Zaghaft streckte Finn seine Hand aus und berührte sie. Die fühlen sich an wie bei den Elefanten im Zoo, dachte er.

Die Haut des Tieres war warm. Unter seiner Hand dehnte sie sich aus und zog sich zusammen. Der Tausendfüßler atmete schwach.

Finn fühlte, dass nicht nur er in einer misslichen Lage steckte.

Plötzlich musste er an seine Großmutter denken. Sie hatte ihn einmal mit den Worten: „Angst hat noch niemandem geholfen“, zu trösten versucht. Damals hatte er ihre Worte komisch gefunden und ihrer Erzählung gar nicht richtig zugehört. In dem Moment ahnte er, was sie gemeint haben könnte. Es tat ihm leid, seiner Großmutter damals für den gut gemeinten Ratschlag eine schnippische Antwort gegeben zu haben.

So, wie ich es geschafft habe, dem Tausendfüßler auszuweichen, werde ich auch einen Weg nach Hause finden!, dachte er entschlossen.

Er wandte sich um und überlegte, in welche Richtung er gehen sollte. Es fiel ihm schwer, den Tausendfüßler, der ebenso schutzlos zu sein schien wie er, zurückzulassen.

Finn nahm sich vor, später noch einmal nach ihm zu sehen, und machte sich wieder auf die Suche nach Ben. Kaum hatte er sich von dem Tausendfüßler entfernt, hörte er erneut, wie sich ein Hubschrauber näherte.

Dieses Mal konnte er ihn kurz durch die sich im Wind wiegenden Halme ausmachen. Vor Erstaunen blieb ihm der Mund offenstehen.

Von wegen Hubschrauber! Dieses Geräusch kam nicht von einer Maschine. Dicht vor ihm landete eine Wespe. Auch sie war mindestens so groß wie ein Dinosaurier.

Mit den Flügeln erzeugte dieses gewaltige Tier Luftwirbel, die Finn von den Beinen holten.

„Wow, Hammer!“, rief er überrascht aus.

Gekonnt rollte er sich auf dem weichen, durch Moos gepolsterten Boden ab. Sein Parcours-Training war also doch nicht umsonst gewesen. Das musste er unbedingt seinem Vater erzählen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Finn, wie sich die Wespe zu ihm vorarbeitete. Mit einem Satz sprang er wieder auf seine Füße. Ganz automatisch fing er an zu laufen. Dabei hatte Finn durch seine geringe Größe einen Vorteil. Er schlüpfte durch eng stehendes Gestrüpp hindurch. Die Wespe konnte ihm nicht so schnell folgen und sein Vorsprung wuchs.

Wenig später, als die Wespe die Verfolgung aufgegeben hatte, versteckte er sich japsend in einem Strauch mit dickfleischigen Blättern. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er verspürte brennenden Durst.

Er musste unbedingt etwas trinken. Aber wo konnte er Wasser auftreiben? Finn dachte angestrengt nach.

Er erinnerte sich an eine Reportage über Wüstenvölker, die er vor Kurzem im Fernsehen gesehen hatte. Diese Menschen hatten Stängel dickfleischiger Gewächse geschält und das Wasser herausgedrückt. Dieses Wasser genügte ihnen zum Überleben.

Das war die Lösung!

Finn schaute sich um. Direkt neben ihm standen einige vielversprechende, dicke Stängel. Er suchte sich einen spitzen Stock und ritzte damit einen der Stängel ein. Dort musste Wasser zu finden sein.

Nur einen Augenblick später quoll ein großer Wassertropfen aus dem Stängel heraus. Fasziniert schaute Finn zu, bis der Tropfen die Größe eines Luftballons erreicht hatte, und tippte ihn an. Sofort zerplatzte der Tropfen wie eine Seifenblase und er stand wie ein begossener Pudel da. Finn schüttelte sich und lachte.

Im Moos lagen kleine Wasserpfützen, aus denen er trinken konnte.

Noch nie hatte er so köstliches Wasser getrunken. Was für ein Glück und wie einfach es war.

Finn würde nie wieder Durst haben müssen. Er steckte sich den Stock, der einem kleinen Dolch ähnelte, an seinen Gürtel.

„Und bewaffnet bin ich jetzt auch“, sagte er dabei so laut, als wollte er allen Bewohnern dieses Waldes mitteilen, wie stark er sich fühlte.

Erfrischt schaute er sich um. Wohin jetzt?, überlegte er. Von seinem Bruder hatte er nicht die geringste Spur gefunden.

Vielleicht war Ben gar nicht hier.

Gut möglich, dass Ben ihn noch nicht einmal vermisste.

Weiter nach Ben zu rufen, war außerdem gefährlich. Er wollte nicht unnötig auf sich aufmerksam machen. So viel Glück wie vorhin würde er nicht immer haben.

Es begann zu dämmern und Finn entschied sich, den Strauch weiter nach oben zu klettern. Er würde die Nacht wohl hier verbringen müssen und brauchte einen Schlafplatz, an dem er sich sicher fühlte. Einige Meter weiter oben fand er, wonach er gesucht hatte. Mehrere Blätter, die eine Höhle bildeten, boten ihm Unterschlupf.

Die Arme unter dem Kopf verschränkt, beobachtete er, wie die Schatten in dieser eigenartigen Welt länger wurden.

Der Tausendfüßler fiel ihm wieder ein. Es war ihm ein Rätsel, warum das Tier so plötzlich zusammengebrochen war. Ob es immer noch dort lag?

Die Gedanken an das große Insekt vertrieben seine Müdigkeit. Was, wenn er Hilfe braucht?, fragte Finn sich. Entschlossen kletterte er wieder nach unten und machte sich, nach allen Seiten aufmerksam Ausschau haltend, auf den Weg zurück.

Schon von Weitem erkannte er den Tausendfüßler wieder. Zunächst beobachtete er ihn aus seinem alten Versteck. Als sich das Tier nicht regte, schlich sich Finn so lautlos wie möglich an. Als er dicht vor ihm stand, erkannte er, dass die Borsten fast stillstanden.

Wieder nahm er all seinen Mut zusammen und berührte den Tausendfüßler. Dieser schien die Berührung zu spüren und hob kaum merklich den Kopf. Kraftlos sank er jedoch wieder zurück. Finn wurde mutiger und streichelte ihn nochmals. Dieses Mal etwas kräftiger.

Er bemerkte, dass die Haut des Tausendfüßlers rissig und spröde aussah. Fehlte dem Tier vielleicht Wasser? Verdurstete er langsam und konnte deshalb nicht weiter?

„Einen Versuch ist es wert“, entschied Finn und sah sich nach der Art von Stängeln um, aus denen er getrunken hatte. Nicht weit entfernt entdeckte er mehrere davon. Den Stängel, der dem Kopf des Tausendfüßlers am nächsten stand, ritzte er ein.

Die herausquellenden Tropfen fing er mit kleinen trockenen Blättern auf, die überall verstreut herumlagen. Vorsichtig flößte Finn dem Tausendfüßler das Wasser ins Maul ein.

Ihm schmerzten bereits die Arme, als er beobachtete, wie sich die Borsten wieder kräftiger zu bewegen begannen.

Sicherheitshalber versteckte er sich wieder.

Und wirklich, langsam hob der Tausendfüßler seinen Kopf. Diesmal hob er ihn höher und schaute hinüber zu Finns Versteck. Die Beinpaare zappelten wieder, die Glieder bewegten sich wellenartig vom Kopf bis zum hinteren Teil.

Zufrieden beobachtete Finn, wie sich der Tausendfüßler aufrichtete. Er schaute ihm so fasziniert zu, dass er zu spät bemerkte, wie das Tier, plötzlich wieder sehr fit, auf ihn zulief.

Blitzschnell riss Finn seinen Holzdolch aus dem Gürtel und hob ihn über seinen Kopf, um sich notfalls verteidigen zu können.

Keine Handbreit vor Finn blieb der Tausendfüßler stehen. Aus dem Maul ragten Scheren, die sich schnell öffneten und schlossen.

Finn wagte nicht zu atmen und spannte all seine Muskeln an.

Regungslos standen sich das riesige Tier und Finn gegenüber. Auf einmal senkte der Tausendfüßler seinen Kopf, als wollte er sich verbeugen.

Kurz darauf richtete er sich wieder zu seiner beeindruckenden Größe auf. Mit erhobenem Kopf machte der Tausendfüßler ein paar Trippelschritte rückwärts und verharrte kurz, um schließlich pfeilschnell im Dickicht zu verschwinden.

Finn spürte, wie seine Anspannung nachließ und er auf seinem Po landete. Seinen Dolch fest umklammernd, saß er da und versuchte, seiner Aufregung Herr zu werden. Er schnaufte einige Male tief durch.

Da es inzwischen fast dunkel war, beeilte er sich, seine Blätterhöhle zu finden.

Kaum hatte er es geschafft, fiel er total erschöpft in einen tiefen Schlaf.

KAPITEL 3

Ich liege in einer Hängematte unter einem Sonnenschirm, dachte Finn schläfrig und öffnete seine Augen. Doch als er nach oben schaute, sah er die Sonne nicht durch einen Sonnenschirm, sondern durch einen Schirm aus Blättern scheinen.

Deutlich konnte er die Netzaderung erkennen und erinnerte sich an eine Zeichnung im Biobuch von Ben.

Mit einem Mal wurde ihm klar: Er hatte doch gar keine Hängematte!

„Oh nein“, stöhnte er auf.

Er versuchte, sich darauf zu besinnen, was er am Tag zuvor erlebt hatte. Ihm fielen die Unnachgiebigkeit seines Vaters und sein wütender Bruder wieder ein.

Oder hatte er das alles nur geträumt? Nein, die Blätterhöhle war echt.

Hatte er wirklich mit einem Holzdolch aus einem Stängel Wasser gewonnen und einem Tausendfüßler gegenübergestanden?

Unsicher, was er nun glauben konnte und was nicht, dachte er weiter über das Geschehene nach.

Er griff sich an den Gürtel, in dem der kleine Holzdolch steckte. Kein Zweifel, er lag tatsächlich mit einem Stück Holz bewaffnet in einer Blätterhöhle. Krass!

Plötzlich hatte er den Eindruck, Wortfetzen zu hören. War das gerade eine Stimme? Kam dort jemand? Das wäre wundervoll!

Um besser Ausschau halten zu können, kroch Finn vorsichtig an den Rand seines Versteckes.

Erfreut konnte er Ben erkennen, der sich stolpernd und schimpfend näherte.

„Dieses Gestrüpp überall. Ich raste gleich aus, verdammt noch mal!“, hörte er ihn wettern. Oh ja, das war ohne jeden Zweifel sein Bruder.

Glücklich beobachtete er ihn. Bens Haare standen strubbelig ab und seine Sachen waren schmutzig. Sein Bruder fluchte so laut, dass es kilometerweit zu hören sein musste.

Finn runzelte die Stirn. Er musste an die Wespe und den Tausendfüßler denken. Ohne zu bedenken, dass Ben ihn noch gar nicht entdeckt hatte, zischte er aus seinem Versteck: „Schscht. Schscht. Schscht! Leise, Ben!“, und sprang seinem Bruder direkt vor die Füße.

Furchtbar erschrocken taumelte Ben ein paar Schritte zurück, stolperte und fiel der Länge nach ins Moos.

„Bist du wahnsinnig? Du hast mich zu Tode erschreckt, Mann!“, schrie er Finn hysterisch an.

„Und du schreist vor Angst so laut, dass der ganze Was-auch-immer-das-hier-Ist es hören kann“, konterte Finn belustigt und streckte seine Hand aus, um Ben auf die Beine zu helfen.

Mit ernsten Mienen sahen sich die beiden an. Es hatte fast den Anschein, als belauerten sie sich. Doch dann gewann die Freude darüber, dass sie sich wiedergefunden hatten.

Erst verhalten, dann aber, jede Vorsicht vergessend, lauthals lachend, ergriff Ben die Hand seines Bruders und riss ihn ebenfalls zu Boden.

Eine ganze Weile rangelten sie miteinander, bis sie außer Puste nebeneinander lagen und in den Himmel sahen. Für einen Moment vergaßen sie, in welch einem Schlamassel sie steckten und fühlten sich leicht und unbeschwert.

„Ich freue mich so sehr, dass ich dich wiedergefunden habe, kleiner Bruder.“ Ben schnaufte tief durch.

„Ich bin auch froh, dich zu sehen. Ich glaube aber, dass du nicht mich, sondern ich dich gefunden habe, großer, lauter Bruder“, schmunzelte Finn.

Der Widerspruch, den er in diesem Moment von seinem Bruder erwartet hatte, blieb aus. So kannte er Ben gar nicht. Dieser musste doch immer das letzte Wort haben und wusste immer alles besser.